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Zweites Kapitel.

Richard und Aagot waren seit drei Jahren verheiratet und hatten einen kleinen Sohn, der mit den klaren, himmelblauen Augen seiner Mutter in die Welt hineinschaute, – der niemals schrie, niemals ungehorsam war, des Nachts vorzüglich schlief und nie die geringste Spur von Krämpfen gehabt hatte.

Sie hatten ein schönes, hübsch eingerichtetes Heim mit modernen Phantasiemöbeln, die unregelmäßig zu kleinen Gruppen geordnet und gleichsam zufällig bunt durcheinandergeworfen waren, deren Aufstellung aber in Wirklichkeit einem gewissen bestimmten System entsprach.

Aagot liebte die Ordnung, da aber ihr Geschmack und ihre Ansichten stets die der großen Menge und der herrschenden Tagesrichtung waren, konnte sie gar nicht auf den Gedanken kommen, ihre Häuslichkeit anders einzurichten, als die Mode es erheischte. Sie selbst ging in eleganten Toiletten durch ihre schönen Zimmer, sich stets korrekt nach den verschiedenen Tageszeiten richtend, in einem Morgenrock aus weichem Kaschmir mit Spitzen besetzt, in einem Vormittagskostüm von streng englischem Herrenstil, oder in einer Mittagstoilette nach dem letzten französischen Modejournal. Stets heiter, stets mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen, immer zufrieden mit sich selbst und mit andern, verbreitete sie eine gewisse ruhige Gemütlichkeit um sich her. Keine Thränen schienen jemals den klaren Glanz dieser Augen verdunkelt zu haben, keine Nachtwachen hatten diese blühenden Wangen gebleicht.

Richards erste leidenschaftliche Verliebtheit war unter dem Einfluß der sicheren Ruhe, die ihr ganzes Wesen umgab, bald in eine ruhige, eheliche Gleichgültigkeit übergegangen. Er hatte immer viel zu thun und war aus dem besten Wege, sich einen Namen als Militärschriftsteller und Organisator zu machen. Wenn er des Mittags nach Hause kam, küßte er seine Gattin zerstreut auf die Stirn, verzehrte mit Wohlgefallen eine fein zubereitete, geschmackvoll auf kostbarem Porzellan angerichtete Mahlzeit, spielte nach Tische ein wenig mit dem Kleinen, ließ ihn in die Höhe springen, Laute nachahmen und Kunststücke machen wie ein kleiner Hund, und begab sich dann in sein schönes, tiefes, mit Büchern und großen Wandkarten geschmücktes Arbeitszimmer, wo er sich an den Schreibtisch setzte, während Aagot mit ihrer Stickerei in dem Boudoir saß oder mit ihrem Kinde spielte, bis es Zeit war, den Kleinen zu Bett zu bringen. Sie entkleidete ihn dann eigenhändig, wusch ihn, ließ ihn die Händchen zum Abendgebet falten, während sie selber neben dem Bettchen kniete.

Um diese Zeit des Abends gönnte sich Richard ein paar Erholungsstunden, und dann begann eigentlich erst sein Tag. Alle seine natürliche Mitteilsamkeit, sein Bedürfnis, sich über seine Arbeit und seine Pläne auszusprechen, sich in einer Atmosphäre sympathischen Verstehens zu fühlen, fanden ihre Befriedigung erst, wenn er noch ein paar Treppen höher gestiegen war und an einer Entreethür geschellt hatte, die zu einer Wohnung führte, welche von der größeren Etage, die völlig der seinen entsprach, abgeteilt war.

Hier wohnten die beiden »Unberechenbaren«, wie Alie im Scherz sich selber und die alte Frau Rode nannte. Nach Aagots Ansicht war es dort entsetzlich stillos. Die Möbel waren auf jener Periode zwischen der alten und der modernen Zeit, die jetzt mit Recht von allen Menschen mit Geschmack verachtet wird, und standen steil längs den Wänden aufgestellt; Sofas und Stühle waren mit weißen, gehäkelten Antimakassar bedeckt, auf den Tischen lagen doppelte Decken, eine zum Schmuck, eine zum Schutz für diesen Schmuck, und der Fußboden endlich war mit drei doppelten Teppichen belegt, von denen der eine den andern beschützen sollte, und trotzdem durfte man den Fuß nicht darauf setzen, ehe man sich sein säuberlich abgeputzt hatte. Mitten in all dieser Kleinlichkeit aber, die einer längst entschwundenen Zeit angehörte, hatten die beiden Persönlichkeiten, die hier wohnten – die rührige alte Frau, die zur selben Zeit ordentlich bis zur Pedanterie und ungeregelt, freiheitsliebend in ihren Gewohnheiten war, sowie das selbständige, phantasievolle junge Mädchen – dem Ganzen aber doch ein gewisses, persönliches Gepräge zu geben gewußt, von dem man nicht recht wußte, worin es bestand, das aber bewirkte, daß man sich hier sofort heimisch fühlte, während man sich bei Aagot gleichsam in einem Hotel ersten Ranges befand.

Im Wohnzimmer stand ein langes, steifes Sofa, Richards Sofa genannt, und hier pflegte er sich, so lang er war, hinzulegen, wenn er des Abends zu ihnen hinaufkam, ermüdet nach einem arbeitsamen Tag. Die Lampe wurde an das Fenster gerückt, damit ihr Schein ihn nicht blenden solle, Alie legte ihm ein Kissen unter den Kopf, und die Mutter rief: »Vergiß nicht das Antimakassar, Alie,« während sie ihm selber eine Schutzdecke unter die Füße legte. Dann machte Alie Thee aus der alten kupfernen Theemaschine, und so waren sie beide geschäftig um ihn besorgt, die Mutter glückselig, etwas für ihren Jungen thun zu können, Alie schwatzend, diskutierend, disputierend, blitzschnell einen jeden seiner Gedanken auffassend, stets individuell in ihrem Beifall wie in ihrer Kritik, hin und wieder ins Blaue hinein fechtend, bereit, ein Paradoxon auf Tod und Leben zu verteidigen, auf der andern Seite aber mit einer so reichen und warmen Sympathie, wenn sie über etwas einig waren, daß es für Richard von der größten Bedeutung war, sie auf seine Seite hinüberzubekommen. Ohne ihre Zustimmung und Billigung konnte er keinen rechten Fluß in irgend etwas bringen, und er konnte oft tagelang verstimmt umhergehen, wenn es ihm nicht gelungen war, sie so weit zu bringen, daß sie eine Frage mit seinen Augen betrachtete. Er beschuldigte sie dann wohl der Einseitigkeit und der Unbilligkeit, aber trotzdem wollte es ihm doch nicht so recht gelingen, seine gute Laune wiederzugewinnen, ehe er sie überzeugt oder – ausnahmsweise – sich selbst einmal hatte überzeugen lassen.

Und dann war da dies Unberechenbare bei ihnen, das so oft kleine, angenehme Ueberraschungen zur Folge hatte. Aagot konnte um elf Uhr des Vormittags zu ihnen hinaufkommen und die alte Frau noch im Unterrock vorfinden, während Alie im Schlafrock dastand und ihre Blumen, die sie auf den Fußboden gesetzt hatte, abbrauste, – ringsumher auf den Stühlen aber lagen Bücher und Handarbeiten. Und eine Stunde später, nachdem sich Aagot mit mißbilligender Miene entfernt hatte, konnte dann Alie bei ihr in die Thür hineingucken, völlig angekleidet zum Ausgehen, und sich zeremoniell verneigend sagen: »Frau Rode bittet um die Ehre, den Herrn Hauptmann und Frau Gemahlin heute mittag präzis fünf Uhr bei sich zu sehen!«

»Was sagst du! Heute?« rief Aagot aus. »Ihr hattet ja vorhin noch nicht einmal reingemacht!«

»Komm um fünf Uhr, und du wirst sehen, daß wir reingemacht haben,« erwiderte Alie, die Treppe hinabeilend, zum Schlächter und Delikatessenhändler. Und wenn dann Richard und Aagot kamen, fanden sie das Zimmer aufs schönste geordnet, die frischen Blattpflanzen waren geschmackvoll gruppiert, und auf dem Eßtisch stand eine eben aufgebrochene Kamelie. Frau Rode trat ihnen heiter lächelnd in ihrem grauseidenen Sonntagskleid entgegen, mit echten Spitzen um Hals und Arme, Alie dagegen trug ein einfaches, gestreiftes Blusenkleid, das aber wie alles, was sie trug, sein Gepräge durch ihre originelle Schönheit erhielt, so daß es einen guten Eindruck machte und von vorzüglichem Geschmack zeugte. Im Haar und um den Hals trug sie eine Garnitur von ungeschliffenen Korallen, und dieser einfache Schmuck schien absichtlich gewählt zu sein, um die Frische ihrer warmen Gesichtsfarbe und die ungekünstelte Anmut zu erhöhen, die über ihrer leichten, weichen Figur und ihrem selbständigen, wechselvollen Wesen lag.

Ueber ihre ganze Persönlichkeit war ein so sprudelndes Leben ausgegossen, daß ihre Gegenwart elektrisierend auf ihre Umgebung wirken mußte: Müdigkeit, Steifheit, schlechte Laune, alles schwand unbedingt vor dieser sprühenden Munterkeit, die jedoch ihren Ursprung keineswegs in wirklicher Freude hatte, denn wenn man in die Tiefe dieser dunkeln, ein wenig kurzsichtigen Augen schaute, so entdeckte man etwas Hartes, Unbefriedigtes, das den Beobachter mit Staunen und Unsicherheit erfüllte und ein verborgenes, inneres Leben ahnen ließ, das ganz andrer Natur war als diese schillernde Oberfläche.

So energisch und seelenstark, so lebensfroh und rege interessiert Alie in Gesellschaft scheinen konnte, so gleichgültig, schlaff und unwirksam war sie zu andern Zeiten. Sie kannte keine Ausdauer bei irgend einer Arbeit, sie las alles mögliche, das ihr in den Weg kam, wußte oberflächlich mit allem Bescheid, konnte, wenn es erfordert wurde, jegliches leisten, vermochte aber ihr Interesse niemals auf irgend etwas Bestimmtes zu konzentrieren. Sie sagte häufig, daß sie, wenn sie ein Mann gewesen wäre, Medizin studiert haben würde, aber jetzt hätte ihre Erziehung ihr weder die nötigen Vorkenntnisse noch die erforderliche Gewöhnung an Arbeit verliehen. Sie sehnte sich nach einem bestimmten, positiven Ziel für ihre Wirksamkeit, aber frei in ihrer Wahl, wie sie war, da keine pekuniäre Notwendigkeit sie zwang, das erste beste zu ergreifen, und da sie nach keiner Richtung hin ein ausgeprägtes Talent besaß, konnte sie nicht dazu kommen, einen endgültigen Entschluß zu fassen. Sie litt unter diesem planlosen Leben, es schmerzte sie, daß ihre Jugend so zwecklos verrann, ohne eigentliche Lebensfreude, ohne daß sie mit ihrer reichen Begabung das geringste ausrichtete, und ohne daß sie auch nur die Befriedigung hatte, alles für einen andern Menschen zu sein. Denn wie lieb man sie auch in der Familie hatte, der sie infolge eines Zufalls angehörte, – notwendig war sie doch keinem Mitgliede dieser Familie. Und ihr Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden, ihr Leben für und mit einem andern zu leben, für den sie die erste und einzige war, wuchs mit jedem Jahr, das auf diese Weise verstrich; ihre Gefühle für Richard, die sie jetzt mehr als Schwärmerei auffaßte denn als wirkliche Liebe, hatten doch ihre ganze erste Jugend ausgefüllt. Sie hatte, halb unbewußt, immer auf ihn gewartet, und dies hatte sie verhindert, allen Ernstes einen Lebensweg zu wählen. Als diese so lang gehegte Illusion zu nichte wurde, als sie selber das Glück von sich gestoßen hatte, das sie in ihrer Hand gehalten, da hatte sich in ihrem Leben eine unsagbare Leere geltend gemacht, – eine Leere, aus der sich dann allmählich eine tiefe Sehnsucht ausbildete. Ja, hier wollte jemand lieben, – aber nicht so, wie Aagot und Richard einander liebten.

»Gottlob, daß ich seine Frau nicht wurde,« konnte sie jetzt einmal über das andre zu seiner Mutter sagen. »Es ist nicht mehr Liebe in ihm als im –« sie wußte nicht, welch Gleichnis sie anwenden sollte, und sagte dann auf gut Glück: »Als in deinen grauen Filzpantoffeln! Seine kleine Liebesflamme war nicht einmal so groß wie meine schwache Spiritusflamme damals. Wenn ich an Aagots Stelle wäre, so würde ich ihm die Augen auskratzen. Dabei kann man ja den Verstand verlieren!«

»Schämst du dich nicht, daß du so romantisch bist!« sagte die alte Dame. »Kann man sich etwas Besseres wünschen als ihr ruhiges Glück?«

»Ja, natürlich schäme ich mich,« erwiderte Alie. Dann aber konnte sie plötzlich hinlaufen, der Alten um den Hals fallen, ihr in die Augen sehen und sagen: »Schämst du dich denn nicht selber, Tantchen, daß du mit deinen fünfundsechzig Jahren noch einen solchen Vorrat von Romantik in dir birgst!«

Aagot hatte Alie im Grunde sehr gern und suchte ihre Gesellschaft, obwohl sie im stillen fand, daß sie eigentlich zu nichts nütze war. Sie war unterhaltend, man langweilte sich niemals in ihrer Gesellschaft, das war nach Aagots Ansicht ihr einziges Verdienst. Aber wenn Richard sagte, daß sie so begabt sei, fragte sie sich oft selber, worin dies eigentlich bestehe. Denn Alie besaß nicht ein einziges von den Talenten, mit derlei Aagot so reich ausgestattet war.

Aagot war musikalisch und hatte einen schönen, klaren Sopran, weswegen sie auch häufig eine kleine musikalische Gesellschaft in ihrem Hause versammelte. Sie malte mit Geschmack und hatte die Thüren und die Ofenecken in ihren Zimmern mit Blumen, Weintrauben und Amoretten bemalt; sie besaß eine große Gewandtheit in allen möglichen weiblichen Arbeiten, das sah man an den zahlreichen Kunststickereien, die ihre Wohnung schmückten; auch ein kleines dramatisches Soubrettentalent hatte sie, weswegen sie mehrmals Theatervorstellungen zu wohlthätigen Zwecken veranstaltete, und last not least verstand sie es, ihren Haushalt mustergültig zu führen.

Sie konnte einmal in aller Gutmütigkeit zu ihrer Schwiegermutter sagen: »Ich begreife nicht, was Alie eigentlich den ganzen Tag anfängt. Wie kann man es nur aushalten, niemals etwas Nützliches vorzunehmen!« Da aber brauste Frau Robe auf und antwortete nicht ohne Gereiztheit, daß Alie studiere, und daß es wohl kaum einen Mann gäbe, der eine größere allgemeine Bildung besäße oder kenntnisreicher sei als sie, und daß dies wohl noch weit mehr wert sei als alle die unnützen, mittelmäßigen Talente, welche andre Frauen pflegten.

Aagot fiel es nicht ein, sich getroffen zu fühlen, sie war viel zu sehr mit sich selbst zufrieden, um andern ihre kleinen Eigentümlichkeiten nicht zu vergeben, und sie fragte nur, um sich über das aufzuklären, was sie nicht verstand: »Wozu aber nutzt denn all ihr Studieren? Sie ist ja zu gar nichts zu gebrauchen, und du machst ihr ja oft selbst den Vorwurf, daß sie zu nichts Ausdauer hat und daß sie gegen alles gleichgültig ist.«

Aber diese Unzulänglichkeiten bei Alie, die der alten Dame in Wirklichkeit Kummer bereiteten, wurden jetzt, wo es sich darum handelte, ihren Liebling zu verteidigen, fast zu einem Verdienst, und sie erwiderte: »Ja, es mag wohl vorkommen, daß ich sie deswegen schelte, aber im Grunde gefällt mir das an ihr. Ich will selber Erlaubnis haben, unordentlich zu sein, wenn es mir gefällt, und halte es für wichtiger, so vielseitig und so voller Interessen zu sein, wie Alie es ist, als daß man seine Taschentücher der Reihenfolge nach aus der Kommodschublade nimmt. Du siehst ja, wie Richard mit ihr über alles reden kann, fast besser als mit irgend einem Mann.«

»Ich gebe ja auch zu, daß sie anziehend ist,« entgegnete Aagot mit ihrem ruhigen Lächeln. »Aber trotzdem halte ich es für ein Glück, daß sie sich nicht verheiratet, denn ich glaube nicht, daß ein Mann glücklich mit ihr werden würde.«

»Alie kann alles, was sie will!« erwiderte Frau Rode. »Sie kann auch eine vorzügliche Hausfrau werden, wenn sie es nur will. Aber daraus macht sie sich nichts, und darin thut sie recht.«

»Ja, wenn man so wenig weibliches Gefühl hat wie sie,« fügte Aagot hinzu.

Die Mutter konnte nicht antworten, denn im selben Augenblick wurde unter Lärmen und Geräusch die Thür geöffnet, und eine muntere Gesellschaft marschierte herein. Alie an der Spitze, in Jacke und Beinkleider als Trommelschläger gekleidet, mit aller Macht auf Halvards neue Weihnachtstrommel losschlagend, und hinter ihr drein eine Schar kleiner, jubelnder Kinder, Halvards Freunde, die zum Plündern des Tannenbaums eingeladen waren.

»Ja, Kinder zu amüsieren, das versteht sie!« sagte Aagot.

»Und glaubst du, daß man das ohne weibliches Gefühl kann?« fragte Frau Rode. »Sieh nur, wie entzückt sie alle über sie sind.«

Alie hatte die Trommel fortgelegt und sich auf die Erde gesetzt, die Kinder scharten sich um sie, traten auf ihr herum, zogen sie am Haar und überschütteten sie mit Küssen. Sie lachte, schalt, spielte mit ihnen, band dem einen ein aufgelöstes Band zu und strich dem andern das Haar aus der erhitzten Stirn; es war ein Lärm und ein Leben und ein Jubel rings um sie her, als wenn sich ein ganzer Bienenschwarm auf einmal in einen großen blühenden Lindenbaum niederläßt.

Aber das friedliche Glück, das in dem traulichen Heim in der Strandstraße weilte, sollte nicht ungetrübt bleiben.

Der Winter war ungewöhnlich kalt und stürmisch geworden. Der Schnee fiel in Unmassen vom Himmel herab, aber statt hart und zusammengepreßt liegen zu bleiben, rissen Wind und Tauwetter ihn auf, – es wurde ungesund in der Stadt, und bald herrschte eine Lungenkatarrhepidemie. Gute Oesen, Doppelfenster, dicke Teppiche – ausgesucht schönes Pelzwerk und ein geschlossener Schlitten als Weihnachtsgeschenk – nichts half. Der Winter respektierte nicht die Harmonie der wohleingerichteten Häuslichkeit. Der unzivilisierte Wind drang sogar durch die Mauern hindurch, Aagot bekam einen Schnupfen und plagte sich während des ganzen Weihnachtsfestes damit.

»Wie geht es mit Aagots Schnupfen?« fragten täglich die Eltern und die Verwandten. Und die Antwort lautete immer gleich niederschlagend. Sie hatte Kopfschmerzen, in der Nacht hatte sie sogar ein wenig gefiebert. Richard hatte ihre Temperatur mit dem Thermometer gemessen und gefunden, daß sie fast einen halben Grad über siebenunddreißig Grad betrug. Da ihr Hausarzt, der einer der hervorragendsten Aerzte der Stadt war, nichts gegen diesen ewigen Schnupfen zu thun vermochte, wandte sich Richard in seiner Verzweiflung an einen Ohren- und Halsspezialisten. Aber auch dieser war machtlos, und eines Morgens zu Anfang des neuen Jahres kam Richard ungewöhnlich bleich zu seiner Mutter herauf und sagte mit zitternder Stimme: »Aagot hat Fieber.«

So gleichgültig sich Richard unter gewöhnlichen Verhältnissen seiner Frau gegenüber zeigte, so ängstlich war er jetzt, wo ihr etwas fehlte. Er umgab sie mit jeder nur denkbaren Fürsorge, war stets darauf bedacht, dies oder das zu besorgen, was ihr Freude bereiten oder Linderung verschaffen konnte, stand wohl zehnmal des Nachts auf, um ihr behilflich zu sein oder zu lauschen, ob sie Schlaf gefunden.

»Siehst du, wie viel er doch im Grunde von ihr hält?« sagte die Mutter zu Alie. »Und du zweifelst so oft daran!«

»Ja, ich sehe, daß er so glücklich ist, in ihr ein neues Ziel für seine Wirksamkeit zu finden,« entgegnete Alie.

»Pfui, Alie, wie häßlich von dir, es so auszulegen!«

»Warum ist das häßlich? Ich bezweifle ja nicht, daß er sie lieb hat; ich sage mir, es entspricht seinem Charakter, nur das zu lieben, was er zu erringen wünscht, oder was er zu verlieren fürchtet. Seine Liebe wie alles an ihm, ist nichts als Aktivität.«

Es wurde wirklich ein langwieriger, hartnäckiger Lungenkatarrh. Aber Aagot lag gerade so lächelnd und zufrieden in ihrem Krankenbett, wie sie sonst im Hanse umherging. Ja, sie war sogar noch glücklicher als sonst, denn es gefiel ihr sehr, so von allen gepflegt und verzogen zu werden. Und jetzt sagte sie auch nicht mehr, daß Alie zu nichts zu gebrauchen sei, denn diese verstand es, sich jetzt zu verdoppeln und allem vorzustehen; sie besorgte den Haushalt, sie unterhielt sowohl Aagot als den Kleinen, sie ermunterte Richard, nahm die Vorschriften der Aerzte entgegen und sorgte für ihre Ausführung, und dabei machte sie es doch möglich, bei der alten Dame zu sein, sobald diese ihrer bedurfte.

Als Aagot endlich das Bett verließ, war doch noch eine große Mattigkeit zurückgeblieben; sie konnte ihre Kräfte gar nicht recht wiedergewinnen, und da das Wetter noch immer rauh war, durfte sie auch nicht in die Luft hinaus. Nach einer genauen Untersuchung erklärten die Aerzte, daß sich an der einen Lungenspitze eine kleine Verdichtung zeige, deshalb sei es das Richtigste, wenn sie die gefährliche Uebergangszeit, wo die Unmengen von Schnee und Eis schmelzen, die der Winter aufgestaut hatte, im Süden verbringen könne.

Das gab eine Aufregung! Aagot sollte nach dem Süden, eine Verdichtung der Lungenspitzen, ein Krankheitskeim, der lebensgefährlich werden konnte, um so mehr, als die Anlage zu Schwindsucht in ihrer Familie vorhanden war! Aagots Eltern, die sofort von dem Bevorstehenden in Kenntnis gesetzt wurden, Frau Rode, Richard und auch Alie dachten an nichts mehr, als daß Aagot den Norden so schleunig wie möglich verlassen müsse. Richard kam sofort um Urlaub ein, um seine Frau begleiten zu können, und Aagot verbrachte die ganzen Vormittage in Beratschlagung mit ihrer Schneiderin, die eine stilvolle Reisetoilette, ein Kleid für die Table d'hote, eine Frühstücks-, eine Promenaden-, eine Strandtoilette und noch alles mögliche andre anfertigen sollte. Denn sie wollte nicht gezwungen sein, sich ihre Kleider in der Fremde zu kaufen; wer wußte, ob eine fremde Schneiderin im stande sei, sie zu befriedigen! Reisekoffer, Reisetaschen, Fußsäcke, wollene Decken, Kissen und so weiter – alles nur Erdenkliche, was zu einer eleganten und komfortabeln Reiseausstattung gehörte, wurde angeschafft.

Zwei Fragen aber waren noch unentschieden. Wer sollte als Gesellschaft für Aagot mitgenommen werden, da Richard sie ja nur auf kurze Zeit begleiten konnte, und wer sollte den kleinen Halvard während der Abwesenheit seiner Mutter zu sich nehmen? Frau Skeen, Aagots Mutter, konnte sie nicht begleiten, weil sie ihren ein wenig despotischen, kränklichen Mann pflegen mußte; aus demselben Grunde konnte sie auch die Verantwortung für den Kleinen nicht übernehmen; sie war eine jener ängstlichen Naturen, die sich vor lauter Fürsorglichkeit um Ruhe und Frieden bringen, und sie war in dem Grade von den Launen ihres Mannes in Anspruch genommen, daß ihr keine Zeit mehr übrig blieb. Frau Rode ihrerseits war zu alt, um die Sorge für den Kleinen übernehmen zu können. So war denn Alie die einzige, der man ihn hätte anvertrauen können; wer aber konnte wohl eine bessere Gesellschaft für Aagot sein als gerade Alie? Man erwog die Sache von allen Seiten, ohne auch nur daran zu denken, Alie nach ihrer eignen Ansicht zu fragen. Es würde sie auch verwundert haben, wenn man eine derartige Frage an sie gerichtet hätte, sie würde sicher geantwortet haben: »Ach, welch ein Unsinn!« So natürlich war es für sie, daß man nur einfach über sie verfügte, wenn man ihrer bedurfte.

Im Grunde aber hatte sie gar keine rechte Lust zum Reisen. Sie war niemals für ihre eigne Person thätig, suchte nie die geringste Zerstreuung und zog es vor, zu Hause zu sitzen und von fremden Ländern zu lesen, statt sie in Wirklichkeit aufzusuchen. Sie war so fest überzeugt, daß ihr die Wirklichkeit stets Enttäuschungen bereiten würde, daß sie sich scheu zurückzog, sobald sich ihr die Gelegenheit bot, etwas von dem auszuführen, was die Phantasie ihr vorgegaukelt hatte. Italien! Es war so schön, davon zu träumen; alle Nordländer gerieten ja in Ekstase, wenn nur der Name genannt wurde. Aber selbst dies Zauberland hatte natürlich seine Schattenseiten, und man fand sich besser dabei, wenn man sie nicht kannte.

Außerdem hing sie mit großer Zärtlichkeit an der alten Dame und dem kleinen Knaben, und obwohl sie sie in der Phantasie wohl hundertmal verlassen hatte, fest überzeugt, daß sie ihrer nicht mehr bedürften und sich auch im Grunde nicht viel aus ihr machten, so war sie jetzt doch ganz bewegt und ergriffen, als Richard eines Abends hinaufkam und sagte:

»Jetzt sind wir zu der Ueberzeugung gelangt, daß es am besten ist, wenn Alie uns begleitet und Mutter den Kleinen nimmt.«

Auch die Mutter war ganz erschrocken bei dem Gedanken an diese Verantwortung, jetzt, wo sie auch ihr Faktotum entbehren sollte. Aber Richard hatte es nun einmal so bestimmt, und es fiel keiner von den beiden Damen ein, ihm zu widersprechen.

Die Reise sollte in vierzehn Tagen angetreten werden, und Alie war nun eifrig mit dem Umzug des Kleinen in ihr Zimmer beschäftigt; auch hatte sie eine Menge von Instruktionen für die beiden »Kinder« zu erteilen, die sie nun verlassen sollte.

»Du begehst mir nicht einen solchen Unsinn, daß du des Nachts aufstehst, um zu hören, ob er schläft,« sagte sie zu der alten Dame. »Er ist ein Engelskind und thut alles, was er soll, ohne daß du dich deswegen zu beunruhigen brauchst. Und du packst ihn nicht zu sehr ein, wenn er hinausgeht, und dann ißt du jeden Tag ordentlich und läßt das Essen nicht bis spät zum Abend stehen und kalt werden. Und dann gehst du jeden Tag gehörig in die Luft.«

»Nein, das kann ich dir wirklich nicht versprechen, liebste Alie,« unterbrach die alte Frau sie. »Du weißt ja, daß ich nicht gern allein ausgehe.«

»Großer Gott, nun will die einfältige alte Frau im Hause sitzen, bis sie einen Schlagfluß bekommt!« rief Alie aus. »Das ist wirklich gewissenlos von dir, wenn du doch die Verantwortung für die Pflege des unschuldigen Kindes übernimmst. Aber warte nur, ich will schon dafür sorgen!«

Und fort war sie wie der Sturmwind, ohne daß die Alte sie hätte zurückhalten können, und als sie wiederkam, erzählte sie, daß sie bei einer Freundin gewesen sei und mit ihr verabredet hätte, daß sie Frau Rode täglich zu einem Spaziergang abholen solle. Die alte Dame war indessen keineswegs zufrieden mit dieser Anordnung und beklagte sich bitter über Alies Tyrannei. Sollte sie auf die Minute hinausgetrieben werden wie ein Pensionsmädchen und sich mit dieser guten, lieben Freundin langweilen! Aber Alie ließ nicht nach und wußte Richard auf ihre Seite zu bekommen, und so blieb denn Frau Rode schließlich nichts andres übrig, als sich zu ergeben.

»Und regelmäßig einmal jede Woche schreibst du und stattest genauen Bericht über alles ab.«

»Ich will gern schreiben, sobald ich weiß, daß ihr an euerm Bestimmungsort angelangt seid und mir eure sichere Adresse geben könnt.«

»Hat man je so etwas gehört! Wenn wir an unserm Bestimmungsort angelangt sind! Und während der ganzen Zeit, die wir uns auf der Reise befinden, willst du uns ohne Nachricht lassen?«

Sie machte sich sofort daran, die Reiseroute genau zu studieren, sie rechnete aus, wie viele Tage sie sich voraussichtlich an jenem Ort aushalten würden, bestimmte mit dem Bädeker in der Hand die Hotels, in denen sie einkehren würden, und schrieb endlich alle diese Namen und Adressen auf eine Liste, die sie an die Wand neben Frau Rodes altem Sekretär hängte.

Während aller dieser Vorbereitungen näherte sich der Tag der Abreise, und Aagot fragte Alie ganz verwundert: »Aber hast du denn gar nicht an deine Reisetoilette gedacht?«

»Reisetoilette? Mein altes marineblaues Kleid muß wohl gut genug zu dem Zweck sein!«

Und für die Tables d'hotes in den Hotels? Du hast gar nichts anzuziehen!«

»Ich habe mein schwarzseidenes Kleid. Des Abends bei Licht sieht es gar nicht so übel aus. Und in dem herrlichen Süden diniert man ja bekanntlich mitten im Sommer bei Licht.«

»Und wie sieht es mit deiner Promenade-, deiner Strandtoilette aus? Mit deinen Hüten und Mänteln? Du hast ja nicht an das Allergeringste gedacht! Ich begreife nicht, was du diese vierzehn Tage lang angefangen hast!«

»Ich kaufe mir unterwegs einige fertige Kostüme und vertrage die auf der Reise. Glaubst du, daß ich unnötiges Geld für den Transport meiner Garderobe wegwerfen will?«

»Aber, liebste Alie, daran mußt du doch wirklich nicht denken; Richard bezahlt ja die Reise.«

»Glaubst du, daß das irgend einen Unterschied für mich macht? Ich will nicht, daß Richard sein Geld unnütz ausgiebt.«

Und so standen sie denn eines Tages reisefertig da, beide so verschiedenartig ausgestattet, Alie in ihrem etwas vertragenen blauen Tuchkleide, auf dem Kopfe eine kleine Mütze von demselben Stoff, die sie sich im letzten Augenblick gemacht hatte, und die in der Eile ein wenig schief geworden war, dabei aber doch so keck und kleidsam auf dem leicht gelockten Haar saß, – übrigens in heftiger Erregung, dunkelrot im Gesicht, lachend und schwatzend, um nur nicht in Thränen auszubrechen; Aagot distinguiert, elegant in ihrem englischen Ulster und ihrem weichen Filzhut mit dem langen Reiseschleier, die Augen in ruhigen, milden Thränen schwimmend, – die Hände voller Blumensträuße.

Die Kammerherrin Skeen weinte, so daß sie kaum sprechen konnte, schluchzend umarmte sie Frau Rode.

»Liebste, was doch ein Mutterherz tragen und leiden muß! Denken Sie nur, sich so von seinem einzigen, geliebten Kinde trennen zu müssen!«

Frau Rode, die den kleinen Knaben an der Hand hielt, und die alle Sentimentalität haßte, erwiderte in trockenem Ton:

»Ach ja, wir dürfen nur nicht vergessen, daß unsre Kinder nicht allein um unseretwillen da sind, und wenn es ihnen nur gut geht im Leben, dann müssen wir uns wohl geduldig in unser Schicksal finden.«

»Albertina Rode ist eine prächtige Frau,« sagte die Kammerherrin nach ihrer Heimkehr zu ihrem Gatten; »viel Herz hat sie aber nicht.«

Aagot umarmte zum letztenmal ihren kleinen Sohn und sprang dann ins Coupé hinein. Es zog auf dem Bahnsteig, sie durfte nicht länger dort stehen. Sie beugte sich zum Fenster hinaus und lächelte unter Thränen ihrer Mutter und ihrem Kinde zu. Alle ihre Freundinnen, die eine dichte Gruppe vor dem Coupéfenster bildeten, warfen ihr Kußhände zu und sagten:

»Wie entzückend sie doch ist!«

Alies kleiner, origineller Kopf kam jetzt unbemerkt hinter Aagot zum Vorschein. Sie hatte genug zu thun gehabt mit dem Ordnen des Handgepäcks, auch hatte sie einen Platz für Aagot auf dem Rücksitz belegt, wo kein Zug war; jetzt stand sie da, nickte Frau Rode und dem Kleinen zu und warf ihnen Kußhände zu, und im letzten Augenblick, als der Zug sich schon in Bewegung setzte, riß sie ihren Handschuh ab und reichte der alten Dame ihre Hand durch das Fenster, und still, ohne ein Wort und ohne Thränen wechselten die beiden einen warmen, treuen Händedruck. Als aber dann eine der Freundinnen ihre ausgestreckte Hand ergreifen wollte, zog sie sie schnell zurück und hielt sie hoch in die Luft, sie der alten Frau zeigend. Und diese verstand sie, – ihr Händedruck sollte der letzte Abschiedsgruß sein.


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