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3

Myron Weagle war sieben Jahre alt, als sein Vater die abgelegene, steinige Farm im Norden von Beulah verkaufte und nach Black Thread Center übersiedelte, wobei er die Vorstellung hatte, in dieser Metropole mit sechzehnhundert Einwohnern werde er Behagen und Glücksgüter finden. Der Vater, Tom Weagle, war in aller Selbstgefälligkeit überzeugt davon, daß ihm Erfolg beschieden sein müßte, ob er nun einen Mietsstall aufmachte, Kolonialwarenhändler, Besitzer einer Beerdigungsanstalt, Naturheiler, Elektrotherapeut oder was immer würde, aber er entschloß sich zum Hotelgewerbe, weil sein gutes Weib Edna eine berühmte Köchin war. Ihre Pfannkuchen und Zitronenbaisers waren in der ganzen Provinz Beulah unerreicht, und bei den Abendessen der Lorbeerhain-Kongregationisten-Kirche erregten ihr Muschelkartoffel-Gericht und ihre kalten gewürzten Fleischpasteten noch mehr Begeisterung als Mrs. Lyman Barstows Kartoffelsalat und süß-saure Appetithappen. Tom bedachte auch, daß sie sich außerdem noch großartig darauf verstand, Schlafzimmer sauber zu halten, obgleich sie ziemlich nachlässig war, soweit es sich um ihren eigenen Hals, ihre Nägel und ihr Haar handelte, und obgleich ihre Schürzen immer verschmutzt waren.

Sie wurden nicht gleich der hohen Ehre teilhaftig, das American House mit seinen vierunddreißig Zimmern zu führen. Sie begannen in einem Boarding-House mit acht Fremdenzimmern in dem alten Tatam-Gebäude, und es war noch kein ganzer Monat vergangen, als Mutter Weagles Sorgen anfingen. Tom hatte immer gern den Duft von Apfelbranntwein eingeschnuppert, und nun, da er nichts zu tun hatte und ihm außer dem Geld vom Verkauf der Farm vierundzwanzig arbeitslose Stunden im Tag für dieses Nichtstun zur Verfügung standen, war es ihm ein leichtes, sich eifrig vollaufen zu lassen. Die Abgelegenheit der Farm, die er von seinem Vater geerbt und vergnügt heruntergewirtschaftet hatte, war ihm seit jeher ein Grund des Ärgers gewesen; es hatte ihn verdrossen, daß es da so wenige Nachbarn gab, vor denen er sich mit seinen Talenten, eine Million Dollar zu machen, brüsten konnte. Nun saß Tom im Zimmer hinter Earl Peters Kolonialwarengeschäft und trank Apfelgeist, oder er ruderte in der Gesellschaft unrasierter Gefährten und eines Kruges voll weißem Korn hinunter zur Insel, um Fische zu fangen, und kroch dann am Abend mit herunterhängendem, zittrigem Unterkiefer nach Hause.

Mutter Weagle entfernte ihn eiligst aus der Gesellschaft der Pensionäre, und wenn sie versucht hatte, ihm pflichtschuldigst eine Gardinenpredigt zu halten – was sie aber ernsthaft nie zu Wege brachte – ließ sie ihn seinen Rausch ausschlafen. Im Anfang, als sie das Boarding-House übernahmen, fand Tom alle möglichen kleinen Arbeiten für sich – Regale an die Wand nageln oder einen Weg zementieren, der sehr rasch wieder ruiniert war. Aber als es allmählich dazu kam, daß er Zeit für das Großstadtleben und den Alkohol hatte, bestand seine ganze Tätigkeit darin, bei Tisch zu tranchieren, wenn er, was selten genug vorkam, gerade nüchtern war.

So wurde Myron, noch ehe er zehn Jahre alt war, der Mann im Hause.

Mutter Weagle teilte ihre Liebe ohne Bevorzugung zwischen Myron und Ora; Tom jedoch hatte mehr für Ora übrig, der schon als Fünfjähriger, als sie nach Black Thread kamen, in seinem Vater einen interessanten Charakter sah. Als Ora sieben Jahre alt war, saß er oft in dem flachen, ungestrichenen Kahn, den Tom in den Schatten der über das Wasser hängenden Weiden gerudert hatte, um staunend zuzusehen und zuzuhören, während Tom seine lange Bambusangelrute in der Hand hielt, gelegentlich einen Schluck aus dem Krug nahm (er stützte ihn auf die Schulter und kippte ihn geschickt) und unaufhörlich Geschichten erzählte – von denen einige nahezu wahr waren: wie er den letzten Bären getötet hatte, der sich im Staate Connecticut zeigte. Wie er als ganz junger Mann direkt nach Michigan gegangen war und Indianer gesehen hatte, die, wie es schien, nie etwas anderes sagten als: »Uff, ich bin ein gewaltiger Indianer.« Wie er als dreizehnjähriger Junge gegen Ende des Bürgerkrieges die letzten Connecticuttruppen hatte ausmarschieren sehen; sie waren alle eins achtzig groß und sehr tapfer, und die meisten Offiziere waren zwei Meter lang und trugen eineinviertel Meter lange Säbel. Und dann sang er:

»Oh, ihr sollt mich nicht in der Prairie begraben
Dort zischen die Schlangen, dort krächzen im Wind die Raben,
Dort würden über mein Grab die heulenden Wölfe traben,
Oh, ihr sollt mich nicht in der Prairie begraben.«

Von Boarding-House-Küchen in schmierigen Schulpulten in ein Reich von Soldaten und Cowboys und einsamen Bergesgipfeln entrückt, lauschte Ora hingerissen. Und die Rückkehr zu dem schnatternden Geschimpfe Mutter Weagles und den bösen Blicken Myrons war ihm um nichts weniger verhaßt als seinem Vater. Sie beiden hatten, wenn sie sich zu ihrem verspäteten Abendessen aus Schabefleisch und Kaffee heimschlichen, den finsteren Verdacht, daß Myron in der Zeit ihrer Abwesenheit, während sie wacker versucht hatten, mit ihrem Fischfang für den Haushalt zu sorgen, sich vom Fetten des Landes genährt hätte – von den dicksten Steaks, den heißesten Muschelgerichten und übergroßen Portionen Butter.

Schon vor seinem elften Lebensjahr war Myron in allen Hausarbeiten perfekt – »ganz wie ein blödes Mädel«, brummte Ora, wenn es besonders kräftige Ohrfeigen gesetzt hatte. Myron trocknete Geschirr ab, manchmal wusch er es sogar; der große Lümmel konnte ein Wasserglas besser polieren als seine Mutter, und seinen Riesenpfoten entglitt niemals eine Obstschüssel. Er fegte aus, er machte Betten, er kochte oder briet Eier, er konnte ein Kotelett zubereiten. Seine Mutter brachte ihm in aufgeregten Flüstertönen bei, wie er einen verärgerten Gast beruhigen konnte, indem er sich jede Beschwerde eifrig anhörte und dann rief: »Ich werde Ma sagen, daß sie das sofort in Ordnung bringt.« Er guckte seiner Mutter sogar ein wenig davon ab, wie man die verschiedenen Fleischsorten schneiden muß, und woran man eine reife Melone oder eine gute Birne erkennt.

Aber noch mehr als von seiner Mutter lernte er von einer Pensionärin des Hauses.

Der beste Gast im Boarding-House war Miss Absolom, die elegante New-Yorkerin, die in der Höheren Schule Unterricht gab. Im Speisesaal ließ Myron, während er Minnine, dem Dienstmädchen, beim Servieren half, Miss Absolom nicht aus den Augen. In der Erkenntnis, daß er es als Farmerjunge nötig hatte, Tischmanieren zu lernen, beobachtete er die zehn Pensionäre. Er konstatierte, daß Horace Tiger von dem New-York-Schnittwarenladen, eine auffallend feine Art hatte, Kaffee zu trinken: wenn er die Tasse aufhob, stand sein kleiner Finger ab, als wollte er damit dokumentieren, daß er mit der Derbheit gewöhnlichen Trinkens nichts zu tun habe. Miss Abbott, die Putzmacherin, stocherte sich die Zähne hinter einer großen Serviette, die sie sich vor das Gesicht hielt. Wer als Kellner hinter ihr stand, konnte sehen, daß sie sehr heftig arbeitete und herumbohrte, aber Myron war von ihrer Züchtigkeit erbaut. Und andererseits war er, obwohl sie es auf der Farm selbst auch immer getan hatten, ganz sicher, daß es nicht nett war, wie das alte Ehepaar Glenn die Suppe laut zu blasen oder beim Kaffeetrinken den Löffel in der Tasse zu lassen und ihn mit dem Daumen festzuhalten.

Miss Absolom aber schien überhaupt keine Manieren zu haben, weder gute noch schlechte. Niemals konnte er sich genau darauf besinnen, was sie eigentlich getan hatte. Wenn sie einmal, was nicht oft geschah, einen Zahnstocher benutzte, dann benutzte sie ihn einfach, ohne Orgien der Zurückhaltung zu feiern. Sie machte kein Aufhebens davon, wenn sie nach dem Essen Messer und Gabel auf dem Teller kreuzte – die anderen vollführten dann ein großes Geklapper – aber plötzlich lagen eben Messer und Gabel da.

»Herrgott, bei ihr ist alles so selbstverständlich!« überlegte Myron, während er die schwer versilberte Menage mit den Ketchup-, Essig-, Pfefferessig- und Worcestersauce-Flaschen putzte. »Das wird wohl die richtige Art sein, sich zu benehmen – so, daß überhaupt kein Mensch merkt, was für feine Manieren man hat.« Das war eine tiefsinnige und beunruhigende Theorie. Gar keine Ehre damit einlegen, daß man feine Manieren hat? Wozu sind sie dann da? Nun, er würde es wohl tun müssen. Er wollte lieber sein wie Miss Absolom – schlank, dunkel, resolut, aufrecht – als wie der rundliche, schnaufende Horace Tiger.

Eines Abends, als Miss Absolom an jenem Zustand litt, den man damals als »Migräne« bezeichnete, und nicht zum Abendessen hinuntergekommen war, brachte er ihr eine Tasse Tee.

»Komm herein; ich möchte mich ein bißchen mit dir unterhalten«, sagte sie.

Nach den Vorstellungen, die man sich im Jahre 1891 von New-Yorker Damen machte, die in kleinen Nestern verbannt lebten, hätte das Zimmer üppig mit türkischen Wandteppichen, einem Samowar und chinesischen Lampions dekoriert sein müssen – solchen Lampions, wie sie bei Wiesenfesten in Black Thread erstrahlten. In Wirklichkeit war nichts von diesem orientalischen Glanz da. Aber auf dem Tisch aus Kiefernholz lagen einen Viertelmeter hoch Bücher, daneben stand ein mit Chintz bezogener Sessel, und das Bett war mit einem chinesischen Teppich zugedeckt. (Das fand Myron immer komisch – ein Teppich auf einem Bett! Aber es sah eigentlich nett aus, das weißgestrichene eiserne Bettgestell wirkte weniger gewöhnlich.) Im übrigen zeigte das Zimmer dieselbe saubere, kahle, getünchte Einfachheit wie alle anderen im Haus.

Miss Absolom saß in dem Lehnstuhl. »Setz dich!« Sie zeigte auf das Bett, und ein wenig verlegen begab er sich dorthin.

Für einen Jungen in der sechsten Klasse bedeutete ein Privatgespräch mit einer Lehrerin der oberen Klassen in der Höheren Schule dasselbe wie für einen Gemeinen eine kameradschaftliche Unterhaltung mit einem Generalleutnant. Aber er hatte vier Jahre lang in einem Boarding-House gearbeitet und wußte darum schon als Elfjähriger recht viel von Menschen und ihren Neigungen, von ihren heimlichen Whiskyflaschen, ihren schmutzigen Tricks, wenn es sich um die Bezahlung der Wochenrechnung handelte, ihrer Freigebigkeit, wenn es nicht um mehr ging als um Wärmflaschen oder Konfekt. Er wußte tatsächlich so viel von den Menschen und ihren Methoden, wie jeder normale Junge von elf Jahren wüßte, wenn seine Fähigkeiten nicht unterdrückt wären, weil Eltern und Lehrer eifersüchtig darauf achten, daß alle Beschlüsse und Bestimmungen ihnen vorbehalten bleiben. Und doch geriet er mit all seinem frühreifen Wissen in Verlegenheit, als er Miss Absolom nicht in ihrer Eigenschaft als Pensionärin, an deren Bett, Verpflegung und Rechnung gedacht werden mußte, sah und sprach, sondern in ihrer Eigenschaft als Bekannte.

»Setz dich, Myron. Arbeitest du gern im Boarding-House?«

»Ach ja, ganz gern. Doch, ich glaub schon. Herrjeh, aber Ihnen gefällt's wahrscheinlich manchmal nicht besonders in so einem kleinen Nest, wo Sie doch in New York waren!«

»Das ist gar nicht so schlimm. Es rettet mich vor allzu viel hebräischem Bach und hebräischem Kaffeeklatsch und hebräischer Familie.«

»Wie?«

»Ich meine – – Das ist weiter nicht wichtig. Ich wollte bloß versuchen, witzig zu sein. Und tapfer, oder irgend so etwas Scheußliches. Es hat gar nichts zu bedeuten. Myron! Was willst du mit dir anfangen? Mir ist aufgefallen, daß du dir wirklich Mühe gibst beim Arbeiten. Was willst du werden?«

»Weiß nicht. Vielleicht Doktor.«

»Warum?«

»Weiß nicht. Ich denk mir, es könnte ganz interessant sein, für Menschen zu sorgen – ich meine – alles für die Menschen lernen.«

»Du willst von hier weg?«

»Ach, wahrscheinlich. Aber ich habe nie viel drüber nachgedacht.«

»Ja, mein Kind, ob du hier bleibst oder weggehst, du mußt es lernen, etwas besser auszusehen. Ich meine, sorgfältiger in deiner Kleidung zu sein. Nicht so wie Horace Tiger mit seinen albernen weißen Westen und seinem Haar, das wie ein ganzer Friseurladen riecht, sondern – – Du wirst eines Tages ein großer, imposant aussehender Mann sein. Du kannst das ruhig ausnutzen, indem du dich gut anziehst. Laß mal deine Nägel sehen.«

Schüchtern zeigte er sie. Sie waren wohl innerhalb vernünftiger Grenzen sauber, aber mit der Schere seiner Mutter ganz kurz abgeschnitten.

»Findest du nicht, daß meine etwas netter aussehen?« fragte Miss Absolom. Ihre mandelförmigen Nägel waren wahrscheinlich nichts Außerordentliches, aber Myron schienen sie köstlich zu sein, glatt wie polierter Achat. »Du kannst in der Drogerie für zehn Cent eine Nagelfeile kriegen. Feil die Nägel, mein Kind, feil sie. Und jetzt laß dir die Krawatte von mir binden. Du hast sie bloß zusammengeknotet.«

Geduldig band sie seine etwas ausgefranste blaue Schleife auf und brachte sie dann, sorgfältig die Enden zurecht zupfend, in Ordnung. Etwas schwach von ihrem warmen Frauenduft beugte er sich vor. »Schau jetzt in den Spiegel.« Er wunderte sich darüber, wie forsch die Krawatte jetzt aussah. Sie hatte in der Mitte eine schlanke Taille und rechts und links symmetrische Enden.

»Ich werd mir Mühe damit geben!« sagte er eifrig. »Ora bindet seine immer gut, und dabei ist er erst neun! Aber arbeiten will er nicht.«

»Jetzt hör mir einmal gut zu, junger Mann. Ich habe dich beobachtet. Du kujonierst Ora, um ihn zum Arbeiten zu bringen. Ich mache dir keinen Vorwurf daraus. Er ist ein faules kleines Vieh. Aber ein ernster junger Mann wie du, der nichts leicht nimmt und Gutes tun will, muß in einer Sache, die noch bedeutend wichtiger ist als das Nägelfeilen, auf sich acht geben. Du mußt mit dem Herrn ringen und versuchen, ein ganz klein wenig versuchen, dich davor zu bewahren, daß du ein Pharisäer wirst. Große, saubere, ernsthafte junge Herren haben eine Neigung dazu … ganz so wie intellektuelle jüdische Mädchen!«

»Herrjeh!«

»Ein Pharisäer ist ein Mensch, der, siehst du – natürlich, wenn man so etwas definieren soll – – Also, ein Pharisäer ist ein Mensch, der sich für etwas Wunderbares hält und das alle Leute merken läßt. Er ist – ach, er ist wie ein Mann in einem Wagen, der allen Menschen, die zu Fuß gehen, verächtlich zuruft: Seht mich an! Ich fahre! Auch wenn du fährst und Ora sozusagen moralisch im Staube kriecht, sei nicht zu stolz. Das Pferd vor deinem Wagen könnte durchgehen!«

»Ich – ja – vielleicht – ich glaube – ich verstehe – was Sie – meinen!«

Miss Absolom hatte durchaus den Eindruck, daß er nichts begriff. Aber er hatte begriffen.

Es gehört zu den Ironien des Lebens, daß eine Zufallsanregung – sie mag von einem Menschen kommen, den man in einem Eisenbahnzug trifft, von dem unbekannten Verfasser eines Leitartikels oder von einem Schauspieler, der in einem Theaterstück einer reinen Empfindung mit klingenden Worten Ausdruck verleiht – daß eine solche Zufallsanregung von größerem Einfluß sein kann als ganze Jahre langweiliger Ratschläge von Eltern. Als Myron erwachsen war und eigentlich zu sehr mit seiner Arbeit hätte beschäftigt sein müssen, um sich mit Toilettefragen abzugeben, dachte er, als er Miss Absoloms Namen schon seit Jahren vergessen hatte, noch immer daran, daß sie ihm seine Nachlässigkeit vorgeworfen hatte, und wurde mit einem Gefühl des Unbehagens und des Widerwillens gezwungen, sich entsprechend seiner Rolle als erfolgreicher Großstädter zu kleiden, was, trotz Carlyle, auf seine Selbstachtung und seine Fähigkeit, Menschen zu dirigieren, von ausgezeichneter Wirkung war. Er fing allmählich an zu glauben, Miss Absolom und er hätten oft viele Stunden lang miteinander gesprochen. Das hatten sie gar nicht getan. Sie war eine Gottheit in seiner Privat-Mythologie mit all dem durch nichts zu vernichtenden Einfluß einer Gottheit, die unsterblich ist, weil sie niemals existiert hat.

Ob sie ihn auch vom latenten Pharisäertum kuriert hat, läßt sich nicht sagen. Wahrscheinlich hatte Myron ebensoviel Pharisäerhaftes wie andere »Kanonen«. Überdies steht es auch keineswegs fest, ob die Freude am eigenen Pharisäertum nicht eines der unschuldigsten und gesündesten Vergnügen ist, was man für wahrscheinlich halten muß, wenn man die Karrieren der meisten Bischöfe, Chefredakteure, Feldwebel, Sportlehrer und sozialistischen Autoren betrachtet.

Am nächsten Tag nahm Myron fünfundzwanzig Cent von den zwei Dollar fünfundsechzig, aus denen seine Ersparnisse bestanden, und kaufte sich eine rote Krawatte, die er dann immer zur Sonntagsschule trug. Sie war knallrot, und Myron hielt sie für überaus vornehm. Er feilte auch seine Nägel, bis sie ihm ordentlich weh taten. Aber Miss Absolom sah ihn nicht einmal. Er litt darunter, war aber um so fester entschlossen, Eindruck auf sie zu machen; Eindruck auf alle klugen, zynischen Fräulein Absolom der Welt zu machen und sie dazu zu bringen, daß sie ihn als einen der ihren anerkannten.

 

An den Samstagabenden hatten die Gäste in Mutter Weagles Boarding-House in dem kleinen, viereckigen Salon mit dem abgetretenen roten Teppich und dem üppig vernickelten Ofen immer eine kleine Festivität, deren Höhepunkt Welsh Rabbits, Rührei oder Eiskrem bildeten. In einer Ecke des Raumes stand verloren eine Palme, und zu den Sitzgelegenheiten gehörten die allermodernsten Roßhaarsofas, ein mit Brüsseler Gobelin bezogener Patentschaukelstuhl und ein interessantes Möbel, das entstanden war, indem aus einem Faß ein Stück herausgeschnitten und das, was übrigblieb, vergoldet wurde.

Gelegentlich spielte Miss Absolom etwas, das sie einmal »Mozart« ein andermal »Mendelssohn« nannte – Namen, die Myron noch nie gehört hatte. Aber der Löwe der Unterhaltungen war Horace Tiger. Er konnte auf einer Säge spielen und tat es auch. Er sang die damals populären Schlager und war vornehm genug, anstößige Stellen in eleganter Weise zu korrigieren. Sein Standardlied war:

»Ich weiß ein komisches Gewächs
Von Boarding-House,
Da kriegen alle Ham und Eggs,
Tag ein, Tag aus.

Oh, wie sie auf die Teller glotzen
In diesem Boarding-House,
Am liebsten würden sie ja – schimpfen,
Tag ein, Tag aus.«

Alle Pensionäre lachten wie irrsinnig, wenn Horace zögerte, ihnen zublinzelte und schließlich »schimpfen« statt des anstößigen Wortes sagte. Auch Myron lachte – nachdem er zu Miss Absolom hinübergeblickt hatte, um zu sehen, ob sie lächelte, was sie stets tat. Aber Mutter Weagle erklärte jedesmal (an zweiundfünfzig Samstagabenden in einem Jahr) verärgert: »Ich kann das wirklich nicht nett finden! Sie bekommen hier doch nicht alle Tage Harn and Eggs!«

Und Horace brillierte als Imitator. Seine beiden Nummern waren: ein Negergeistlicher (sehr realistisch), dessen Predigt mit den Worten begann: »Ich bin absoluterment überzeugt«, was in allen ein überaus glückliches Gefühl und das Bewußtsein der Erhabenheit über minderwertige Rassen erzeugte; und ein Maine-Farmer, der seine Gespräche immer mit den Worten einleitete: »Na, da soll mich doch gleich das Hagelwetter holen!«

Miss Absolom ermunterte Horace immer; sie saß da, ihr Kinn in die schmale dunkle Hand gestützt, zwinkerte ihm zu und murmelte: »Bravissimo.« Erst viele Monate, nachdem sie mit ihm über seine Nägel gesprochen hatte, kam er auf den Gedanken, daß sie Horace in etwas übertriebener Weise ermunterte. Von da an war es ihm immer peinlich, wenn Horace sich produzierte, und in den nicht ganz klaren Gedankengängen eines elfjährigen Jungen hielt er sich immer wieder vor, daß er sich schützen müßte, daß er den Menschen keine Möglichkeit geben dürfte, sich über ihn lustig zu machen.

Von diesem Vorsatz brachte es ihn auch keineswegs ab, als das Wunderkind Ora dazu veranlaßt wurde, die erhebende Ballade »Der Schiffbruch der Hesperus« zu deklamieren. Myron dachte strahlend, sein Bruder wäre ein Wunder der Natur, er könnte deklamieren wie ein richtiger Schauspieler, und das schon im Alter von zehn Jahren! Aber trotzdem wäre es ihm lieber, dachte er seufzend, wenn Ora nicht so mit den Armen herumfuchteln und sich nicht an den Höhepunkten seiner Deklamationskunst auf den Magen klopfen würde, als ob er Schmerzen hätte.

Myron lernte viel von diesen Samstagabend-Gesellschaften. Er lernte, daß die Menschen »amüsiert« werden wollen; daß sie fast alles tun, sich fast alles anhören, bloß um nicht allein zu sitzen und zu lesen; und nun gar allein sitzen und über etwas nachdenken, das war nur für die dümmsten Tölpel oder für die resigniertesten Weisen erträglich. Er fand damals noch keine klare Formulierung dafür, ebensowenig wie der Fischerjunge bewußt die Manöver kennt, mit denen er durch die Brandung steuert, aber er begann zu begreifen, daß er, wenn er einmal in der Lage wäre, für eine Anzahl von Menschen zu sorgen, diese kindischen Tierlein »amüsieren« müßte. Brot und Spiele, Schlittenfahrten und abendliche Kirchenfeste, Radios und Tonfilme, Oper und Reit- und Fahrturnier – in jedem Zeitalter, in jeder Gesellschaftsklasse, es handelt sich immer darum, den Menschen davor zu bewahren, daß er, allein gelassen, an seiner schönen Überlegenheit zu zweifeln beginnt.

Mit einer ungeschickten Geheimnistuerei, die etwas Seltenes an ihr war, denn im allgemeinen verkündete sie in der Küche, während sie Biskuitteig rührte oder Eierschnee schlug, mit lautem Gegacker alles, was sie dachte, rief Mutter Weagle Myron in das Zimmer, das sie mit ihrem Gatten teilte. Tom war für den Nachmittag weggegangen; theoretisch wollte er Wachteln jagen. Sie hatte nach einem Streit, in dem sie ihm damit drohte, ihn zu verlassen, die Verfügung über ihren ganzen Geldbesitz sich selbst vorbehalten und ließ Tom nicht mehr als einen Dollar in der Woche zukommen. Aber selbst mit dieser kleinen Summe brachte er es auf rätselhafte Weise zuwege, sich oft und ausgiebig zu betrinken.

Myron hatte den Argwohn, daß sein Vater Lebensmittel aus der Küche mauste und verkaufte.

Myron stand jetzt einen Monat vor der Vollendung seines dreizehnten Lebensjahres, war fast einen Meter siebzig groß und sehr mager, aber seinen kräftigen Knochen war schon anzusehen, daß er breite Schultern bekommen würde. Er lächelte nicht viel. Seine Hände waren rauh von der ununterbrochenen Hausarbeit. Seiner Mutter wenigstens bewies er stets Zärtlichkeit.

Sie saßen auf der Kante ihres Bettes; sie war aufgeregt und seufzte viel, während er sie besorgt betrachtete. Ihr Zimmer war verstaubt, das Bett ungemacht, das Bettzeug war noch ganz zerknäult von der Tracht Prügel, die Tom bekommen hatte, als er aus seiner alkoholischen Betäubung erwachte. Auf dem Fußboden lag die Wäsche der vergangenen Woche, nachlässig hingeworfen, ein sauberes Laken lag im Schmutz. Es war außer seinem und Oras Zimmer das einzige im Haus, das schlecht gehalten war: Mutter Weagle hatte keine Zeit für sich selbst und den Raum, in dem sie sich von ihrer Arbeit ausruhte.

»Myron, du bist noch so jung, daß man eigentlich nicht mit dir darüber reden kann, aber ich hab niemand anderen. Du weißt, wie dein Pa ist. Also, ich hab das ganze letzte Jahr nachgedacht, und dabei ist mir klar geworden, daß er sich nicht so benehmen würde, wenn er ein bißchen mehr zu tun hätte. Es gibt ja kaum Arbeit für ihn hier.«

»Ich könnt mir beim Bettenmachen von ihm helfen lassen, und vielleicht könnte er das Holz sägen, wenn er Lust dazu hat«, sagte Myron, ganz ernsthaft.

»Ja, ich glaube nicht, daß ihm daran was liegen würde. Ihm würde es Spaß machen, hinter einem Pult zu sitzen und anzugeben. Der Mann, der das American House leitet, wandert weiter nach dem Westen. Es ist zu pachten mit der ganzen Einrichtung und allem. Ich hab ein bißchen gespart und könnte die Pacht für zwei Jahre aufbringen. Dann könnte dein Pa vorn im Büro sitzen, und vielleicht würde ihn das wieder auf die Beine bringen. Was meinst du?«

»Das wär eine elegante Sache!«

Vor Myrons Auge erhob sich eine Vision vom Glanz des American House: die Geräumigkeit der Halle, in der vierzig Menschen sitzen konnten, ganz anders wie in dem engen, kleinen Salon ihres Boarding-House; die vergoldeten Heizkörper; die funkelnden großen Messingspucknäpfe; der gewaltige Speisesaal mit richtigen gedruckten Karten, wenigstens für das Sonntagsdinner; die endlosen Reihen von Zimmern und nicht weniger als vier Badezimmer; und dann das Gebäude selbst, drei hochragende Stockwerke aus Backstein und ein Portal, das ihn seit jeher fasziniert hatte – nicht eine einfache Tür in der Fluchtlinie der Mauer, sondern eine an der Ecke, die diagonal abgeschnitten war. Und die Leute dort! Er war die Boarding-House-Insassen gewohnt: größtenteils ältere Ehepaare aus dem Ort, die sich nicht mehr die Mühe machen wollten, selbst einen Haushalt zu führen. Sie waren für Myron ein ebenso vertrauter und uninteressanter Anblick wie etwa Warzen. Aber im American House saßen, durch das großartige Spiegelglasfenster auf die Hauptstraße hinausblickend, kühne Zugvögel: Geschäftsreisende in feschen rosa Westen, Plastronkrawatten und Kragen, die ihnen fast den Unterkiefer abschnitten; der Star der Original Drury Lane-Tournéegesellschaft, der einen mit Astrachan verbrämten Mantel besaß und dickes Haar hatte, das aussah wie ein Pferdeschwanz.

»Donnerwetter, Ma, das wär fein! Einfach blendend! Aber du müßtest sehr schwer arbeiten.«

»Ach, ich würde mehr Hilfe haben. Du würdest mir doch helfen, nicht wahr, das würdest du? Würdest du mir nicht helfen?«

Sie umarmten sich. Niemals in seinem ganzen Leben kam ihm ein anderes menschliches Wesen so nahe wie Mutter Weagle.

»Wir werden etwas Großartiges aus dem Hotel machen!« rief er.

»Ja, vielleicht«, sagte sie nachdenklich, sich ein wenig aus der Schwermut reißend, die uns alle überkommt, wenn wir daran denken, etwas von den Dingen wirklich zu tun, die wir uns immer gewünscht haben, ob es sich nun um Heiraten handelt oder um Sterben, ob es sich darum handelt, Gamaschen zu tragen oder ein Hotel zu leiten.

 

Es schien riskant, Tom Weagle ein Hotel anzuvertrauen, zu dem eine Bar gehörte. Aber Mutter Weagle hatte in ihrer unbewußten, bäuerlichen Art die Gabe, Menschen zu verstehen – das erste Erfordernis für einen Hotelier ebenso wie für einen Juristen, einen Arzt oder irgendeinen anderen akademischen Beruf. Tom hörte nicht auf, heimlich sein Gläschen Whisky zu trinken, aber er gab sich Mühe, seiner Rolle als Direktor eines wirklichen Hotels gerecht zu werden, seiner Rolle als Mann, der die elegantesten Reisenden wie seinesgleichen behandeln konnte und die Macht hatte, es ihnen behaglich zu machen oder sie in das schäbigste Zimmer im dritten Stockwerk zu verbannen. Er ging sogar so weit, seinen Rock, abgesehen von den allerheißesten Tagen, im Büro anzubehalten. Er klingelte mit imposanter Geste nach Myron oder nach Onkel Jasper – dem ehrwürdigen Neger, der Hausdiener, Omnibuskutscher und Reinemachmann war – damit »das Gepäck des Herrn hinaufgeschafft würde, und zwar dalli«. Seine stolzeste Aufgabe war das Tranchieren des Fleisches während der Mahlzeiten auf einem Tisch, der nicht in der Küche, sondern an dem einen Ende des Speisesaales stand. Tom war als Meister der Tranchierkunst geboren, und das Tranchieren ist, obgleich der Laie es nur selten zu würdigen weiß, eine der okkultesten Priesterkünste im Hotelgewerbe. Er liebte das kurze Geklirr, mit dem das Tranchiermesser den stählernen Schleifstein berührte, die Herrlichkeit des Messergriffs aus Horn und der römischen Klinge, ihr kriegerisches Funkeln, wenn er damit weit ausholte, und die eigene chirurgische Geschicklichkeit, ein Flügelgelenk mit dem ersten genauen Schnitt abzutrennen. Myron, der ihm voll Bewunderung und Lerneifer half, erkannte, daß sein Vater zumindest in dieser einen geheimnisvollen Kunst ein Weiser war.

Tom versuchte sogar Buch zu führen und machte dabei so wenige Fehler, daß Myron sie meistens verbessern konnte.

Myrons Stellung im Hotel, außerhalb seiner Schulzeit, war einfach und klar umrissen: er machte alles, was kein anderer tun wollte. Er trocknete Geschirr ab und scheuerte Fußböden; er fegte in den Korridoren, auf den Treppen und im Büro; er kochte die Frühstückseier, bevor er zur Schule lief; er weckte wütende Reisende zu dem um vier Uhr vierzehn nach Waterbury abgehenden gemischten Zug; er arbeitete gelegentlich in der Bar hinter der Theke. Er lernte die geringfügigen, unromantischen, über alles wichtigen Einzelheiten der Hotelführung, bis er geradezu mit ihnen verwachsen war.

Er lernte es, Hühnchen und Steaks rasch abzubraten, statt sie schmoren zu lassen, bis sie zäh wie Sohlenleder geworden sind; er lernte, daß es noch andere Suppen gab als Muschel-, Tomaten-, Gemüse- und Hühnersuppe, und andere Arten der Kartoffelzubereitung als sie zu braten, zu rösten, zu kochen und Püree zu machen; er lernte, und bewies auch allen entsetzten Protesten seiner Mutter zum Trotz, daß die, wie sie sagte, »ekelhaft aussehenden« Hühnerfüße nicht weggeworfen werden sollten, weil sie zum Suppenkochen zu brauchen waren. Er lernte sogar in der Bar unter der Aufsicht des Barmannes Jock Mc Creedy, eines Meisters in seinem Fach, so geheiligte altmodische und heute völlig vergessene Drinks zu mischen, als da waren Holzfäller-Murre, Sherry Cobler, Goldfizz, Adlerschwinge, Fischerpunsch, Pousse-Café, Balaklava-Nektar, Weiße Tigermilch, Gewürzknickebein und Alligatorenohr: schon die Namen ein Rausch der Poesie, und die Getränke selbst für ehrliche Trinker ein Vorgeschmack des Nektars in der allerheiligsten Bar des Paradieses.

Denn Myron zeigte ein ungewöhnliches Talent, das erste in seinem arbeitsreichen Leben: er kaufte sich ein Kochbuch. Das war nichts Ungewöhnliches; es gibt Menschen, vor allem junge Ehefrauen, die Kochbücher kaufen. Von 1896 bis 1931 wurden von dem Bostoner Kochschul-Kochbuch eineinhalb Millionen Exemplare verkauft, was zur Folge hatte, daß seine Verfasserin, Miss Fannie Merritt Farmer, zusammen mit Charles M. Sheldon, Harriet Beecher Stowe, Arthur Brisbane und Laura Jean Libbey zu den fünf bedeutendsten amerikanischen Autoren gezählt wurde. Aber bald erwies sich dieses kleine Talent als unbezweifelbare Genialität, denn er las das Kochbuch von Anfang bis zu Ende.

Er baute auch eine leinene Förderbahn vom dritten Stockwerk durch den Treppenschacht zum Souterrain, während der alte Tom (er war damals, im Jahre 1894, als Myron vierzehn Jahre zählte, erst dreiundvierzig, aber er war alt zur Welt gekommen, und es ist anzunehmen, daß er langsam in seiner Mutter Milch gekocht wurde) auf der Treppe saß und ihm half, indem er die Nägel hielt, schlechte Ratschläge gab und ein bißchen mit Myron zankte, weil er in der Schule so schlecht war, denn abgesehen von den sieben bis acht Stunden, die er täglich im Hotel arbeitete, und etwa sieben Stunden, die er im Schlaf vergeudete, konnte Myron seine ganze übrige Zeit darauf verwenden, sich der Schule und langen, schönen, begeisterten Stunden des Studierens zu widmen.


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