Maria Leitner
Eine Frau reist durch die Welt
Maria Leitner

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Fahrten in Dixieland

Wo ist eigentlich Amerika? Dort, wo in den Großstädten alle Nationen der Welt zusammenhausen, wo die Mehrzahl der Einwohner Eingewanderte sind, die die englische Sprache nur dürftig beherrschen, oder hier in den ältesten Straßen, wo noch sorgsam behütete Tradition lebt, wo der Prozentsatz der Neueingewanderten der geringste ist? Denn nichts ist entgegengesetzter von unserer 128 Vorstellung über Amerika als das Leben, die Arbeitsweise gerade hier.

In der Eisenbahn klettert der Schaffner jedesmal auf die Armlehnen, um die Petroleumlampen anzuzünden. Die Landstraße wird renoviert. Sechs Pferde ziehen langsam die Walze, sie wird von zwei Reitern begleitet. Bahnhöfe – eine einzige Doppelbank mit gemeinsamer Lehne, aber die eine Seite ist »Nur für Weiße«, die andere »Nur für Farbige«. Sehr viele der Holzhäuschen, die eine zahlreiche Familie beherbergen, bestehen aus einem einzigen Raum. Die Küche ist vor dem Haus, ein Kessel über offenem Feuer. WCs gibt es meist nicht. Aber die primitiven Gruben sind streng »Für Weiße« und »Für Farbige« eingeteilt. Man sieht viele Ochsenkarren, »Zuckerfabriken«, die aus einer einzigen Handpresse bestehen.

Und die Dorfgeschäfte, ein Fensterchen in einer Holzbude. Phantastisch zusammengewürfelte Kleinstädte, moderne Luxushotels inmitten gepflegter Parkanlagen, alte Herrschaftssitze, halbverfallene Negerviertel mit einem Grand Café de Paris oder New York, Papierrosen-Girlanden, Katzen, leere Flaschen in den Fenstern. In Augusta ist eine ganze Straße voll Leihhäuser. Sie heißen »Onkel Sams Hilfsquelle«, »Die Goldmine«, »Zur Geldquelle«, »Größte Leihanstalt der Welt« und so ähnlich.

Die Landschaft aber erklärt die sehnsüchtigen Dixielieder, die von Georgia, von South Carolina singen. Die mit Pfirsichplantagen besäte Hügellandschaft in Georgia unter einem glasklaren Himmel. Die Wildheit South Carolinas. Hier ist der Sand schneeweiß, wenn der Wind ihn aufwirbelt, ist es wie Schneegestöber, die Felsen sind blutrot, die dunklen Seen sind mit Zwergpalmen besäumt. Wie phantastische Bärte weht in den ewig grünen Eichenwäldern das lange Spanische Moos zwischen den Zweigen. Die Pinien sind hier wirklich Pinien, keine Kiefern, ihre phantastischen Formen zeichnen sich tausendgestaltig in die Landschaft, ihre Farbe wechselt vom zartesten Grün bis zum Schwarz. Über die Sümpfe leuchten Irrlichter. Ein günstiger Boden für Mystizismus. 129

Die Stadt, in der gelyncht wurde

Aiken ist der exklusivste Kurort des Südens. Einer Sandwüste sind märchenhafte Gärten abgetrotzt. Villen, wahre Prunkpaläste führen Namen wie »Einfachheit«, »Calico-Haus«, »Die Hütte unter Pinien«. Nirgends Autos, aber die besten Rasse- und Rennpferde der Staaten überwintern hier, man sieht die Pferdewägelchen des teuersten Kinderinternats der Welt, über dessen Zöglinge die »New York Times« Notizen in ihrer Gesellschaftsrubrik bringt. Rote Fräcke jagen mit Rassehunden durch die Negerviertel in den Wald. In manchem Hotel werden nur im Blaubuch, dem »Gotha« der amerikanischen Gesellschaft, verzeichnete Personen aufgenommen. Hier führen die reichsten Baumwoll-Plantagenbesitzer und Fabrikanten große Häuser.

Die Neger aus den Holzhütten kommen während der Saison in die Häuser der Reichen, nur als dienstbare Geister natürlich. Man sieht Negerinnen ganz in Weiß gekleidet, mit langem, weißem Schleier auf dem weißen Hut. Im Negerviertel hausen Wudus (Negerzauberer), die nicht nur von den Negern, sondern auch von den weißen Kurgästen großen Zulauf haben.

Hier also, in dieser Stadt, spielte sich einer der furchtbarsten Lynchmorde der letzten Jahre ab. Drei Geschwister, darunter eine Frau, die unter der Anklage standen, den Sheriff getötet zu haben, wurden vom Mob, den vornehmsten und reichsten Bürgern von Aiken, aus dem Gefängnis geholt, in den Wald geschleppt, erschossen und dann verbrannt. Aber die Vorgeschichte war noch viel geheimnisvoller. Den Sheriff fand man vor der Hütte der Neger erschossen. Auch Frau Lowmann, die alte Negerin, war tot, erschossen, der alte Lowmann schwer verwundet. Hatte der eine Sohn aus Notwehr den Sheriff getötet? Zwei der später gelynchten Geschwister konnten beweisen, daß sie sich in der fraglichen Nacht gar nicht in Aiken aufhielten. Sie erwarteten ihren Freispruch. Konnten da die Bürger von Aiken untätig zusehen?

Die Weißen von Aiken können gar nicht begreifen, aus welchem Grunde man aus New York immer wieder Untersuchungen anordnet. »Nigger« haben den Sheriff ermordet, wie und warum, das ist ganz gleichgültig, und die Weißen haben sich gerächt.

Jetzt versucht man wieder aus New York die Sache aufzuwärmen, eine neuerliche Untersuchung wurde angeordnet. Der 130 längliche, mit Palmen bepflanzte Platz vor dem Stadthaus ist voll Menschen. Der Gerichtsdiener kommt von Zeit zu Zeit auf den Balkon und ruft den Namen eines Zeugen hinunter. Dann entsteht Bewegung in der Menge. Aber die Zeugen wissen nichts. Obgleich jedes Kind in Aiken die Namen der am Lynchmord beteiligten Bürger kennt, wenn eine New-Yorker Zeitung sie nennen würde, würde es sie Hunderttausende von Dollar Entschädigung kosten.

Charleston

Charleston – seine Geburtsstadt. Jazz, verrenkte Glieder? Gerade das Gegenteil. Eine verträumte Stadt, hier in den Staaten. Die Prospekte über Charleston verkünden: die einzige amerikanische Stadt mit »quaintness«, so etwas wie verschlafener Altertümlichkeit. Alte Paläste, von breiten Patios umschlungen, verwittern in südländischen Gärten. Enge Gassen, alte Kirchen und Friedhöfe, verfallene Forts. Marmorne Löwen bewachen die alten Häuser am Quai des südlich strahlenden Atlantischen Ozeans.

Trotz seiner an alten Traditionen festhaltenden Bürgerschaft ist Charleston freier als alle anderen Städte des Südens. Charleston ist Hafen. Die Matrosen haben nichts gegen »Farbige«, wenn sie sich nur amüsieren können. Wenn die Passagierdampfer, die von New York nach Florida fahren, im Hafen anlegen, kommen die Neger, die nichts Besseres zu tun haben, und tanzen für einige Cents die neuesten Tänze und singen Blues, die sie vielleicht gerade im Augenblick improvisieren. Deshalb: Charleston.

Ich wohne auch in einer Pension, einem alten, verfallenen Palast, der sich gegen seine Tradition »Haus des Volkes« nennt. Die Eingänge in die Zimmer führten alle durch den riesigen Patio und erleichterten die Verbindungen zwischen den verschiedensten Liebespaaren. Das Durcheinander von Grammophonen und Ukulelen gab eine Musikbegleitung, als würde ein Wahnsinniger eine Oper dirigieren. Hier wohnten Arbeiter, Verkäuferinnen, Angestellte.

Ich arbeitete in dem vornehmsten Hotel der Stadt. Meine Beschäftigung war weniger vornehm. Von morgens um dreiviertel sieben bis abends um neun hatte ich Zwiebeln zu putzen, die Köche bei ihren Mahlzeiten zu bedienen, die Holztische zu 131 scheuern. Abends mußte ich als Krönung meines Tagewerkes die Küche ausfegen. Der Obersteward aus Boston hatte eine perverse Freude, mich beim Arbeiten zu beobachten. Dieser hinkende Fleischberg schleppte immer einen Stuhl am Arm, um es sich in allen Ecken der riesigen Küche bequem machen zu können. Er setzte sich gerade dorthin, von wo er am besten beobachten konnte. »Die Ecken nicht vergessen«, rief er mir zu, während sein Fett über den Stuhl hing, »die Ecken nicht vergessen, aus den Ecken rollt das Gold.« »Ick merke nischt von«, erwiderte ich mürrisch, während ich aus besten Kräften Staub in seine Nase zu wirbeln versuchte.

Es war nicht schön, ich roch entsetzlich nach Zwiebeln, trotzdem beschloß ich, noch auszuharren. Aber dann kam ein Sonntag. Arbeitszeit für mich genau wie an Wochentagen. Erst spät fiel mir ein, daß ich keine Uhr hatte. Wochentags war es nicht schwer, im »Haus des Volkes« früh aufzustehen, denn morgens um sechs begannen schon die Wecker zu rasseln. Aber die anderen mußten wenigstens sonntags nicht arbeiten. Macht nichts, ich habe guten Zeitsinn, ich werde es nicht verschlafen.

Als ich erwachte, war es noch dunkel, die Bogenlampen brannten, ich fühlte mich müde und unausgeschlafen, so war es jeden Morgen. Zeit aufzustehen. Erst als ich auf der Straße zur nächsten Uhr kam, sah ich, daß mich mein Zeitsinn betrogen hatte, es war drei Uhr morgens. Um so besser, ich kann noch schlafen. Zurück nach Hause.

Als ich zum zweitenmal erwachte, fühlte ich mich schon viel ausgeschlafener. Es war heller Tag. Auf dem Patio lärmten schon alle Grammophone und Ukulelen. Es war Mittag vorbei. Schicksal! Morgen wollte ich mein Geld holen. Adieu, Charleston!

Nachmittags traf ich in schönster Abschiedsstimmung einen Kollegen aus dem Hotel, einen, der die großen Kochtöpfe zu reinigen hatte, Kiddy Brown. Er hatte zwischen den Mahlzeiten eine halbe Stunde Zeit und unterhielt sich jetzt mit seinem Freund unter den Arkaden des alten Kaffeehauses. Der andere arbeitete hier, er wartete auf die vorbeifahrenden Autos, um ihnen Erfrischungen an den Wagen zu bringen. Uns gegenüber erhob sich der gewundene Turm einer alten Kirche, ein Friedhof lag zu ihren Füßen. Ein Papagei schrie auf uns, mit der Stimme eines heiseren Greises, Verwünschungen herab. Bald gesellte sich zu ihm der 132 Chef des schwarzen Ganymeds und verscheuchte uns, die hier nichts zu tun hatten.

Wir gingen mit Kiddy Brown auf die andere Seite. »Ich will auch bald fort«, sagte er, »vielleicht nach Boston oder New York. Wo der Neger auch ein Mensch ist. Dort, nicht wahr, gibt es keine ›Jim Crow Linie‹.«

»Ich fürchte, die gibt es überall, wenn auch in veränderter Form.«

Wir standen jetzt auf dem Friedhof unter einer Statue. Ein heiter lächelnder, weiblicher Torso. Vielleicht vermag uns ein Torso deshalb so zu ergreifen, weil er zeigt, daß das Leben, wenn auch unvollkommen, den Tod zu überwinden, über Vernichtung zu triumphieren vermag.

»Da steht etwas auf dem Sockel, was ich nicht ganz verstehe«, sagte Kiddy Brown.

Wir lasen, leider muß ich aus dem Gedächtnis nur dem Sinn nach zitieren: »Diese Statue wurde von der englischen Flotte, die unsere Stadt beschoß, beschädigt, gerade zu jener Zeit, als Pitt im englischen Parlament seine Stimme zugunsten des amerikanischen Volkes erhob. Diese Statue sei seinem Andenken gewidmet. Doch auch wenn sie schon längst zu Staub verfallen, unsere Stadt der Vergessenheit anheimgefallen ist, wird sein Andenken noch leben.«

»Wer war denn dieser Pitt?«

»Ein englischer Staatsmann, wenn ich nicht irre, der die Rechte anderer Nationen anerkannte, auch wenn sie ›Feinde‹ seines Vaterlandes waren.«

»Aber nicht wahr, man kann nicht erwarten, daß andere für unsere Rechte kämpfen. Und um es besser zu haben, genügt es nicht, in eine andere Stadt zu fahren?«

»So wird es wohl sein, Kiddy Brown. Man kann von den anderen nicht allzuviel erhoffen. Und so schöne Kriegerdenkmäler werden heutzutage überhaupt nirgends errichtet. Weder in Amerika noch in Deutschland.« 133

 


 


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