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Gute Familie

Martha unterrichtete in der Schule, die Norberts jüngste Schwester besuchte. In der sie selbst ihre erste und letzte Bildung empfangen hatte und wo Ruth einmal fast hinausgeworfen worden war, weil sie öffentlich zu erklären wagte, vor der französischen Grammatik brauche man den lieben Gott nicht im Gebet anzurufen.

Mutter hatte darauf gehalten, daß ihre Töchter diese Schule besuchten und keine andere. Es war die vornehmste Schule der Stadt, die Bureaukratenschule. Es galt als Zeichen von Ruths Dummheit, daß sie nicht einmal in dieser Schule gute Noten bekommen konnte.

Ruth dachte niemals an ihre Schuljahre zurück. Sie mied den Weg, der an der Anstalt vorbeiführte. Sie empfand schon in der Nähe des Hauses den dumpfen Tintengeruch aller der Rehlederfleckchen, die zu besitzen dort so streng verlangt wurde und die sie immer verlor. Französische Verben, verwischte Diktate, alte Butterbrote, schwarze Clothschürzen mit knallblauem Rand und das unbedingte Bedürfnis, sich auf den Tisch zu setzen, jetzt, gerade jetzt, weil das so entsetzlich unpassend ist.

Vor allem aber hielt sie ein wurmendes Schamgefühl zurück, wenn sie sich an diese Zeit erinnerte. Sie wollte nicht eines sein mit dem faulen, boshaften Fratzen, der der Mademoiselle alles nachwies, was sie in Geschichte falsch unterrichtete, ihre gefärbten Haare bewunderte und stundenlang darüber grübelte, was sie ihr Verletzendes sagen könne. Denn die Mademoiselle war dumm. Es war eine Unverschämtheit, andere belehren zu wollen, ohne klüger zu sein. Das einzige, was Ruth aus der Schule brachte, war ein glühender Haß auf den Kardinal Richelieu. Der bestimmt der Mademoiselle ähnlich gesehen haben mußte, ihre kaltadrige, rote Gesichtsfarbe gehabt hatte und ihre steifglänzenden Halskragen. Damals hatte Ruth den Haß gelernt. Nicht den hochlodernden, kämpfenden. Aber den sich ekelnden, nagenden, den man gegen Fleischfliegen hat und Maden. Den allerunbarmherzigsten.

Und damals hatte Ruth die Rohheit kennen gelernt, die nicht zögert, sich selbst zu beschmutzen. Als ein Kind der Schule gestorben war, kam der Literaturprofessor wankend in die Klasse. Er war ein kleiner, lächerlicher Mensch mit strohgelb in die Höhe stehenden Haaren. An die Tafel gelehnt, schluchzte er überlaut, wischte sich die Tränen ab mit einem blauen Taschentuch, schnäuzte sich – und dazu mußte ein Mädchen ein ganz blödsinniges Lesestück vorlesen. Da begannen alle Kinder zu lachen. Und Ruth mit ihnen, sie zerbiß ihr Taschentuch – er weinte ja auch immer, wenn er von Theodor Körner sprach.

O die viele, viele Schande, die sie dort erdulden mußte. Alle Morgen eine Krankheit erfinden, um nicht hinzugehen. In einer Zeit, wo der unbeugsame Kindersinn nach unbedingter Reinheit verlangt und der geringste Schmutzfleck ratlos macht und ausliefert.

Konnte man je wieder rein werden, wenn man in diese Schule gegangen war? Wo alle unterdrückte Sinnlichkeit der vertrockneten Lehrerinnen unter den Bänken wieder erwuchs, aufgezogen von der schmierigen Neugier halbwüchsiger Kinder, die von Liebe nichts wissen dürfen. Ruth wurde später rot, wenn sie an die Gespräche dachte, die sie mit zwölf Jahren hören und führen mußte. Und dann wurde alles verraten. Und ein Kind wurde ausgeschult, weil es die Tochter einer Schauspielerin war.

Nein, an diese Schule durfte man niemals zurückdenken. Ruth wich Martha aus, wenn sie des Morgens dorthin ging. Sie hätte sie bedauert, wenn sie sie nicht so maßlos verachtet hätte.

Es war ganz selbstverständlich, daß Norberts Schwester diese Schule besuchte.

Norbert kam nicht mehr bloß Samstag. Er kam auch Mittwoch. Jeden Mittwoch und Samstag zum Mittagessen. Vorher spielte er noch mit Gustav zwei Sonaten, eine neu und eine, die sie schon das letzte Mal gespielt hatten. Ruth kam an diesen Tagen immer zu spät nachhause.

Ruth verachtete Norbert. Diese Verachtung war mit einem ihr sonst fremden Ekel untermischt. Der sich bis zur Wut steigern konnte, wenn er sie über den Tisch herüber ansah, hundetreu und Vertraulichkeit vortäuschend.

Mutters Vorliebe für Norbert stieg immer mehr. Martha konnte gar nicht aufhören, mit Norbert zu sprechen. Er gab als Mitglied seiner Kaste etwas verächtlich Auskunft über die Familienchronik der Stadt – aber immer als Mitglied seiner Kaste. Martha bekam hektisch rote Wangen. Ruth dachte: Mein Gott, wie wenn ich den Ulenspiegel von de Coster lese. Aber da ist es nicht ein Mensch, ein Volk, eine Welt, nur eine ehemalige Tanzstunde.

Deshalb hatte sie Martha in den letzten Jahren beiseite liegen lassen. Neben ihr starb eine Seele in der Sehnsucht nach dem gelobten Land.

Eines Mittags kam ihr auf der Straße ein ältliches Fräulein entgegen, trotz der lichten Sonne in einem langen, grauen Regenmantel. Scharfe Nase, weltfremde Augen, unter dem Arm eine Aktentasche. Ruth dachte: Lehrerin, die hat heute sicher ein ungezogenes Kind gequält. Vielleicht so eines wie ich war.

Sie ging weiter. Um die Ecke herum begegnete ihr Martha, die eben aus der Schule kam. Sie hing sich hastig an Marthas Arm und fragte einige ganz überflüssige Fragen. Martha antwortete mürrisch. Ruth dachte: Um Gottes Willen, vielleicht sieht sie in ein paar Jahren so aus wie die andere, die Lehrerin von vorher. Nein, das ist unmöglich, das darf nicht sein.

Derselbe glühendheiße Druck legte sich ihr zwischen die Brust, den sie als Kind empfunden hatte, als der Arzt sagte, daß Vater sterben müsse. Sie hatte sich in einem Kasten versteckt und schrie in sich hinein: unmöglich.

So ging sie heute neben Martha. Bei einem Blumenweib blieb sie stehen und kaufte ein winziges Büschelchen Veilchen. – Ruth, um diese Jahreszeit. Du fängst also schon wieder so an mit dem Geld. – Nimm sie. – Unsinn. – Bitte. – Nein, könnte mir einfallen.

Ruth hielt die Veilchen ganz tief unten. Nur nicht weinen vor Zorn. Pfui Teufel. Und Marthas Schleier hatte ein Loch quer über die Wange hin. Ach, was ging diese langweilige Person sie eigentlich an. Sie ließ die Veilchen in den Rinnstein fallen, knapp bevor sie in das Haustor traten, und sprang voraus über die Stiegen.

Dann aber schalt Mutter mit Martha kreischend laut und ungerecht. Ruth stand im Nebenzimmer mit geballten Fäusten. Mutter schrie. Martha schwieg. Ach, da war wieder der entsetzliche Druck, der brennende Druck – Angst –

Ruth warf eine alte Porzellanvase zu Boden, daß die Splitter sprangen. Mutter stürzte wütend herein. Sie schüttelte Ruth und stampfte mit dem Fuß auf die Scherben. Aber sie war wieder gut mit Martha. Denn Martha jammerte mit.

Ruth weinte so lange, daß sie am Abend krank war und in das Bett gesteckt wurde. Mutter brachte ihr besonders aufgegossenen Tee und setzte sich an den Bettrand wie in alten Zeiten. Aber Ruth drehte den Kopf weg. Das Licht schmerze sie. Plötzlich sagte sie: – du hast Martha nicht gern. – Was soll das heißen? Du hast Martha gar nicht gerne. Weil sie häßlich und unglücklich ist. Häßliche und unglückliche Menschen mag man nicht. Ich liebe Martha auch nicht, o nein. Aber ich will nicht mehr mit ihr streiten.

Und nach einer Weile: – Weißt du, Mutter, eigentlich wünsche ich, daß Martha auch aus dem Fenster gesprungen wäre, wie ihre verrückte Freundin voriges Jahr. Wenn sie es heute noch tun wollte, ich glaube, ich würde ihr helfen und – Ruth, Mutter stand vor dem Bett, dunkelrot – du willst also, daß ich hinausgehe …Nein, Mutter, ich habe nur manchmal so Angst. Aber wenn du gehen willst, gib mir etwas zu lesen, irgendein Buch, nur etwas, was gerade auf dem Tisch liegt. – Schillers Dramen? – Nein, nicht das. Wozu. Ich sage dir, heute Mittag habe ich auf der Straße im Sonnenschein eine Frau gesehen, viel, viel schlimmer als die Maria Stuart, bevor sie auf das Schafott geht. – Du träumst. – Nein, ich habe die Augen offen, sehr weit offen – gute Nacht, Mutter.

Ruth versuchte nicht mehr, mit Martha zu sprechen. Aber in den nächsten Tagen vergaß Martha, als sie in das Theater ging, den Schlüssel ihres Kastens abzuziehen. Ruth schlich in ihr Zimmer. Ihr Herz klopfte in die Kehle hinauf. Sie verschloß die Türe. Sie dachte: jetzt mache ich etwas Niederträchtiges, Schmutziges. Aber ich kann ihm nicht entgehen, es geschieht von selbst, notwendig –

Sie fand nichts, nein, sie fand gar nichts in dem Kasten, nicht einmal die Photographie, die sie erwartet hatte. Wozu sperrte denn Martha den Kasten immer auch dreifach zu. Nur ein Buch lag da, in Leder eingebunden, mit vorgedrucktem Datum, darinnen standen alle Theater, Vergnügungen, Bälle und Tänzer.

Ruth empfand wieder den Geruch von Gaze, Spitzen, gebranntem Haar, Straußfedern und frischen Blumen, die alle nach Parfüm und Puder schmeckten. Jene festliche Erregung, die die ganze Familie bis zur Hausmeisterin hinunter beherrschte, wenn Martha mit Mutter auf einen Ball ging. Die ihr Kinderherz nicht schlafen ließ und an rauschende Seidenröcke denken und blonde Prinzessinnenlocken.

Heute abends war sie mit Mutter allein beim Abendessen. Mutter sollte erzählen.

Mutter tat das gerne, leichthin, ohne Ruths brennendes Interesse zu spüren. Ruth zerkrümelte das Brot über das Tischtuch.

Mutter sagte: – Du brauchst nicht glauben, daß Martha immer so war, wie sie jetzt ist. Sie ist ein armes Mädchen, aber gut. Und du bist manchmal sehr abscheulich zu ihr, Ruth. Da ist Richard ganz anders. Er ist doch immer so rücksichtsvoll, das hat er bei Martha am besten gezeigt. Gott, das ist schon lange her, und von so etwas spricht man lieber nicht mehr. Überhaupt zu dir, du könntest eine Bemerkung machen –

– Natürlich. Ich verstehe nicht, warum du dann davon redest? Was es schon sein wird, sie wird eben ein Kind bekommen haben.

– Ruth, so etwas sagst du zu mir? Wie du jetzt immer sprichst. Mit wem gehst du eigentlich um? Schon in der Schule hast du dir immer die Minderwertigsten ausgesucht. Bei Martha war das ganz anders. Wenn du wüßtest, mit wem Martha verkehrt hat –

– Das hat ja auch herrliche Folgen gehabt.

– Martha war immer nur in den besten Familien eingeladen. Die Leute haben sich um sie gerissen. Sie war hübsch und liebenswürdig. Alle haben ihr den Hof gemacht, wie toll. Menschen wie Norbert –

– O weh …

– Ja, das ist dir natürlich zu gut. Aber ich sage dir, Martha hat ein schönes Leben gehabt und war glücklich. Das verdankt sie mir.

Ruth bückte sich, um die Serviette vom Boden aufzuheben.

– Du weißt eben gar nichts. Wenn du eine Ahnung hättest, wer Martha heiraten wollte –

– Und warum hat er es nicht getan?

Mutter erzählte von dem jungen Baron, der Martha so sehr geliebt hatte.

Ruth dachte: Sicher hat er ihr Blumen geschenkt beim Kotillon.

Der Baron reiste ihnen nach, einen Sommer lang. Man wohnte in den feinsten Hotels, o, es kostete ein Vermögen. An der Ostsee. Martha trug nur Pariser Toiletten. Am Abend saß der Baron mit ihr und Mutter bei Champagner auf bis zwölf Uhr, jede Nacht bis zwölf –

Ruth dachte: Warum ist sie nicht lieber am Strand mit ihm spazieren gegangen und hat ihn geküßt.

Alle morgen standen Blumen auf dem Frühstückstisch. Und Martha wußte ihre Haltung zu bewahren –

Ruth fragte: – Warum?

Aber Mutter erzählte weiter, stolz, glückselig.

Sie waren allein in dem Bad. Ruth und Richard waren zu Hause. Der Baron hielt Vater für einen großen Unternehmer –

Ruth dachte: Vaters arme Zeichnungen.

Und dann im Herbst waren sie verlobt. – Mutters Stimme brach fast ab. – Ganz richtig verlobt. Natürlich geheim. Aber er kam alle Tage zum Abendessen und war mit Richard eng befreundet. Richard hätte damals in ein Ministerium kommen können. Ach, es war herrlich …

Mutter schwieg. Ruth fragte: – Nun, und? …Und nichts.

– Was heißt das?

– Die Verhältnisse.

– Die Verhältnisse also, das heißt, daß Vater kein Unternehmer war, daß ihr geschwindelt habt.

– Ruth, was sagst du mir da? Mir, die ich immer dem Glück meiner Kinder gelebt habe. Richard sollte dich hören. Ja Richard überhaupt …Wir fuhren zu Weihnachten in das Gebirge. Du hattest Keuchhusten. Erinnerst du dich –

– Ja, da war der Tierarzt.

– Richtig. Nun und wenn Richard nicht so energisch aufgetreten wäre. Martha war zu jeder Dummheit bereit. Der Landtölpel –

Ruth sah vor sich den bärenhaft trotzigen Menschen, mit den zarten Händen und der Bauernsprache, auf dessen Rücken sie oft genug geritten war.

– Mutter, das ist eine Gemeinheit.

Richard und Martha kamen aus dem Theater nachhause. Norbert war auch dort gewesen. Ruth hatte Norbert am Abend vorher beleidigt. Richard sagte: – Natürlich, du kannst immer nur rüpelhaft sein. Es ist wirklich schade, wenn ein Mensch aus guter Familie zu uns kommt.

Ruth sprang auf: – Ich glaube, ihr wißt alle nicht, wer Vater war.

Und sie drehte Vaters Photographie an der Wand um. Am nächsten Tag suchte Ruth ein junges Mädchen auf, dessen Verkehr ihr von Mutter streng verboten war. Sie hatte sie in einer Nähschule kennengelernt. Das junge Mädchen hatte grellrote Haare, die sie zu hoch hinaufgesteckt trug. Sie lebte mit ihrer Mutter in einem schäbigen Vorstadthaus, aber in der Wohnung waren viele Teppiche und Erker mit heimlichen Palmen. Sie verkehrten nur mit Offizieren.

Ruth traf Mutter und Tochter, wie sie sich eben manikürten. Sie wurde mit überströmender Liebenswürdigkeit empfangen. Aber sie haßte manikürte Nägel, die rund und glatt sind wie Klauen von Tieren. So war sie kühl, obwohl sie sich vorgenommen hatte, herzlich zu sein. Als Bella sich an den Toilettetisch setzte, wo die vielen silberglänzenden Schächtelchen waren und die rote Lampe darüber hing, bekam sie eine tolle Lust, mitzutun. Sie schmierte sich rotes, weißes, gelbes Puder vermischt über das Gesicht, bis Bellas Mutter in einen Lachkrampf ausbrach und sie in die Arbeit nahm.

Als sie sich dann in dem Spiegel betrachtete, von der Seite her und verlegen vor sich selber, war das genau so, wie wenn sie sich vor Jahren mit Marthas Garderobe zur Jungfrau von Orleans drapiert hatte. Das war ja herrlich, so ganz jemand anderer zu sein, als man wirklich ist. Verlockend und spielerisch. Maske. Ein bißchen wie der liebe Gott mit dem weißen Bart. Nur daß die Schminke rot war.

Und alle Lampen in diesem Haus waren rot. Sie fiel Bella um den Hals und beide tanzten durch das Zimmer.

Dann kamen drei Herren. Zwei Offiziere und ein Theaterdirektor. Sie saßen in einem halbdunklen Raum und tranken Tee aus winzigen Tassen. Der Zigarettenrauch war klebrig schwer. Man konnte nicht mehr sehen, daß die Wände überfüllt waren mit Photographien, Bilderchen nackter Engel und trockenen Maiskolben.

Aber es war sehr lustig. Direkt gemütlich. Ruth fühlte sich wunderbar wohl. Sie spielte ihre Rolle, als ob sie ihr von dem liebenswürdigen Theaterdirektor eigens einstudiert worden wäre. Eigentlich wußte sie nicht genau, ob nicht daneben ein Orchester spiele mit kreischenden Fiedeln und ein Boy unter ihr Perolin aufsprenge.

Ein Leutnant mit etwas herunterhängender Unterlippe setzte sich an das Klavier und spielte eine abscheuliche Melodie. Bella sang dazu ein schmieriges Lied. Dann setzte sie sich auf seinen Schoß, und er küßte sie. Er hatte große, schwarzgerauchte Zähne. Ruth dachte an Norbert. Ekelhaft.

– Ich muß nach Hause gehen. O, man war sehr betrübt darüber. – Aber ich komme bald wieder. Und Ruth setzte sich den Hut schief in die Stirne hinein und quer über ihr gerötetes Gesicht.

Auf der Straße verfolgte sie ein Mann bis in ihr Haus.

Bei Mutter war Besuch. Eine Freundin Mutters mit drei unverheirateten Töchtern. Die alte Frau machte eine verwunderte Bemerkung, daß Ruth so spät abends allein nachhause käme. Die drei Schwestern schielten eigentümlich auf den schiefsitzenden Hut. Und die Älteste öffnete den Mund, um etwas Boshaftes zu sagen. – Da ging Ruth aus dem Zimmer. Ihr war ja so übel.

Bella war glücklich. Die drei Mädchen da drinnen zankten sich alle Morgen. Gingen dann einträchtig den ganzen Vormittag Einkäufe machen für ihre unbedeutende Wirtschaft. Trafen bei dieser Gelegenheit Bekannte, die sie grüßten, mit denen sie sprachen. Nie ging eine allein auf der Gasse. Immer waren sie zu zweit oder zu dritt, und gewöhnlich war die Mutter zwischen ihnen.

Sie warteten ihr ganzes Leben, daß einer käme. Aber einer, der vornehm war. Eigentlich war es dasselbe wie bei der Prinzessin im Märchen. Und sie, Ruth, wartete auch. Nur daß sie so gar nicht wußte, auf was. Bella war glücklich. Die hatte alle Tage ihren Leutnant. Aber der hatte schwarze Zähne.

Martha war arm. Doch sie hatte einen Gott. Der saß an erster Stelle in einem hohen Amt. Vielleicht hatte er auch einen weißen Bart. Sie, Ruth, hatte keinen Gott mehr. Sie war wie Gustavs namenloser Hund. Aber sie konnte selbst eine Maske anziehen. Gott werden für Bella, für den Leutnant, für den Theaterdirektor. Vielleicht auch für Mutter. Es war eine Bosheit, wenn sie es nicht tat. Ach, wozu so viel denken, überhaupt, lieber Masken tragen und ganz anders sein – und schlafen – sie streckte sich lang aus in ihrem zu kleinen Bett …

In der Nacht träumte sie von einem breitästigen Baum voll dichter, gelbwelkender Blätter und rosa Riesendolden. Sie stand auf der Brücke und der Baum war weit draußen in einem dunkelglatten See. Aber hinter ihm stieg ein Berg auf mit beschneiten Tannen und die Luft war bleich, wie im Winter. Der Baum hing voll schwerer rosa Blütendolden. Über die Brücke kam Mutter mit ihren gierig fordernden Bewegungen, die munter alles haben wollten und deshalb so ungeheuer armselig waren. Hinter ihr ging Martha in einem rosa Ballkleid. Aber die Augen waren geschlossen und die Wangen gelb. Ruth stand auf der Brücke, und sie war ganz klein, hatte kurze weiße Socken an, ein weißes Matrosenkleid mit hellrosa Kragen. Oben auf dem Berg begann es sicher zu schneien. Und Mutters Haare waren weiß.

Am nächsten Tag brachte Norbert eine Einladung seiner Mutter für die ganze Familie. Zu einer kleinen Gesellschaft, wie er leichthin sagte. Dabei sah er Ruth an. Ruth sagte: – Ich gehe nicht in Gesellschaft.

Aber nachher mußte sie gehen. Sie war die Jüngste und mußte Martha begleiten. Das sah so am besten aus. Mutter ließ ihr Abendkleid herrichten und kaufte Lederhandschuhe und Seidenstrümpfe. Da fand Ruth, daß die Sache eigentlich doch dafür stehe. Sie setzte sich vergnügt auf den Tisch und probierte die Seidenstrümpfe an. Richard kam in das Zimmer. Mutter rief: – Ruth, schämst du dich nicht? – Nein, du hast sie mir ja gekauft, damit man sie sehen soll.

Sie machte einen langen Spaziergang durch Kot und Regen und erklärte dann, die Strümpfe seien zerrissen und schmutzig, einfach unbrauchbar. Und sie ging ohne Seidenstrümpfe zu Norberts Eltern.

Norberts Schwester war ein halberwachsenes Ding mit zu kurzer Oberlippe und vornehm tiefer Stimme. Sie grinste allen Gästen zu und war übertrieben freundlich mit einer unscheinbaren, dicklichen Freundin. Der Salon war verschnörkelt, Gold in braunem Holz, mindestens drei überflüssige Tische standen da und in der Ecke hing ein großer Makart. Sonst unzählige Photographien in kostbaren Rahmen und konventionelle Geschenkvasen.

Ruth dachte: Ich möchte wissen, wer in diesem Raum zuhause ist. Norbert nicht, er tut nur so, wenn er die Zigaretten anbietet. Sonst aber paßt er noch besser an unser Klavier. Und seine Mutter auch nicht. Was für eine proletarisch dicke Nase sie doch hat und der lose, ungebändigte Mund – nein, die habe ich mir ganz anders vorgestellt. Aber sein Vater hat einen eleganten, schneeweißen Scheitel. Und das ist auch alles.

Norberts Braut kam zu ihr und war besonders freundlich. Sie war ein hübsches, liebes Mädchen mit gerader Nase und langen, hellgrauen Augen. Ruth fand, daß Norbert einen sehr vernünftigen Geschmack habe. Ihr gelblicher Spitzeneinsatz paßte wunderbar zu seiner grauen Weste.

Ruth merkte wohl, daß man sie wie ein kleines Tier aus der Menagerie betrachtete. Weil ihr Kleid keinen Kragen hatte und die Haare eigenwillig um die Stirne herumstanden. Norberts Freunde schauten ihm eigentlich alle ähnlich. Lauter Menschen, die man erst monatelang sehen muß, um zu wissen, wie sie aussehen. Wenn man denen allen die Hände abschneiden wollte, man könnte die einzelnen Paare durcheinander werfen und sie wären nicht zu unterscheiden. Wie alle ihre Krawatten und Handschuhe. Ruth lachte bei dem Gedanken und wollte gähnen.

Da kam ein Leutnant zur Tür herein mit herabhängender Unterlippe und dunklen Zähnen. Um Gotteswillen, was wollte der hier. Den hatte sie ja bei Bella getroffen. Nur daß er heute im Waffenrock war und ganz frisch rasiert.

Er wurde mit Jubel begrüßt. Norberts Vater schüttelte ihm beide Hände. Er lächelte nach allen Seiten auf einmal. Aber vor Ruth verbeugte er sich dunkelrot vor Bestürzung. Sie sagte strahlend: – Uns brauchen sie einander nicht vorzustellen, Norbert, wir kennen uns schon.

Ruth war nicht mehr schläfrig. Ein Interesse, das sie erwachen gefühlt hatte, als sie mit Bella und deren Freunden Tee trank, trieb sie unter die Leute. Sie schwatzte. Aber dabei verfolgte sie fortwährend den Leutnant. Er wich ihr aus.

Man bat den Leutnant stürmisch, etwas auf dem Klavier zu begleiten. Neueste Chansons. Norberts Braut sollte singen. Sie hatte doch so eine entzückende, kleine Stimme. Aber er wollte heute nicht. Ruth trat vor und sagte, liebenswürdigst lächelnd, während ihre grünen Augen forderten: – Du mußt – Spielen Sie doch das von dem kleinen Hotel, Sie wissen schon.

Und er trat vor und spielte es. Ja, spielte, was er bei Bella gespielt hatte, was Bella gesungen hatte. Und – war denn das möglich? War das möglich, daß Norberts Braut dazu sang mit ihrer zarten Mädchenstimme, diese Worte? War es möglich, daß man rasend Beifall klatschte und Norberts Mutter duldsam lächelte, während sein eleganter Vater sich köstlich unterhielt? Nein, da war etwas, worüber man nachdenken mußte.

Ruth setzte sich in eine Ecke. Gleich darauf kam der Leutnant. Er redete schlüpfrige Dinge und nahm ihre Hand. Sie ließ ihn gewähren, sie war interessiert, brennend interessiert.

– Sagen Sie Herr Leutnant, singt man dieses Lied jetzt überall? – Ja, es ist sehr beliebt. – Ach, ich dachte, das singt nur Bella. Es ist abscheulich. – Gnädiges Fräulein scheinen sehr streng zu sein. – O nein, ich hasse nur schlechte Musik.

Der Leutnant redete weiter. Dinge, süß wie zerlaufener Tortenüberguß und prickelnder Champagner. Eigentlich hatte er eine hübsche Nase und schöne Augen mit klugen Wimpern. Wenn nur der Mund nicht so schmierig gewesen wäre.

Sie sprachen von dem Makartbild. Der Leutnant behauptete, in Norberts Zimmer hänge ein noch viel schöneres. Sie möge ihm doch folgen. Nein, dachte sie, ich bin doch zu neugierig. Und sie ging mit ihm. Aber sie ballte die Fäuste.

Die Gesellschaft hatte sich zerstreut. Der Leutnant führte sie durch ein dunkles Zimmer in Norberts Zimmer. Er zündete kein Licht an. Und küßte sie.

Ruth dachte in der Sekunde: Norbert – wie er mich liebt – sein Zimmer – die Braut – das Lied – also so ist das – aber die schwarzen Zähne – so ist das – Dabei schlug sie dem Leutnant mit der Faust ins Gesicht.

Er schrie auf, halblaut. Dann flüsterte er: – Gehen Sie, gehen Sie rasch. – Sie sagte: – Grüß Gott, Herr Leutnant und ging wieder in den Salon. Auf ihrer Hand war ein Blutfleck. Den wischte sie sorgsam ab in einem hellblauen Seidenvorhang. Dann mischte sie sich unter die jungen Mädchen.

Norbert kam und legte den Arm um seine Braut. Man sprach von Musik. Ruth sagte: – Onkel Gustav läßt Sie grüßen. Er hat eine ganze Menge Noten für Sie bei uns liegen lassen. Norberts Braut fragte interessiert: – Wer ist das? Ist das der sagenhafte Künstler, der so wunderbar Mozart spielt und den man niemals zu sehen bekommen kann.

Norbert war dunkelrot. Ruth sah ihn aufmerksam an und sagte: – Er hat heute nicht kommen können, weil er keinen reinen Kragen gehabt hat. Übrigens ist er kein Künstler, nur Zeichenlehrer an einer Mittelschule. Aber er ist mein Onkel.

Norbert ging den Leutnant suchen. Er kam bestürzt wieder. Der Leutnant habe heftiges Nasenbluten und liege auf dem Sofa in seinem Zimmer. Ruth schlich sich an Norbert heran: – Norbert, Sie dürfen niemanden etwas sagen, aber ich muß mir die Hände waschen. – Jetzt gleich? – Ja, aber schweigen Sie.

Norbert führte Ruth in das Badezimmer. Sie standen sich gegenüber in dem weißgekachelten, grellen Raum, der voll heißem Dunst war. Ihre Haare verdeckten die grünen Augen, so dicht hingen sie in die Stirne. Sie sah ihn an. – Wo ist heißes Wasser, ich möchte sehr heißes Wasser. – Hier, aber was ist Ihnen, was haben Sie? – Sehen Sie den Fleck da auf meiner Hand. Ich habe mich zuvor schon in einen Vorhang gewischt: Blut ist es: Vom Nasenbluten von Ihrem Freund da. – Ruth, nein. – Doch, soll ich Ihnen den Vorhang zeigen? Im Salon rechts. Er hat mich geküßt in Ihrem Zimmer und dann hat er auf einmal Nasenbluten bekommen. – Nein.

Er hatte sich abgewendet und seine hohe zu gerade Gestalt wurde klein und verschwand im feuchtschweren Dunst. Aber irgend etwas stöhnte in dem Badezimmer.

Ruth wusch sich die Hände mit einer Bürste, daß das Wasser sprühte. – Sie sollten Ihre Braut nicht solche Lieder singen lassen.

Er schwieg. Und nach einer Weile: – Überhaupt, was Sie für Freunde haben. Schämen Sie sich.

Norbert wandte sich nicht um. Sie fühlte eine warme Welle um ihre Füße spielen, weich und kosend, die sich doch nicht traute, höher zu steigen. Er hielt den Kopf gesenkt. Sicher war er ganz rot. Warum schlug er sie denn nicht?

– Norbert, schauen Sie mich doch an, ob ich auch ganz rein bin. Er richtete seine hundetreuen dunklen Augen auf sie, langsam, verzweifelnd, ergeben. – Auf Ihrem Schuh ist auch ein Fleck, Ruth. – Ach, was soll ich jetzt tun? Mich wieder beklexen?

Er kniete nieder und putzte ihr mit einem nassen Handtuch den Schuh, sehr sorgsam. Sie sah auf ihn herab und fühlte: immer habe ich gewünscht, es soll mir jemand Liebesgedichte machen. Aber das ist ja viel mehr. Und doch ist es furchtbar. Soll ich ihm sagen, daß ich den Leutnant geschlagen habe, oder soll ich ihn küssen, auf den braven Scheitel da – ach, Christus, hilf mir –

Da war Norbert fertig, und sie gingen rasch wieder in den Salon.

Am nächsten Tag kaufte sie ein paar japanische Nelken und erwartete Norbert vor seinem Amt. – Ich muß Sie sprechen. – Ruth, ich werde Sie nach Hause begleiten. – Dort nicht, gehen wir in ein Kaffeehaus, ich will allein sein. – Nein aber – was würde Ihre Mutter sagen? – Dann auf Wiedersehen …– Halt, Ruth, so bleiben Sie doch.

Sie gingen zusammen in ein Kaffeehaus. Er schielte ängstlich auf alle Tische. – Da, nehmen Sie die Nelken, sie gehören Ihnen. – Mir, nein ich verstehe Sie nicht, wie können Sie nur …– Wahrscheinlich ist das auch nicht schicklich, aber nehmen Sie.

Ruth sah über das nüchtern glatte Kaffeehaus, wo eben die ersten elektrischen Flammen angezündet wurden. Und wütend dachte sie: Herrgott, wenn ich nur eine Ahnung hätte, was ich dem Kerl habe sagen wollen. Nein, so was Dummes.

Sie aß drei Portionen Eis nacheinander, und er sah sie schweigend an. Dann sagte er: – Sie müssen nicht kleinlich von mir denken, weil ich nicht in ein Kaffeehaus gehen wollte. Aber Ihre Mutter – und ich bin doch auch verlobt. Aber Ruth, vielleicht wird das jetzt ganz anders werden –

– Norbert, sprechen Sie nicht weiter, o bitte, gewiß nicht, Sie wollen eine riesige Dummheit sagen –

– Ruth, Sie wissen doch alles –

– Nein, ich weiß nichts, gar nichts. Nichts, Norbert. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mir gestern den Schuh geputzt haben. Deshalb die Nelken. Und im übrigen – ja, im Übrigen, ich wollte Sie dringend bitten, sich Onkel Gustavs etwas mehr anzunehmen. Er hat eine schwere Bronchitis und liegt mutterseelenallein in seiner Dachkammer. Außerdem: er liebt Sie, weil Sie so elegant sind. Nicht wahr, Norbert, Ihr Großvater war doch Minister – eigentlich könnten wir jetzt die Sitzung aufheben.

Ruth besuchte Onkel Gustav noch an diesem Abend. Er lag in seinem ungeglätteten Bett. Neben seinem Kopf ein Öllämpchen und auf dem Boden davor der Hund. Der Hund war auch krank und hatte das Zimmer beschmutzt.

– Onkel Gustav, wie kannst du das aushalten? Sie riß das Fenster auf. Er hustete furchtbar. – Gib doch den Hund weg, wenn er krank ist. – Nein Ruth, daß du so etwas sagen kannst. – Ich verstehe überhaupt nicht, wie man sich einen Hund halten kann. Es ist doch immer etwas Schmieriges im Zimmer. Ein Tier, mir graut vor allen Tieren. Schau nur die Schnauze, lang, spitz, mit den langen, spitzen Zähnen. Das ist doch zum Beißen da. – Ruth, weißt du, daß du mir weh tust? …Onkel Gustav richtete sich im Bett auf und seine großen, runden Kinderaugen glänzten noch mehr als sonst …Natürlich ist es nur ein Tier. Aber er hat mich lieb. Weißt du, was das ist? O, vielleicht hast du es noch nie gebraucht. Ich will ja auch nicht seine Schnauze haben. Aber da ist eine große Treue neben mir, wenn ich so im Bett liege. Ein großes Gefühl. Du glaubst ja nicht an Gott, Ruth. Ich auch nicht. Aber an ein so großes Gefühl. Deshalb ziehe ich auch ruhig den Hut vor einer Kirche.

Ruth sah auf die Schmutzpfütze des Hundes mitten im Zimmer und dachte: Nein, daß Norbert sich dazu hergegeben hat, mir das Blut von dem Schuh zu wischen, mit einem Handtuch – wie ekelhaft.

Martha unterrichtete jeden Tag von acht bis ein Uhr die Kinder der guten Familien. Verstimmt kam sie zum Mittagessen nach Hause. Ruth versuchte nie mehr, mit ihr gut zu sein. Auch nicht, Mutter das Streiten mit Martha abzugewöhnen, da hätte sie viele Vasen zerbrechen müssen. Und sie erkannte mit schauderndem Entsetzen, daß alles Mitleid zu Verachtung wird, wenn es der Alltag abnützt. Da hilft kein Verstehen.

Bella suchte sie nie mehr auf. Wozu noch –

Norbert kam Mittwoch und Samstag zum Mittagessen. Eines Tages traf sie ihn auf der Straße, eingehängt in seinen Freund, den Leutnant.


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