Joseph von Lauff
Marie Verwahnen
Joseph von Lauff

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XV.

Kommen sollst Du, auf daß er genese

Nur ein erbärmliches Häuflein flockiger, flaumiger Asche – das war alles, was übriggeblieben war von dem großen nächtigen Vogel, der so prächtig und auf roten Schwingen die Stadt und den Rhein überstrichen und den Kirchturm angeflogen hatte. Blendendweiß ruhte es auf der Priesterkoppel, umgeben von leuchtendem Grün und dem brennenden Schwefelgelb der Sumpfdotterblumen, die beseligt ihre Augen aufschlugen und Ostergrüße mit der Lerche tauschten, die singend in den blauen Himmel schwebte.

Sonnige Ostern . . .! – – – – – – –


Die vierte Flasche kam – die vierte Flasche Forster-Traminer. – Bald darauf kehrte die Alte zurück und stellte zwei brennende Kerzen auf den Tisch, denn es war völlig dunkel geworden. Der Mond hatte sein Licht aus dem Zimmer genommen und war mit ihm weiter gezogen. Durch das geöffnete Oberlicht des Fensters strich die kühle Nachtluft herein. Man hörte deutlich, wie der laue Wind in der großen Linde wühlte, die auf dem Markte stand. Der letzte Duft der bereits absterbenden Blüten wurde durch das Oberlicht des Fensters getragen. Schmeichelnd legte er sich um meine Stirne und die meines Freundes, der wieder nach Geige und Bogen gegriffen hatte.

So ein Lindenblütenhauch . . .! – Er duftet nach Honig und macht abgestorbene Tage wieder lebendig. Und dann wieder die Geige . . .! – Ich konnte den Reiz der vorgetragenen Melodie mit nichts vergleichen, so einschmeichelnd, sinnbetörend und nie dagewesen mutete sie mich an. Ich hatte nur das Gefühl, als wenn der Wind über eine Äolsharfe glitte und das Lied einer weltfremden Nachtigall herüberwehte. Es waren Osterklänge, die meine Seele wunderseltsam berührten. Aber wie immer, so war auch jetzt dem Lieblichen und Anheimelnden des Spiels keine lange Dauer beschieden. Allmählich mischte sich eine Klangfarbe ein, die mich an das Schluchzen eines Kindes erinnerte. Und das Kind hatte sich verirrt im winterkalten Walde und konnte den Weg nicht mehr finden. Eisnadeln hingen von den verschneiten Ästen, und die dichten Tannen standen im Totenhemd. Und als die Nacht kam, da jammerte das Kind nach Vater und Mutter und dem warmen Herdfeuer. Aber niemand hörte sein Rufen. Als dann ein fernes Lichtchen aufblitzte, streckte es glücklich die Hände aus; allein die Füße versagten ihm. Da setzte es sich auf einen verschneiten Stein, verhüllte das Köpfchen und vergaß bald, daß es gelebt hatte auf dieser Erde. – Die Geige tönte gleich Eiskristallen, die im Winterwalde zusammenklingen.

Mit einem disharmonischen Schlußsatz brach das Spiel ab. – – –


Schon beizeiten und in aller Sonntagsfrühe hatte Schlaume Herzlieb seinen stattlichen Ziegenbock auf die Weide getrieben, um ihm die Wohltat des frischen Grases zu verstatten. Der meckernde Gesell war das Eigentum Schlaumes. Er konnte nach eigenem Ermessen über ihn schalten und walten, mußte allerdings alle Lasten, die mit der Haltung des Tieres verknüpft waren, tragen, war dafür aber auch der unumschränkte, glückliche Nutznießer des prächtigen Herrn aus dem Ziegengeschlecht, der als vielbegehrter Sprung- und Deckbock ein Erkleckliches abwarf. Alle Ziegen der Nachbarschaft wurden diesem Pascha zugeführt, waren ihm tributpflichtig und genossen seine Liebe gegen die Hinterlegung eines Kastemännchens, das nach geschehenem Sprunge in die Tasche Schlaumes hinabklingelte. So häufte sich im Laufe des Jahres Kastemännchen auf Kastemännchen. Allmonatlich wurde die Kasse einer Revision unterzogen, und stets wies das Fazit ein erfreuliches Resultat auf. »'s stimmt!« sagte alsdann der kleine Schlaume und schloß die Kassette wieder ab, auf deren Deckel die inhaltsschweren Worte ›Bock- und Sprunggelder for Salomo Herzlieb‹ in flüssiger Kurrentschrift verzeichnet standen.

Trotz des christlichen Jontefs hatte Schlaume zur Weide getrieben, und während Isidor gravitätisch durch das frische Grün stelzte, den Bart schleifte und mit dem Schwänzchen kapriolte und fröhliche Rädchen schlug, lag der kleine Judenbengel rücklings am Wiesenrand, schlenkerte das rechte über das aufgestemmte linke Bein und blinzelte zum Himmel auf, der in strahlender Bläue die weite, duftige Grasfläche überspannte. Schlaume war glücklich. In dieser Glückseligkeit nickte er dem bereits etwas steifbeinigen, aber würdigen Pascha zu – und dieser verstand ihn.

»Isidor!« rief der kleine Schlaume.

Der Bock meckerte auf.

»Übermorgen kommt die Weiße von Herrn Cornelis Janßen zu uns: macht ein Kastemännchen.«

»Mäh!« sagte der Pascha.

»Nü – un zu kommenden Freitag die Schwarz-Braune mit's dumme Gesicht von Herrn Eusebius Dornkat.«

Der Bock meckerte wieder.

»Macht zwei Kastemännchen,« ergänzte Schlaume in tiefer Betrachtung. »Un denn kommt die Rahmweiße, die Zimperliche mit's himmelblaue Bändchen von die Damens Käschen. 'ne Kapitalziege . . .! – Wieder ein Kastemännchen.«

Im behaglichen Vorgefühl der kommenden Dinge schloß der Steifbeinige die Augen, gab etliche Rosinen von sich und ließ sie durch eine schnelle Bewegung des Schwanzes turbinenartig rotieren.

»Isidor, un denn kommt die Schwarze mit die Hängeohren von Perdje Puhl – un denn die Fromme vom Herrn katholischen Pfarrer – un denn die Blässe mit's dicke Euter von der liebreichen Frau Ankerwirtin. – Drei Kastemännchen auf einmal . . .! – Nu, Isidor«– un wo gefällt Dir die Sache?«

Dreimaliges Meckern von seiten des Paschas.

»Un denn,« fuhr Schlaume fort, »Isidor, gehst Du kapores! – un denn kommen die fünf mit die Glöckchens vom Entenbusch, un denn zuletzt – aber, Isidor, nimm's mir nich übel! – die Lahme mit's abgebissene Ohr: dem Herrn Meyer Pinkus die seine. Macht sechs Kaste Männchen ßusammen.«

Allein Schlaume hatte dieses Mal die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Höchst indigniert, verächtlich und mit langem Gesicht drehte sich der Pascha auf seinen steifen Beinen herum und gewährte Schlaume den Anblick seiner hinteren Seite. Er würdigte den Rechenkünstler keines Blickes mehr. Stocksteif und mit eingezogenem Buckel sah er in die Gegend hinaus.

»Isidor, bist Du meschugge?! – Is sie doch auch 'ne Ziege, die Lahme mit's abgebissene Ohr: dem Herrn Meyer Pinkus die seine.«

Es war umsonst. Jeder Zuspruch fiel auf unfruchtbaren Boden. Isidor ließ sich auf nichts mehr ein, graste weiter und schnappte gelegentlich nach einer braunroten Erdhummel, die nicht müde wurde, um seine Nase zu taumeln.

»Püh – denn nich!« sagte Schlaume. »Gefällt Dir die Sache nich – mir aber gefällt sie. – Macht ßusammen zwölf Kastemännchen, gleich 'nem Taler preußisch Courant. Isidor, 's stimmt.«

Also meditierte Schlaume, kümmerte sich nicht weiter um den halsstarrigen Bock, legte sich wieder rücklings ins Gras und schlug die Beine übereinander.

So mochte er etliche Stunden gelegen haben, als mit feierlichen Schlägen die Glocken zum Hochamt riefen. –

Das waren glückliche Ostern! – Seit Menschengedenken hatte sich die liebe Gotteswelt noch nie so frühzeitig geschmückt wie in diesem Jahre. Die Weidenkätzchen rüttelten und schüttelten sich; ein flimmeriger Goldstaub wehte davon über die Wiesen. Die Holztaube ruckste in den alten Weidenköpfen, und mohnblaue Feldflüchter zogen mit reißendem Fluge über die Triften. Von den benachbarten Bauernschaften und Einzelgehöften fuhren die Leute zum Hochamt. Mit jungen Maien waren die Wagen geschmückt, und festlich geputzte Menschen legten heute ihre schwerfällige Eigenart ab, um glücklich mit den Glücklichen und fröhlich mit den Lerchen zu sein, die, Osterlieder singend, zu ihren Häupten schwebten.

Feierliche Glockenschläge gingen über das duftige Grasmeer; vom Schieferhelme des Kirchturmes wehte die lange Fahne in den päpstlichen Farben. Schwefelgelbe Quasten baumelten vom Flaggenstock und berührten fast die Kronen der frisch geschlagenen Maienbäume, die vor dem Portal aufgepflanzt waren. Von hier aus lief eine Via triumphalis bis zum katholischen Pastorat, flankiert von silberlichten Birken und bestreut mit geschnittenem Kalmus, dessen Geruch angenehm die schmalen Straßen durchströmte. Es war fast wie am Fronleichnamstage – so feierlich, so duftig und so prozessionsmäßig.

Pater Bonaventura predigte heute zum letzten Male vor der kleinen Gemeinde. Das Düstere und Beengende der verflossenen Karwoche sollte mit dieser Predigt abgestreift werden; alle Bängnis sollte sie von der Seele nehmen und die goldene Pforte der hoffnungsfreudigen Zukunft aufsperren, denn das Kreuz von Golgatha stand leer, die dumpfe Gewitterschwüle war einem blendenden Licht gewichen. Auferstanden von den Toten war der Herr, die Himmlischen freuten sich, und die armseligen Menschenkinder atmeten auf, denn alles hatte sich zum Guten gefunden, und vollendet war das große Werk der Erlösung.

Mit den letzten Glockenschlägen schritt Bonaventura durch die Reihen der aufgepflanzten Bäume zur Kirche. Eine große Schar begeisterter und frommer Menschen begleitete ihn. Für alle und jeden hatte er ein freundliches Wort, ein liebevolles Lächeln, und unablässig war er bemüht, das Zeichen des Kreuzes mit seinen durchgeistigten Händen zu spenden. Alles Asketische, Düstere und Ernste war von seinem Antlitz gewichen. Der Prediger der Leidensgeschichte hatte sich in einen Verkünder der glorreichen Auferstehung gewandelt. Männliche Schönheit thronte auf seiner Stirn, sprühendens Leben gaben die Blicke wieder, und unter dem Benediktinergewand schlug ein Herz für alles Edle auf dieser Erde. Es war so, als schritte die verkörperte Osterfreude zur Kirche, als müßte der Mann, der da ging, jegliches Leid von der Seele nehmen, als müßten seine Lippen die Worte verkünden: Kommet her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.

Alles Trauergepränge der verflossenen Tage war aus der Kirche entfernt. An Stelle der dunkeln Umkleidung und violetten Gewänder hatten farbenfreudige Gegenstände Platz gefunden, bunte Blumen standen auf den Altären, und die Kerzen flimmerten lebenswarm durch die sonnigen Räume, auf deren Fliesen die Kirchenfenster verschwenderisch die ganze Skala ihrer eingebrannten Farben verstreuten. Die Kleriker hatten sich bereits in der Sakristei eingefunden. Perdje Puhl stand auf dem Hohen Chor und wartete auf den Augenblick, wo er das Zeichen für den Beginn des Hochamtes mit der Klingel geben konnte. Obgleich alles in seiner Umgebung Feier und Freude war, in seinem Gesicht haftete noch immer die Karwochenstimmung. Vergrämelt sah er über die Leute, und nur durch das Herauskehren einer pomphaften Haltung suchte er die ihm fehlende österliche Weihe auszugleichen. Der Mann wurde von seiner eigenen Würde wie von einem Wasser verschlungen.

Jetzt setzte die Orgel ein.

»Halleluja! – Halleluja . . .

Brausende Stimmen fluteten aus dem Kirchenportal dem Benediktiner entgegen. Langsam bestieg er die Stufen, die zum Eingang führten.

Am Portal zur linken Hand stand Marie Vermahnen.

Mehrere Mädchen der ersten Klasse waren am Eingang placiert. Österlich geschmückt, trugen sie Papierrosen im schlichtgescheitelten Haar und sahen verschämt auf die schwarzeingebundenen Gebetbücher, die sie ängstlich zwischen den Fingern hielten.

Der Benediktiner trat näher und legte einem flachsköpfigen Mädchen die Rechte auf den Scheitel, überglücklich sank es in die Knie. Tränen standen in den kindlichen Augen.

»Halleluja! – Halleluja . . .

Bonaventura wandte sich. Sein berückendes Schwärmergesicht glitt über Marie Verwahnen. Lange sah er sie an. Hatte der junge Benediktiner verstanden, was in ihrer Seele wühlte, was deutlich aus ihrem Antlitz redete? – Fast schien es so, denn er fuhr sich mit der Hand über die Stirne und betrat zögernd die räumigen Hallen.

Die Kinder folgten.

Sprachlos sah ihm die Wachsmarie nach. Die Füße versagten ihr den Dienst. Angewurzelt haftete sie an der Stelle, und es war, als wenn eine zwingende Gewalt sie abhielte, über die Schwelle zu treten. Der Himmel öffnete sich ihr; eine strahlende Lichtbahn ging von ihm aus. Darin erschien die heilige Mutter mit dem Jesuskinde. Langsam sank die Verzückte in die Knie und streckte die Arme. Derselbe Schmerz machte sich wieder an den Füßen, auf den Handflächen und unterhalb der Herzgrube geltend. Ein Gefühl der Seligkeit kam über sie. Nichts Finsteres, nichts Verhüllendes mehr trübte ihre Erkenntnis. Sie wußte, daß Gott sie abermals begnadet hatte. Das machte sie trunken vor überirdischer Freude und Glückseligkeit. Demütig senkte sie das Haupt.

Jubilierend klang die Orgel herüber.

Langsam erhob sie sich von den Steinfliesen, und als sie aufschaute, fielen weiße Rosenknospen aus der sich zurückziehenden Lichtbahn, die sie ganz überdeckten.

»Herr, mache mich würdig, das Wunder zu tragen!« stammelte Marie Verwahnen, dann hob sie gestärkt das Haupt und schickte sich an, in die Kirche zu treten, wobei sie die Worte sprach: »Setze mich wie ein Siegel auf Dein Herz – denn meine Liebe ist stark wie der Tod.«

Sie mußte die letzten Worte laut und deutlich gesprochen haben, denn sie wurden gehört, und eine harte Stimme antwortete darauf: »Wenn Deine Liebe stark wie der Tod ist, so gib mir meinen Sohn zurück.«

Ein Mann im Predigergewand kam lautlos näher. Seine Züge waren übernächtigt. Keine Fiber lebte und zuckte darin.

Die Ruhe des vor ihr stehenden Mannes war so gewaltig und zwingend, daß ihr Körper daran erstarrte.

Abraham van Melle regte sich nicht.

Er kam aus der Kirche. In der linken Hand krampfte er noch das Buch, aus dem er kurz vorher das Evangelium seiner kleinen Gemeinde verkündet hatte. Tonlos kam es von seinem Munde: »Alle Menschendinge werden gewertet – die guten und bösen. Denke daran und beherzige es, denn der Staub muß wieder zu der Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.«

»Domine . . .

Die Wachsmarie prallte zurück vor diesem Verkünder des anderen Glaubens.

»Auch Du wirst gewertet vor Gott,« begann er von neuem, »und Du wirst zu leicht befunden werden. Bedenke das Ende, denn in der Hölle, da Du hinfährst, ist weder Werk, Kunst und Vernunft, noch Weisheit.«

Es hörte sich weltfremd und schauerlich an, als er in dieser monotonen Weise redete.

»Du hast Dich an ihn geklammert mit Deinem buhlerischen Wesen,« fuhr er fort, »Du hast ihn seinem Vater und seiner Kirche entfremdet – Du hast meinen Sohn mir genommen und ihn geleitet auf den Pfad des Verderbens. Gib mir meinen Sohn zurück. – Meinen Sohn, meinen Sohn . . .

Eine nervige, knochige Faust legte sich auf die Schulter des aus allen Himmeln gerissenen Weibes. Ein kalter Hauch wehte sie an: zwei starre, eisige Blicke waren ihr nah.

»Meinen Sohn, meinen Sohn . . .

»Was wollen Sie? Ich habe keine Gemeinschaft mit Ihnen.«

Die Selbstbeherrschung kam ihr wieder. Sie reckte sich auf, Milde legte sich um ihre erschreckten Züge, sie hatte Mitleid und Erbarmen mit dem Manne, der vor ihr stand. Die Worte taten ihr leid, die sie soeben gesprochen hatte.

»Domine,« sagte sie mit weicher Betonung, »wir haben nichts mehr zusammen – Johannes und ich.«

In dem harten Gesicht Abraham van Melles zuckte etwas Lauerndes auf.

»Eitel Flitter, Schminke und Lüge!« sagte er mit nervösem Lachen. »Ich will die Wahrheit, die ungeschminkte Wahrheit – ich will sie . . .«

»Ich gab sie.«

Er konnte sich in den plötzlichen Wechsel der Dinge nicht schicken, aber er fühlte, daß der Stein, der bislang auf seiner Brust gelastet, ins Rollen kam und eine befreiende Luft ihn umspielte. Er tastete nach der Hand des schönen Weibes.

»Du – Du – Du . . .!« keuchte er mit heiserer Stimme. »Also wirklich . . .?!«

»Ich habe mit Ihrem Sohn nichts mehr zu schaffen; ich gab ihn frei.«

Eine zwingende Kraft lag in dem, was sie sagte. Er konnte sich der ruhig und überzeugend abgegebenen Erklärung nicht mehr verschließen.

»Johannes!« stieß der Entsetzte heraus, schlug die Hände vor das Gesicht und taumelte unter der Wucht des Gehörten und Unfaßbaren in eine Nische des weiten Portals. Dort hielt er sich an einem Pfeilerbündel.

Mit leeren Blicken sah er sie an, und da erinnerte er sich des Elends und des Jammers in seinem Hause; da erinnerte er sich der Worte, die ihm Doktor Barthes Terwelp in schwerer Stunde und am Krankenlager seines Sohnes zugeflüstert hatte. Es war die ultima ratio des verzweifelten Arztes gewesen. Der Zweck seiner eigentlichen Mission trat ihm klar vor die Sinne, obgleich er wußte, daß er Ärgernis gab, und eine innere Mahnung klang ihm zu Ohren: »Wehe dem, durch den Ärgernis in die Welt kommt.« Aber er wollte sie nicht hören, er wollte sich nicht irre machen lassen in seinem Vorhaben, denn durch das Ärgernis sollte das Gute gezeitigt werden. Er war aschfahl geworden, und die Fingernägel der rechten Hand krampften sich tief in die Handfläche ein.

Unsicher trat er vor. Der starke Mann schien unter der Last der ihm aufgebürdeten Sendung zusammenzubrechen. Widerwillig rangen sich die Worte von den schmalen Lippen.

»Also – Du gabst ihn frei . . .,« sagte er mit weher Stimme, »und somit hast Du einsehen gelernt, nachdem Du so viele Leiden gesät hast. – Aber das allein genügt mir nicht mehr,« stöhnte er auf und preßte das Gebetbuch mit beiden Händen, »das hilft mir nicht, das tröstet mich nicht – und bringt keine Erlösung für mich. – Du gabst ihn frei! – Jetzt, da ich dieses weiß – kommen sollst Du mit mir. In das evangelische Pfarrhaus sollst Du mit mir – ihm die Hände auf die fieberheiße Stirne legen sollst Du – beten sollst Du für ihn, auf daß der Tod vorbeigehe – auf daß er genese.«

Abraham van Melle hatte mit der ganzen inneren Zerrissenheit eines verzweifelten Mannes gesprochen. Der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er, der Prediger, kannte nur zwei Dinge im Leben: schwanke Dinge und spröde Dinge – Biegen und Brechen. Aber das Brechen der Dinge lag seiner Natur näher. Was nicht wollte wie er, das mußte unter seinem Vorurteil, unter seinem starren Willen zerknicken. Er selber hielt daran fest, und wäre er darüber zugrunde gegangen. Heute bog er sich aber. Abraham van Melle war ein Bittender geworden. Das fahle Gesicht näherte sich dem Ohr des Weibes.

»Siehst Du,« begann er wieder, »da drinnen ringt mein Sohn mit dem Tode. Das schwache Licht will vergehen – und wenn es verlischt, dann ist auch für mich ewige Finsternis geworden. Ich aber will nicht in Finsternis tasten; ich will mich noch des Lichtes und meines Sohnes erfreuen auf Erden. – Es ist mir schwer geworden zu bitten. – Ich wollte nichts von Andersgläubigen; da mir aber gesagt wurde: Tu' es! – so habe ich es getan und habe meine Grundsätze, meine Ueberzeugung unter die Füße gezerrt. Das mußt Du verstehen, und darum . . .«

Seine Stimme sank zu einem leisen Flüstern herab: »Und darum sollst Du mit mir in das evangelische Pfarrhaus. – Ihm die Hände auf die fieberheiße Stirne legen, das sollst Du, auf daß er genese – denn Du, so sagen die Leute . . .«

Sie streckte beide Hände von sich.

Das Gesicht des Predigers entstellte sich. Atemlos suchte er die Antwort vom Munde der Erstarrten zu lesen. Schrittweise wich sie zurück.

Drinnen wurde das Evangelium verkündet. Die letzten Worte des gesungenen Textes verhallten. Leise setzte die Orgel ein, und unter ihren Klängen bestieg Bonaventura die Kanzel.

Die Brust Abraham van Melles keuchte: »Denn Du, so sagen die Leute . . .«

In diesem Augenblick hallte das schöne und volle Organ des Kanzelredners herüber. Ein unsagbar berückender Wohllaut lag in der Stimme. Jedes Wort war deutlich vernehmbar. Marie hörte Bonaventura, und dieses reichte hin, alles vergessen zu machen, was sich in ihrer Gegenwart in herzergreifender Weise abspielte. Und wäre die Stimme aus Feuersgluten gekommen, ohne Besinnen wäre sie ihr gefolgt, wäre durch die Flammen geschritten, um dem Manne nahe zu sein, dessen Mund sie entströmten.

Langsam wandte sie das Haupt.

Der Prediger kannte sich nicht mehr in seiner Verzweiflung, die ihm an der Kehle saß.

»Willst Du, willst Du?!« schrie Abraham van Melle.

Er hob flehend die Arme.

Einige Leute in der Kirche, die in der Nähe des Portals standen, wurden auf den Vorgang aufmerksam. Sie schoben sich dem Ausgang zu.

»Ich will nicht,« sagte Marie, ohne merken zu lassen, daß sie vor Unheimlichem bangte.

»Nicht . . .?!«

»Nein – ich habe mit Bonaventura zu sprechen. Ich kann nicht – und will nicht.«

Wie vor einem Besessenen wich sie zurück.

»Bonaventura . . .!« schrie der Prediger. »Und mein armer Johannes . . .?!«

Da stöhnte er auf, so aus seinem Jammer heraus und so furchtbar, als käme es aus der Brust eines Wahnsinnigen.

Da nahm das Grauen bei ihr überhand.

»Bonaventura . . .!« rief sie in ihrer Todesnot.

Drohend stand Abraham van Melle vor ihr.

Etliche Leute, die aus der Kirche gestürzt waren, umringten sie und stellten sich schützend vor sie hin. Da sah er, daß alles umsonst sei. Mit dem Seufzer eines zu Tode Getroffenen schlug er die Faust auf sein Herz. Gesenkten Hauptes verließ er die Schwelle. Er ging, wie ein Mann geht, den das Schicksal mit dem Scheit des Unglücks vor den Kopf geschlagen und so um den Verstand gebracht hat.

Marie Verwahnen aber trat in die Kirche.

 


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