Julie de Lespinasse
Die Liebesbriefe der Julie de Lespinasse
Julie de Lespinasse

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119.

Eine Stunde nach Mitternacht. [Mai 1775.]

Mein lieber Freund, ich will nicht schlafen gehen, ehe ich Sie nicht habe teilnehmen lassen an meiner Verehrung, Hochachtung und Begeisterung. Ich bin tief ergriffen und gehoben von dieser Gedenkschrift. Wie schön ist sie, wie edel, wie würdevoll! Ich bin voll Bewunderung für Mark Aurel und voll Verehrung für seine edlen Verherrlicher. Lesen Sie, und ernüchtern Sie mich nicht durch kritische und stilistische Bemerkungen.

Der König muß die Schrift unbedingt lesen. Ich habe schon in diesem Sinne agitiert, und ich hoffe, mein Wunsch geht in Erfüllung. Offengestanden wünsche ich das nicht wegen Thomas. Dieser Prachtmensch ist mit dem ideellen Erfolge völlig zufrieden. Selbstverständlich habe ich ihm bereits ein paar Worte über seine Lobschrift gesandt.

Lieber Freund, der Tod könnte morgen bestimmt kommen, und doch würde ich heute noch das Bedürfnis haben, die Talente und die Tugenden zu ehren und zu lieben. Schelten Sie mich meinetwegen ob meiner Tollheit! Dieselbe Art Tollheit war es ja, die in dem loderte, den ich acht Jahre lang angebetet habe!

Ach, mit wehem Herzen erfahre ich an mir jene Worte Montaignes: Wenn ich etwas allein genieße, so kommt es mir vor, als stehle ich dem Freund seinen Teil.

Gute Nacht! Auf Wiedersehen morgen um halb zwei Uhr oder später. Schicken Sie mir die beiliegende Lobschrift wieder zurück! Ich kann mich nicht von ihr trennen.


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