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Konzessionierte Schnüffler

Die Ministerien des Handels und des Innern kamen zu der Erkenntnis: »Es hat sich ergeben, daß die Tätigkeit mancher dieser Unternehmungen Mißstände und insbesondere sehr bedauerliche Eingriffe in das Privat- und Familienleben hervorgerufen hat, durch die nicht nur jene, die die Tätigkeit derartiger Institute in Anspruch nahmen, sondern auch dritte Personen folgenschwere, ja mitunter geradezu verhängnisvolle Schädigungen ihrer Interessen zu beklagen hatten.« Und die Ministerien zogen die Konsequenz aus solcher Erkenntnis und verboten die Privatdetektivbureaus? Nein, sie erhoben sie gerade deshalb zum Rang eines konzessionierten Gewerbes. Der Staat, der die Prostitution für der Übel schlimmstes erklärt, erteilt die Befugnis zu ihrer Ausübung. Aber die Prostitution verletzt kein Rechtsgut, während die Ausübung des Detektivhandwerks eine permanente Bedrohung sämtlicher bestehender Rechtsgüter darstellt. Ehrenbeleidigung durch Eingriff ins Privat- und Familienleben, Provokation zum Ehebruch, Unglaubwürdigmachen von Zeugen: das ist so das normale Arbeitspensum, das ein anständiges Detektivbureau an einem Tag leistet. Betrug, Erpressung, Anstiftung zu Meineid und zu anderen strafbaren Handlungen sind Fleißaufgaben, und das, was manchmal wie Untreue gegen den Auftraggeber aussieht, ist eben der außergewöhnliche Eifer, der seinen Ehrgeiz darein setzt, zwei Herren zu gleicher Zeit zu dienen. Der Staat lohnt solches Streben. Er verbietet das Gewerbe nicht, er erlaubt es. Wenn die Niederträchtigkeit den Befähigungsnachweis erbringen kann, mag sie bestehen bleiben. Ihr schadet das bißchen Bevormundung nicht, und den guten Staat macht es selig. So ward denn die Schnüffelei ein konzessioniertes Gewerbe. Nur »vollkommen verläßliche, unbescholtene Personen« werden sie betreiben dürfen. Ist's nicht, als ob die Polizei, die Lizenzen für die Prostitution ausgibt, von ihren Bewerberinnen ein tadelloses Vorleben verlangte? Die sogenannte Sicherheitsbehörde hat längst die Konzessionierung der Privatdetektivbureaus empfohlen. Offenbar aus tiefster Dankbarkeit für die Hilfe beim Aufspüren von Verbrechen, die schon manchem Polizeirat zur Beförderung verholfen und dafür schon manchem Privatdetektiv die sorglose Ausübung der unsaubersten Praktiken ermöglicht hat. Nun hat der alte Geheimbund seine öffentliche Sanktion erhalten und die Gefährdung des Privatlebens der Staatsbürger ist jener Konzessionspflicht unterworfen, die in Wirklichkeit ein Recht, jenem scheinbaren Zwang, der die Freiheit für die Schnüffler bedeutet. Nicht Konzession, nur das Strafgesetz könnte über die gefährliche Nähe der Verdachtsfabriken beruhigen. Aber wenn »Gebärdenspäher und Geschichtenträger des Übels mehr auf dieser Welt getan, als Gift und Dolch in Mörders Hand nicht konnten«, so werden sie sich von jetzt an auf ihr Patent berufen können. Freilich haben »Bewerber um eine Konzession genau anzugeben, welches Gebiet und welche Tätigkeit sie zum Gegenstande ihres Geschäftsbetriebs zu machen beabsichtigen. Ausgeschlossen ist alles, was vom Standpunkt der öffentlichen Sicherheit oder der Sittlichkeit bedenklich erscheint«. Aber vielleicht verlangt die Polizei auch von den Prostituierten, daß sie das Gebiet und die Tätigkeit genau bezeichnen, die sie zum Gegenstand ihres Geschäftsbetriebs zu machen beabsichtigen, und schärft ihnen ein, daß sie alles, was vom Standpunkt der Sittlichkeit bedenklich erscheint, zu vermeiden haben. Hoffentlich hat die Behörde mit ihrer Verordnung nicht bezweckt, den armen Privatdetektivs, die ohnehin so sehr unter der Konkurrenz der Journalistik zu leiden haben, die letzte Möglichkeit einer Betätigung zu sperren. Was würde denn die schönste Konzession nützen, wenn die öffentliche Sicherheit und die Sittlichkeit gewahrt bleiben müßten? So schlimm kann's nicht gemeint sein, und das ›Neue Wiener Journal‹, das dem verwandten Gewerbe seine Sympathie nicht versagen kann, glaubt so felsenfest, der Lebensnerv des Schnüfflertums werde nicht angetastet werden, daß es – wenn's nicht doch etwa Heuchelei des Konkurrenten ist – geradezu die Hoffnung ausspricht, »daß nach Inkrafttreten der erwähnten Ministerialverordnung auch bei uns in Österreich dieses Gewerbe einen Aufschwung nehmen wird«. Die Tischler legen den Hobel hin, die Schlosser seufzen über die schlechten Zeiten und selbst die Glaser haben, trotz den Gelegenheiten, die der Nationalitätenstreit bietet, wenig zu tun. Nur das Gewerbe des Privatdetektivs nimmt in Österreich einen »Aufschwung«. Aber dem Privatdetektiv soll nach der Darstellung der Blätter geradezu »die Wahrung und der Schutz des Familienlebens zur strengsten Aufgabe gemacht« werden. Und wer sollte dazu berufener sein als gerade die Männer, die tagtäglich unter der Chiffre »In flagranti« annoncieren, »phrasenlos, unauffällig und gentlemanlike arbeiten« und sich in dieser verderbten Welt allein noch »vornehmste Gesinnungstüchtigkeit« bewahrt haben? Die Verordnung ist so witzig abgefaßt, daß an dem Ernst der Absicht, daß Gewerbe zu fördern, nicht gezweifelt werden kann. Von den Bewerbern um die privatpolizeiliche Konzession fordert die Behörde außer einem tadellosen Vorleben auch noch eine genügende »allgemeine Bildung«. Es mag zweifelhaft sein, ob diese Qualitäten zur Erlangung eines Ministerportefeuilles in Österreich notwendig sind. Unerläßlich sind sie bei der Ausübung des Schnüfflerhandwerks. Sonst könnte ja jeder, der etwa als Politiker nicht reüssiert hat, die Karriere des Privatdetektivs ergreifen. Und zwar lediglich auf Grund einer Eigenschaft, die die Verordnung beim Bewerber um die Detektiv-Konzession voraussetzt: Er muß » den Mangel jedes Anstandes bei der Sicherheits- oder Sittenpolizei nachweisen können«.

In Österreich wird jetzt nur mehr von der »Ehre« gesprochen. Aber für dieses arme Land hat noch immer die Falstaff-Moral Recht, die da verkündet, daß man Ehre nicht essen kann. An jenen Rechtsgütern vorbei, die greifbarere Werte darstellen, wirft sich der Scharfsinn der Reichsjuristen auf die kuriose Frage, ob man die Duelle der Adeligen aus der Welt schafft, wenn die Bürgerlichen gegen Zeitungsangriffe besser geschützt werden. Im Herrenhaus wurde neulich wieder die hypertrophische Entartung des Ehrbegriffs sichtbar, an der ein Teil der Bevölkerung fast so sehr wie der andere unter dem Hunger leidet. Professor Lammasch begründete seinen Antrag »zur Verbesserung des Schutzes der Ehre«. Und das in Ehrendingen ausschließlich kompetente Organ des Herrn Wilhelm Singer, das fast nur mehr aus Ehre und Inseraten besteht, schrieb: »Zutreffend ist es jedenfalls, wenn Hofrat Dr. Lammasch es als eine Unzukömmlichkeit bezeichnete, daß ein Einzelrichter, nachdem er soeben etwa ein Urteil wegen eines maulkorblosen Hundes gefällt hat, eine Ehrenbeleidigungsklage verhandeln, einen Wahrspruch über das höchste Gut des Menschen, über die Ehre schöpfen soll.« Hier hat sich die Menschenwürde bereits aufs Hirn geschlagen. Herr Singer scheint zu glauben, daß das Strafurteil, das wegen eines maulkorblosen Hundes gefällt wird, den Hund schützen soll. In Wahrheit schützt es den Menschen, wie das Urteil über eine Beleidigung nicht den Preßköter, sondern den Menschen schützt, dem er an die Wade gefahren ist. Und ich wage zu behaupten, daß der Rechtsschutz der Gesundheit dringender ist als der der Ehre. Man zwinge den empfindlichen Herrn Singer, auf dem nächsten internationalen Preßkongreß Farbe zu bekennen: ob ihm der Biß eines Hundes erwünschter ist oder ein Zeitungsangriff. Wer es für eine schimpfliche Zumutung hält, als Kläger oder Angeklagter vor einem Richter zu stehen, der »soeben« wegen eines maulkorblosen Hundes verhandelt hat, müßte Gelegenheit bekommen, die Frage, ob ein Hundebiß oder eine Ehrenbeleidigung für das geringere Übel zu halten sei, an eigener Person zu entscheiden. Es ist töricht, ein Rechtsgut nach seiner »Würdigkeit« zu beurteilen, und gar als Bekämpfer der Ansicht, daß Ehrverletzung blutige Sühne heischt, das Rechtsgut der Ehre für »würdiger« zu halten als das der Gesundheit. Nur die größere Kompliziertheit, nicht der größere Wert der Rechtsmaterie könnte das Verlangen nach einem Spezialrichter verständlich machen. Schwieriger mag die Judikatur über das Unheil sein, das ein maulkorbloser Journalist anrichtet; für wichtiger halte ich das Verfahren wegen eines maulkorblosen Hundes.

In dem Fälscherprozeß Liebel, der vor dem Wiener Schwurgericht durchgeführt wurde, trat wieder einmal eine Erscheinung zutage, die für die Unverdorbenheit der für Kriminalfälle interessierten öffentlichen Meinung bezeichnend ist: das Staunen über die Enthüllung eines Bündnisses zwischen Verbrechertum und Polizei. Der Polizeirat Stukart schien freilich als Zeuge weniger die Notwendigkeit solcher Bündnisse, als den Bundesgenossen selbst zu verteidigen und über die Verpflichtung behördlicher Dankbarkeit für geleistete Spitzeldienste weit hinauszugehen. Aber diese Gutmütigkeit ist gewiß unverdächtig. Herr Stukart nun, dem die Kenntnis der Banknotenfälschung in die Amtsstube geflogen war und der immer zu Ehren kommt, wenn ihm ein Konfident oder ein Privatdetektiv, ein »Vertrauensmann« oder ein Vertrauter, eine Verbrechertat meldet, wurde zwar wieder wegen seiner unerhörten Findigkeit gepriesen, aber selbst seine Bewunderer konnten sich einer Mißempfindung darüber nicht erwehren, daß der Anzeiger, mit dem er verkehren mußte, kein Mitglied der ethischen Gesellschaft, sondern ein Pensionär der Anstalt in Stein war. Wenn eine Albernheit stark genug ist, so braucht man sie bloß zu zitieren, um sie zu beweisen: käme nicht die Stichhaltigkeit einer Anzeige, sondern das Motiv, nicht die Informiertheit, sondern die Moral des Anzeigers in Betracht, jede behördliche, jede publizistische Gerichtsbarkeit höbe sich von selbst auf. Die gesunde Naivität, die den Verfolger mit dem Hinterbringer in einem Bündnis der Gesinnung wähnt, beeinflußt bei uns, wo alles Persönliche zuerst sichtbar wird und der unfaßliche Idealzweck hinter dem greifbaren Mittel verschwindet, immer wieder das Urteil über den Wert sozialer Reinigungsarbeit. Als ob es auf die Gesinnung des Rechercheurs und nicht auf die des Redakteurs ankäme! Aber in Wahrheit scheint es mir keine fruchtbarere Verwendung des Spitzbuben zu geben als die zur Entdeckung des Spitzbuben. Wo Erpressung geschieht, ist meistens ein Verbrechen geschehen. Hat der Ankläger es verwirkt, den Erpresser zu verfolgen, wenn er das Verbrechen, an dem der Erpresser sog, verfolgt hat? Sexualrichter und journalistische Schnüffler mag die Verbindung mit dem Denunzianten wie das Handwerk selbst kompromittieren; dem Wahrer öffentlicher Interessen ist sie unentbehrlich. Ist ein Bankdiebstahl vornehm zu ignorieren, weil der Angeber für ein Schweiggeld geschwiegen hätte, oder weil seine Anzeige der Ranküne des entlassenen Kommis entsprang? So gedankenlos wie die Anerkennung des Scharfsinns einer Sicherheitsbehörde, der die Kunde einer Notenfälschung ins Bureau getragen wurde, war der Hohn darüber, daß ihr »Vertrauensmann« kein des Vertrauens würdiger Mann sei.

Die Interessenten des Schwachsinns der Prinzessin Louise müssen jetzt das Furchtbare erleben, daß ihre Patientin, die sie so lange betreut haben, von Pariser Ärzten für unheilbar geistesgesund erklärt wird. Das Gefühl der Bestürzung weicht aber dem freudigen Bewußtsein, in einem Staat, in dem der Hinterteil der Mächtigen die einzige Rechtsquelle bildet, vor der Gerechtigkeit geschützt zu sein und eine Tat nicht verantworten zu müssen, die zu den schlechtesten gehört, die je mißbrauchte Gewalt veranlaßt hat. Und die Freude schafft Übermut. In der letzten Plenarversammlung der Wiener Advokatenkammer wurde – versteht sich, von einer Seite, die den Ernst der Sache gefährden konnte – dem Präsidenten eine Interpellation überreicht, die sämtliche gegen ihn als Kurator der Prinzessin erhobenen Angriffe wiedergab und an ihn die Frage stellte, ob er es nicht für geboten erachte, gegen diese Angriffe klagend aufzutreten. Herr Dr. von Feistmantel gab die Erklärung ab, er sei »keineswegs in der Lage, gegen unmotivierte, geradezu verleumderische Angriffe Prozesse zu führen«. Man solle ihn, meinte er beherzt, beim Disziplinarrat anzeigen. Und die Wiener Advokatenschaft rief »Bravo!« Aber die Ethik des Standes hat sich bis heute in den bedenklichsten Fällen vor dem Disziplinarrat sicher gefühlt, und gegen eine das Ansehen des Advokaten kompromittierende Logik gewährt er von Haus aus keinen Schutz. Der Präsident der Advokatenkammer würde nur dann klagen, wenn motivierte Angriffe gegen ihn gerichtet würden. Daß sie verleumderisch waren, geht schon daraus hervor, daß er nicht klagt. Wer ihm trotz dieser Rehabilitierung vorwerfen wollte, daß er seine Pflicht als Kurator vernachlässigt habe, den könnte er sofort mit einem Brief widerlegen, durch den bewiesen ist, daß er sich lebhaft für das Wohl des Papageis seiner Kurandin interessiert und diesen sogar ein kluges Tier genannt hat. Die Klugheit des Papageis besteht allerdings vor allem darin, daß die Erklärungen, die er abgibt, nie von ihm selbst ersonnen, sondern nachgesprochen sind. Er blamiert sich nicht gern.

»Dem Richter wird der Vagant F. H. wegen verbotener Rückkehr vorgeführt. – Richter: Sie wissen, daß Sie abgeschafft sind? – Angeklagter: O, ja! – Richter: Warum kamen Sie zurück? – Angeklagter: Daß i wieder eing'spirrt wer'; jetzt im Winter gibt's ka Arbeit nöt! – Das Urteil lautet auf einen Monat strengen Arrests. – Angeklagter ( enttäuscht): An' Monat? – Richter: Sie können berufen! – Angeklagter: Dös is mir ja z'wenig! I will drei Monat', daß i im Summer außi kumm, wann's wieder a Arbeit gibt! – Da es kein Rechtsmittel eines Verurteilten gegen zu geringe Strafe gibt, wird H. zur Strafverbüßung abgeführt.« – Können wir's in dieser besten aller Welten weiter bringen? Der strafende Staat, der Momo der Erwachsenen, hat seine Schrecken eingebüßt – auf freiem Fuß sein bedeutet Schmach und Jammer. Es gibt eine Verurteilung zur Freiheit. Aber F. H. braucht nicht einmal etwas Neues anzustellen, um die Unfreiheit zu genießen, so oft er will. Er muß bloß nach seiner jedesmaligen Enthaftung und Abschiebung in die »Heimatsgemeinde« nach Wien zurückkehren. Fand er dort nicht Arbeit, so findet er hier Verpflegung. Ein Staat, der mehr Arreste als Arbeitsstätten hat und der den armen Teufel vor dem Verhungern bewahrt, weil er Gesetze hat, die der arme Teufel übertreten kann, ist ein Musterstaat. Wenn der Revertent es zu einer lebenslänglichen Verköstigung im Prytaneum bringen könnte, wäre die Straferei endgültig ad absurdum geführt. Unsinn wird Vernunft, Plage Wohltat.

Ein Salzburger Bauer sollte eingesperrt werden, weil ihm der Ausruf entfahren war: »Ach was, i fürcht mi vor kein Teufel. Den Teufel hab i z'haus, mei Weib!« Nicht wegen Beleidigung des Weibes, sondern wegen Beleidigung des Teufels, wegen Herabwürdigung einer »Einrichtung der katholischen Kirche« – eine solche ist nämlich der Teufel – sollte der Salzburger Bauer verurteilt werden. Es gehört nämlich zu den unverlierbaren Rechten des österreichischen Staatsbürgers, zu jeder Stunde und bei jedem Anlaß »eingespirrt« zu werden. Jener wurde auffallenderweise freigesprochen. Wie schwer es trotzdem in Österreich ist, keine Religionsstörung zu begehen, zeigt der folgende Vorfall: In Olmütz warf ein Friseur bei der Beerdigung seines Freundes eine Erdscholle auf den in die Tiefe gesenkten Sarg mit den in tschechischer Sprache ausgerufenen Worten: »Lebe wohl, Ferdinand, auf der ganzen Linie!« Er wurde wegen Religionsstörung angezeigt und – wiewohl er angab, daß er dem toten Freunde nur dessen Lieblingswort »auf der ganzen Linie« nachgerufen habe, ohne die entfernteste Absicht, jemand zu beleidigen oder ein Ärgernis zu erregen – zu drei Tagen strengen Arrests verurteilt. Also ein Sieg der Betschwestern auf der ganzen Linie! Ob das neue Strafgesetz solche Siege unmöglich machen wird? Ob es verhüten wird, daß der ahnungslose, blinde oder andersgläubige Passant, der eine Prozession nicht grüßt, »eingespirrt« werde? Während der religionsstörende Kooperator, der auf dem Gang zu einem Sterbenden innehält und Spaziergängern den Hut vom Kopf schlägt, straflos bleibt? Wer kann's wissen! Rechtsgut wird wohl auch künftig nicht die Religion, sondern die Empfindlichkeit einer Betschwester sein. »Marandjosef!« lautet ein- für allemal die Klage, die der österreichische Staatsanwalt erhebt. Und was die Kirchhofwanze sinnt, wird der österreichische Richter immerdar in Tat umsetzen.

In die Volksschullesebücher kommender Zeiten wird zur Illustrierung des Sprichwortes: »Üb' nimmer Treu und Redlichkeit« die folgende Geschichte aufgenommen werden: »Vor einem Wiener Bezirksgericht hatte sich ein Fahrradhändler wegen bedenklichen Ankaufes zu verantworten. Er hatte nämlich auf ein Fahrrad, das ihm zum Kaufe angeboten worden war, eine Anzahlung von zwanzig Kronen geleistet, den Restbetrag von vierzig Kronen dem Verkäufer nachgesandt und gleich darauf eine Anzeige bei der Polizei freiwillig erstattet, weil ihm nachträglich Bedenken aufgestiegen waren. Es stellte sich auch heraus, daß das Rad einem Rechnungsfeldwebel gestohlen worden war. Nunmehr wurde gegen den Fahrradhändler die Anklage wegen bedenklichen Ankaufes erhoben. Nach Feststellung des Tatbestandes verurteilte ihn der Richter – es war der Doktor Schachner – zu einer Geldstrafe von hundert Kronen. Bei der Verkündigung des Urteils geriet der Verurteilte in große Aufregung und schrie: ›Das ist eine Ungerechtigkeit; das lasse ich mir nicht bieten! Ich erstatte die Anzeige und werde verurteilt! Unerhört!‹ Da er trotz allen Begütigungsversuchen nicht zu beruhigen war und fortlärmte, wurde er überdies noch zu einer Disziplinarstrafe von 24 Stunden verurteilt, die er sofort antreten mußte.« Und die Schüler werden erkennen, daß das Urteil bedenklicher war als der Ankauf. Tatsächlich bestärkte es damals viele Fahrradhändler in dem Entschluß, bei bedenklichen Ankäufen doch lieber zu warten, bis diese von anderen angezeigt werden. Die »bedenklichen Ankäufer« wurden nicht alle, aber sie wußten sich wenigstens der Strafe, die auf die Anzeige gesetzt war, zu entziehen. Es war eine merkwürdige Zeit, in der eine merkwürdige Rechtsmoral regierte. Hätte der Fahrradhändler die 60 Kronen, um die er geschädigt wurde, irgendjemand veruntreut und vor der Anzeige zurückgegeben, so wäre ihm nichts geschehen. Da er selbst der Geprellte war und selbst die Anzeige erstattete, mußte er büßen ... »Hütet euch also!«, schließt das Lesestück, »die Reue ob einer ehrlichen Tat kommt zu spät.«

»Gestern hatte sich beim Bezirksgericht Josefstadt ein Bediensteter der städtischen Straßenbahnen, Josef Ch., wegen Betruges an dem Unternehmen in der Höhe von sechs Hellern zu verantworten. Die Direktion hatte gegen ihn die Anzeige erstattet, daß er laut Meldung eines Revisors dabei betreten wurde, als er unbefugt eine Permanenzkarte, nämlich eine Freikarte für Straßenbahnbedienstete, zu einer Fahrt benutzte. Er dient bei den Straßenbahnen tadellos seit neun Jahren. Der Angeklagte brachte dem Richter Sekretär Dr. Schachner vor, daß er infolge von Krankheit und Unglücksfällen seine Schulden nicht zahlen konnte, unbarmherzig gepfändet wurde und an dem kritischen Tag den Advokaten des Gläubigers aufsuchen mußte, um die Transferierung seiner Habe zu verhüten. Um rechtzeitig wieder im Dienst zu sein, habe er die Permanenzkarte eines Mitbediensteten benutzt. Der Richter fragte den als Zeugen erschienenen Revisor, ob eine eventuelle Verurteilung des Angeklagten seine Entlassung zur Folge habe. Zeuge erwiderte, das entziehe sich seiner Beurteilung. – Der Richter erkannte hierauf Ch. des Betruges schuldig und verurteilte ihn mit Rücksicht auf das Motiv und sein tadelloses Vorleben zu zwölf Stunden Hausarrest.« Wenn die Justiz eine Schutzvorrichtung ist, dann verdient auch diese Unglücksnachricht die schonungsvolle Aufschrift »Unter die Schutzvorrichtung geraten«. Ich stelle mir die Entdeckung des Betrugs, den jener Bedienstete begangen hat, durch die wachsame Straßenbahndirektion so vor: Ein Motorwagen tötete sechs Menschen: zwei Männer, eine Greisin und drei Kinder. Ein Revisor wurde auf den Zwischenfall aufmerksam und entdeckte bei dieser Gelegenheit, daß ein Bediensteter als Passagier mit einer nicht ihm gehörigen Permanenzkarte mitfahre. Dies verursachte einen längeren Aufenthalt, eine eingehende Untersuchung und die Strafanzeige durch die Straßenbahndirektion ...

Auf dem Gebiete der sexuellen Moral wünschen die Sozialdemokraten keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, daß das Wort »Genosse« nicht von »genießen« stammt. Die ›Arbeiter-Zeitung‹ druckte einen Artikel der gesinnungsverwandten ›Münchener Post‹ über die »Schrecken von Capri« ab, den ganz gut das Wiener ›Vaterland‹ aus dem bayrischen ›Vaterland‹ hätte übernehmen können. Die Schrecken von Capri, das sind natürlich die Homosexuellen, die auf Capri hausen. Was gehen – so fragt man sich – die Neigungen der Päderasten ein sozialdemokratisches Blatt an? Doch höchstens so viel, daß es sich hin und wieder der Kulturpflicht bewußt werde, gegen den Wahnwitz, der in rückständigen Staaten den Nervenwünschen die Richtung vorschreibt, zu protestieren und vernehmlich zu fordern, daß ein künftiges Gesetz dem »widernatürlichen« Triebe nur jene Schutzgebiete vorenthalte, die es dem »normalen« vorenthält: Unmündigkeit, Gesundheit und Öffentlichkeit. Aber so vernünftig wagen nur Publizisten zu sein, die auch den Verdacht, pro domo zu sprechen, nicht scheuen. Freisinnige und Klerikale sieden die Moral in einem Topf. Und rot ist die Farbe des sozialdemokratischen Schamgefühls. Wenn ein homosexueller Kapitalist sich an einem Proletarierkind vergreift, so mag meinetwegen der sozialdemokratische Redakteur das Motiv »Ihr schändet unsere Kinder!« zu einem Leitartikel komponieren. Aber eine ganz unsoziale und rein moralische Entrüstung ist es, die deutsche Genossen zu »Enthüllungen« über süditalienische Orgien treibt. Sie sind über den Zweifel, ob die Päderastie ein Verbrechen sei, längst hinaus. In ihren Augen ist sie eine » Sünde«. Der Artikel bringt eine viel interessantere Enthüllung als die der Zustände auf Capri: Die sozialdemokratische Anschauung des sexuellen Lebens wurzelt in der christlichen Sündenlehre und entlehnt deren Terminologie. In der ›Arbeiter-Zeitung‹ liest man Sätze, die in einer Sonntagspredigt vorkommen könnten. Da wird Capri mit einem Paradies und einer Rose verglichen: »Ja, ein Paradies«, heißt es, »in dem ein verderbenbringender Teufel das Szepter schwingt, eine Rose, in deren Kelch ein scheußlicher Wurm frißt«. Denn Capri sei das Dorado der Päderasten. » In jedem anderen Lande wird diese Menschensorte aufs strengste verfolgt; nur hier dürfen sie sich ungehindert einnisten und unter einer braven, einfachen Landbevölkerung ihr Unheil stiften.« Der untere Teil der Insel sei der »Hauptsitz dieser Teufe1ei«. Niemand habe den Mut, den Schleier von dem » Sündenpfuhl«, der hier bestehe, wegzureißen. Den »Gipfel der Schlechtigkeit« habe ein Engländer erreicht, »der von seiner Gattin geschieden, die er durch systematische Mißhandlung zur Untreue trieb, hier auf Capri mit seinen beiden kleinen Knaben sein Zelt aufschlug«, deren jüngerer der Mutter zurückgegeben wurde, deren älteren aber »dieser Unmensch zu seinen gemeinen, sündhaften Lastern benützt«. »Daß es ein Weib sein mußte, das den ersten Anstoß gibt, Licht in die finsteren verbrecherischen Höhlen der Capri-Päderasten fallen zu lassen, ist eigentlich kein Ruhm für das italienische Sittlichkeitsgefühl. Ein Krebsgeschwür, das an dem Leben Capris frißt und durch das es bald einen Weltruf der Gemeinheit und Verworfenheit erlangen wird.« Gewiß, die ›Arbeiter-Zeitung‹ wendet sich nicht gegen den homosexuellen Verkehr mündiger Leute, sondern gegen den Mißbrauch von Kindern auf Capri. Kinderschänden ist ein Verbrechen und soll auch im Zukunftsstaat eines sein. Aber daß die Sozialdemokraten sogar den Teufelsglauben und die Vorstellungen von Sündenpfuhl und Lasterhöhle hinübernehmen wollen, ist überraschend. Da lob ich mir die Klerikalen! Die haben schon in die heutige Weltordnung durch die Institution der sogenannten »Schweinepfaffen« ein wenig Freiheit gebracht.


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