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1. Undine.

Ungefähr auf dem 22. Grade nördlicher Breite und auf dem 26. Grade westlicher Länge, etwa 400 Seemeilen von der marokkanischen Küste entfernt, liegt einsam und verlassen im Weltmeer die Insel der drei heiligen Könige, einfacher Dreikönigsinsel genannt. Es ist ein erloschener Vulkan, der sich jäh aus dem Meere emporhebt, nur ringsum mit einem niedrigen Plateau; das Ganze ist so klein, daß es in keinem Atlas angegeben ist, desto stärker ist der Punkt in den Seekarten als verderbenbringend für die Schiffer markiert. Wenn man dicht daran vorüberfährt, sieht das Ding freilich ziemlich mächtig aus, da bemerkt man oben auf dem Vulkan auch die zackigen Erhebungen, aus denen ein phantastischer Kopf drei Kronen gemacht hat, und daher der Name.

Selbstverständlich ist die Dreikönigsinsel von England annektiert worden, obgleich auf der völlig wasserlosen Klippe kein Mensch existieren kann, und da kann keine Festung, keine Kohlenstation angelegt werden, denn das Schiff findet keinen Ankergrund, viel weniger einen Hafen.

Bekannter ist die Dreikönigsinsel erst durch Alexander von Humboldt geworden, welcher sie, wie so viele einsame Inseln, gründlich durchforscht hat, und nähert sich ihr einmal ein Dampfer und setzt bei schönem Wetter und ruhiger See ein Boot aus – sonst kann man gar nicht landen – so ist sicher anzunehmen, daß der Dampfer einer wissenschaftlichen Forschungsexpedition angehört, welche die Richtigkeit der von Humboldt gemachten Entdeckung nachprüfen will, daß nämlich auf der Dreikönigsinsel zwei Arten von Insekten leben, welche sonst nirgends in der Welt vorkommen.

Denselben Zweck verfolgte auch die kleine, aber seefeste Jacht, die sich an einem sonnigen Morgen mit leichtgeschwellten Segeln dem Meeresberge näherte.

An der Bordwand stand der Besitzer, ein noch sehr junger Mann, Erno von Kufstein, neben ihm hatte sich ein mächtiger Neufundländer aufgerichtet, die Vorderpfoten auf der Reling, und betrachtete, wenn ihm auch sonst eine Mücke eben eine Mücke war, den aus dem Meere hervorragenden Berg mit gleichem Interesse wie sein Herr.

Wir müssen einen kurzen Blick auf die Vergangenheit des Besitzers dieser Jacht zurückwerfen. Es geht schnell genug.

Zum Offizier hatte er keine Neigung gehabt. Er hatte studiert, Zoologie und Botanik, hatte auch schon eigne Forschungsreisen gemacht, war aber bisher nicht aus Europa herausgekommen. Als sein Vater starb, hatte er tun können, was er wollte. Er wollte ein zweiter Alexander von Humboldt werden. Er war ein Hamburger, sah die Schiffe immer dicht vor der Nase, und da hatte er sich hier diese mit einer Hilfsmaschine ausgestattete Segeljacht, die ›Woge‹ gekauft. Einen tüchtigen Kapitän und Steuermann darauf, fünf Matrosen und zwei Heizer, von denen der eine ursprünglich Fleischer war, also auch jemandem das Fell über die Ohren ziehen konnte, und los ging es! So etwas kostet Geld, aber Erno von Kufstein hatte es dazu. Jetzt kam er von den kanarischen Inseln. Unten hatte er schon alles voll von eingemachten Schlangen und anderm Zeug, was da kreucht und fleugt und wächst. Ein glücklicher Mensch, wer's so haben kann! Dabei war Erno niemals ein Philister gewesen, er hatte neben seinen Studien das Leben schon zu genießen gewußt, und in Funchal auf Madeira hatte er sich auch ganz famos amüsiert.

Nun also war die Insel der heiligen drei Könige sein Ziel. Zu poussieren gab's da nichts, da wollte er nur die beiden Mückenarten untersuchen und etliche auf Nadeln gespießt mit nach Hause nehmen.

Die ruhige See gestattete eine Landung; ein Boot wurde ausgesetzt. Drei Matrosen stiegen hinein, Erno folgte nach, mit Schmetterlingsnetz und Botanisiertrommel bewaffnet, während ein Revolver mehr als Signalapparat dienen sollte, außerdem, um sich darauf setzen zu können oder ein Sonnendach zu bilden, statt eines Plaids seinen großen Burnus mitnehmend. Den Schluß bildete Sultan, der Neufundländer, der als seefester und weiterfahrener See ... hund das steile Fallreep rücklings hinabkletterte.

Das Boot stieß ab, strebte der Richtung zu, wo sich auf dem niedrigen Plateau eine ziemlich hohe Steinpyramide erhob, von frühern Forschern auf dem Platze an der Küste errichtet, wo ein Boot am leichtesten landen konnte.

Eine kleine Bucht nahm das Boot auf, gleich hier sah man viele Namen in die Felswände eingemeißelt, vor den meisten ein Dr. Aber Humboldts Name ist auf der Insel nicht zu finden, der hat ihn in andrer Weise verewigt. Auch Erno von Kufstein hatte im Boot Hammer und Meißel liegen.

Die Matrosen machten das Boot fest und stellten ein schattenspendendes Dach her, Erno haschte Mücken, Sultan freute sich, wieder einmal festes Land unter den Füßen zu haben, und tollte bellend umher.

Das Plateau war nicht so eben, wie es in der Ferne aussah. Es war ein Miniaturgebirge, bei jedem Schritte mußte man klettern, und dereinst hatte das Meer bis hier herauf gereicht, es hatte in die Felsblöcke tiefe Höhlen gewaschen.

Da stieß der unsichtbar gewordene Hund ein Bellen aus, welches von seinem bisherigen ganz verschieden war, das klang grimmig, er mußte etwas für ihn Unangenehmes aufgespürt haben. Ohne Zögern folgte Erno der Richtung, und bald sah er Sultan, der in drohender Stellung vor einem großen Felsblock stand, der sicher eine Höhle barg, in die der Hund wütend hineinkläffte.

Der junge Mann dachte nicht daran, zur Vorsicht erst seine Begleiter herbeizurufen, er zog nur seinen Revolver und näherte sich schnell jener Stelle.

Richtig, es war eine geräumige Höhle, und im Hintergrunde derselben, aber von der Sonne noch tageshell erleuchtet, da sah er ... da sah er ... ja, hatte er denn eine Vision? Träumte er wirklich nicht nur?

Da sah er ein Weib, ein junges Mädchen, keine Schwarze, sondern ihre Haut schimmerte weiß wie frischgefallner Schnee, und sie war völlig unbekleidet, man hätte denn ihr goldblondes Haar eine Bekleidung nennen müssen, welches sie wie ein Mantel einhüllte ... da sah er das schönste Weib, das er je auf Gottes schöner Erde gesehen hatte!

Sie zitterte an allen Gliedern, wollte sich völlig unter ihrem Haarmantel verkriechen, und nachdem Erno zu der Ueberzeugung gekommen war, daß er hier auf der mitten im Ozean gelegenen Dreikönigsinsel wirklich nicht nur träume, erkannte er sofort, daß das Mädchen sich am meisten vor dem noch immer wütend bellenden Hunde fürchtete.

Er beruhigte ihn, wies ihn fort, und sogleich traf ihn ein hilfeflehender Blick aus den wunderbar blauen Augen, sie machte bittende Bewegungen – ein Zeichen doch, daß sie sich vor dem Manne nicht fürchtete.

Der junge Mann raffte sich auf. »Wer bist du? Wie kommst du hierher?« Er wiederholte dieselbe Frage auf englisch, auf französisch, italienisch. Keine Antwort. Sie hatte sich von dem Steine, auf dem sie bisher gesessen, erhoben, rutschte auf den Knien zu Erno hin, den einen Arm vor dem Busen, sich in das goldne Haar zu hüllen suchend, dabei mit dem andern Arm immer bittende Bewegungen machend; jetzt traten Tränen in ihre Augen, sie deutete auf ihren Mund ...

»Mein Gott sie ist stumm!!«

Noch einmal mußte sich Erno mit Gewalt aus seiner halben Betäubung emporraffen. Ja, wenn es ein schwarzes oder ein braunes Weib gewesen wäre! Aber das war doch eine Europäerin mit blendend weißer Haut, die er hier auf dieser weltverlassenen Insel fand, ohne jede Bekleidung ... das ging über seinen Verstand.

Er schoß den Revolver in die Luft ab. Ihren Herrn in Gefahr wähnend, kamen die drei Matrosen sofort herbeigeeilt.

Kaum hatte der eine das auf den Knien liegende Weib gesehen, als er mit allen Zeichen des Entsetzens rief: »Alle guten Geister – ein Meerweib!! Fort von hier – um des Himmels willen, Herr, fliehen Sie, es ist Ihr Unglück!!«

Er wollte Erno mit Gewalt fortreißen. Dieser stieß ihn kraftvoll von sich. Jetzt hatte die auf den Knien Rutschende ihn erreicht, sie umschlang seine Füße, angstvoll blickte sie zu ihm empor, und Erno wußte selbst nicht warum, plötzlich füllten sich auch seine Augen mit Tränen.

»Nein, nein, habe keine Angst, wer du auch bist, ich verlasse dich nicht,« sagte er tröstend, wobei er liebkosend über ihr prachtvolles Haar strich, das jetzt im Scheine der Sonne Funken sprühte, und wieder ging ein Zittern durch ihre schlanken und doch so üppigen Glieder, und noch fester preßte sie ihren Busen an seine Knie, nicht mehr darauf achtend, daß der goldne Mantel ihren jungfräulichen Leib entblößte.

Der furchtsame Matrose war wirklich vor dem vermeintlichen Meerweibe davongeflohen.

»Schnell,« wandte sich Erno an die beiden andern, »du kannst semaphorieren, Jürgen, signalisiere dem Kapitän zu ... oder fahrt beide hinüber, holt den Kapitän, ich brauche seinen Rat, und der Steuermann ist genug zur Sicherheit der Jacht. Oder nimm Moritz mit, du, Ernst, bleibst hier.«

Auch der zweite Matrose eilte davon.

Erno hatte gesehen, wie die Augen der beiden Matrosen auf dem nackten Weibe geruht hatten, der Gebliebene blickte es auch noch so an, und Erno nahm den Burnus vom Rücken, rollte ihn auf und deckte ihn über das Weib, das sich denn auch sogleich einzuwickeln suchte, aber ohne dabei Ernos Knie loszulassen.

Er versuchte sich mit sanfter Gewalt aus ihrer Umklammerung zu befreien, es gelang nicht, sie schmiegte sich nur um so fester an ihn.

»Ernst, durchsuche einstweilen die Umgegend, ob du etwas findest, und wenn es auch nur Spuren sind!«

Da der davongegangene Matrose nichts von sich hören ließ, konnte er wohl auch nichts finden. Unterdessen sprach Erno tröstende Worte zu dem Weibe, wie es der Augenblick ihm eingab, streichelte ihr Haar, wollte sie auch aufrichten, was ihm aber nur zur Hälfte gelang. Sie wollte durchaus zu seinen Füßen liegen und ihr Gesicht zwischen seinen Knien vergraben, wobei sie nur zitternde Seufzer ausstieß.

So mußte Erno in seiner Stellung verharren, bis der Kapitän kam. Er war schon ein älterer Seebär.

»Ich wollte es erst gar nicht glauben, was mir da erzählt wurde, und jetzt muß ich das Märchen mit eignen Augen schauen. Ja, was soll man denn nun dazu sagen?«

Nach und nach wich die Furcht etwas von dem Mädchen. Sie richtete sich auf, den Burnus eng um sich ziehend, aber noch jene zaghafte, halbgebückte Stellung einnehmend, wie etwa ein Mädchen, welches sich zum ersten Male in Männerkleidung präsentieren muß, bis sie auch darin freier wurde. Aber Erno brauchte nur eine Bewegung zu machen, als wolle er sie verlassen, so lag sie schon wieder zu seinen Füßen und umschlang stehend seine Knie.

Noch kein Wort war aus ihrem Munde gekommen. Stumm war sie auf alle Fälle. Aber nicht taub. Das hatte Erno konstatieren können, als der Hund einmal hinter ihr gebellt hatte, gar nicht so laut. Sofort war sie erschrocken zusammengefahren und hatte sich umgeblickt.

Der Kapitän sprach Spanisch, ein Matrose etwas Griechisch und Russisch. Zum ersten Male gab sie ein Zeichen, sie schüttelte den Kopf. Das heißt, sie verstand nicht, was man zu ihr sagte.

Der Kapitän betastete ihre Hände, was sie ruhig geschehen ließ, betrachtete ihre Füße.

»Feine Hände, hat niemals gearbeitet, hm. Und Hühneroogen hat sie ooch nich, hm.«

Für den alten Kapitän Höcker war nämlich jeder Mensch, der keine Hühneraugen hatte, ein Wunder. In der Tat aber besaß sie wunderbar feine, zarte Füße. Auch das duldete sie, daß der junge Mann ihren Fuß hob und über die Sohle strich.

»Nicht das geringste Horn, was sonst jeder Mensch hat. Sie hat nicht nur niemals beengendes Schuhzeug getragen, sondern sie scheint überhaupt niemals zu Fuß gegangen zu sein.«

»Ja, dann ist sie eben wirklich ein dem Meere entstiegenes Weib,« meinte der Kapitän.

Aber er meinte es nicht ernsthaft, er selbst machte sich sogleich auf die Suche nach Spuren.

»Warten Sie, nehmen Sie Sultan mit, wir wollen ihn erst einmal an sie riechen lassen.«

Es geschah, und als sie dabei in Ernos Armen lag, zeigte sie viel weniger Angst vor dem mächtigen Hunde, der herangezogen wurde, daß er das Mädchen beschnüffele.

Der Kapitän entfernte sich mit dem Neufundländer, welcher wirklich sofort die Nase auf den Boden senkte und anscheinend eine Spur verfolgte. Lange konnte ihn Erno nicht beobachten, er entschwand seinen Augen.

»Willst du ...?« fragte er dann, deutende Bewegungen hinaus ins Freie machend.

Nicht die deutschen Worte, sondern die Gesten hatte sie verstanden. Sie nickte und schmiegte sich an ihn, ihn dabei mit Augen ansehend, die mehr sagten als Worte.

Ja, sie wollte mit ihm gehn, wohin es auch sei, wenn nur er bei ihr bliebe.

Beim ersten Schritte, den sie zur Höhle hinausmachte, zuckte sie schmerzlich zusammen, wollte niederfallen. Erno dachte an ihre weichen Sohlen, und die Sonne hatte den Steinboden erhitzt – er nahm sie auf seine kraftvollen Arme und trug sie die wenigen Schritte zum Boote hinab. Dieses und die naheliegende Jacht machte auf sie gar keinen Eindruck. Weshalb auch? Im Wasser spielende Meerfrauen sehen Boote und Schiffe genug.

Als er sie in das Boot gesetzt hatte, fand sich der Kapitän mit dem Hunde wieder ein.

»Es ist nichts. Sultan umkreist ein paarmal den Felsen mit der Höhle, dann geht er immer wieder an das Ufer, bis dicht ans Wasser und dann wieder zur Höhle zurück. Sie muß doch aus dem Wasser gekommen sein.«

»Schon möglich. Trotzdem, Herr Kapitän, suchen Sie die Insel weiter ab, besonders auch nach Schiffstrümmern. Sie wissen wohl, woran ich denke, und überhaupt, von alledem verstehn Sie mehr als ich. Ich bringe sie jetzt an Bord und schicke Ihnen dann das Boot zurück.«

Sie fuhren nach der Jacht. Das Mädchen saß auf derselben Ducht und schmiegte sich auch hier an ihn. Wovon hatte sie auf der Insel gelebt?

»Willst du etwas essen?« fragte Erno, nahm von dem mitgenommenen Proviant ein Biskuit und reichte es ihr.

Sie nahm es, ohne Hast: aber Erno hatte doch bemerkt, wie es freudig in ihren Augen aufgeleuchtet. Sie zog den Burnus auch über den Kopf, daß sie ganz unsichtbar wurde, und verzehrte so das Biskuit. Dann kam sie wieder zum Vorschein.

»Willst du noch eins?«

Er gab ihr eine ganze Handvoll, und ganz offenbar war dies ein verlegenes Lächeln der Scham gewesen, sie errötete auch dabei, als sie die vielen Biskuits nahm. Wieder verschwand sie vollständig unter dem Burnus, und als sie wieder hervortauchte, lächelte sie abermals so verschämt, und dabei traf ein Blick voll unendlicher Dankbarkeit den neben ihr sitzenden Mann.

»Hast du Durst?«

Er füllte ihr aus einer Lederflasche einen Becher mit gesüßtem Zitronenwasser, und wie oft er ihn auch füllte, jedesmal wurde er schnell geleert, wobei sie aber stets Kopf und Gesicht unter dem Tuche verbarg.

Gar kein Zweifel, das arme Mädchen war fürchterlich von Hunger und Durst gequält worden. Seltsam nur, daß sie davon gar keine Andeutung gemacht hatte, auch nichts gesagt hatte, als sie die offen in einem Korbe liegenden Biskuits gesehen, und dann, wie bescheiden sie es nahm, wie sie sich beim Essen und Trinken nicht den Blicken der rudernden Matrosen aussetzen wollte, während sie ohne Scheu immer wieder Ernos Hand zärtlich drückte!

Das Boot hatte die Jacht noch nicht erreicht, als Erno merkte, daß sie, sich an ihn schmiegend, eingeschlafen war. Sie wurde in einer herabgelassenen Hängematte an Deck gehievt, wobei es ohne Stöße nicht abging, ohne daß sie davon erwachte – wieder ein Zeichen, wie lange sie ohne Schlaf gewesen sei.

Erno brachte sie in seiner Kabine zu Bett, und fest überzeugt, daß sie nicht so bald wieder aufwachen würde, ließ er sich wieder nach der Insel hinübersetzen. Ein Matrose mußte vor ihrer Tür Wache halten, und sobald er drinnen etwas sich bewegen hörte, sollte ein Alarmschuß abgegeben werden, der Erno zurückrief. Der junge Mann hatte also schon mehr sein Meerweib im Kopfe als seine seltenen Mücken. Und das war begreiflich.

Auf der Insel wurde nichts gefunden, absolut nichts. Erno beschloß, den Vulkan zu besteigen – in wissenschaftlicher Absicht, wie er sich selbst sagte. Nebenbei konnte er von dort oben aus ja auch einmal mit dem Fernrohr eine allgemeine Rundschau halten.

Der Aufstieg war nicht schwer, hätte höchstens eine Stunde in Anspruch genommen – Erno kam nicht einmal zur Hälfte hinauf! Wenn sie nun jetzt erwachte und ihn nicht bei sich fand? Nein, hatte er das denn überhaupt alles nicht nur geträumt? Und wenn dieser schöne Traum jetzt ...

Der junge Mann stürzte den Weg so hastig zurück, daß er sich bald dabei den Hals gebrochen hätte, und ließ sich eiligst wieder übersetzen.

Gottlob, es war kein Traum! Sie selbst war ein Märchen! Wie schön sie war! Dieses Haar, diese im Schlafe halb geöffneten Lippen! Dieser Zauberduft, der von ihr ausging!

Da schlug sie die Augen auf, lächelte ihn an, breitete die Arme sehnsüchtig nach ihm aus und ...

 

Schon längst hatte die Jacht die Dreikönigsinsel hinter sich.

Die fremde Maid war Ernos Weib geworden. Ohne des Priesters Segen. Es hatte ja nicht anders kommen können.

Undine hatte er sie genannt. Ohne Zweifel war sie ja das Opfer eines Schiffbruches, der nur sonst keine Spur hinterlassen hatte, sie mochte lange geschwommen sein – aber für Erno war sie doch dem Meere entstiegen, um sein Weib zu werden. Sie war seine Undine.

Und sie waren glücklich in ihrer Liebe, so unaussprechlich glücklich! Dabei vergaß er keine Bemühung, das Rätsel zu lösen, um aus der märchenhaften Meerfrau doch noch ein irdisches Weib zu machen. Er beobachtete alles.

Es mußte für Kleider gesorgt werden. Zuerst hatte er ihr Männersachen aus seiner Garderobe angeboten. Sie hatte damit nichts anzufangen gewußt. Ein Matrose fertigte ihr schnell und geschickt Frauenkleider. Aber auch mit diesen wollte sie nicht zustande kommen. Jedenfalls fühlte sie sich darin zuerst höchst unbehaglich.

Als das erste Essen aufgetragen wurde, hatte sie mit den Fingern zugegriffen, gleich ins warme Gemüse hinein. Messer und Gabel handhabte sie sehr ungeschickt, wie ein kleines Kind, mußte es erst lernen.

Da lag die Vermutung, welcher Nation sie sei, sehr nahe. Denn mit einem unzivilisierten Wesen, das aus den Wolken gefallen war, hatte man es nicht etwa zu tun! Sie kannte den Spiegel und noch manches andre, sie wunderte sich überhaupt sehr wenig über alles, was sie an Bord der Jacht zu sehen bekam.

Da sie die Speisen mit den Händen zum Munde führt, wird sie eine Araberin oder Türkin sein, sagte sich Erno, wenn sie auch nicht im Aeußern einer solchen gleicht; sie braucht ja keine geborne Orientalin zu sein.

Doch er mußte diese Ansicht bald wieder fallen lassen. Er hatte an Bord eine auserwählte Bibliothek, Lexika der verschiedensten Sprachen, Reisebeschreibungen und dergleichen.

Er zeigte ihr die verschiedensten orientalischen Trachten. Sie wußte recht wohl, was man von ihr wissen wollte, aber verneinend schüttelte sie bei jedem Bilde den Kopf. Sie machte Bewegungen, als habe sie früher ein weites, wallendes Gewand getragen, und als sie einmal zufällig in einem Buche eine antik gekleidete Hellenin sah, bedeutete sie, daß auch sie sich so getragen habe – ungefähr, nicht ganz so.

Sie verstand eine Finger- und Gebärdensprache, welche sie anfangs oft unwillkürlich zu Hilfe nahm. An Bord war ein Matrose, der eine taubstumme Schwester gehabt hatte. Es war ein Deutscher, und dessen Zeichensprache verstand sie nicht, was leicht begreiflich war. Wenn jemand zu ihr sprach, so blickte sie immer aufmerksam auf dessen Mund.

Infolgedessen sprach ihr Erno aus seinen Wörterbüchern arabische, türkische und indische Worte vor. Sie beobachtete seinen Mund, aber die Worte waren ihr fremd. Sie konnte die in den heimatlichen Schriftzeichen wiedergegebenen Worte auch nicht lesen, und des Schreibens war sie überhaupt nicht kundig.

Von dort her, wo die Sonne aufging, stammte sie. Erno zeigte ihr einen Atlas. Den kannte sie gar nicht.

Nach und nach verstand Erno dennoch, was sie ihm erzählen wollte. Sie hatte ein sehr lebhaftes, ausdrucksvolles Gebärdenspiel.

Einen Tag hatte sie in der Höhle zugebracht, frierend, hungernd und durstend. In der Nacht war sie nach der Insel geschwommen.

Sie legte die Hände auf die Bordwand, deutete ins Meer hinab, machte Schwimmbewegungen.

»Du bist über Bord gesprungen?« fragte Erno, auch so tuend, als wolle er ins Wasser springen.

Sie nickte lebhaft und bedeutete, daß zur Zeit dieser Tat die Sonne nicht am Himmel gestanden hatte.

Weshalb war sie in der Nacht über Bord gesprungen? Erno konnte es von ihr nicht erfahren.

Das erste Schiff, welches die Jacht wieder in Sicht bekam, war ein Segler. Kaum hatte Undine das Segel am Horizont auftauchen sehen, als sie sich in der Kabine verbarg und nur verstohlen aus dem Fensterchen das sich nähernde Fahrzeug furchtsam beobachtete.

Aha, eine entsprungene Sklavin! Er tat, als ob er ihr die Hände fesseln wolle – und sie verstand ihn, was er meinte, aber sie schüttelte den Kopf. Nein, eine Sklavin oder dergleichen sei sie nicht gewesen.

Das zweite Schiff war ein großer Passagierdampfer mit zwei Schornsteinen. Wieder das furchtsame Verbergen und Beobachten.

Als dritten sah sie einen gewöhnlichen Frachtdampfer, und da äußerte sie keine Furcht mehr, sondern wahres Entsetzen, den wollte sie auch nicht beobachten, sie verkroch sich in den verborgensten Winkel, und das wiederholte sich, sobald die Jacht irgend einem andern Dampfer begegnete, und am größten war ihre Angst stets, wenn der Dampfer nur einen Schornstein hatte.

Wenn sie auch nicht von ihrer Vergangenheit erzählen konnte, so wußte sie doch durch Gebärden ihre Gedanken in ganzen Sätzen auszudrücken, und wenn sie sich angstvoll an Erno schmiegte, auf das Meer deutete, auf einen Dampfer, dann Handbewegungen in die weite Ferne und andre lebhafte Gesten machte, so hörte Erno sie ganz deutlich sagen: »Fort, fort von hier, fort von dem Meere, von solch einem Dampfer droht mir Gefahr, und wenn du mich liebst, wenn du willst, daß ich bei dir bleiben soll, so bringe mich dahin, wo es kein Meer gibt, wohin uns kein Schiff verfolgen kann. Dorthin laß uns zusammen fliehen, oder es ist mein wie dein Verderben!«

Diese Sprache war zu deutlich, als daß man sie hätte mißverstehn können.

Und Erno preßte die Zitternde an sich, küßte sie und rief: »Ja, Undine, ich will dich in Sicherheit bringen, dorthin, wo der uns nicht finden wird, den du fürchten mußt, und auch keine andre Macht der Erde soll dich mir wieder entreißen, es sei denn der Tod!!«

Sein Entschluß war gefaßt. Er hatte auf seiner ersten Forschungsexpedition etwas andres entdeckt als eine bisher noch unbekannte Pflanze, etwas Köstlicheres hatte er in Sicherheit zu bringen. Er lenkte den Klüver seiner Jacht wieder nordwärts.

»Ich kenne ein Land, welches von keinem Meere umspült wird, in welchem der rechtliche Mensch die höchste Freiheit und den höchsten Schutz genießt, dorthin will ich dich bringen. In der schönen Schweiz wollen wir uns ein warmes Nest bauen.«

Erno sprach mit dem Kapitän, ließ die ganze Mannschaft zusammenkommen.

»So und so steht die Sache. Ueber diesem dem Meere entstiegenen Weibe schwebt ein Geheimnis. Ihr seid die Mitwisser desselben, welches aufs strengste gehütet werden muß. Sie behauptet, daß sie in aller Welt gesucht werden würde, von einem Manne, der sie mir wieder entreißen will, und ich glaube es ihr. Leute, Seeleute, wollt ihr mit mir nach der Schweiz kommen? Ich weiß, was für ein Opfer ich von euch verlange. Es ist auch nur eine bittende Frage. Ihr sollt in meinem Hause wie meine Brüder mit mir leben. Sonst müßte ich zu Undines Schütze erst fremde Leute anwerben, und ich weiß nicht, ob sie mir treu ergeben sein werden. Von euch aber weiß ich, daß ich euch mein Kostbarstes anvertrauen kann. Wollt ihr?«

»Ja, Herr von Kufstein, wir wollen bei Ihnen bleiben!!« erklang es sofort einstimmig, und das in hellem Jubel.

Sie alle, alle hatten das liebreizende Wesen ja schon so unsäglich liebgewonnen. Was war es, das so mächtig aller Herzen bezwang? War es allein ihr kindliches Wesen, ihre Hilfsbereitschaft, die nichts von Stolz und dergleichen wußte? Wenn ein Matrose seine Kalkpfeife verlegt hatte, so half sie ihm eifrig suchen. Wenn der Kapitän die Sonne aufnahm und mit Logarithmen rechnete, wollte sie ihm durchaus dabei behilflich sein, in einer so kindlich ungeschickten Weise, daß sich alles vor Lachen wälzte. Wenn es zu regnen begann, brachte sie für die Mannschaft die Oelröcke an Deck geschleppt, ängstliche Gebärden machend, daß sich die Leute nur ja nicht erkälten sollten, und als sie den Steuermann einmal versehentlich etwas mit einer Schere geritzt hatte, gar nicht der Rede wert, kannte ihr eigner Schmerz keine Grenzen.

Nein, dies alles war es noch nicht. Schon allein der wundersame Zauber war es, der von dieser holdseligen Erscheinung ausging, und ein Zauber läßt sich nicht definieren. Sie alle, alle wären für sie durchs Feuer gegangen, das ist nicht nur bildlich gemeint. Als der servierende Matrose sie einmal mit dem heißen Teller gebrannt hatte, war er bereit, seine Hand ins Küchenfeuer zu stecken, wenn das ihre Schmerzen gelindert hätte.

»Eine Köchin brauchen wir nicht, die bin ich!« rief ein Matrose.

»Und ich mache das Dienstmädchen!«

»Und ich nähe ihr Kleider, daß sie auf die feinsten Bälle gehn kann, deswegen braucht keine Schneiderin zu uns ins Haus zu kommen.«

»Und ich mache ihr die Stiefel!«

Der junge Steuermann hatte schon immer mit Muße an einem Schiffsmodell arbeiten wollen, einer Erfindung, zu deren Ausführung er einige Jahre Zeit brauchte, er wollte den Geschäftsführer spielen, den Verkehr mit der Außenwelt vermitteln, und der alte Kapitän, desgleichen ein Junggeselle, hatte sich schon längst nach Ruhe gesehnt, und wenn neben dem Hause ein Gärtchen war, in dem er ›buddeln‹ konnte, dann war sein Ideal erreicht.

Trennen wollte sich Erno von der Geliebten überhaupt nicht mehr. Der intelligente Steuermann sollte schon in Gibraltar an Land gehn und nach der Schweiz vorauseilen, dort irgendwo eine passende Villa kaufen, während die ›Woge‹ langsam nach Nizza segelte und dort auf die Rückkehr des Steuermanns wartete.

Als der hohe Felsen von Gibraltar sichtbar wurde, sah Undine, seitdem sie sich auf dieser Jacht befand, zum ersten Male Land.

»Weißt du, was das ist?« fragte Erno.

Sie hatte schon gelernt, einige Worte von seinen Lippen abzulesen, sie verstand seine fragenden Gesten. Und sie nickte, ja, sie wußte, was das war, sie deutete auch auf ein kleines an Deck stehendes Böllergeschütz; das sei eine Festung, dort oben gäbe es viele, viele solche Kanonen, aber weit größere. Aber dort gewesen war sie noch nicht, sie hatte Gibraltar nur schon mehrmals von weitem gesehen.

Seltsam! Oder auch nicht seltsam. Erno war bereits zu der festen Ueberzeugung gekommen, daß Undine noch niemals an Land gekommen, sogar auf einem Schiffe geboren worden war. Das Plateau der Dreikönigsinsel war das erste feste Land gewesen, auf das sie ihren Fuß gesetzt hatte.

Sie tat in bezug auf Gibraltar auch noch andre Aeußerungen. Doch werden wir später, wenn ein Gewitzigterer, als es der junge Gelehrte war, seine Recherchen anstellt, darüber noch mehr erfahren.

In Nizza brauchte die Jacht nur einen Tag auf Reede zu liegen, da kam der Steuermann Richard Jansen schon an Bord. Alles in Ordnung. Eine schöne Villa in der Nähe von Genf, ganz allein auf einem isolierten Hügel liegend, mit großem Garten, das Ganze umringt von einer Mauer.

Die Jacht wurde einem Vermittler zum Verkaufe übergeben, die ganze Gesellschaft reiste nach der Schweiz.

Die einzige Schwierigkeit bereitete Undines Anmeldung. Sollte Erno der Behörde von dem Meerweibe erzählen? Man würde ihn auslachen, und außerdem war er etwas von Undines Furcht angesteckt. Nein, keinen einzigen fremden Menschen wollte er ins Vertrauen ziehn.

Er bediente sich einer – wir wollen den besten Ausdruck wählen – einer Täuschung. Jürgen Heinrich, der eine Matrose, war schon einmal verheiratet gewesen, seine Frau war bald gestorben, er hatte unter seinen Papieren noch den Trauschein, welcher der Schweizer Behörde genügte, eine persönliche Vorstellung war nicht nötig, und so wurde die Namenlose als Anna Heinrich angemeldet und galt für Jürgens Frau.

Diesem traute Erno vollkommen, und über alles andre war er erhaben. Wenn ihm Undine ein Kind schenkte, so würde er diesem schon später noch seinen Namen zu geben wissen. Uebrigens sei hierbei gleich erwähnt, daß er Undines Religion noch immer nicht hatte erforschen können. Eine Christin war sie nicht, auch keine Mohammedanerin, sie schien gar nichts anzubeten.

Es war ein überaus glückliches Leben in der Villa auf dem Hügel. Mehr braucht nicht gesagt zu werden. Höchstens noch, daß der junge Gelehrte in der Uebersetzung eines botanischen Werkes aus dem Englischen volle Beschäftigung und Zufriedenheit fand, und das galt von jedem andern.

Mochten die draußen denken, was sie wollten – über die hohen Mauern drang nicht einmal ein Hauch, der das Glück derer stören konnte, die sich einander zur Liebe lebten.

So verging nicht ganz ein Jahr, als für Undine eine schwere Stunde herannahte. Erno hatte sich darauf vorbereitet, mit seinem Gewissen war er sich einig, er riskierte es, und Gott war gnädig. Undine war eines gesunden Knaben genesen, und kein fremder Fuß war über die Schwelle gekommen; keine geschwätzige Hebamme konnte erzählen, daß die junge Frau stumm sei, und daß der gnädige Herr bei der Niederkunft der Frau eines seiner Diener so merkwürdig aufgeregt gewesen.

Die Geburt des Jungen wurde angemeldet. Dr. Erno von Kufstein schrieb, daß er Medizin studiert habe, was er auch hätte beweisen können, er sei selbst genug gewesen, und alles war in Ordnung.

Seltsam, der Knabe hatte ganz grüne Augen. Uebrigens war das nicht störend, er war von Geburt an ein liebreizendes Kind. Aber es war doch seltsam. Erno hatte schwarze, die Mutter tiefblaue Augen.

Stumm war der Junge nicht. Er schrie, wie jedes gesunde Kind schreien muß. Bei Undine hatte sich während des einen Jahres nichts geändert. Sie war auch nicht jener mißtönenden Laute fähig, welche sonst Taubstumme von sich geben können, sondern höchstens eines schwachen Seufzers. Sie war ja auch nicht taub, und die Taubheit ist ja schuld, daß die genannten Taubstummen gar nicht oder doch nur mangelhaft sprechen lernen. Undine vermochte überhaupt keinen Laut hervorzubringen, das lag an ihren Stimmbändern.

Nach und nach lernten sich die Gatten durch Ablesen der Worte von den Lippen und durch eine selbstgebildete Zeichensprache immer besser verstehn. Aber das galt doch nur für das, was innerhalb eines engen Gesichtskreises lag. Ueber ihr Herkommen konnte Undine noch immer nichts berichten. Ebenso war es mit dem Schreiben, welches ihr Erno mit unsäglichen Schwierigkeiten beibrachte, was er aber doch so gern tat. Uebrigens war die Vergangenheit hinter ihnen begraben. – –

Der Knabe war drei Wochen alt. Ueber eine Taufe zerbrach sich Erno noch nicht den Kopf. Man nannte den Kleinen Harald, nach Ernos Vater.

Erno saß in seinem Schreibzimmer, der Steuermann war nach der Stadt gegangen, die Matrosen hatten im Hause zu tun, der alte Kapitän arbeitete mit Moritz im Garten, in dem sich auch die junge Mutter befand, welche ihr Kind selbst stillte.

Da plötzlich kam Moritz in das Studierzimmer gestürzt.

»Herr Doktor, Herr Doktor, in der Gartenlaube ist eine fremde Dame mit ganz grünen Augen und Haaren, die spricht mit Ihrer Frau ganz schnell mit den Fingern!!«

Moritz staunte, daß sein Herr bei dieser Botschaft so ruhig sitzen blieb. Im Stuhl zurückgelehnt, stierte er vor sich ins Leere. Er hatte plötzlich eine Vision. Es war ihm, als ob vor ihm ein großes Buch aufgeschlagen würde, und da war mit leuchtenden Buchstaben zu lesen:

»Seenixen und Meerfrauen gehn mit Menschen sehr gern Liebesverbindungen ein, aber sobald sie ein Kind haben, verlassen sie den Mann und gehn mit ihrem Kinde in ihr feuchtes Element zurück.«

So lautet die Sage. So steht's auch im Konversationslexikon. Und das dicke Buch, das eine unsichtbare Hand vor Ernos Augen aufgeschlagen hatte, sah gerade wie ein Lexikon aus.

Wie hatte er nur nicht daran denken können? Unsinn ...!

Die Vision hatte nur einen Augenblick gewährt, dann sprang er auf und stürzte in den Garten hinaus.

»Wo? In welcher Laube?«

»Dort, in der!« rief der nachkommende Matrose.

Ja, hier gewesen war Undine. Auf dem Gartentisch lagen noch ihr Handbeutelchen und ihr Taschentuch. Aber sie selbst war nicht zu sehen.

»Undine, wo bist du?«

»Wo bist du? Wo bist du?« spottete das Echo der nahen Berge nach.

Dort grub der alte Kapitän ein Beet um.

»Haben Sie meine Frau gesehen?«

»Die ist doch ... um Himmels willen, Doktor, was ist Ihnen? Sie sehen ja wie eine Leiche aus!«

»War nicht eine fremde Dame im Garten?«

»Eine fremde Dame? Nee. Wie soll die denn hereinkommen?«

»Jawohl, es war eine fremde Dame mit ganz grünen Augen und ganz grünen Haaren,« behauptete Moritz, »gerade solchen Augen, wie Harald hat. Eben jetzt war sie noch da, ich bin doch gleich zu Ihnen gerannt.«

Erno stürzte nach dem Gartentor, welches immer verschlossen sein mußte. Aber es war diesmal eben nicht der Fall, es war nur angelehnt, und Erno verzichtete sogleich darauf, Undine noch im Garten suchen zu wollen.

Draußen war kein Mensch zu erblicken, und die vorüberführende Hügelstraße war weit zu übersehen. Daß er einen Wagen rollen zu hören glaubte, konnte nur eine Einbildung sein.

Doch weit entfernt konnte sie sich noch nicht haben.

»Sultan!!« schrie er, einen schrillen Pfiff nachfolgen lassend.

Der Neufundländer war mit den Matrosen auf dem Boden gewesen, auf den Ruf seines Herrn kam er angehetzt. Erno ließ ihn an Undines Taschentuch riechen.

»Such, Sultan, such!«

Der Hund nahm denn auch die Spur sogleich auf, und das zornige Bellen, welches er zuvor ausstieß, zeigte an, daß wirklich ein fremder Fuß im Garten gewesen war.

Bis kurz vor das Tor verfolgte er die Fährte, dann wurde er unsicher, heulte, lief im Kreise umher.

»Sie ist getragen worden!!« schrie Erno in seiner Seelenangst. »O, Gott, gütiger Gott, gib dem Hunde Vernunft, daß er auch die fremde Spur verfolgt!«

Und das kluge Tier schien wirklich die Sprache seines Herrn zu verstehn, es verfolgte wieder eine bestimmte Richtung, offenbar die fremde Spur. Aber nur bis dahin, wo der Fußweg an die staubige Landstraße stieß, hier begann es wieder im Kreise zu laufen.

»Hier ist sie in einen Wagen gehoben worden!«

Ja, so würde es wohl gewesen sein, und die Radspur zu verfolgen, das konnte man von dem Hunde nicht verlangen. Zudem fuhren hier sehr viele Wagen hin und her.

Die Straße führte von Genf nach Montreuil. Erno rannte, wie er war, im bloßen Kopfe nach Genf, der Kapitän schlug mit einem Matrosen die andre Richtung ein. Es war vorauszusehen gewesen, daß es nutzlos sein würde. Geschlossene Equipagen hatte man überall genug vorbeifahren sehen.

Noch an demselben Abend meldete Erno die Entführung seiner Frau der Polizei. Jetzt, da die Katastrophe einmal geschehen, ließ er alle Rücksichten fallen, er gestand die Wahrheit. Eben deswegen aber schaute ihn der Polizeimeister mit so sonderbaren Augen an, ob er auch bei rechtem Verstande sei. Außerdem hörte der biedre Beamte vor allen Dingen nur eins heraus.

»Sie haben die Frau unter falschem Namen angemeldet? Das war Ihre Gattin? Die Anna Heinrich ist schon längst tot? Ja, Herr von Kufstein, da haben Sie sich einer sehr strafbaren Handlung schuldig gemacht, Sie haben auch noch den Jürgen Heinrich zu falschen Angaben verführt.«

Ja, die strafbare Handlung! Das war der Polizei jetzt die Hauptsache. Darüber vergaß sie die eigentliche Entführung. Immer hübsch eins nach dem andern, erst mußte die falsche Anmeldung erledigt und konstatiert werden, wer die Entführte eigentlich sei, wo und wann geboren usw.

So schlimm, daß Herr von Kufstein nun gleich in Untersuchungshaft genommen wurde, war die Sache ja nicht.

Schon am andern Tage übergab Erno die Verfolgung der Entführerin einem Genfer Privat-Detektiv-Institut. Leider bemerkte er nicht, wie die Augen des Direktors, als er erzählte, wie er das Meerweib gefunden habe, ungläubig auf ihm ruhten, und dann, als er das geforderte hohe Depositum bar auszahlte, so habgierig aufleuchteten.

»Die werden wir bald wiederhaben, verlassen Sie sich darauf, Herr von Kufstein, mein privilegiertes Institut ist das größte der Welt, ich habe überall Verbindungen – jawohl, die haben wir bald wieder!«

Zunächst wurde Moritz noch einmal vorgenommen, der einzige, welcher die fremde Dame gesehen hatte. Seine Behauptung, daß sie grüne Haare gehabt habe, nahm er zurück. Es konnte auch ein grüner Schleier gewesen sein, den sie hochgeschlagen hatte. Aber bei den grünen Augen blieb er. Ganz genau solche, wie sie der kleine Harald hatte. Eine feine, eine noble Dame! Auch ihr Kostüm konnte er ziemlich genau beschreiben. Wie alt? Na, jedenfalls älter als Undine. Ob sich die beiden ähnlich gesehen hätten, konnte er nicht sagen. Sie hatten sich durch eine Fingersprache unterhalten, ganz schnell, das war immer hin und her gegangen, und auf eine ganz andre Weise, als der Herr Doktor zu seiner Frau immer gesprochen hatte.

Es vergingen ungefähr vier Wochen. Die Privatdetektivs waren der grünen Dame immer dicht auf der Spur. ›Beinahe‹ hätten sie dieselbe in Paris erwischt, dann wieder war Undine mit ihrem Knaben in Konstantinopel gesehen worden, und ›beinahe‹ hätte man sie bekommen. Herr von Kufstein brauchte bloß noch einmal 1000 Francs zu zahlen, dann hatte man sie ganz bestimmt. Zahlen, zahlen, immer zahlen – das war ›beinahe‹ die Hauptsache.

Endlich gingen dem armen, genarrten Manne die Augen auf. Er konnte nur in ohnmächtigem Grimme mit den Zähnen knirschen. Was nun? Der Verzweiflung sich hingeben? Die hohe Polizei war noch nicht einmal mit ihrer ›strafbaren Handlung‹ fertig.

Da spielte der Zufall oder eine gütige Vorsehung dem schon Zusammengebrochenen ein kleines, englisches Blatt in die Hände. ›Worlds Magazine‹. Erno hatte schon einiges von jenem Detektiv Nobody gehört. Amerikanischer Schwindel! Der Mann existierte ja gar nicht, das war doch nur eine Romanfigur. Aber gesetzt nun den Fall, daß ...

Kurz und gut, Erno ging auf die Telegraphenstation. Hatte er schon so viele tausend Francs verpulvert, kam es auf ein paar mehr auch nicht an.

Am Kopfe des Blattes war die telegraphische Adresse angegeben.

»Worlds Magazine, New-York. Ist Mr. Nobody zu sprechen? Dringendste Angelegenheit. Drahtantwort erbeten. Erno von Kufstein. Genf. Schweiz. Hauptpostlagernd.«

Kaum hatte Erno das geschriebene Telegramm aus den Händen gegeben, als er es bereute. Was hatte es für einen Zweck? Da hätte er viel ausführlicher depeschieren oder besser schreiben müssen, gleich mit dem Versprechen einer Prämie, oder er hätte sofort Geld anweisen sollen. Die drüben warfen diese Depesche doch in den Papierkorb.

Na, egal, mochte sie hingehn. Nach einer postlagernden Drahtantwort aber brauchte er gar nicht erst zu fragen.

 

Nobody war zur Zeit Kontordiener in einem der größten Bankinstitute New-Yorks, fegte die Bureaus und machte Botengänge. Das tat er natürlich nicht zu seinem Vergnügen. Oder doch, er konnte es schon zu seinem Vergnügen machen. Für diese Ausfegerei bekam er täglich einen Lohn, wie ein Minister ihn aller Vierteljahre ausbezahlt bekommt, und wenn die Geschichte glückte, setzte es auch noch eine anständige Prämie. Es gab jemanden zu beobachten und zu konstatieren, wohin gewisse Papiere verschwunden waren.

Unterdessen lebte Nobody auch wie ein bescheiden besoldeter Bureaudiener, hatte ein kleines Garçonlogis genommen.

Das Telegramm aus der Schweiz wurde ihm sofort zugestellt.

»Der Erno von Kufstein!! Das ist ja der Laubfrosch, mit dem ich immer in die Elbe baden ging!«

Ja, er kannte Erno recht gut, wenn die beiden auch an Jahren weit auseinander waren.

Nobody erhielt jeden Tag Dutzende von Briefen und Telegrammen, die ihn als Privatdetektiv zu Hilfe riefen. Es war manchmal horrender Unsinn dabei. Wenn eine alte Jungfer ihren Fingerhut verlegt hatte, sollte Nobody kommen und ihn wieder herbeischaffen. Das soll nur die Kleinigkeiten andeuten, mit denen er belästigt wurde. Die meisten Briefe beantwortete er gar nicht.

Aber Erno, gewiß! Fort von hier konnte Nobody jetzt allerdings nicht. Es gab keine andre Möglichkeit, als erst einen brieflichen Verkehr, oder aber, wenn die Angelegenheit gar so dringlich war, dann mußte Erno eben zu ihm kommen. Und übrigens war auch ganz ausgeschlossen, daß Nobody sich jenem zu erkennen geben würde.

Noch in derselben Stunde, da er das Telegramm erhalten, durchlief die Antwort das unterseeische Kabel.

Erno war überzeugt, gar keine zu bekommen oder in einigen Tagen eine solche, welche vor allen Dingen Geld forderte; jedenfalls würde man ihm schreiben.

Wir wollen es nicht einen geheimnisvollen Trieb nennen, der ihn am andern Tage in der frühesten Morgenstunde, als das Telegraphenamt eben geöffnet wurde, nach Genf zu gehn zwang, auch nicht eine innere Stimme – sondern es war einfach die Hoffnung, die Verzweiflung des Ertrinkenden, der nach jedem Strohhalm greift.

Und wahrhaftig, der Beamte reichte dem seinen Namen Nennenden aus dem Schalter eine Depesche!!

Die Adresse bestand nur aus zwei Worten. Die drüben in Amerika machten es kürzer.

»Kufstein. Genf.«

Daß die Depesche aus Amerika auf das Hauptpostamt ging und dort liegen blieb, wenn es der andre so gewollt hatte, das war doch selbstverständlich.

Mit zitternden Händen riß Erno sie auf. Wiederum nur zwei Worte.

»Herkommen. World.«

War es diese Kürze, war es dieser mit zwei Worten gegebene kategorische Imperativ, was den schon verzweifelten Mann plötzlich mit der seligsten Hoffnungsfreudigkeit erfüllte? War es eine höhere Erleuchtung?

Kurz und gut – Erno wußte selbst nicht, wie er so plötzlich wieder in seine Villa gekommen war.

»Ich fahre nach New-York!«

So schnell ging das denn nun doch nicht. Erno nahm eine ruhige Rücksprache mit dem alten, erfahrenen Kapitän, und da hatte dieser einen guten Einfall.

»Hören Sie, Herr Doktor, ich denke mir, wenn wir die verschwundene Undine nicht unterm Wasser zu suchen haben, dann doch auf dem Wasser. Wenn Sie nun einmal nach New-York fahren wollen, dann nehmen Sie doch Ihre eigne Jacht. Die ›Woge‹ soll ja noch ganz in Ordnung sein, nehmen Sie uns mit, Ihnen kommt's doch nicht drauf an, und bei diesem Ostwinde, der jetzt noch lange so bleibt, sind wir in zwölf Tagen auch drüben. Und 's ist doch hübsch, wenn man immer gleich eine Jacht bei der Hand hat. Tun Sie's, Herr Doktor – mich zwickt so was in den Gliedern.«

Wenn es den alten Kapitän in den Gliedern zwickte, dann mußte es auch unbedingt gemacht werden!

Die in Nizza liegende Jacht war noch immer nicht verkauft worden. Jener Vermittler schien auch so ein spekulanter Gauner zu sein. An der Jacht war fortwährend etwas zu machen, immer Segel zu nähen und zu pinseln und an der Maschine zu schmieren, sonst mache sie keinen guten Eindruck und finde keinen Käufer, und der edle Mann zahlte in Südfrankreich Arbeitslöhne, schrieb wenigstens solche auf die Rechnung, wie man sie nicht einmal in Amerika kennt.

Erst neulich hatte er wieder geschrieben, der Herr ›Eindruck‹, wie ihn die Matrosen schon nannten. Da war ein Herr Levicohn oder Levisohn, der wußte einen jungen Herrn, der wollte einer Ballerine eine Jacht schenken; er habe sich die ›Woge‹ besehen, sie habe einen sehr guten Eindruck auf ihn gemacht, und sie sei ja sonst auch vollkommen in Ordnung, aber das letzte Wort gäbe doch die Balletteuse, und da sei es doch besser, wenn man erst den Schornstein noch einmal anstreichen lasse, dann mache das Ganze einen viel bessern Eindruck, und der erste Eindruck gebe doch immer den Ausschlag, und gerade bei Damen müsse man sehr mit dem ersten Eindruck rechnen ... und so weiter.

Jedenfalls also war die Jacht sonst völlig imstande. Der Herr ›Eindruck‹ wurde telegraphisch beeindruckt, einen Verkauf zu unterlassen, wozu Erno auch erst seine Einwilligung hätte geben müssen, telegraphisch wurden Kohlen und andres beordert, und die ganze Gesellschaft reiste wieder nach Nizza.

 

»Nun wissen Sie alles.«

Erno saß auf dem Sofa, in dem Stübchen das einzige Möbel, welches für Bequemlichkeit sorgte, ihm gegenüber Nobody, der den Erzähler bisher mit keinem Worte unterbrochen hatte.

»Das klingt wie ein Märchen.«

Erno lehnte sich zurück und schlug die Augen zur Decke empor.

»Wie ein Märchen!« wiederholte er träumerisch. »Ja, es war ein Märchen. Sie selbst war ein Märchen. Es lag etwas ... etwas ... Sklavenähnliches in ihr. Ja, ich konnte es ihr nicht abgewöhnen, daß sie mir bei jeder Kleinigkeit zu Füßen fiel. Und dennoch war es eine ideale Ehe. Sie war meine Mitarbeiterin. Sie war mein Glück. Und früh, wenn ich erwachte, begann mein Glück. Da hatte sie schon längst wachend gelegen – ganz still, um meinen Schlummer nicht zu stören – meine Atemzüge beobachtend – und schlug ich die Augen auf, so war sie schon geschäftig um mich herum, damit ich nur ja keinen Handgriff zu tun brauche – und beim Frühstück vergaß sie das Essen, um mich bedienen zu können – kein Auge verwandte sie von mir – und ehe ich nur einen wünschenden Gedanken gefaßt, da hatte sie ihn schon erraten und war mir zuvorgekommen – und durch ihre Stummheit wirkte dies alles doppelt rührend. Dann gingen wir im taufrischen Garten spazieren – Hand in Hand – da achtete sie auf jeden meiner Schritte, daß ich meine Stiefel nicht naß machte – und betraten wir das Haus, so war sie schon wieder mit den Schuhen da – sie kniete vor mir nieder – ich konnte es ihr nicht wehren, daß sie meine Füße küßte. Dann, wenn ich arbeitete, saß sie neben mir am Schreibtisch und malte emsig die ihr vorgeschriebenen Buchstaben nach – aber dabei dachte sie an mich, nur an mich. Wenn ich das Lineal suchte, eine neue Feder nehmen wollte – ich dachte nur daran, es tun zu wollen – so war sie schon meinem Handgriff zuvorgekommen. Und stiegen einmal Sorgen in mir auf, so lag schon ihre weiche Hand auf meiner Stirn – und dann lächelte sie mich an – lächelte – wie nur ein Märchen lächeln kann. Und so ging es bis zum Abend. Das Glück schien ewig währen zu wollen. Und dann kam das Kind. Da wurde das Glück zu groß – die Götter wurden neidisch – das Glück war zu groß für diese Welt – solch ein Glück gibt es ja gar nicht auf dieser Erde ... es – war – ein Märchen!«

Tränen entstürzten plötzlich den Augen des Sprechers; er neigte sich vor, legte die Arme auf den Tisch, sein Kopf verfehlte die Hände – dröhnend schlug die Stirn auf die harte Tischplatte, und so weinte Erno wie ein Kind.

Wie er auch aussah! Wer den jungen Mann vor vier Wochen gesehen hatte, der erkannte ihn jetzt nicht mehr.

Und Nobody? Wir haben den sonst so eisernen Mann, der auch rücksichtslos bis zum höchsten Grade sein konnte, schon wiederholt von einer andern Charakterseite kennen gelernt. Jetzt fühlte er zunächst das Bedürfnis, sich tüchtig die Nase zu schneuzen, dabei blickte er verstohlen nach dem Weinenden, ob er sich auch unbemerkt die Augen wischen könne, dann stand er auf.

»Na, nur den Kopf hoch!« sagte er tröstend, und seine Stimme zitterte dabei ganz merkwürdig, es war, als ob ihm etwas in der Kehle stecke. »Die kriegen wir schon wieder. Aber das sagt diesmal nicht der Genfer Privatdetektiv, sondern das sage Ich, der Nobody. Jawohl, jetzt will ich mich mal ins Zeug legen. Und bei mir pfeift's aus einem ganz andern Loch. Ei, das wäre ja der Deiwel, wenn ich die Seenixe der alten Meermutter nicht wieder aus den Flossen reißen könnte! Aber nur immer den Kopf hoch! Flennen hilft gar nichts. – Hier, mein lieber Erno ... von Kufstein, stecke ... stecken Sie sich erst einmal eine Zigarre an. Eine feine Sorte ist's nicht, die kann sich so ein armer Bureaudiener nicht leisten – aber wenn die Giftnudel nur qualmt, das ist die Hauptsache. Das bringt auf andre Gedanken. Und hier ist auch eine Pulle Rum. Warten Sie, jetzt wollen wir uns erst mal einen Grog brauen, der sich gewaschen hat. Mit Tee, nicht von einfachem Wasser. Gleich wird der Spirituskocher brennen. Hoho, da hat mir die Wirtin wieder mal den ganzen Spiritus ausgesoffen! Nevermind, da heizen wir eben mit Rum. Und hier ist der Zucker. Ha, was schimmert aus den dunklen Tiefen mir so goldiggelb entgegen?! Zitronen, weeß der Knobloch, Zitronen! Ha, das soll ein Göttertrank werden! Hier, helfen Sie mir. Halten Sie den Kochtopp einstweilen über die Petroleumlampe. Mit dem Rum heizen wir lieber innerlich. Passen Sie auf, wie schnell Sie auf andre Gedanken kommen, und dann werde einmal ich Fragen stellen.«

Geschäftig wie ein Hausmütterchen wirtschaftete Nobody in der Stube herum. Der Grog wäre gar nicht mehr nötig gewesen, schon vorher hob Erno wieder das Haupt empor und sah jenem lächelnd zu.

Das delikat duftende Gebräu war fertig, Nobody holte noch eine Briefmappe und Schreibzeug und setzte sich seinem ehemaligen Spielkameraden, der aber Alfred nicht erkannt hatte, wieder gegenüber.

»Prost! Auf das, was wir wünschen. »ah! Fein, was? Also jetzt geht die Geschichte los. Nun aber bitte ich Sie im voraus um eins: halten Sie mich nicht etwa für verrückt. Ich werde nämlich ganz seltsame Fragen an Sie stellen; besonders der unlogische Zusammenhang dieser Fragen könnte in Ihnen den Verdacht hervorrufen, daß ich geistig nicht ganz normal bin. Dem ist aber nicht so. Ich bin völlig gesund und ... prost. »ah! – Ich befolge nämlich bei so etwas mein eignes System. Ich bin ein Maler. Ich male an einem Bilde. Der Maler, der ein wirklicher Künstler ist, arbeitet, wenn er jemanden porträtiert, heute an einem Auge, und ist er heute nicht gerade dazu disponiert, oder das Licht ist nicht günstig, er kann den Blick nicht richtig fassen, so läßt er das Auge für heute liegen und widmet seinen Pinsel einstweilen der Hand. Geradeso arbeite ich an meinem geistigen Bilde. – Prost. »ah! – Nun also erzählen Sie mir noch einmal ausführlich, wie Sie Undine in der Höhle auf der Dreikönigsinsel fanden, bis dahin, als Sie sie nach dem Boote trugen.«

Während Erno seine erste Begegnung mit dem Meerweibe erzählte, glitt Nobodys Feder flüchtig über den Briefbogen, eine Seite nach der andern füllend. Selbstverständlich machte er sich Notizen, schrieb das Gehörte möglichst wörtlich nach. So glaubte Erno. Wie erstaunt wäre er aber gewesen, hätte er lesen können und gesehen, daß der Brief an jenen Bankdirektor gerichtet war, in dessen Diensten Nobody jetzt stand, und absolut nichts mit der Affäre auf der Dreikönigsinsel zu tun hatte.

»So,« sagte Nobody, nach einem andern Briefbogen greifend. »Also Sie schossen Ihren Revolver ab, um die Matrosen herbeizurufen. Haben Sie beobachtet, ob die Meernixe bei diesem Schusse erschrocken ist?«

»Durchaus nicht. Erst allerdings glaubte ich, sie sei taub. Nein, sie war an Feuerwaffen gewöhnt, für ein Weib sogar außerordentlich. Bei nebligem Wetter ließ ich mehrmals das Böllergeschütz lösen, Undine stand dicht daneben – sie zuckte mit keiner Wimper, kümmerte sich gar nicht darum.«

»Das wollte ich nur wissen. Hatte sie Zahnlücken?«

Seltsame Frage! Jetzt begann Erno wirklich zu staunen.

»Bitte, antworten Sie mir! Ich stelle keine einzige Frage umsonst. Hatte sie Zahnlücken?«

»Nein.«

»Die Vorderzähne waren auch nicht gefeilt?«

Aha! Jetzt kam Erno auf den Trichter, wohinaus jener wollte.

»Nein, daß sie eine Neuseeländerin gewesen ist, das bezweifle ich.«

»Bitte, stören Sie mich nicht in meiner Malerei. Das, was Sie denken, denke ich übrigens nicht. Das brauchen Sie mir nicht übelzunehmen. – Prost. – Hatte sie ihre Vorderzähne gefeilt?«

»Sie hatte ein tadelloses Gebiß, die schönsten Zähne, die ich ...«

»Immer nur ja oder nein.«

»Nein.«

»Sie aß zuerst immer mit den Händen. Mit beiden Händen?«

»Ja.«

»Nun will ich Sie aber doch einmal zu Worte kommen lassen. Was schließen Sie daraus, daß sie sich beim Essen der Hände bediente?«

»Ich glaubte zuerst, sie sei eine Araberin oder Türkin, aber sie gab sich doch nicht den üblichen Betübungen ...«

»Weil sie mit den Händen aß, glaubten Sie zuerst, es sei eine Mohammedanerin, nicht wahr?«

»Ja.«

»Also auch mit der linken Hand führte sie die Speise zum Munde?«

»Da sehen Sie! Nie wird ein Mohammedaner die Speise, die er zu sich nehmen will, mit der linken Hand berühren. Die linke Hand ist des Teufels.«

Erno schwieg beschämt.

»Kannte sie Strümpfe?«

»Ja.«

»Frisierte sie ihr Haar?«

»Nein. Sie kämmte es nur lang aus und trug es offen.«

»Auch als sie entführt wurde?«

Das war solch ein unlogischer Sprung im Fragestellen – und schließlich doch ganz sachgemäß.

»Nein. Nach Modebildern lernte sie es, sich zu frisieren. Ich war ihr dabei behilflich. Hier ist ihre Photographie.«

»Jetzt noch nicht sehen,« wehrte Nobody ab und griff nach einem dritten Briefbogen.

Es trat eine kleine Pause ein. Erno sah dem Schreibenden zu.

»Sie schreiben ja jetzt mit der linken Hand?« rief er plötzlich, es erst jetzt bemerkend, daß Nobody die Feder in die andre Hand genommen hatte.

»Ja, zur Abwechslung.«

»Sie wollen Ihre Handschrift verstellen?«

»Dazu brauche ich nicht mit der linken Hand zu schreiben. Es ist ein Liebesbrief, der muß von Herzen kommen. Ja, richtig ...«

Suchend blickte sich Nobody im Zimmer um. Auf dem Kleiderschrank stand eine große Gipsbüste, der alte Hahnemann, der Begründer der Homöopathie. Nobody holte die Büste herab.

»So, denken Sie einmal, das wären Sie, und Sie selbst sind Undine. Verstanden? Ich will sehen, wie Ihre Frau Sie küßte. Los, legen Sie zärtlich die Arme um den Gips!«

Erno tat es, aber er konnte sich nicht helfen, er mußte herzlich lachen, als er die Arme um den alten Hahnemann schlang.

»Na, seien Sie doch ernsthaft! Wenn Sie Ihre Frau küßten, haben Sie doch auch nicht so gefeixt. Also los, machen Sie's mir genau so vor, wie Ihre Frau Sie küßte!«

Erno bezwang sich, zärtlich küßte er den alten Hahnemann, aber als Nobody beobachtend seine Nase fast dazwischen steckte, mußte er wieder zu lachen anfangen.

»Nischt weiter? Küßte sie nicht erst links und dann rechts?«

»Nein. Von so etwas habe ich niemals etwas gemerkt. Sie küßte so, wie jedes andre Mädchen in der Welt küßt.«

»Soooooo? Wissen Sie das so genau? Herr, da müssen Sie erst mal die höhere Küsserei studieren! Zwischen Kuß und Kuß kann ein Unterschied sein wie zwischen einer verdorbenen Essiggurke und einem überzuckerten Rosenblatt. – Biß Undine Sie manchmal?«

»Beißen? Wohin denn?« staunte Erno.

»In die Ohrläppchen, in die Nase.«

»Aber Mr. Nobody ...!«

»Sie glauben nicht, daß es solche Liebesbezeugungen gibt? Herr, da kommen Sie einmal nach dem malaiischen Archipel. Ich hatte einen Bootsmann an Bord, der hatte so ein rotes Böllergeschütz im Gesicht, und schnupfen tat der Kerl fürchterlich, die Sauce lief ihm immer aus beiden Nasenlöchern heraus – ich sage Ihnen, die malaiischen Mädels haben wie die Bienen dem seine Nase ausgezutscht.«

Erno schüttelte sich vor Grauen, er mußte schnell ein Glas Grog draufsetzen.

»Also in die Nase hat Ihre Frau Sie nicht gebissen. Schade! Haben Sie auf der Dreikönigsinsel Ihren Namen hinterlassen? Etwa eingemeißelt?«

Nein, daran hatte der junge Mann nicht mehr gedacht.

»Hat Undine von ihren Eltern gesprochen?«

»Sie hat niemals davon Andeutungen gemacht, ich konnte es auch nicht aus ihr herausbringen.«

»Von Geschwistern?«

»Auch nicht.«

»Ihre wissenschaftliche Reise auf eigner Jacht nach der Dreikönigsinsel ist doch weitern Kreisen bekannt geworden.«

Seltsam! Es lag eigentlich so nahe, und doch mußte ihn erst dieser Mann, der seine Fragen so planlos durcheinanderwarf, darauf bringen!

Ja, nun wußte er, wie man Undines Versteck gefunden haben konnte! Gewiß, er hatte zu Freunden davon gesprochen, eine Berliner wissenschaftliche Zeitung hatte darüber geschrieben, wie Dr. von Kufstein eine Expedition antrete, auf seiner eignen Jacht, der ›Woge‹, die Tier- und Pflanzenwelt einiger Inseln untersuchen wolle, darunter auch die Dreikönigsinsel, ... und der, dem Undine entflohen war und den sie fürchtete, war doch offenbar ein Seemann – er hatte den Namen ›Woge‹ gelesen – ihr Besitzer hieß Ernst von Kufstein – diesen Namen hatte Erno beibehalten – und das mußte der Seemann doch wissen, daß Undine in der Nähe der Dreikönigsinsel über Bord gesprungen war ...

Zu spät, solche Erwägungen jetzt anzustellen! Er wollte sich der führenden Hand dieses Detektivs anvertrauen.

Nobody fragte weiter; vom Hundertsten kam er ins Tausendste, bunt durcheinander, so bizarr wie möglich, scheinbar ohne jeden Sinn und Verstand.

Jetzt hatte er gefragt, ob Undine die National-Flaggen habe unterscheiden können, und seine nächste Frage lautete: »Haben Sie schon einmal eine Ligusterraupe gesehen?«

Erno wußte wirklich nicht mehr, was er davon denken sollte. Er wurde wirklich irre an dem gesunden Verstande dieses Mannes.

»Eine ... Ligusterraupe? Ich?«

»Bitte, antworten Sie mir! Sie werden später einmal erkennen, wie wichtig diese Frage für mich gewesen ist, um Ihrer geraubten Frau auf die Spur zu kommen. Nun?«

»Ja. Ich bin doch Zoologe.«

»Haben Sie in Ihrer Villa auf dem Hügel eine Raupensammlung gehabt?«

»Nein.«

»Gut!«

Inzwischen hatte Nobody immer Briefe geschrieben. Jetzt kuvertierte und adressierte er sie einzeln, nur den letzten nicht, einen vierseitigen. Er hielt ihn in einiger Entfernung seinem Gegenüber hin

»Sehen Sie diesen Brief?«

»Ich sehe ihn.«

»Ich falte den Brief zusammen, stecke ihn in ein Kuvert, klebe es zu, jetzt nehme ich Siegellack ... haben Sie ein Petschaft bei sich?«

»Hier ist mein Familiensiegel.«

»Streifen Sie den Ring ab, halten Sie ihn handbereit ... so ... jetzt drücken Sie Ihr Siegel ein ...«

Nobody hatte auf die Rückseite des Kuverts Lack tropfen lassen, Erno drückte den Ring hinein.

»So, danke. Jetzt stecke ich diesen Brief, den Sie selbst versiegelt haben, in ein andres Kuvert, ferner diesen zweiten Brief als Begleitschreiben. Bitte, wollen Sie lesen ...«

Erno überflog es. Die Depositen-Abteilung der New-Yorker Kreditbank wurde gebeten, den beiliegenden versiegelten Brief in ihren Stahlkammern niederzulegen.

»So, ich lege also dieses Begleitschreiben ebenfalls bei und schließe das Kuvert, adressiere es nach der New-Yorker Kreditbank. Sie selbst sollen dereinst den Brief abholen und das Siegel erbrechen. Wissen Sie, was darin steht?«

»Nein, keine Ahnung,« lächelte Erno, aber doch etwas klopfenden Herzens.

»Darin steht,« entgegnete Nobody phlegmatisch, »wer Undine in Wirklichkeit ist, woher sie stammt, wie sie auf die Dreikönigsinsel gekommen ist, welcher Nationalität, wer ihr Vater ist, was dieser treibt, wo wir Undine zu suchen haben. Dann sollen Sie diesen Brief öffnen, und Sie werden sehen, daß ich alles vorausgewußt habe, wie es kommen wird – aus den für Sie wahrscheinlich sinnlosen Fragen, die ich an Sie gestellt habe.«

Erno war starr.

»Mann, wer sind Sie?! Sie wissen schon, wo sich Undine befindet?« rief er, vor plötzlicher Aufregung zitternd.

»Nein, das freilich weiß ich nicht. Wir müssen sie erst suchen. Aber ich weiß, wo ich sie zu suchen habe. Alle Rätsel ihrer geheimnisvollen Herkunft und so weiter sind für mich bereits gelöst. Ist das vielleicht nichts? Ich weiß genau, wohin wir uns jetzt zuerst zu wenden haben, um mit der Frage anzuklopfen, ob sich Undine dort befindet.«

Erno war aufgesprungen, er breitete beide Arme aus.

»O, schaffen Sie mir meine Undine, mein Weib, mein Kind und mein Glück wieder!« rief er leidenschaftlich. »Fordern Sie von mir, was Sie wollen, mein halbes, mein ganzes Vermögen, es gehört Ihnen! Nur bringen Sie mir mein Weib und mein Kind wieder!«

»Ueber meine Belohnung sprechen wir später,« entgegnete Nobody kaltblütig, während er alle Briefe bis auf einen mit Marken versah. »Ihr halbes Vermögen soll Ihnen die Geschichte jedenfalls nicht kosten, auch nicht ein Viertel davon. Sie haben doch Ihre Jacht mit, nicht wahr, Herr von Kufstein?«

»Sie liegt am vierten Quai.«

»Ist sie seetüchtig, oder bedarf sie einiger Reparaturen?«

»Sie ist in tadelloser Ordnung.«

»Haben Sie Waffen an Bord?«

»Für jeden Matrosen Schuß- und Hiebwaffen, von allem das beste, wir nehmen es mit jedem arabischen Seeräuber auf.«

»Auch Geschütze?«

»Einen Mörser, den ich mit gehacktem Blei füllen kann.«

»Kein gezogenes Geschütz?«

»Ein Bretowsches Maximgeschütz.«

»Ah, eine Bretowsche Entenflinte?! Das ist ja famos!«

»Das Ding taugt gar nichts. Deshalb hat es sich auch nicht eingeführt.«

»Wer sagt, daß das Bretowsche Maximgeschütz nichts taugt?«

»Davon habe ich mich selbst überzeugt. Ich habe es oft genug probiert. Es streut viel zu sehr. Das ist das allgemeine Urteil aller Sachverständigen.«

»Ja, mein lieber Mann, mit dieser Entenflinte zu schießen, das muß gelernt werden. Ist es in gutem Zustande?«

»Vollkommen, noch ganz neu!«

»Haben Sie das Stativ dazu?«

»Eigens für die ›Woge‹ gearbeitet.«

»Munition?«

»Granaten, Spitzkugeln und Schrotpatronen – alles massenhaft vorhanden.«

Nobody steckte die Briefe ein. Nur den einen ohne Marke ließ er liegen. Er schien für die Wirtin bestimmt zu sein.

»Haben Sie genug Kohlen an Bord?«

»Genug, um zweimal über den Ozean dampfen zu können. Ich habe Steinkohlen als Ballast genommen.«

»Proviant?«

»Für ein halbes Jahr.«

»Trinkwasser?«

»Für drei Monate. Alle Tanks sind voll.«

Nobody bückte sich, zog unter dem Sofa einen großen Lederkoffer hervor; beim Wiederaufrichten nahm er einen Hut vom Nagel und setzte ihn auf.

»Na, da wollen wir mal,« erklang es gemütlich.

Verdutzt blickte Erno den Mann an, der plötzlich so reisefertig vor ihm stand.

»Was? Wohin wollen Sie?«

»Nun, an Bord Ihrer Jacht. Jetzt müssen wir zunächst zurück nach der Dreikönigsinsel. Nehmen Sie Ihren Hut, ich puste die Lampe aus. Pfffft.«

Ja, hier bei diesem Privatdetektiv pfiff der Wind aus einem andern Loche.

 

Zum zweiten Male sahen die heiligen drei Könige die Masten der kleinen Jacht im Sonnenschein auf sich zukommen.

Nur die letzten Tage hatten wieder schönes Wetter gebracht, sonst war es eine stürmische Fahrt gewesen, auch hatte der fremde Mann, der mit Einverständnis des Besitzers als unumschränkter Gebieter der Jacht auftrat, die Matrosen in Atem zu halten gewußt.

Er hatte für ununterbrochene Arbeit gesorgt. Während die Maschine gegen den Oststurm arbeitete, waren die drei hohen Masten abgesägt und wieder aufgerichtet worden, aber so, daß sie jetzt in Scharnieren standen, daß man sie fernerhin nach Belieben umlegen und wieder aufrichten konnte. Es war eine Heidenarbeit gewesen, dabei immer bis zum Halse im Wasser stehend! Aber der fremde Mann, den sie Master nennen mußten – obgleich sie seinen eigentlichen Namen kannten und doch nicht kannten – war immer mit gutem Beispiel vorangegangen, hatte immer selbst mit Hand angelegt, immer Scherze machend, daß die Arbeit zur Spielerei wurde, und Fritz, der Schiffszimmermann, hatte vor Nobodys technischen Berechnungen und praktischer Handfertigkeit, die jede Schwierigkeit zu überwinden wußte und das Unmöglichste fertigbrachte, einen ganz gewaltigen Respekt bekommen.

Dann, wenn das Wetter etwas besser gewesen war, daß man sich wenigstens an Deck aufrecht halten konnte, hatte er die Mannschaft mit Gewehr und Entersäbel eingedrillt, hatte Manöver geleitet und den Leuten mit Schuß- und blanker Waffe Kunstkniffe beigebracht, von denen auch die Matrosen, die schon in der Kriegsmarine gedient hatten, noch keine Ahnung gehabt, und daß sie dabei von Nobody mit dem stumpfen Rapier vertobakt wurden, bis sie am ganzen Körper blau waren, das nahmen sie gern mit in Kauf, denn alles ging unter Lachen und Scherzen ab.

»So eine fidele Reise haben wir noch nicht gemacht,« hieß es.

»Es ist gerade, als ob er uns zu Seeräubern machen wollte,« hatte ein Matrose gesagt, und die andern stimmten ihm bei.

Nobody selbst beschäftigte sich sehr viel mit dem sogenannten Bretowschen Maximgeschütz. Dieses bestand aus einem fast drei Meter langen Rohre, das auf ein Stativ aufgeschraubt wurde, auf dem es in Kugellagern spielend leicht nach allen Richtungen hin, sowie auch um seine eigne Achse gedreht werden konnte. Für seine Länge war es sehr dünn, es schoß zweizöllige Granaten. In dieses Rohr konnte man ein zweites einschieben, welches Patronen mit Spitzkugeln oder großem Schrot aufnahm. Und in dieses Rohr konnte man wieder ein andres einschieben, welches ganz kleine Spitzkugeln schoß, etwa sechsmillimetrige Teschingkugeln.

Wie gesagt, von der neuen Schußwaffe war erst eine große Reklame gemacht worden, aber sie hatte sich nicht bewährt, man hatte sie schon wieder vergessen. Am wenigsten eignete sie sich für ein schwankendes Schiff. Hinten an dem Rohre war ein hölzerner Bügel, in den man die Schulter stemmte, aber man wußte gar nicht, wie man das Ding ruhig halten sollte, es ging gar zu leicht in den Kugellagern, und daß es sich sogar um die Seelenachse drehte, das war das allerdümmste dabei. Kurz und gut, ein ruhiges Zielen war ganz undenkbar. Hatte man sich an die kolossale Flugkraft gewöhnt, und man glaubte, den Kernpunkt gefunden zu haben, dann ging die Kugel immer wieder in die Wolken hinauf, und das nächste Mal schlug sie wieder dicht vorm Schiff ins Wasser. Außerdem war die Visiervorrichtung bei dem sonst so sauber gearbeiteten Geschütz die denkbar plumpste, wie bei einer Fünfgroschenpistole. Da hatte sich der Erfinder endlich selbst über das dumme Ding geärgert, es war ihm die Lust vergangen, auch noch eine gediegene Zielvorrichtung auszugrübeln.

Wie erstaunt aber waren die Matrosen, als Nobody, nachdem er einige Schüsse abgegeben hatte, auch noch die Zielvorrichtung abschraubte und jetzt mit jedem Schusse eine flüchtige Möwe nach der andern aus der Luft herabholte, nicht mit Schrot, sondern mit den kleinen Kugeln, und dabei ließ er das Rohr sich auch noch ständig hin und her bewegen.

»Ja,« sagte er dann, »mit diesem Geschütz will nicht gezielt, sondern getroffen werden! Das ist etwas für einen Cowboy! Der zielt auch nicht mit dem Revolver, wenn er einem tanzenden Manne die Stiefelhacken abschießt. Beim Revolver liegt der Witz in der Drehung des Handgelenks und hier in der Drehung der Schulter. Wenn dieses Geschütz eingeführt würde, und es wären immer Leute da, die es zu behandeln verstehn, dann müßten die Kriegsschiffe eine neue Art von Panzerung bekommen.«

Die Bedeutung dieser Worte sollte den Matrosen bald klar werden.

 

Wieder erlaubte die ruhige See ein Landen. Aber ob Nobody überhaupt landen wollte, darüber hatte er noch kein Wort verloren. Er hatte sich bisher über alles, was diese Expedition anbetraf, in das tiefste Schweigen gehüllt, und so tat er auch noch jetzt.

Seit die drei Spitzen des Berges aufgetaucht waren, hatte er das Fernrohr noch nicht vom Auge genommen.

»Kapitän Höcker,« wandte er sich jetzt an diesen, »umdampfen Sie die Insel, ganz langsam, nur zwei bis drei Knoten in der Stunde, so nahe am Lande, wie Sie es nach den Seekarten und nach Ihrem Gewissen zulassen können. Alle Matrosen, welche Sie nicht zum Loten brauchen, bewaffnen sich mit Ferngläsern und suchen das Meer ab. Jede auftauchende Mastspitze wird mir sofort gemeldet.«

Es geschah. Langsam umdampfte die Jacht die Insel. Nobody selbst hatte wieder zum Fernrohr gegriffen, spähte aber nicht den Horizont ab, sondern unausgesetzt nach dem Berge, oder vielmehr, da er das Fernrohr tief hielt, nach dem Plateau, welches zum Teil sehr steil anstieg und bizarre Felsbildungen mit tiefausgewaschenen Höhlen aufwies, in denen trotz der sonst ruhigen See das Meer mächtig brandete.

So verging eine halbe Stunde; die Insel war erst zur Hälfte umsegelt.

Nach was aber sollten die Matrosen ausspähen? Hierher verirrte sich kein Dampfer. Dieselben haben ihre bestimmten Fahrlinien, die sie nie verlassen, und die Segelschiffe halten sich weit entfernt von dem gefährlichen Felsenberge, vor dessen Nähe in der Nacht kein Leuchtfeuer warnt. ›Weit‹ bedeutet aber auf der unermeßlichen See Hunderte und Tausende von Meilen.

Diese Bemerkung hatte auch der Kapitän leise zu Erno gemacht. Die feinen Ohren des entfernt stehenden Detektivs hatten sie trotzdem vernommen.

»Sooo?« sagte er spöttisch. »Wie ist denn da Undine hierhergekommen? Ist die, als sie über Bord gesprungen, vielleicht Hunderte und Tausende von Meilen geschwommen, bis sie hierherkam?«

Es war das erstemal, daß Nobody sich auf etwas, das mit der verschwundenen Undine zusammenhing, einließ, und die Zweifler verstummten und taten ihre Pflicht.

»Stopp!« kommandierte da Nobody, und die Maschine wurde abgestellt.

Es mußte die große Höhle sein, auf welche Nobody es abgesehen hatte, außer ihrer Größe vor den andern noch dadurch ausgezeichnet, daß es in ihr nicht zischte und schäumte.

»Die Jacht bleibt hier liegen, sie kann treiben. Es wird immer Dampf gehalten. Die Jolle aussetzen. Herr Kapitän, Sie begleiten mich mit Jürgen und Fritz. Alles mitnehmen, was zum Loten nötig ist, auch für jeden Mann eine Hakenstange. Die an Bord Zurückbleibenden beobachten unausgesetzt den Horizont!«

So befahl Nobody kurz, und alle gehorchten nicht nur willig, sondern sogar freudig. Auch Erno fühlte sich nicht im geringsten verletzt, daß er so gänzlich unbeachtet blieb, eine Null. Er wußte, daß dieser Mann nur Ernos Bestes im Auge hatte und alles daransetzte, um so schnell wie möglich zum Ziele zu gelangen, und die andern, die Seeleute, hatten den überlegenen Geist erkannt und beugten sich vor ihm. Vielleicht kam auch das Geheimnisvolle hinzu, mit dem Nobody alle seine Handlungen umgab.

Das Boot stieß ab und steuerte jener Höhle zu. Bald war sie erreicht. Die in ihr herrschende Ruhe des Wassers kam daher, daß die Höhle von außen mit Riffen umgeben war, welche die Brandung abfingen. Aber zwischen ihnen war seitwärts eine ziemlich breite Oeffnung, durch welche das Boot hindurchkonnte. Ob für das kleine Fahrzeug eine Gefahr bestand, auf Grund zu laufen oder sich an einem spitzen unterseeischen Felsen den Rumpf aufzuschlitzen, dazu hätte schon die Sondierung mit einer Stange genügt, aber Nobody ließ sofort mit dem Senkblei loten. Ueberall war die Tiefe eine beträchtliche, auch in der sehr geräumigen Höhle selbst.

Prüfend schaute Nobody sich in derselben um.

»Bitte, Herr Kapitän Höcker, nun geben Sie Ihr Urteil ab, ob die Jacht mit umgelegten Masten hier eindringen und liegen kann. Groß genug, um die Jacht aufzunehmen, ist die Höhle, jener Zugang breit genug, und auch die Tiefe scheint überall eine genügende zu sein. Es handelt sich nur darum, ob es auch bei einem Sturm hier so ruhig ist, und ob wir bei jedem Wetter mit der Jacht aus der Höhle wieder herauskönnen. Sie sind Fachmann – geben Sie Ihr Urteil.«

Nobody zeigte dem Kapitän gegenüber durchaus keine selbstherrliche Ueberlegenheit, hatte es nie getan.

Aufmerksam beobachtete der alte Kapitän den draußen an den Riffen spielenden Wogenschlag, es dauerte lange, ehe er sein Urteil abgab, aber dann klang es um so bestimmter.

»Ich garantiere dafür, soweit ein Mensch betreffs der Elemente garantieren kann, daß wir die Jacht bei jedem Wetter hier auch wieder herausbringen können. Das Dingelchen ist so leicht, wir zehn Mann haben es sogar nur mit Hakenstangen vollkommen in unsrer Gewalt.«

»Famos!« rief Nobody erfreut. »Dann wollen wir sofort ans Werk gehn!«

Noch einmal schaute sich der Kapitän im Boote, welches wieder zur Hälfte draußen lag, prüfend um. Die Höhle war tief in einen vorspringenden Felsblock mit steilen Wänden hineingewaschen.

»Es ist nur – wir können von dieser Höhle aus nicht an Land gelangen, dann muß das Boot doch immer erst hinaus und einen großen Weg machen, und dazu muß sehr ruhige See sein.«

»Nicht an Land? O doch! Dort oben wird ein Eisen eingetrieben und daran eine Strickleiter befestigt. Zeit genug haben wir zu dieser Arbeit, vielleicht bleiben wir monatelang hier liegen, bis uns der ausgehende Proviant zur Abreise zwingt. Zurück an Bord!«

Mit leichter Mühe wurde die Jacht in die Höhle bugsiert, welche sie vollständig aufnahm. Als die hohen Masten umgelegt wurden, fiel Erno eine Frage ein. Aber auch noch andre hatten daran gedacht, und sie alle waren auf die Antwort gespannt.

»Sind Sie denn schon einmal hier gewesen?« wandte sich Erno an Nobody.

»Ich? Noch niemals.«

»Sie kannten die genaue Topographie dieser Insel aus einer Beschreibung?«

»Auch nicht. Ich habe noch gar nichts von einer Dreikönigsinsel gehört.«

»Aber ich bitte Sie – Sie ließen doch schon unterwegs die Masten so umarbeiten, daß man sie umlegen kann – da mußten Sie doch auch schon wissen, daß Sie hier solch eine Höhle finden würden, welche die Jacht aufnehmen kann.«

»Durchaus nicht! Ich wußte es nicht, ich hoffte nur, solch eine Höhle zu finden. Daß das Ufer sehr ausgewaschen war, hatten Sie mir erzählt, und da hoffte ich eben, und in dieser Hoffnung, die mich denn auch nicht betrogen hat, ließ ich gleich die Arbeit an den Masten vornehmen. Was schadet es? Die halten mit den Scharnieren noch ebenso jedem Sturme stand, als wenn sie aus einem Stück wären.«

Diejenigen, welche das hörten, standen vor einem Rätsel. Das heißt, sie fühlten es mehr heraus, als daß sie es wußten.

Man sagt, daß dieses Rechnen mit Eventualitäten und Schwierigkeiten, die nur in der Phantasie existieren, die aber doch möglich sein könnten, und die Vorbereitung, sie zu besiegen, also zunächst ganz zwecklose Vorbereitungen – daß dieses es gewesen ist, was Napoleon I. zum unüberwindlichen Feldherrn seiner Zeit gemacht hat.

Und auch an Schillers herrliches Gedicht ›Kolumbus‹ kann man hier denken:

Steure, mutiger Segler! Es mag der Witz dich verhöhnen,
    Und der Schiffer am Steuer senken die lässige Hand.
Immer, immer nach West! Dort muß die Küste sich zeigen,
    Liegt sie doch deutlich und liegt schimmernd vor deinem Verstand.
Traue dem leitenden Gott, und folge dem schweigenden Weltmeer!
    Wär' sie noch nicht, sie stieg' jetzt aus den Fluten empor.
Mit dem Genius steht die Natur im ewigen Bunde;
    Was der eine verspricht, leistet die andre gewiß.

Nobody gab an, wo das Eisen für die Strickleiter einzuschlagen sei, auch sonst konnten noch Eisen eingetrieben werden, um die Jacht zu befestigen, welche Arbeiten er dem Kapitän überließ. Vorläufig war das Plateau von hier aus noch nicht zu erklettern, aber betreten wollte Nobody es jetzt, so ging er mit zwei Matrosen wieder ins Boot, und diesmal lud er auch Erno ein, ihn zu begleiten. Sultan wurde an kurzer Leine mitgenommen.

»Nach der Steinpyramide, wo ihr das vorige Mal gelandet seid!«

Nobody hatte die Anweisung zurückgelassen, daß ein Matrose immer nach dem Meere hinausblicke, soweit das der Eingang der Höhle gestatte, der Detektiv tat vom Boote aus dasselbe, nur daß er hier einen viel freieren Blick hatte.

Zum zweiten Male betrat Erno das Land, auf welchem er sein Glück gefunden hatte, um es so bald wieder zu verlieren. Eine gewisse Scheu schnürte ihm und den mitgekommenen Matrosen das Herz zusammen. Warum hatte der seltsame Mann, der sich in ein undurchdringliches Schweigen hüllte, augenblicklich beschlossen, diese einsame Insel wieder aufzusuchen? Was für ein Geheimnis würde sich hier offenbaren?

Aengstlich blickten sie um sich, jeden Moment glaubten sie hinter den bizarren Felsblöcken irgend etwas Rätselhaftes auftauchen zu sehen; eine Bande bewaffneter Männer wäre noch das wenigste gewesen, sie glaubten gespenstische Gestalten verschwinden zu sehen, obgleich doch die Sonne, die sich nicht mit Gespenstern verträgt, so freundlich am Himmel lachte.

Zu dieser Scheu mochte beitragen, daß Sultan so wütend kläffte und sich von der Leine losreißen wollte. Aber er hatte auch schon von Bord aus den auftauchenden Berg bellend als einen alten Bekannten begrüßt.

Nobody, welcher das kluge Tier an Bord zur Genüge studiert hatte, blickte einmal aufmerksam nach ihm, dann kümmerte er sich nicht mehr um den Hund.

»Es ist nichts. Nur die Erinnerung beschäftigt ihn. Sonst würde er sich anders betragen. Ist nun unterdessen wieder ein Forschungsreisender auf der Insel gewesen?«

Er wandte sich dem Felsen mit der abgeplatteten Fläche zu, in welchen seit Humboldts Zeiten alle wissenschaftlichen und sonstigen Besucher dieser Insel Initialen und das Datum eingemeißelt hatten, 's war nichts Neues dazugekommen, und ein andrer Gelehrter oder ein mit seiner eignen Jacht reisender Engländer hätte wohl nicht, wie Erno, dem das Meerweib gleich im Anfange den Kopf verdreht hatte, vergessen, sich hier zu verewigen.

Nobodys Augen blickten suchend am Boden umher.

»Sie liefern Ihrer Mannschaft doch alles frei, was sie braucht. Auch die Streichhölzer?«

»Die Streichhölzer wie den Tabak,« bestätigte Erno.

»Was für Streichhölzer waren es, die Sie damals hatten?«

»Schwedische, aus Hamburg mitgenommen.«

»Rot sahen sie aus,« ergänzte ein Matrose, und Nobody hatte dieselben zur Begleitung erwählt, welche auch damals das Boot gerudert hatten. Nur einer fehlte davon.

»Habt ihr damals hier geraucht?«

»Ja.«

»Stimmt! Ich sehe dort zwei rote Streichhölzer liegen. Hat nicht einer von euch solche aus weißem Holz bei sich gehabt, die er hier benutzte?«

Streichhölzer sind an Bord ein so wichtiger, vielbegehrter Artikel – weil sie nämlich feucht werden, und man daher auch bei großem Vorrat immer auf der Suche nach einem trocknen Hölzchen ist – daß die beiden Matrosen schwören konnten, sie hätten keine weißen ›Schweden‹ gehabt.

»Auch keine runden Phosphorstreichhölzchen?«

»Nein, nur rote, vierkantige Schweden.«

Nobody bückte sich und zog aus einer Felsenspalte ein weißes Hölzchen hervor, besah es aufmerksam, roch daran.

»Hm. Das ist kein Schwede, das ist kein Phosphor, das ist türkisches Monopol, die Schachtel einen halben Piaster. Aber zu schließen ist daraus leider nichts. Solches Kienholz hält sich sehr lange bei jedem Wetter, und ihr wißt doch auch nicht, ob es schon damals hier gelegen hat.«

»Ganz offenbar ist doch unterdessen jemand hier gewesen,« nahm Erno jetzt erregt das Wort, »und zwar derjenige, dem Undine entflohen ist. Die Flucht geschah in der Nacht, der Seemann mußte wissen, in welcher Gegend er sich befand, nur diese Insel kam in Betracht, daß die Schwimmende sie erreicht haben könnte, und da hat er die Insel doch jedenfalls abgesucht.«

Nobody sah den Sprecher an; über sein Gesicht zuckte es eigentümlich.

»Ja, ja, so wird's wohl gewesen sein,« brummte er dann, »aber das ist nun zu spät, das ist nun schon ein Jahr her.«

Erno merkte, daß er etwas recht Ueberflüssiges gesagt hatte, und schwieg.

Die beiden Matrosen mußten sich mit dem mitgenommenen Proviant und dem Wasserfäßchen beladen; sie erklommen den Berg, nachdem Nobody zuvor nach seiner Uhr gesehen hatte.

Die höchste der drei Kronen war abgeplattet, und trotz des schwierigen Weges, und obgleich die Matrosen schwer zu tragen hatten, waren, wie Nobody konstatierte, nur 48 Minuten zum Aufstieg nötig gewesen.

Beide Matrosen sollten von hier oben aus wiederum unausgesetzt den Horizont nach einem Segel oder Schornstein abspähen, wozu sie das Fernrohr erhielten.

»Sobald ihr irgend etwas Auffälliges bemerkt, läuft einer von euch hinunter und meldet es. Seht ihr dort unten den Felsen, der rechts wie eine menschliche Hand herausragt? Das ist der hohle Felsen, in dem die Jacht liegt. Ruft nur, wenn ihr in Hörweite kommt, wir hören es schon. Zu trinken und zu essen habt ihr. Regen geniert euch nicht. Hier habt Ihr Zigarren. Aber seid auf der Wacht! Ihr werdet rechtzeitig abgelöst. Später wird hierherauf eine elektrische Klingelleitung gelegt, da habt ihr es bequemer. Also seid wachsam. – Kommen Sie, Herr Doktor, wir wollen uns erst einmal den Krater besehen; er muß mehr dort drüben liegen.«

Während sie über die Steine kletterten, konnte sich Erno einer Frage nicht enthalten. Sie quälte ihn nun schon so lange.

»So sagen Sie mir nur, Mr. Nobody, was beabsichtigen Sie? Auf was für ein Schiff warten Sie hier? Erlösen Sie mich doch endlich von meinem furchtbaren Zweifel.«

Nobody blieb stehn und blickte jenen ruhig an.

»Ich erwarte hier das Schiff, auf dem ich erfahren werde, wo wir Ihre Frau und Ihr Kind zu suchen haben. Genügt Ihnen das nicht, Herr von Kufstein?«

Ja, diese mit solcher Zuversicht gesprochenen Worte genügten dem unglücklichen Mann, sie richteten ihn wieder auf.

»Dann, bitte, stellen Sie keine solche Fragen mehr an mich! Denn wenn ich sprechen wollte, dann würden bei Ihnen erst recht die Zweifel beginnen – dann würden Sie gar nicht mehr an mich glauben; denn es ginge über Ihre Begriffe, was Sie erführen. Mit eignen Augen müssen Sie sich erst davon überzeugen, sonst glauben Sie gar nicht, daß so etwas möglich ist! – Genug, wenn Gott es nicht anders beschließt, so werden Sie Ihre Gattin und Ihr Kind wiederfinden.«

In Wirklichkeit hatte aber Nobody auch noch einen andern Grund, daß er den ehemaligen Jugendfreund in völliger Unkenntnis über seine Pläne ließ. Er wollte ihm gegebenenfalls die furchtbare Enttäuschung ersparen. Ja, selbst Nobody konnte sich in all seinen Kalkulationen vollkommen getäuscht haben, so sicher er auch sonst seiner Sache zu sein glaubte. Aber Nobody war ein Mensch, und Irren ist menschlich.

Sie hatten den Rand des Kraters erreicht, blickten in eine von spitzen Lavazähnen starrende Tiefe. An ein Hinabsteigen war unter jetzigen Verhältnissen nicht zu denken.

»Gesetzt nun den Fall,« meinte Nobody, »wir entdeckten dort unten den zusammengehäuften Goldschatz von Seeräubern? Die einsame Insel hier wäre die Ablagerungsstätte von Raubschiffen, dieser erloschene Vulkan ihr Geldschrank? Das wäre etwas, nicht?«

Starr blickte Erno den Sprecher an.

»Sie meinen doch nicht etwa ... und doch, jetzt geht mir eine Ahnung auf! ... daß Undine ... die Tochter ... eines Seeräubers ist?«

Aber Nobody ließ ein verächtliches Lachen hören.

»Seeräuber! Was meinen Sie wohl, mein lieber Freund! So was gibt's ja heute gar nicht mehr! In den indischen Gewässern malaiische und arabische Küstenräuber, ja. Aber so, wie Sie sich die Sache wohl vorstellen, mit einem Dampfer auf Piraterie ausgehn – Hurra, geentert, das Feldgeschrei sei: hoch lebe die Seeräuberei! – nee, so was ist heutzutage ganz undenkbar. Nein, Ihr Herr Schwiegerpapa ist ein solider Handelskapitän, der nur einen besondern Grund hatte, seine Tochter vor der Welt zu verbergen und sie also auch nicht von Bord zu lassen. Und doch, nehmen wir einmal den Fall an, Undines Vater wäre so ein Seeräuber von altem Schrot und Korn, der die Mannschaft des geenterten Schiffes eigenhändig köpft und das Blut vom Säbel leckt, was dann?«

Erno wußte, was jener meinte, und er blickte zum Himmel empor.

»Und wenn ihr Vater und ihre Mutter und ihre Geschwister die größten Verbrecher wären – Undine ist ein Engel, und sie hätte auch nicht von den Schandtaten ihrer Familie gewußt.«

»Na, dann ist's ja gut,« meinte Nobody trocken, »mit solcher Seeräuberei ist's nichts. Und das vorhin mit dem Goldschatz war auch nur Spaß von mir. Davon habe ich in meiner Prophezeiung nichts geschrieben. Dieser Krater hier wird schon oft genug durchforscht worden sein, und wenn sich hier von Zeit zu Zeit viele Menschen zu schaffen machten, das würde ich schon an hinterlassenen Spuren merken.«

 

Die Kajüte der Jacht war mit einem elektrischen Klingelwerk ausgestattet, die kleine Batterie ließ auch ein Telephon funktionieren. Nobody hatte an Bord 1000 Meter umsponnenen Kupferdraht gefunden, welchen Erno seinerzeit mitgenommen, um akustische Experimente unter See anzustellen. So war alles vorhanden; oben das Plateau, auf welchem Tag und Nacht zwei Wächter mit dem Fernrohr den Horizont abspähen mußten, wurde mit der in der Höhle liegenden Jacht telephonisch verbunden, der Apparat funktionierte sehr gut.

Man konnte jetzt von der Jacht aus direkt das Ufer erklettern; Nobody ließ am Heck die Namen entfernen, er ließ einige Veränderungen an der niedergelegten Takelage vornehmen, den Schornstein anders anstreichen, so daß man die ›Woge‹ gar nicht wiedererkennen konnte.

Aber sie sollte die Höhle nicht so bald verlassen, obgleich Tag und Nacht auf Dampf gehalten wurde. Es vergingen zwei Wochen, es gab nichts mehr zu tun, und Erno war wieder einmal der Verzweiflung nahe.

Wo war jetzt Undine mit ihrem Kinde? Wurde sie ihm nicht immer weiter entführt? Auf was wartete man denn nur hier?

Vergebliche Frage! Der rätselhafte Mann wollte keine Aufklärung geben. Laut stellte Erno die Fragen auch gar nicht an ihn, er legte sie nur in seine bittenden Blicke; aber Nobody blieb davon ungerührt.

Der Mannschaft ging es nicht viel anders. Es wäre gar nicht nötig gewesen, daß Nobody demjenigen eine Geldprämie zugesichert hatte, der zuerst einen Mast oder in der Nacht ein Feuer melden würde. Die Matrosen kamen sich wie Schiffbrüchige vor, welche auf nackter Felsenklippe unausgesetzt nach dem rettenden Schiffe ausspähen, und da sich immer nichts zeigen wollte, kamen auch sie der Verzweiflung nahe.

Es war die sechzehnte Nacht, die man hier verbrachte. An Bord lag alles schlafend in der Koje. Denn geheizt brauchte in der Nacht nicht zu werden, am Morgen war immer noch genügend Dampf vorhanden. Auch brauchten die Matrosen sich nicht angekleidet niederzulegen, so weit trieb Nobody seine Vorsicht nicht. Die oben auf dem Plateau wachenden Matrosen wurden aller acht Stunden abgelöst. Man hatte hier schon einen tüchtigen, tagelangen Sturm durchgemacht, jetzt war wieder besseres Wetter geworden.

Gegen Mitternacht war es, als plötzlich die elektrische Klingel schrillte.

Mit einem Satze stand Nobody, der noch eben im tiefsten Schlafe gelegen hatte, am Telephon. Ebenso schnell waren alle andern aus der Koje; der elektrische Strom, der nur die Klingel in Bewegung setzte, war allen gleich durch den Körper gegangen. Erno zitterte vor Aufregung.

»Was gibt es?« fragte Nobody.

Es knackerte erst lange in dem Telephon, ehe die Antwort kam.

»Ein weißes Feuer, Nord-Nord-Ost ein Viertel Ost,« lautete dann die Meldung, die nach dem oben befindlichen Kompaß gegeben wurde.

Nobody kletterte auf das Plateau, am aufgewickelten Draht das Telephon mitnehmend. Der Kapitän und Erno folgten ihm.

»Kommt nur alle mit!« sagte Nobody gutmütig zu den nachblickenden Matrosen. »Ihr könntet mir inzwischen vor Ungeduld sterben, und ich hoffe, euch gerade jetzt recht lebendig gebrauchen zu müssen. Ja, Herr Doktor, ich kann Ihnen noch nicht das Versprechen geben, daß unsre Zeit des Wartens jetzt vorüber ist. Es ist nur eine Hoffnung von mir, nichts weiter. Vielleicht nähert sich ein Expeditionsschiff oder ein Vergnügungsdampfer der Insel, und solche sind es nicht, was ich erwarte.«

Wenn es ein weißes Feuer war, d. h. ein weißes Licht, so konnte es nur die Topplaterne eines Dampfers sein. Die bezeichnete Richtung konnte man von dieser Seite des Berges aus überblicken. Die Nacht war ruhig und finster, aber das Licht nicht zu sehen. Die dort oben hatten eben eine weitere Fernsicht.

Nobody schien es gar nicht so eilig zu haben.

»Nein, wir bleiben unten. Bei dieser Stockfinsternis könnten wir uns den Hals brechen. Ist es das Licht, welches ich hier erwarte, so werden wir es schon noch zeitig genug in Sicht bekommen.«

Er fragte wiederholt durchs Telephon.

»Ja, es ist noch da, aber näher kommt es nicht, es scheint, sich gar nicht von der Stelle zu bewegen,« war die stereotype Antwort, und Nobody machte ein zufriedenes Gesicht.

Zwei Stunden verstrichen.

»Da – da – da!« erklang es.

Jetzt war das Lichtchen auch für die Untenstehenden sichtbar.

Wieder vergingen zwei Stunden, und da hatten die Seeleute sich ihr Urteil gebildet.

»Das sieht ja gerade aus, als ob der Dampfer still läge. Oder er kriecht nur wie eine Schnecke.«

Wenn man einen Dampfer von so weiter Ferne aus beobachtet, so scheint er sich ja allerdings sehr langsam zu bewegen, und wäre es der schnellste. Aber die Seeleute beobachten doch so viele Schiffe auf dem Meere, wo es sonst keine festen Haltepunkte für das Auge gibt, daß sie hierüber ein sicheres Urteil haben.

Der Dampfer dort kroch wirklich wie eine Schnecke – oder wurde nur von einer Strömung getrieben.

Nobody sagte nichts; unentwegt blickte er nach dem gelben Lichte, welches der Seemann ein ›weißes Feuer‹ nennt, zum Unterschied von den roten und grünen Seitenlichtern eines Segelschiffes.

Endlich kam Leben in die Statue, er brachte das Telephon an den Mund.

»Kommt herunter, bringt nur das Fernrohr und den Kompaß mit, alles andre laßt oben!«

Soeben rötete sich der Horizont; in einem Moment war es tageshell, und dort in der Ferne zeigten sich die schattenhaften Umrisse einer Takelage. Der Rumpf des Dampfers befand sich noch unter dem Horizont.

»An Bord!! Dampf auf!! Wir wollen einmal sehen, was für ein langsamer Kasten das dort ist!«

Noch machte Nobody keine Andeutung, daß es das Schiff sei, welches er hier erwartet hatte, aber die Aussicht, die verfl ... Höhle endlich verlassen zu dürfen, genügte schon, um der Mannschaft einen Feuereifer einzustoßen.

Die beiden Matrosen waren herabgekommen, und obgleich die See etwas brandete, gewann doch die Jacht ohne Schwierigkeit das offne Fahrwasser.

Nobody ließ die Jacht erst um die Insel herumdampfen, was gar nicht nötig gewesen wäre, und dann beschrieb er immer noch einen großen Bogen, ehe er auf den Dampfer direkt zuhielt, sich ihm aber mehr von hinten nähernd. Die ›Woge‹ dampfte 12 Knoten; schnell wurde der Dampfer größer, jetzt konnte man an Deck einen Menschen erkennen, jetzt den Namen am Heck, wenn auch erst durch das Fernrohr.

City of Vienne – Liverpool.

Also ein englischer Dampfer, von vielleicht 5000 Tonnen.

»Hier riecht's aber gut nach Gänsebraten,« meinte ein Matrose.

Ja, dem war auch so. Die ganze Atmosphäre war mit einem Dufte von Gänsebraten erfüllt, der von jenem Dampfer ausging.

Das war aber nicht das einzige, was an dem Schiffe auffiel.

Die außerordentliche Langsamkeit mußte jetzt jeder erkennen. Es dampfte höchstens zwei Knoten in der Stunde, das ist viel langsamer als die Schnelligkeit eines Fußgängers, und gegen eine Strömung hatte er hier nicht anzukämpfen. Daß an Deck nur ein einziger Mensch zu sehen war, hatte sonst nichts weiter zu sagen. Wenn die Matrosen gerade nichts an Deck zu tun haben, sieht solch ein Schiff immer wie ausgestorben aus. Die Offiziere stehn auf der Kommandobrücke geschützt hinter Leinwand, das Steuerrad befindet sich im Ruderhaus, und so ist sehr oft kein Mensch an Deck sichtbar.

Falls das mit Dampf getriebene Steuer im Ruderhaus einmal nicht funktioniert, befindet sich immer noch hinten am Heck ein großes Handrad, und an diesem stand der einzige Mensch, der an Deck zu sehen war.

Daraus mußte man also schließen, daß das andre Steuerrad gebrochen war, und ferner aus der Langsamkeit, daß es dem Dampfer an Heizern fehlte. Wahrscheinlich waren Matrosen vor den Feuern angestellt, aber auch noch nicht in genügender Anzahl.

Der Mann am Steuer hatte unterdessen die Jacht bemerkt, und wie kein Zweifel mehr obwaltete, daß diese auf den Dampfer zuhielt, machte er heftige, winkende Bewegungen. Ob er abwinkte oder heranwinkte, war noch nicht zu unterscheiden.

Hinter dem aufmerksam beobachtenden Erno erklang ein qualvolles Stöhnen. Wie er sich umwandte, sah er ein Gesicht, wie von einem Schmerz so furchtbar verzerrt, daß er Nobody kaum wiedererkannt hätte. In demselben Augenblick aber, da Nobody sich beobachtet sah, war es auch wieder verschwunden.

»Herr von Kufstein, haben Sie feste Nerven?« fragte er ruhig.

»Ja. Was ist denn los? Was ist denn mit diesem Dampfer?«

»Sie werden's gleich erfahren. Meine Kalkulation war richtig; das ist die erste Zwischenstation auf dem Wege zu Ihrer Frau; auf diesem Dampfer werden wir uns nähere Informationen holen, wo sie zu suchen ist.«

Mehr sagte Nobody nicht, er ließ den jungen Mann als Beute seiner furchtbaren Spannung. Erno wurde immer unheimlicher zumute.

Die Jacht war von hinten in die dichte Nähe des Dampfers gekommen. Es roch, als ob die Heizer mit Gänsefett feuerten.

»Hallo!!« rief Nobody, während der Kapitän die Jacht langsam fahren ließ.

Da ward über der Bordwand der Oberkörper eines Mannes sichtbar, und es war ein leichenfarbenes Gesicht, welches sich herabbeugte.

»Macht, daß ihr fortkommt,« röchelte eine Grabesstimme, »wir haben die Pest an Bord.«

»Alle guten Geister, Gott sei uns gnädig!!!« schrie Kapitän Höcker und stürzte nach dem in den Maschinenraum führenden Sprachrohr.

Nicht minder entsetzt bei dieser Offenbarung waren alle Matrosen. Mochten sie sich sonst auch nicht vor Gott und Teufel fürchten – aber die Pest an Bord?! Der Seemann kennt die Bedeutung dieses Wortes. Wenn die Pest einmal ausgebrochen, schon ein Todesfall vorgekommen ist, dann ist einfach die ganze Besatzung verloren. Und der Pesthauch, den das Schiff verbreitet, steckt meilenweit an.

Doch mit einem Satze war Nobody an des Kapitäns Seite, und ehe dieser den Befehl zum Gegendampf geben konnte, hatte er ihn mit eiserner Faust vom Sprachrohr zurückgedrängt.

»Halt!!« donnerte er. »Wir bleiben!! Die Christenpflicht gebietet uns, den Unglücklichen Hilfe zu leisten! Ich habe ein untrügliches Mittel gegen die Pest!«

Ungläubig blickte der Kapitän den so Sprechenden an. Nein, das glaubte er nicht, daß jener ein Mittel gegen die Pest besaß; aber er gehorchte. Dieses Mannes Augen waren es, die ihn zum Gehorsam zwangen.

»Bleibt im Kielwasser des Dampfers! Verstanden?«

»Ay, ay, Sir,« murmelte der alte Kapitän betroffen.

Nobody ging wieder nach vorn, um weiter mit dem Manne mit dem entstellten Leichengesicht zu sprechen. Dieser verstand offenbar nicht Deutsch, und in deutscher Sprache hatte Nobody jenen Befehl gegeben, sonst hätte jener wohl gleich nach jenem Gegenmittel gefragt, ob die Jacht es an Bord habe.

»Wo kommt Ihr her?«

»Fort, fort,« röchelte drüben abermals die Grabesstimme, »wir haben die Pest an Bord!«

»Ich hab's schon gehört. Ich fürchte die Pest nicht. Ich bin Arzt. Wo habt ihr euch die Pest geholt?«

Wenn sich die dort unten vor dem Pestschiff nicht fürchteten, dann konnte sich der Mann wohl auch mit jenem unterhalten. Er hatte gewarnt.

»In Lissabon, an Bord starben Ratten, da brach sie aus.«

»Ihr dampft doch noch. Wer heizt?«

»Ein Heizer und zwei Matrosen, und auch sie können sich kaum noch aufrecht halten.«

»Alle andern sind tot?«

»Alle.«

»Seid Ihr der Kapitän?«

»Der zweite Steuermann.«

»Wohin dampft Ihr?«

»Nach Osten, ich lasse das Schiff irgendwo an Land laufen. Nun macht, daß Ihr fortkommt, überlaßt uns unserm Schicksal, Ihr könnt uns nicht helfen, auch wenn Ihr ein Arzt seid, und wenn Ihr jetzt von der Pest schon angesteckt seid, ich habe keine Schuld, ich hatte Euch gewarnt, nicht so nahe an uns heranzukommen.«

Der schrecklich aussehende Mann, der immer mit jener Grabesstimme geröchelt hatte, wollte wieder verschwinden, um das Steuerruder zu bedienen.

»He, hallo, noch ein Wort!«

Noch einmal erschien die gespenstische Gestalt. Sie stand dicht neben der Flaggenstange. Die Augen der Matrosen waren starr auf sie gerichtet, denn das war ja der leibhaftige Tod; deshalb sahen sie nicht, wie Nobody, der sich schnell gebückt und das Ende einer dünnen Taurolle aufgehoben hatte, in dieses hinter seinem Rücken eine Schlinge knüpfte.

»Was gibt's noch?«

»Was habt Ihr denn dort oben am Fockmast schwabbeln?«

Der Mann drehte sich um, er wollte sehen, was jener meinte – in demselben Augenblick schwirrte die Seilschlinge als Lasso aus Nobodys Hand, legte sich über die Flaggenstange, zugleich aber auch um den Mann, ein Ruck, er war an der eisernen Stange festgeschnürt, und wieder im nächsten Moment hatte Nobody sich selbst an dem Seile an Deck des Dampfers geschwungen.

»Mir nach!« rief er leise hinab, während er schon die Arme um den Pestkranken geschlungen hatte.

Die Matrosen waren erst vor Staunen und Schrecken wie gelähmt. Sie konnten gar nicht begreifen, was da eigentlich vor sich gegangen war.

Doch seine Aufforderung brauchte Nobody nicht zu wiederholen. Der Schiffszimmermann war der erste; er stieß einen gotteslästerlichen Fluch aus, der aber zu der Situation paßte – das heißt, es war ihm ganz egal, ob dort oben die Pest herrschte oder nicht – auch er schwang sich hinauf, ihm nach der Steuermann, alle Matrosen kletterten wie die Katzen hinauf, und da wollte auch Erno dabeisein. Nur der Kapitän, der schnell die herabhängende Leine um einen Böller schlang, blieb an Deck zurück.

»Da, seht euch den Kerl an!« flüsterte Nobody. »Fällt euch an dem Pestkranken nicht etwas auf?«

Dem Manne waren auch die Arme an der Flaggenstange festgeschnürt; entsetzt stierte er den Fremden an, der das so plötzlich fertiggebracht hatte. Ueber sein Aeußeres ist nichts weiter zu sagen, als daß er kreideweiß im Gesicht war.

»Der hat ja sein Gesicht ganz voll Kreide geschmiert?!« platzte da ein Matrose heraus.

Da kam in den Erstarrten Leben, er riß an seinen Banden.

»Der Tod über euch!!« schrie er, jetzt mit einer andern Stimme. »Wenn ich die Pest nicht habe, dann ...«

Mitten im Wort verstummte der Mann, er behielt den Mund weit geöffnet; plötzlich verdrehten sich seine Augen ganz nach oben, daß nur noch das Weiße zu sehen war, und so blieb er regungslos stehn.

Dieses mit Schlemmkreide vollgeschmierte Gesicht, die verdrehten Augen, der weit heruntergeklappte Unterkiefer ... es war ein Anblick, daß die Matrosen fühlten, wie sich unter ihren Mützen die Haare sträubten. Dazu kam ja nun auch noch, daß sie absolut nicht wußten, was hier eigentlich vorlag. Sie befanden sich eben auf einem ausgestorbenen Schiff, auf dem irgend etwas Entsetzliches sich ereignet hatte, noch etwas ganz andres als die Pest mußte hier gehaust haben, dieses Schiff war einfach verhext!

Es braucht wohl nicht erst gesagt zu werden, wodurch Nobody den Mann plötzlich zum Verstummen und in diese Starrsucht gebracht hatte – nur durch einen einzigen Blick – aber Nobody selbst kümmerte sich nicht mehr um ihn, hastig drehte er sich um, überflog das Deck, musterte den Horizont.

»Jungens,« sagte er, immer noch flüsternd, »es sind noch drei Männer unten vor den Feuern – am besten wäre es, wenn sie gar nicht erführen, daß wir hier gewesen sind – aber haltet eure Messer bei der Hand – ich will erst einmal allein unter Deck und aushorchen, was die treiben – inzwischen späht unausgesetzt den Horizont ab – sobald ein Schiff in Sicht ...«

Er brach ab. Ein Matrose hob die Hand und deutete nach der Richtung, in welche auch Nobody starr blickte. Dort im Osten tauchte die oberste Hälfte einer Takelage auf, und die Seeleute erkannten sofort, daß sie nur einem Frachtdampfer angehören konnte.

»Zu spät, da kommt er schon!« zischte Nobody zwischen den Zähnen. »Well, vielleicht desto besser! Jetzt betet, Jungens, betet, daß wir uns mit der Jacht wieder hinter der Insel verstecken können, ehe einer der Heizer an Deck kommt und uns sieht. Hinab! Den Steuermann nehmen wir mit! Der ist einfach über Bord gefallen.«

Handbewegungen sagten mehr als Worte. Alle sprangen Hals über Kopf wieder hinab. Nobody blieb bis zuletzt oben, löste den regungslosen Steuermann von der Flaggenstange ab, umschlang ihn mit dem Seile und ließ ihn so auf das Deck der Jacht hinunter, sprang nach und warf einstweilen über den wie tot Daliegenden ein Segel.

»Zurück nach der Insel!! Heizt, Jungens, heizt, hängt euch an die Ventile!! Die höchste Spannung, welche der Kessel zuläßt, wenn wir dabei nur nicht in die Luft fliegen!!«

Obgleich an Bord der Jacht eine vollkommene Kopflosigkeit herrschte, wurde doch den Befehlen mit Blitzesschnelle nachgekommen. Was sollte man auch von alledem denken? Noch niemand hatte eine Ahnung davon.

Mit dreizehn Knoten Fahrt entfernte sich die Jacht von dem Dampfer, dessen Steuermann man mitgenommen hatte, welcher jetzt also führerlos war, so daß sein Steuer planlos hin und her ging, ohne daß die unten die Kessel heizenden Leute – nur drei sollten es sein – etwas davon wußten.

Soeben mußten sie Feuerungsmaterial nachgeworfen haben, aus dem Schlote stieg eine graue Wolke auf, und wieder erfüllte ein appetitlicher Duft nach Gänsebraten die Atmosphäre. Kein Zweifel, wenn die nicht mit Gänsen oder geräucherten Gänsebrüsten feuerten, so gossen sie doch jedenfalls Gänsefett auf die Kohlen – ein ausgezeichnetes, wenn auch etwas kostspieliges Brennmaterial. Wahrscheinlich hatte der englische Dampfer als Fracht viel Gänsefett an Bord, für afrikanische Juden bestimmt. Die orientalischen Gänse sind sehr mager; für England und Holland ist Gänsefett ein ganz bedeutender Exportartikel.

Der Dampfer hatte eine Richtung eingeschlagen gehabt, daß er in einiger Entfernung an der Dreikönigsinsel vorübergekommen wäre. Das mußte auch jetzt noch der Fall sein, wenn er sich auch wegen des losen Steuers sehr im Zickzack bewegte. Nur wenn hier eine Strömung geherrscht hätte, welche das freie Steuer zur Seite lenkte, hätte sich der Dampfer unter Umständen im Kreise drehen können. Das war aber nicht der Fall, vielleicht wurde er nur etwas nach Norden abgelenkt, und das war ganz gut, dadurch wurde er nicht zufällig auf die gefährliche Insel zugetrieben.

Nobody stand am Heck und beobachtete unausgesetzt den verlassenen Dampfer, von dem er sich also unbemerkt wieder entfernen wollte. Wäre einer der Heizer oder Matrosen an Deck gekommen, so war zehn gegen eins zu wetten, daß sein erster Blick dem Manne am Steuer gegolten hätte, und wenn er bemerkt, daß das Rad frei spielte, so wäre er sofort hingesprungen.

Die Jacht erreichte die Insel, umdampfte sie, war geborgen, und an Deck des Dampfers hatte sich kein Mensch gezeigt, das Steuerrad war noch immer ohne Aufsicht.

»Geglückt!« sagte Nobody tiefaufatmend, als er das Fernrohr sinken ließ. »Auch jener andre Dampfer hat uns nicht gesehen.«

Das war ganz ausgeschlossen. Von diesem zweiten Dampfer waren erst die Mastspitzen zu erblicken; von dort aus konnte die kleine Jacht, welche die Masten umgelegt hatte, noch nicht gesehen werden, während man hier bereits beobachten konnte, daß jenes zweite Schiff ebenfalls auf die Dreikönigsinsel zuhielt.

Als die Jacht hinter der Insel verschwunden war, ließ Nobody stoppen. Er betrachtete die zerrissene Küste. An dieser Seite konnte kein Boot landen.

»Und doch muß jemand an Land, um ungesehen die beiden Dampfer zu beobachten und uns zuzurufen, was sie treiben. Einen Haifisch habe ich hier noch nicht gesehen. Jungens, wer wagt es, Rittersmann oder Knapp. Wer von euch ist der beste Schwimmer?«

Das Gedicht wurde hier zur Wahrheit.

Und ein Edelknappe, sanft und keck,
Tritt aus der Knappen zagendem Chor,
Und den Gürtel wirft er, den Mantel weg ...

Der Moritz war's, und er schnallte auch schon den Gürtel ab und zog die Teerjacke aus. Keck war er also, das stimmte – nur nicht so sehr sanft. »Gottverdammichewig, wenn's weiter nischt is!«

Moritz erhielt seine Instruktionen, sprang über Bord und schwamm nach der Insel. Die spitzen Klippen wurden einem hölzernen Boote viel gefährlicher als einem schwimmenden Menschen, die Brandung war eine sehr mäßige, und auch nur die erste Riffkette brauchte überwunden zu werden. Moritz kam glücklich hinüber, man sah ihn ans Ufer klettern, er entschwand den Blicken. Aber man wußte genau, wo er sich verborgen hatte, um die beiden Dampfer zu beobachten und nach der Jacht Signale zu geben.

Die Jacht feuerte die beste Anthrazitkohle, welche fast gar keinen Rauch gab, so daß auch dieser nicht zum Verräter werden konnte.

Jetzt erst hob Nobody wieder das über den Mann gebreitete Segel auf.

»Kommt alle her, ihr sollt alle Zeugen werden von dem, was dieser Mann mir über den ausgestorbenen Dampfer zu erzählen hat. Ich will eure Herzen etwas hart machen, daß ihr dann danach handelt.«

Der Mann, ein großer, starker Mensch, der unter der Kreidekruste jedenfalls eine braune, ganz gesunde Hautfarbe hatte, lag noch immer in derselben Stellung da, den Mund weit geöffnet, die Augen nach oben verdreht, und die Matrosen, die noch nichts von Hypnose wußten, wurden bei dem Anblick von neuem Entsetzen gepackt.

Nobody lehnte ihn in sitzender Stellung an ein Faß.

»Mache den Mund zu, blicke mich an!« befahl Nobody.

Zum Staunen der Matrosen gehorchte der Mann; er war also der Bewegung fähig und verharrte dennoch ganz ruhig in seiner Stellung. Dann aber war doch sein Auge so seltsam starr.

»Wie heißt du?«

»William ... Prescott,« lallte der Mann mit schwerer Zunge.

»Sprich deutlicher, ich befehle es dir! Bist du ein Engländer?«

»Nein.«

»Ein Yankee?«

»Ja.«

»Bist du wirklich Steuermann?«

»Kapitän.«

»Du hast dein Kapitänsexamen gemacht?«

»Ja.«

»Warst du auch an Bord der City of Vienne Kapitän?«

»Nein.«

»Was sonst? Sprich ausführlicher!«

»Ich war – als – zweiter Steuermann angemustert.«

»Wo hat die City of Vienne angemustert?«

»In Liverpool.«

»Wann?«

»Vor – zwei Monaten.«

»Wie hieß der Kapitän?«

»Fred – Keen.«

»Wohin war die City of Vienne bestimmt?«

»Nach Kapstadt.«

»Was hattet ihr geladen?«

»Stückgut – Kautschuk – konservierte Nahrungsmittel – Portwein – Spezereien – sehr viel Arzneimittel,« zählte der Mann auf.

»Auch Chinin?«

»Ja, sehr viel Chinin.«

»Wieviel Chinin?«

»Zwei Tonnen.«

»Donnerwetter, dann lohnt es sich!« murmelte Nobody.

Es ist schon früher einmal erklärt worden, wie es sich mit dem Chinin verhält. Jetzt, da man dieses Fiebermittel auf chemischem Wege herstellt, ist es sehr billig. Damals aber, als es noch aus dem Extrakt der Chinarinde bereitet wurde, hatte es einen außerordentlichen Wert. Diese zwei Tonnen Chinin repräsentierten zum Engrospreise mindestens eine halbe Million Mark, dafür nahm jeder Zwischenhändler sie ab.

»Hatte der Kapitän auch bares Geld an Bord?«

»Ja.«

»Wieviel?«

»Dreißigtausend Pfund Sterling – in Gold.«

»Wozu diese große Summe in bar?«

»Sie sollte – dem Schiffsagenten in Kapstadt abgeliefert werden.«

Nobody erkundigte sich nach dem Namen dieses Schiffsagenten und nach andrem, was wir überspringen können.

»Wann brach bei euch an Bord die Pest aus?«

»Die – Pest?« wiederholte der Hypnotisierte mit sichtlicher Verwunderung.

In diesem Traumzustande wußte er ja nicht mehr, was er früher gesagt hatte. Hier gab es nur die ungeschminkte Wahrheit.

»Es sind außer Euch nur noch drei Menschen an Bord?« fragte Nobody zunächst.

»Ja – zwei Matrosen – und ein Heizer.«

»Aus wieviel Köpfen bestand die Mannschaft der City of Vienne?«

»Aus – einunddreißig Köpfen.«

»Wo sind sie jetzt?«

»Tot.«

»Woran sind sie gestorben?«

»Wir – haben sie alle – vergiftet.«

»Allmächtiger Gott!« stöhnte Erno, und unter den Umstehenden war kein einziger, dem vor Entsetzen nicht plötzlich der Herzschlag stockte. Dieses Geständnis wirkte um so schrecklicher, weil der Hypnotisierte wie im Vollgenuß einer schönen Erinnerung dabei so widerlich grinste.

»Nein, nein,« schrie Erno, »das kann nicht die Wahrheit sein. Sie haben den Mann hypnotisiert, er befindet sich unter einer fremden ...«

»Still!« gebot Nobody und gab seiner Aufmerksamkeit eine andre Richtung.

Obgleich mit dem Hypnotisierten beschäftigt, war er der einzige gewesen, welcher zugleich an den an Land geschwommenen Matrosen gedacht hatte. Dieser tauchte jetzt hinter seinem Felsversteck auf, machte Zeichen, daß er etwas mitzuteilen habe. Nobody hob die Hand, und der Dampfer mußte weit entfernt von der Insel sein, sonst hätte der intelligente Matrose mit den Armen semaphoriert und nicht so laut gerufen:

»Die Heizer sind an Deck gekommen, jetzt haben sie herausgefunden, daß der Steuermann weg ist!« schrie er herüber.

»Wie faßten sie es auf?« fragte Nobody zurück, die Hände vor dem Mund.

»Sie suchten überall an Deck, gingen unter die Back, dann suchten sie mit dem Fernrohr das Meer ab. Die glauben, er ist über Bord gefallen.«

»Das sollen sie auch. Was taten sie weiter?«

»Dann deuteten sie auf den andern Dampfer, der schnell näher kommt. Es ist, als ob sich die beiden Dampfer hier treffen wollten.«

»Das wird auch schon so sein. Signalisieren sie?«

»Jawohl. Einer ging gleich wieder unter Deck, wahrscheinlich um weiterzufeuern, der andre stellte sich ans Steuerrad, der dritte zog erst ein Notsignal hoch, dann ging auch er wieder in den Kesselraum.«

So hatten sich die Heizer also mit dem Gedanken abgefunden, daß der Steuermann über Bord gestürzt sei. Vor allen Dingen schien ihre ganze Aufmerksamkeit jetzt dem zweiten Dampfer zu gelten.

»Ihr müßt etwas weiter hierherfahren, sonst bekommt der zweite Dampfer die Jacht in Sicht!« fuhr der Matrose fort.

Das war ja auch die Hauptsache, weshalb der Mann dort postiert war. Hier handelte es sich um eine Art von Versteckspiel. Der Matrose gab mit der Hand Anweisungen, wohin sich die Jacht begeben sollte, dann verschwand er wieder, um die beiden Schiffe weiter zu beobachten, und Nobody kehrte, wie die übrigen, zu dem Hypnotisierten zurück.

»Woran sind sie gestorben?« wiederholte er, um es nochmals zu hören.

»Wir haben sie vergiftet.«

»Wer – wir?«

»Wir – Liguster.«

Hier horchte Erno auf. »Haben Sie schon einmal eine Ligusterraupe gesehen? Haben Sie in Ihrer Villa eine Raupensammlung gehabt?« So hatte der Detektiv ihn damals gefragt, was er für so sinnlos gehalten hatte. Und hier dieser amerikanische Seemann hatte soeben ›wir Liguster‹ gesagt.

Doch Nobody gab jetzt keine Erklärung, Erno sollte sie erst später erhalten.

»Du bist ein Liguster?«

»Ja.«

»Und die drei andern Ueberlebenden auch?«

»Ja.«

»Mit was habt ihr die Mannschaft vergiftet?«

»Mit – Ligustin.«

»Ligustin, was ist das?«

»Es erzeugt die Ruhr.«

Schnell hatte Nobody herausgebracht, daß der Steuermann selbst nicht wußte, was Ligustin ist. Ein Mittel, welches die Ruhr erzeugt.

»Du hattest dieses Gift bei dir, als du an Bord der City of Vienne gingst?«

»Ja.«

»Wer hatte dir dieses sogenannte Ligustin gegeben?«

»Kapitän Barker.«

»Wer ist dieser Kapitän Barker?«

»Ein Liguster.«

»Nun, hierüber werden wir uns noch ein andermal unterhalten. Jetzt will ich von dir erst die Hauptsache wissen. Wie brachtet ihr der Mannschaft das Gift bei?«

»Im Essen. Der Koch schüttete es in den Reis, den Heizern, welche auf Wache waren, in den Kaffee.«

»Ist der Koch einer von den beiden Matrosen, welche jetzt feuern?«

»Ja.«

»Wann geschah das?«

»Gestern mittag.«

»Und da brach die Ruhr aus?«

»Ja, sofort.«

»Alle starben?«

»Am Abend waren alle tot, wir warfen sie über Bord.«

Ein neues Schaudern ging durch die Reihen der umstehenden Seeleute. Für diese war das Gehörte noch etwas viel Schrecklicheres, als dieses Verbrechen einem Landbewohner deuchte. Wie oft liest man nicht in der Zeitung, daß eine ganze Familie vergiftet wurde – aber an Bord des Schiffes, eine kleine Welt für sich, wenn da der Koch das Essen vergiftet – entsetzlicher Gedanke!

»Teert den Hund und brennt ihn an!!« ließ sich eine drohende Stimme vernehmen.

Nobody gebot Ruhe.

»Sind die Liguster eine geheime Verbindung von Verbrechern?«

»Nein – ich weiß nicht – ich glaube nicht.«

Nobody schien gar nicht überrascht zu sein, daß dies nicht der Fall war, oder daß der Mann dies nicht einmal wußte, und wir werden später sehen, weshalb er nicht überrascht war.

»Ihr solltet mit den drei andern Ligustern die City of Vienne hierherdirigieren, in die Nähe der Dreikönigsinsel?«

»Ja.«

»In wessen Auftrag? Wen erwartest du hier?«

»Den ›Bilbao‹ von Boston.«

»Aha, dieses Ligusterschiff kenne ich. Kapitän Harrison?«

»Ja.«

»Hat dieser Dampfer mit euch in Liverpool gelegen?«

»Ja. Er wollte zwei Tage nach uns abfahren.«

Nobody machte im Fragen eine Pause, holte tief Atem, warf dabei einen Blick auf Erno. Es schien, als ob jetzt für ihn die Hauptsache kommen solle.

»Gibt es noch mehr Liguster-Kapitäne, welche auf diese Weise die Mannschaften von andern Schiffen vergiften lassen, um sie dann zu berauben?«

»Ja.«

»Wieviel?«

»Ich kenne noch vier.«

»Ihr arbeitet zusammen?«

»Nein – ja, manchmal.«

»Ist unter diesen vier Liguster-Kapitänen, welche du kennst, vielleicht ein Perser?«

Die Antwort blieb lange aus, und dann lautete sie verneinend. Aber Nobody hatte schon gemerkt, daß der Mann seiner Sache nicht ganz sicher war.

»Sind die vier Liguster-Kapitäne, mit welchen ihr manchmal zusammen arbeitet, alle ein und derselben Nationalität, fahren sie unter derselben Flagge?«

»Zwei Amerikaner, ein Spanier und ein Chiote.«

»Ein Chiote!!« rief Nobody, und es klang triumphierend. »Ist es ein Segelschiff?«

»Ein Dampfer von 3000 Tonnen.«

»Unter welcher Flagge segelt er?«

»Unter türkischer.«

»Und der Kapitän, wie heißt er?«

»Jezdegerd Hormuz Hormidas,« sprach der amerikanische Steuermann den ungewöhnlichen Namen geläufig aus.

»Jezdegerd Hormuz Hormidas,« wiederholte Nobody, »ein persischer, ein echt persischer Name.«

Und dann wandte er sich an Erno.

»Triumph!!« rief er jetzt wirklich aus. »Jetzt sind wir Ihrer Gattin auf der Spur, und meine Kalkulation war richtig! Wie heißt das Schiff, welches Hormidas führt?«

»Karabelle.«

»Hat oder hatte der Kapitän seine erwachsene Tochter an Bord?«

»Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht.«

Nobody fragte nicht erst nach einer Frau, einer Mutter, er merkte sogleich, was hier vorlag.

»Kommt ihr mit der Karabelle manchmal zusammen? Arbeitet ihr gemeinschaftlich in eine Tasche?«

»Nein. Wenn wir uns hier treffen, so ist das nur Zufall.«

»Aha! Auch der Hormidas schickt Leute von seiner Bande auf andre Schiffe, läßt deren Mannschaft vergiften und das erbeutete Schiff dann hierher nach der Dreikönigsinsel dirigieren, um es hier ungestört zu plündern und dann zu versenken. Ist es nicht so?«

»So ist es. Aber er hat es nur auf türkische und arabische Schiffe abgesehen. Ich bin ihm hier zweimal begegnet.«

Auf dem Plateau machte sich wieder der Matrose bemerkbar. Er rief, daß der zweite Dampfer herangekommen sei und sich dem erstern nähere, die drei Heizer wären an Deck und schienen nur auf jenen zu warten.

»Dann ist es Zeit,« sagte Nobody. »Das Boot aus! Herr von Kufstein, Sie begleiten mich, auch Sie, Herr Kapitän. Sie sollen Zeuge davon werden, was für eine Szene sich jetzt dort abspielt. Die Jacht bleibt unterdessen unter Dampf liegen, läßt sich aber nicht blicken.«

Das Boot wurde ausgesetzt, sie stiegen ein, Nobody setzte sich ans Steuer. Ueber der ganzen Mannschaft lag ein drückendes Schweigen. Es war etwas zu Entsetzliches gewesen, was sie zu hören bekommen hatten.

»Und ich kann's nicht glauben,« sagte der alte Kapitän einmal, als Nobody der Insel zusteuerte, »ich kenne einen Liguster-Kapitän, das ist ein gar braver Mann, wenn er auch seine Schrullen hat.«

»Sie verkennen vollständig, um was es sich handelt,« entgegnete Nobody. »Unter den Liguster-Kapitänen mag es noch viele brave Leute geben. Sie werden die Aufklärung von mir später erhalten.«

Auch der finster vor sich hinbrütende Erno mochte von drückenden Fragen geplagt werden, aber er schwieg.

Nobody ließ das Boot um die Insel herumrudern, aber ohne daß er von einem der beiden Dampfer gesehen werden konnte, bis er ein geeignetes Versteck gefunden hatte, von welchem aus man dieselben heimlich zu beobachten vermochte. Die Entfernung war keine so große, auch ohne Fernrohr konnte man jeden Menschen an Deck genau erkennen.

»Wahrhaftig, es ist der ›Bilbao‹,« knurrte der Kapitän. »Auch ich kenne den Harrison, diesen elenden Mucker. Aber daß er zu solchen Schandtaten fähig sei, das hätte ich ihm doch nicht zugetraut. Und ich glaub's immer noch nicht!«

»Sie werden es mit eignen Augen sehen. Wieviel Knoten dampft der ›Bilbao‹?«

»Zehn Knoten.«

»Nicht mehr? Wissen Sie das ganz genau?«

»Ganz genau. Höchstens zehn Knoten.«

»Das ist sehr günstig für uns, da werde ich mit dem ›Bilbao‹ einmal Katze und Maus spielen.«

Jetzt lagen die beiden großen Dampfer nebeneinander, Matrosen verbanden sie mit Tauen, der Kapitän des ›Bilbao‹ schwang sich hinüber und ... schüttelte den dreien einem nach dem andern herzlich die Hand.

Jawohl, das Bubenstück, für welches man gar keinen Ausdruck findet, war ja geglückt!

Zuerst mußte natürlich berichtet werden, und wenn die versteckten Beobachter auch kein Wort verstehn konnten, so sprachen Kopfschütteln und andre Gesten doch deutlich genug. Dem Kapitän wollte es vor allen Dingen nicht in den Kopf, daß der Steuermann noch in letzter Stunde verschwunden war, über Bord gestürzt sein sollte. Bei dieser ruhigen See! Auch nach der Insel wurde lebhaft gedeutet.

»Alle Teufel, wenn die jetzt hierherkämen!« knirschte Kapitän Höcker und tastete an seinem Körper dorthin, wo er sein Messer wußte.

»Möglich, daß sie der Insel dann einen Besuch abstatten, um zu sehen, wo der Steuermann geblieben ist,« meinte Nobody. »Erst werden sie aber wohl die kostbare Beute in Sicherheit bringen, und dann muß das ausgestorbene und ausgeplünderte Schiff so schnell wie möglich verschwinden.«

So geschah es denn auch. Die Winde begann zu arbeiten. Kisten und Säcke wurden aus dem Innern des verlassenen Dampfers gehoben und verschwanden im Innern des ›Bilbao‹. An eine vollständige Löschung war natürlich nicht zu denken, selbst wenn der ›Bilbao‹ nur Ballast an Bord hatte und durch Auswerfen desselben Raum schaffte. Das hätte viele, viele Tage in Anspruch genommen. Nur der wertvollste Teil der Ladung wurde übernommen, hauptsächlich wohl die Medikamente, in denen ein großer Wert steckte, vielleicht auch noch der Kautschuk. Auch einige Weinfässer sah man hinüberwandern. Und das bare Geld würde der Kapitän wohl auch zu finden wissen.

Drei Stunden währte diese Arbeit, dann traf das Raubschiff Anstalten, den ausgeplünderten Kameraden zu verlassen. Man sah, wie ein Mann in einer Luke verschwand; nach zehn Minuten kam er wieder zum Vorschein, eiligst kletterte er hinüber, eiligst wurden die Dampfer getrennt, eiligst entfernte sich der ›Bilbao‹. Dabei sah man sein Heck. Er hatte den Namen nicht verändert. Wozu auch? Das war ein durchaus solides Handelsschiff.

»Jetzt wird er in die Luft gesprengt,« sagte der alte Kapitän, der am ganzen Körper zitterte.

»Das bezweifle ich,« meinte aber Nobody. »Diese Ehrenmänner halten auf ein so reines Gewissen, daß sie nicht einmal einen lauten Knall hören können, und nach einer Explosion treiben doch immer viele Schiffstrümmer umher. Das Schiff in die Luft zu sprengen, ist doch auch gar nicht nötig, schon ein einfacher Hammer und ein Durchschlag, der durch die Kielplatten getrieben wird, genügt, um den Kasten ganz gemächlich und ohne häßliches Geräusch auf den Grund hinabschaukeln zu ...«

Ein schwacher Knall erscholl, nicht einmal so laut wie ein Revolverschuß.

»Ja freilich, eine Dynamitpatrone ist noch bequemer, und die hört man auch nicht weit. Und jetzt ist es für uns Zeit, als deus ex machina zu erscheinen, und zwar in einer fürchterlichen Gestalt!«

Nobody hatte das Zeichen gegeben; die Jacht dampfte heran, nahm schnell das Boot auf und fuhr um die Insel herum. Es dauerte noch einige Zeit, ehe man den abfahrenden Dampfer zu Gesicht bekam, und unterdessen erzählten die Matrosen ihren Kameraden hastig, was sie geschaut hatten.

»Bei welchem Gericht müssen wir nun dieses fürchterliche Verbrechen auf See anzeigen?« wandte sich Erno leise an Nobody.

Es war eigentlich merkwürdig, daß die Leute unter sich noch gar keine solche Frage aufgeworfen hatten. Nobody benutzte diese Gelegenheit.

»Ja, Jungens, das muß ich euch nun fragen, auch Sie, Herr Kapitän, Herr Steuermann. Wir sind Zeugen eines Verbrechens geworden. Wir müssen das anzeigen. Aber ich kann euch gleich versichern, daß wir da in einen Monsterprozeß verwickelt werden und vielleicht ...«

Nobody konnte den Satz nicht beenden.

»Anzeigen?«

Und auf der kleinen Jacht erscholl aus rauhen Matrosenkehlen ein heiseres Hohngelächter – und in diesem Augenblick kam sie hinter der Insel hervor.

Was die Männer an Bord des ›Bilbao‹ dachten, wie sie plötzlich in ihrer Nähe die Jacht auftauchen sahen – Gott mag es wissen, und vielleicht der Höllenfürst, ihr Verbündeter.

Sie alle standen zu Statuen erstarrt da, und auch ohne Fernglas konnte man ihre vor Schreck verzerrten Gesichter sehen, denen alles Blut aus den Wangen gewichen war.

Es entstand ein allgemeines Durcheinander, dann traten sie zur Beratung zusammen.

Nobody wird später erklären, warum er es so weit hatte kommen lassen, und wir wollen nur eins erwähnen, was über die Mannschaft des ›Bilbao‹ das vernichtende Urteil sprach: Dort trieb noch der Dampfer, dem Aeußern nach vollständig unverletzt, die Dynamitpatrone konnte kein großes Loch gerissen haben, von einem Sinken war noch nichts zu bemerken, aber er würde sinken ... und das war es also, was die Mannschaft jenes andern Dampfers als stummer Zeuge ihres Verbrechens furchtbar anklagte!!

Waren sie von der Jacht beobachtet worden? War nicht eine Entschuldigung, war nicht noch eine gütige Auseinandersetzung möglich?

Nobody machte ihrem Erwägen ein Ende, er richtete den hypnotisierten Steuermann empor, stellte ihn aufrecht, hielt ihn auch noch wie eine Puppe mit ausgestreckten Armen hoch empor, und die Matrosen waren es, welche auch noch dazu eine überflüssige Erklärung gaben.

»Wir wissen alles, ihr Schufte,« schrien sie hinüber, »und ihr sollt unsrer Rache nicht entgehn!!«

Der Anblick des Steuermanns rief dort eine Desperation hervor. Jetzt war alles verraten, jetzt gab es nur noch eins. In der nächsten Minute stieg aus dem Schlote eine mächtige Rauchwolke empor, man hörte den Signalapparat klingeln, und dann schoß der große Dampfer wie ein Widder auf die Nußschale von Jacht zu, um sie in den Grund zu rammen. Aber ein Zwischenraum von wenigstens 500 Metern war doch noch zu durchmessen, und auf der Jacht wußte man alles, alles, und man hatte sich darauf vorbereitet.

Mit zischenden Ventilen floh die kleine Jacht vor dem gewaltigen Gegner, und wieder sah man dort drüben die helle Verzweiflung ausbrechen, als man gewahrte, daß die Jacht schneller sei als der Dampfer.

»Bringt mir das ...«

Nobody brauchte den Befehl nicht auszusprechen, von selbst brachten zwei Matrosen das Bretowsche Maximgeschütz angeschleppt, schnell wurde es montiert, andre Hände speicherten schon die Granaten und Spitzkugeln auf.

Da blitzte es drüben aus zahlreichen Gewehrläufen auf, man sah einen Kugelregen ins Wasser fallen. Die Entfernung war eine zu große.

»Gelobt sei Gott! Gelobt sei Gott!!« jubelte der alte Kapitän Höcker aus vollem Herzen auf – nämlich darüber, daß jene die Gewalttätigkeiten begonnen hatten.

»Ob sie großes Geschütz an Bord haben?«

»Ohne Sorge, das ist doch kein Raubschiff, das ist doch ein solider Handelsdampfer,« entgegnete Nobody hohnlachend, »und was braucht denn ein solcher großes Geschütz an Bord, das würde ihn doch nur kompromittieren.«

Ein Feuerstrahl entfuhr seiner mächtigen Entenflinte, wie er das Geschütz immer nannte; drüben der Mann am Steuer machte einen Bocksprung und war verschwunden. Ein andrer Matrose sprang hin – in demselben Augenblick traf auch ihn die tödliche Kugel. Wieder trat die Mannschaft zur Beratung zusammen, und eine platzende Granate dezimierte sie.

Und das Spiel der Katze mit der Maus begann. Nein, diesmal spielte die Maus mit der Katze, und die kleine Maus war schneller und hatte gar spitze Zähne, während die große Katze alt und blind war und nicht mehr beißen konnte.

Eine weiße Flagge ging hoch, sie wurde seitens der Jacht mit einem erneuten Hohngelächter begrüßt.

»Was für Bedingungen stellt ihr?« wurde herübergeschrien.

»Daß ihr euch dem Henker ausliefert, oder noch besser, daß ihr euch gleich selbst an den Rahen aufhängt,« lautete die Antwort.

Was dann weiter geschah, war wohl für den schreckensbleichen Erno ein Rätsel, es mag auch für manchen Leser vorläufig noch ein Rätsel sein – aber für den Seemann war es etwas ganz Selbstverständliches.

Bald zogen sich alle Mann unter Deck zurück, nicht lange währte es, so hörte man ein wüstes Singen, es dauerte eine Viertelstunde, und dann ein furchtbarer Knall, eine Feuergarbe stieg zum Himmel empor, und als der angebohrte Dampfer langsam hinabschaukelte auf den Grund des Meeres, das zur Mördergrube gemacht worden, war auch der ›Bilbao‹ von der Meeresoberfläche verschwunden.

Trümmer und fürchterlich zerrissene Leichen – nach Menschen, welche die Katastrophe überlebt hatten, brauchte die Jacht gar nicht zu suchen.

Die, welche ihr unvermeidliches Schicksal besiegelt sahen, hatten sich in der Pulverkammer eingeschlossen, den Schlüssel zum Bollauge hinausgeworfen, hatten sich sinnlos betrunken – und ehe der letzte umfiel, feuerte er noch einmal seinen Revolver ab.

 

Die ›Woge‹ segelte schon weiter nach Südosten, nach Afrikas Küste, und in der kleinen Kajüte saßen Nobody und Erno. Ersterer berichtete folgendes:

Als in der Mitte des vorigen Jahrhunderts der irische Pater Theobald Mathew mit seinen Mäßigkeitsbestrebungen so kolossale Erfolge aufzuweisen hatte, in aller Welt, so daß Bierbrauer und Schnapsbrenner mit einer pessimistischen Phantasie schon ihren Bankrott vor Augen sahen – welche Befürchtungen sich nun freilich nicht verwirklicht haben – da erstreckte sich der Bekehrungseifer der Temperänzler vor allen Dingen auch auf die trunkenboldenhaftigen Matrosen.

In London wurde der erste Seemannsverein gegründet, dessen Mitglieder auf Ehrenwort versprachen, kein alkoholisches Getränk mehr über die Lippen zu bringen; er gewann bald eine internationale Bedeutung. Als Abzeichen trugen diese Temperänzler von der See im Knopfloch ein buntgeschecktes, raupenförmiges Stück Plüsch, und bald waren die ›Ligusterraupen‹ fertig, welchen Spottnamen sie schließlich mit Stolz akzeptierten, woraus dann kurz die ›Liguster‹ wurden.

Heute sieht man die bunte Plüschraupe nicht mehr. Der Temperanzverein der Liguster ist von der blauen Liga verdrängt worden, deren Mitglieder, hauptsächlich Seeleute, ein blaues Bändchen im Knopfloch oder an der Mütze tragen.

Aber der Name der Liguster existiert trotzdem heute noch, nur hat er eine ganz andre Bedeutung bekommen.

Das einer Reederei gehörige Schiff wechselt nur den Kapitän niemals oder doch sehr selten. Sonst wird bei jeder neuen Reise die ganze Mannschaft, vom ersten Steuermann an bis zum letzten Schiffsjungen, neu angemustert, und ist die Reise beendet, muß das Schiff erst wieder eine Fracht suchen, so wird die ganze Mannschaft wieder entlassen. Bei der neuen Anmusterung kommt auch die alte Besatzung nicht wieder in Betracht, denn diese hat, da man nicht so schnell eine Fracht bekommt, das Schiff oft auch für längere Zeit in Dock gehn muß, unterdessen schon eine andre Heuer gefunden, hat sich in alle vier Winde zerstreut.

Diese jedesmalige An- und Abmusterung, wie sie noch heute allgemein üblich ist, hat ihre starken Schattenseiten, worunter die dunkelste vielleicht der moralische Nachteil ist, den die Matrosen davon haben, indem sie nämlich mit einem Male viel Geld in die Finger bekommen, dieses in unsinniger Weise vergeuden, und dann, wenn sie nichts mehr haben, fallen sie regelmäßig Heuerbasen oder Stellenvermittlern in die Hände, welche ihnen auf Kredit so lange Kost und Logis geben, bis sie ihnen eine neue Heuer verschafft haben, natürlich gegen wucherische Zinsen und Provision.

Deutschen Reedereien gebührt die Ehre, diese alte, schlechte Sitte zuerst abgeschafft zu haben. Der Bremer Lloyd und die Hamburger Paketfahrt-Aktiengesellschaft begannen damit, für ihre Dampferlinien einen festen Stamm von Seeleuten zu bilden, welche auch nach und nach befördert werden. Bei diesen regelmäßigen Linien, deren Passagierschiffe niemals auf eine Fracht erst zu rechnen brauchen, ist das Risiko schließlich ja auch kein großes. Aber auch andre Reedereien, deren Schiffe sich stets eine Fracht suchen müssen, also manchmal monatelang untätig im Hafen liegen, haben dieses System eingeführt, daß sie immer dieselbe Besatzung an Bord behalten, sie auch in der arbeitslosen Zeit mit durchschleppen, und wenn sie etwas weniger Heuer zahlen, so ist das nur recht und billig. Aber was macht das denn schließlich bei einem großen Schiffe aus, welches, auch wenn es ruhig und ohne Besatzung im Hafen liegt, jeden Tag Hunderte kostet, denn allein das Ankergeld ist ganz beträchtlich. Ein Auswandererdampfer von 20.000 Tonnen hat für die Stunde ungefähr 250 Mark zu zahlen! Da kommt der Tagelohn und die Kost der Besatzung ja gar nicht in Betracht. Dafür aber hat dann der Kapitän eine Mannschaft an Bord, von der er jeden einzelnen von Grund auf kennt, und von dem er weiß, was er von ihm in der Stunde der Not verlangen kann, und die Matrosen betrachten das Schiff nicht mehr als einen vorübergehenden Aufenthalt, sondern als ihre ständige Heimat, für deren Erhaltung sie bis zum letzten Atemzuge kämpfen.

Dieses neue System ging von Deutschland aus nach England und Amerika, wurde besonders gern auch von selbständigen Kapitänen mit eignem Schiff akzeptiert – aber in England und Amerika trieb dieses sonst doch sehr vernünftige System bald exzentrische Blüten.

Zumal jene selbständigen Kapitäne waren es, die zu ihren Matrosen sagten: ›Ich mag nicht, daß ihr das schöne Geld, welches ich euch auszahle, an Land ausgebt. Ihr braucht überhaupt nicht an Land zu gehn. Wenn ihr euch besaufen wollt, so besauft euch an Bord, wo ihr dann keine Dummheiten machen könnt, wo man euch bindet, wenn ihr alles kurz und klein schlagen wollt; das ist euch doch nur recht, dann kommt ihr nicht ins Kittchen und habt nichts zu bereuen, und wenn ihr poussieren wollt, dann laßt die Mädels an Bord kommen.‹

Das sind die Schiffe, Kapitäne und Matrosen, welche man mit dem Gesamtnamen ›Liguster‹ bezeichnet. Woher dieser Name, obgleich sie keine raupenähnlichen Abzeichen tragen, entstanden ist, das ist leicht zu erraten.

Die ehemaligen, jetzt vergessenen Liguster, die Temperanz-Matrosen, waren nach und nach in einen sehr schlechten Ruf gekommen. An Land gingen sie in die Kirche, und in verborgenen Winkeln ihres Schiffes tranken sie sich heimlich toll und voll. Es waren also scheinheilige Mucker. Dasselbe behauptete man nun auch von den neuen Ligustern – ganz mit Unrecht, denn diese hatten doch gar kein Versprechen der Mäßigkeit abgelegt. Sie sollten nur nicht an Land ihren während der langen Seereise zurückgehaltenen Leidenschaften frönen, wodurch sie mit der Polizei in Konflikt kommen konnten. Aber sie hatten den Namen nun einmal bekommen, er wurde verächtlich ausgesprochen, vielleicht mehr noch mit Neid.

 

Wie Nobody auf den Verdacht gekommen war, daß es an Bord von einigen Liguster-Schiffen nicht mit rechten Dingen zugehn könne, darüber sprach er sich nicht aus. Nobody ließ sich überhaupt niemals in seine Karten blicken, er spielte nur die Trümpfe aus. Ferner ist zu bedenken, daß dieser Detektiv an allen Plätzen der Welt seine Spione unterhielt.

Den Verdacht der Vollführung dunkler Taten auf sämtliche Liguster-Schiffe auszudehnen, wäre ungerechtfertigt gewesen. Es gab, wie schon erwähnt, unter den Liguster-Kapitänen sehr ehrenwerte Männer, welche auch einen höhern Zweck verfolgten, welche an Bord ihres Schiffes keine Orgien duldeten, dafür aber eine Bibliothek eingerichtet hatten, welche die Matrosen mit sich ins Theater nahmen und ihnen andre geistige oder doch harmlose Genüsse boten.

Dann freilich gab es auch einige Liguster-Schiffe, welche im bösesten Rufe standen. An Land kamen nur der Kapitän und vielleicht noch seine Ordonnanz, die Matrosen feierten mit Erlaubnis des Kapitäns an Bord die wildesten Orgien; die dazu eingeladenen Frauenzimmer konnten davon erzählen, wie es dabei zuging. An Land kam kein einziger von den Seeleuten.

Da mußte bei einem phantasievollen Kriminalbeamten sehr leicht ein Verdacht entstehn. Was konnte solch ein Schiff auf der unendlichen See nicht für menschenscheue Taten treiben! Schmuggeln war noch der leichteste Fall. Kein Mensch konnte erzählen, was die Leute trieben, nur sie selbst konnten es in der Trunkenheit ausplaudern. Aber wenn sie nur an Bord zechten, so war es ganz ausgeschlossen, daß ein fremdes Ohr etwas von ihren Schandtaten erfuhr. Denkt man hierbei nicht auch daran, daß der kein braver Mann ist, der niemals einen Rausch gehabt hat? Die raffinierten Virtuosen im Verbrechertum betrinken sich überhaupt niemals, oder sie tun es nur, wenn absolut keine Gefahr droht, daß sie sich im trunkenen Zustande verraten können – sie frönen ihren Lüsten hinter verschlossenen Türen.

Vielleicht hatte auch Nobody schon etwas über ein Liguster-Schiff erfahren, das seinen besondern Verdacht hatte wecken müssen, etwa daß ein Kapitän und seine Matrosen sich mehr leisteten, als es der Verdienst des Schiffes mit sich brachte, vielleicht hatten sie den Frauenzimmern zu wertvolle Geschenke gegeben – kurz und gut, jedenfalls hatte Nobody schon längst auf die Liguster-Schiffe ein Auge gehabt, und als er nun von jenem Weibe hörte, das offenbar auf dem Schiffe zu Hause und noch nie auf festes Land gekommen war, da hatte ihm seine weitere Kombination gesagt, daß es sich hier wahrscheinlich um ein Liguster-Schiff handle, welches irgend einen lichtscheuen Grund hatte, ab und zu die einsame Dreikönigsinsel, welche von andern Schiffen so ängstlich gemieden wird, aufzusuchen.

Wir können der Gedankenreihe des Detektivs nicht folgen – jedenfalls war seine Kalkulation eine richtige gewesen, obgleich er durchaus nicht den Kapitän Harrison hier erwartet hatte, so wenig, wie er gewußt, daß hier auf solch teuflische Weise mit Gift gearbeitet wurde.

Noboby hatte den Steuermann im hypnotischen Zustand weiter ausgefragt, nun wußte er alles, und er teilte es Erno mit.

Der ›Bilbao‹ war also auch ein Liguster-Schiff, ging aber für gewöhnlich als Handelsdampfer einem ehrsamen Erwerbe nach. Nur wenn eine günstige Gelegenheit das mit sich brachte, verwandelte es sich in ein Raubschiff – oder wie man das nun sonst nennen mag.

Wer einmal solch eine verbrecherische Handlung mit begangen hatte, durfte natürlich auch nicht wieder herunter von Bord. Es gab aber doch einige Leute, welchen der Kapitän wegen ihrer Nüchternheit und ihres sonstigen Charakters unbedingtes Vertrauen schenken durfte. Diese versuchten, sich auf das betreffende Schiff anmustern zu lassen, auf welches man es wegen seiner kostbaren Ladung, und weil auch sonst alle Gelegenheiten günstig waren, ein gleicher Kurs usw., abgesehen hatte.

Dabei war es nicht nötig, daß sie sich auf dem fremden Schiffe in der Stellung anmusterten, welche sie hätten bekleiden können. Wenn sie nur an Bord kommen konnten, als was, das war ganz egal. Am besten war es, wenn einer als Koch gehn konnte. So war denn auch der Matrose, der als Koch gegangen war, der dann zuletzt geheizt hatte, in Wirklichkeit Steuermann; William Prescott selbst, der nur als Steuermann angekommen, war schon Kapitän, einer der beiden Heizer hätte als Maschinist fahren können.

Das sogenannte Ligustin, dessen wirksamen Bestandteil der Steuermann nicht kannte, war nichts weiter als ein stark abführendes Mittel, welches aber auch die weniger harmlose Eigenschaft besaß, daß es auch noch die Eingeweide zerfraß, wahrscheinlich Quecksilbersublimat. Solche geheime Verbrechergesellschaften müssen doch für alles ihre besondern Namen haben, und so hatten sie dieses höllische Mittel eben ›Ligustin‹ genannt. Das war viel vorsichtiger, als wenn der Koch in das Essen Arsenik oder ein andres schnell und direkt wirkendes Gift getan hätte. Begegnete das Schiff kurz nach der Tat einem andern, einer der sich dem Tode nahe Fühlenden hatte noch die Kraft, um Hilfe zu rufen oder zu signalisieren, das andre Schiff kam heran, so hätte doch nur konstatiert werden können, daß hier die Ruhr oder die Dysenterie in fürchterlicher Weise ausgebrochen war; an eine Prüfung auf Gift hätte wohl niemand gedacht, und dann hätte man auch nichts gefunden. Die Beute war dann freilich verloren, das andre Schiff hätte das bis auf drei ausgestorbene ins Schlepptau genommen, aber man war doch vor einer Entdeckung gesichert.

War die schreckliche Tat geglückt, waren die Leichen über Bord geworfen, so wurde es bei zufälliger Annäherung eines andern Schiffes so gehandhabt, wie wir es gesehen haben. Der Bescheid: »Wir haben die Pest an Bord!« genügte, um jedes fremde Schiff in eilige Flucht zu schlagen.

Es wurde immer so eingerichtet, daß die Tat in möglichst einsamen Gewässern geschah, und da der ›Bilbao‹ fast ausschließlich die Westküste Afrikas befuhr, hier in der Nähe der Dreikönigsinsel; die übriggebliebenen Männer, also die Liguster, dirigierten dann das Schiff direkt hierher, wohin niemals ein andres unnötigerweise kam, und der ›Bilbao‹ konnte es in aller Ruhe ausplündern und versenken.

Auf diese Weise hatte Kapitän Harrison schon fünf Schiffe vergiftet, beraubt und versenkt, und zwar alle hier bei der Dreikönigsinsel. Es muß aber betont werden, daß dies nur ein Nebengeschäftchen war, sonst nahm der ›Bilbao‹ wie jedes andre Handelsschiff Frachten an; nur wenn alles gerade einmal paßte, wurde der Trick ausgeführt. Die erbeutete Fracht wußte man immer geschickt an den Mann zu bringen, die Beute wurde dem Range nach verteilt, wofür sich die Mannschaft dann das Leben schön machte – aber immer nur an Bord!

Einen Kompagnon hatte der ›Bilbao‹ nicht. Doch edle Seelen finden sich zu Wasser und zu Lande – oder in diesem Falle gleichgeartete Seelen.

Zufällig traf der ›Bilbao‹ hier einmal einen andern Dampfer, welcher ebenfalls ein Schiff ausplünderte und versenkte. Es war der ›Freyman‹ von New-York, Kapitän Barker. Der machte ganz genau dasselbe Geschäft mit der Massenvergiftung, alles ganz genau so, auch hier war die Dreikönigsinsel der Treffpunkt und das umliegende Gewässer die Mördergrube, ohne daß zwischen den Schiffen irgendwelche Korrespondenz bestanden hätte. Es war dies dieselbe Sache, wie eben manchmal große Erfindungen an verschiedenen Punkten der Erde gleichzeitig gemacht werden. Das liegt in der Luft.

Nun, keine Krähe hackt der andern die Augen aus, und wenn die beiden dunklen Ehrenmänner fernerhin auch keine Kompanie machten, so tauschten sie doch gegenseitig geschäftliche Mitteilungen aus, ohne jeden Konkurrenzneid. So hatte Kapitän Harrison früher mit Strychnin gearbeitet, und erst Kapitän Barker hatte ihm das von ihm selbst erfundene Ligustin gegeben, das also viel ›harmloser‹ wirkte. Dann hatte sich ein Steuermann von dem ›Freyman‹ selbständig gemacht, er führte jetzt die ›Tyne‹ von Newcastle, arbeitete gleichfalls mit Ligustin und schleppte seine Beute hier nach dem Treffpunkt der Hautevolee der modernen Seepiraten.

»Schließlich wickelt auch noch ein spanischer Dampfer hier seine Nebengeschäfte ab,« schloß Nobody seinen Bericht, »und der macht gemeinschaftliche Sache mit der ›Karabelle‹, einem griechisch-türkischen Dampfer von der Insel Chios, deren Eigentümer und Kapitän, von Geburt ein Perser, ich für Ihren Schwiegerpapa halte.«

Starr blickte Erno den so leichthin Sprechenden an.

»Auch dieser ist ... solch ein ...«

Er wagte das fürchterliche Wort gar nicht auszusprechen.

»Auch solch ein Halunke im allgemeinen und Giftmischer im besondern?« ergänzte Nobody. »Mitnichten! Wenn der hypnotisierte Steuermann zuerst erklärt hatte, auch ein Spanier und ein Chiote gehörten mit zu der Verbrechergesellschaft, so hatte er mich nicht richtig verstanden. Nein, solche Verbrecher sind diese beiden, der Spanier und der Chiote oder Perser, denn doch nicht. Ja, als Orientale treibt er meines Erachtens nach sogar ein ganz ehrenwertes Geschäft, mag es nach internationalen Beschlüssen auch verboten sein. Haben Sie eine Ahnung, was das sein mag?«

»Sklavenhandel?!«

»Richtig!« nickte Nobody. »Nun seien Sie vernünftig, regen Sie sich deshalb nicht auf. Der Engländer, der den Sklavenhandel abgeschafft hat, soll sich an seiner eignen Nase zupfen, hat doch derselbe Engländer den fluchwürdigen Opiumhandel Chinas in Händen. Vorläufig müssen Sklaven sein, abgeschafft ist dieser Ebenholzhandel nur auf dem Papiere; Westindien kann noch nicht ohne afrikanische Arbeiter existieren, und die Sklaven haben da ein viel besseres Los denn als freie Männer in ihrer Heimat, ein besseres Los als die meisten unsrer europäischen Arbeiter. Ja, wenn er schwarze Mädchen in die orientalischen Harems verkaufte, das wäre vielleicht ehrenrührig, aber daß er nach Südamerika Arbeitskräfte liefert, das halte ich für ein ganz ehrenwertes Geschäft, mag es auch verboten sein.«

Nobody schilderte nun, wie die ›Karabelle‹ dies betrieb, soweit ihm der Steuermann davon berichten konnte und er es selber zusammenkombiniert hatte.

Die ›Karabelle‹ hatte also ihren Heimatshafen auf Chios, welche Insel zwar zu Griechenland gehört, aber unter türkischer Oberhoheit steht. Der stattliche Dampfer fuhr ständig die Westküste Afrikas ab, machte hauptsächlich Tauschgeschäfte mit Palmöl und Elfenbein. Daß er unter türkischer Flagge fuhr und die Chioten Mohammedaner sind oder sich doch für solche ausgeben können, erleichterte den Verkehr mit den Eingebornen ungemein. Nebenbei wurde auch Sklavenhandel getrieben. Der Kapitän sollte – genau konnte jener Steuermann es auch nicht sagen – ein oder mehrere eigne Küstenfahrzeuge oder Flußdampfer besitzen, welche die kriegsgefangenen Sklaven weiter im Innern des Landes aufkauften und sie dann draußen auf offner See an Bord des großen Dampfers brachten.

Bei dieser Art von Geschäft drohte dem soliden Handelsdampfer wenig Gefahr einer Entdeckung. Es handelte sich bloß noch darum, die Sklaven wieder zu verkaufen, und das ist das schwierigste bei diesem Geschäft. Daß die ›Karabelle‹ deshalb selbst nach Südamerika ging, das war ganz ausgeschlossen, da hätten die englischen Kriegsschiffe bald Witterung bekommen und fernerhin ein scharfes Auge auf den türkischen Dampfer gehabt.

Es war noch ein Kompagnon vorhanden, ein spanischer Dampfer, welcher ständige Fahrten zwischen Lissabon und Westindien machte. Wenn die ›Karabelle‹ ihren Leib mit lebendigem Ebenholz gefüllt hatte, wurde die ›Santa-Fé‹ durch eine geheime Depesche verständigt, die beiden Dampfer trafen sich an der weltverlassenen Dreikönigsinsel, wo die Sklaven gegen bares Geld ausgetauscht wurden. Hierbei waren die beiden Schiffe einmal von der ›Bilbao‹ beobachtet worden, alle drei hatten nähere Bekanntschaft gemacht, wiederum nach der alten Regel, daß eine Krähe der andern kein Auge aushackt.

Dann konnte die ›Santa-Fé‹ die menschliche Ware unbehindert in Westindien absetzen, niemand schöpfte Verdacht, daß der von Lissabon kommende Dampfer Sklaven an Bord haben könne.

»Einer der großen Handelshäfen an der Westküste, welchen Hormuz Hormidas regelmäßig anläuft, ist Loando. Dorthin segeln wir jetzt, und ist er mit seinem Schiffe nicht da, so erfahren wir dort, wo er sich zur Zeit befindet, oder wir warten, bis er wiederkommt.«

Erno hatte noch gar viel zu fragen.

»Sie haben in jenem Schreiben, das ich versiegeln mußte, niedergelegt, daß Undines Vater ein Perser ist?«

»Ja. Und noch mehr! Ich habe außerdem darin behauptet – allerdings mit Vorbehalt – daß ihre Mutter eine Chiotin ist, daß der ganze Dampfer mit Chioten bemannt ist, und noch andres mehr.«

»Woraus haben Sie denn das schließen können?«

»Aus Ihren eignen Schilderungen. Das mit beiden Händen essende Mädchen ist offenbar in der persischen Zend-Religion erzogen worden, deren Glauben darin besteht, daß sie an gar nichts glaubt. Das heißt, nach der Zend-Religion ist Gott so groß, daß er die Anbetung von uns Menschlein gar nicht braucht. Doch für meine Ansicht sprechen noch viele andre Dinge mit; aber es würde zu weit führen, wollte ich Ihnen das alles auseinandersetzen. Und die Mutter? Grüne Augen kommen auf der Insel Chios sehr häufig vor, besonders unter den edlen Geschlechtern. Haben Sie davon gehört, daß die alten Hellenen behaupteten, der Himmel sehe grün aus? Ich will nicht sagen, daß deswegen die alten Griechen grüne Augen gehabt haben, aber Tatsache ist, daß sich in den jetzt türkischen Chioten der Typus der alten Hellenen mit ihrem goldgelockten Haar am reinsten erhalten hat, während die jetzigen Griechen ja nur Bastarde von Türken mit Romanen, Rumänen, Armeniern und andern sind. Ferner sprechen die Chioten eine Sprache, welche halb griechisch, halb türkisch, halb arabisch ist, aber in einer Mischung, daß weder Grieche noch Türke noch Araber sie versteht. Da ist es auch leicht begreiflich, daß Undine keine der in Ihren Wörterbüchern enthaltenen Vokabeln verstand, und schreiben hat sie eben nicht gelernt.«

»Weswegen wurde sie aber an Bord des Schiffes förmlich gefangen gehalten?«

»Da kommt wohl zunächst die alles seligmachende und manchmal doch so niederträchtige Liebe in Betracht. Ich nehme an, daß dieser persische Kapitän ein bildhübscher, verwegener Kerl ist. Eine vornehme Chiotin hat sich in ihn verguckt, vielleicht hat er sie entführt. Sie ist eifersüchtig, sie geht nicht von seiner Seite, und nun kommt auch in Betracht, daß ab und zu Sklavenhandel getrieben wird; da sind Geheimnisse zu bewahren. Das gilt vor allen Dingen für die Frucht der Liebe, für jenes Mädchen, welches Sie Undine genannt haben. Die Frau will weder den Mann noch das Kind verlassen, also muß auch das Kind ständig an Bord bleiben. Wahrscheinlich hat man dem Mädchen verheimlicht, was für Geschäfte der Papa manchmal treibt. Da wurde sie einstweilen immer in die Kajüte gesperrt. Aber das Mädchen sehnte sich an Land, nach der Gesellschaft andrer Menschen, die sie immer nur von weitem sah. Diese Sehnsucht war stärker als die Liebe zu den Eltern. Da sagte Undine sich einmal: Wenn ich das nächste Mal Land sehe, springe ich über Bord und schwimme hinüber. Unglücklicherweise war es gerade die einsame Dreikönigsinsel, wo das Mädchen verschmachtet wäre, wären Sie nicht zufällig gekommen, und so wurde der unglückliche Zufall für Sie ein Glück.«

»Mein Glück!« seufzte Erno. »Wissen Sie denn aber nun auch, daß sich Undine wirklich wieder an Bord der ›Karabelle‹ befindet?«

»Nu sicher!« sagte Nobody leichthin und hatte einen Vorwand, schnell an Deck zu eilen – und auch fernerhin, wenn Erno diese oder eine ähnliche Frage stellte, wußte Nobody ihm immer auszuweichen.

 

Loando war erreicht. Da die ›Woge‹ am Heck einen falschen Namen führte, im Hafen aber Papiere hätte vorlegen müssen, so blieb sie draußen auf der sichern Reede liegen, wo man für gewöhnlich keine Ausweise verlangt.

Nobody und Erno ließen sich von zwei Matrosen im Boot an Land rudern, und die Dunkelheit war bereits angebrochen, als sie den Hafen durchquerten.

»Da liegt sie, die ›Karabelle‹,« flüsterte Nobody, auf einen großen Dampfer deutend, der mit erleuchteten Bollaugen – das ist der Name der kleinen, runden Fensterchen – dicht am Quai lag.

Der Schein der Backlaterne eines andern Schiffes fiel auf ihr Heck, so daß man den Namen lesen konnte.

Ach, welche Gedanken stürmten auf den unglücklichen Erno ein, der noch nicht einmal wußte, ob hinter einem dieser erleuchteten Bollaugen jetzt das Liebste, was er auf Erden besaß, seiner gedenke, und war es an dem, so wußte er doch noch immer nicht, wie er es wiedererlangen könne; denn freiwillig würde der Sklavenhändler seine Tochter wohl nicht ausliefern. Vor Ernos geistigen Augen türmten sich unermeßliche Schwierigkeiten auf.

Aber er stellte keine diesbezügliche Frage mehr, der Detektiv hatte sich schon seit langer Zeit wieder in sein undurchdringliches Schweigen gehüllt.

Sie verließen das Boot. Nobody gab den Matrosen wegen des Wartens Instruktionen, und als ob er hier zu Hause wäre, führte er seinen Begleiter geradeswegs in ein englisches Hotel, das einzige am Platze.

An der Portiersloge stand ein schöner, schwarzbärtiger Mann, den Fez auf dem Kopfe, erkundigte sich, ob ein gewisser Herr zu sprechen sei.

Nach dem verneinenden Bescheid entfernte er sich wieder.

Gewiß, es gibt eine Ahnung! Beim Anblick dieses Mannes hatte Ernos Herz sich zusammengeschnürt, er hätte sogleich auf ihn zugehn und sagen können: Du bist es! Gib mir deine Tochter, gib mir mein Weib und mein Kind wieder!

Nobody fragte nach zwei nebeneinanderliegenden Zimmern und erhielt sie.

»Wer war jener Herr vorhin?« fragte er so nebenbei. »Er kam mir recht bekannt vor.«

»Mr. Hormidas,« lautete die Antwort, »ein Türke, der Kapitän von der ›Karabelle‹.«

Die Ahnung hatte also nicht getrogen!

«Logiert er hier?«

»Nein, der wohnt an Bord.«

Nobody blinzelte Erno zu, sich durch nichts zu verraten. Wie ausgemacht, trugen sie sich unter falschem Namen ein, dann begaben sie sich in ihre Zimmer, dem Kellner Bestellung für eine Mahlzeit gebend, an welcher Nobody aber nicht teilnehmen wollte.

»Ich suche jetzt sofort den Kapitän auf und fühle ihm auf den Zahn, ob oder ob nicht. Daß Sie hier wie auf Kohlen sitzen, weiß ich, deshalb werde ich mich beeilen. Lassen Sie es sich gut schmecken und seien Sie guten Mutes, ich werde meine Sache schon machen, mein Name ist Nobody. G'n Abend.«

Da saß Erno, den Kopf in die Hände gestützt, und ließ sich den Duft der warmen Speisen in die Nase steigen, ohne etwas zu berühren.

Die Sicherheit, mit welcher Nobody gesprochen hatte, vermochte nicht, eine Hoffnungsfreudigkeit in dem jungen Gelehrten wachzurufen. Jener wußte ja selbst noch nicht, ob sich Undine überhaupt an Bord der ›Karabelle‹ befinde. Daß die Frau mit den grünen Augen Undines Mutter gewesen sei und sie zum Vater auf das Schiff zurückgebracht habe, das alles war ja nichts weiter als eine Vermutung.

So hing Erno trüben Hirngespinsten nach, ohne zu wissen, daß darüber schon eine Stunde vergangen war.

Da plötzlich öffnete sich die zum finstern Nebenzimmer führende Tür, auf der Schwelle stand der zurückgekommene Nobody.

»Nun, Herr von Kufstein, Sie haben doch feste Nerven? Daß Sie mir vor Schreck nicht etwa umfallen!«

Das war in einem Tone gesprochen worden, daß es schon ein verklärtes Lächeln des Glückes war, mit welchem sich Erno halb von seinem Stuhle erhob.

»Ich bringe nämlich etwas Großes mit,« fuhr Nobody fort, »gleich die ganze ›Karabelle‹.«

»Gleich – gleich – den – den – ganzen Dampfer?!« stammelte Erno.

»Nee, den nicht – der geht nicht ins Zimmer. Aber Ihre Frau, die Sie Undine genannt haben – die heißt eigentlich Karabelle.«

Nobody trat zur Seite. An ihm vorbei schwebte oder flog eine vermummte Gestalt, sie hatte auch etwas Vermummtes auf dem Arme, und Nobody sah das Folgende schon kommen, beim Vorbeifliegen nahm er ihr mit einem geschickten Griff das Kind ab, und das war gut, sonst wäre es vielleicht erdrückt worden.

Während die Glücklichen, die sich wiedergefunden hatten, einander am Herzen lagen, hatte Nobody also das Kind auf dem Arme, das unterdessen vier Monate älter geworden war – aber nicht lange, das Kind fing an zu schreien, und plötzlich machte Papa Nobody ein höchst mißtrauisches Gesicht, er nahm das Kind zwischen beide Hände, hielt es mit ausgestreckten Armen von sich, blickte an sich hinab und ... richtig, Nobody hatte seine Belohnung schon weg!

 

Der seelischen Erregung der jungen Mutter war eine tiefe Erschöpfung gefolgt; sie schlief mit ihrem Kinde im Nebenzimmer, vor dessen nach dem Korridore führende Tür Erno erst noch ein Sofa gerückt hatte. In dem andern Zimmer aber saßen die beiden Männer bei einigen Flaschen Wein lange in traulichem Gespräch.

Natürlich sollte Nobody zuerst erzählen, was er an Bord des türkischen Dampfers erlebt hatte; aber Nobody war äußerst fideler Laune, und in solcher Stimmung war immer schwer etwas aus ihm herauszubringen, wenn er auch tat, als wenn er erzählen wollte.

»O, ein sehr gebildeter, netter Mann, dieser Jezdegerd Hormuz Hormidas! Und einen griechischen Wein setzte er mir vor – prachtvoll! Was er zu mir sagte, als ich mit meinem Anliegen herausrückte? Na, er sagte ganz einfach: Jawohl, ich habe mir meine Tochter wieder an Bord geholt. Ihr Mann, dem ich einen Enkel verdanke, will sie wiederhaben? Sie wollen sie gleich mitnehmen? Bitte sehr, hier ist sie, das Kind können Sie auch gleich mitnehmen ... Ueberhaupt, ein feiner Mann, dieser Perser! Ja, was so ein richtiger Perser ist!«

Auf diese Weise mußte Erno sich noch eine Weile hinhalten lassen, bis Nobody endlich einen andern Ton anschlug.

»Na, nun gestatten Sie mir erst einmal eine Frage. Ich habe doch schon ziemlich bestimmt vorausgewußt, daß Undines Vater ein Perser und Kapitän eines mit Chioten besetzten Dampfers ist. Glauben Sie mir das, oder müssen Sie deswegen erst den versiegelten Brief öffnen?«

»Das glaube ich Ihnen auch so, die Richtigkeit ist ja schnell genug bewiesen worden.«

»Ferner rechnete ich mit einem türkischen Schiff, und einen solchen Dampfer, den ein persischer Kapitän kommandiert und der Chioten an Bord hat, den muß man doch sehr leicht ausfindig machen.«

»Das ist sicher.«

»So hätte ich mich doch gar nicht erst auf der Dreikönigsinsel auf die Lauer zu legen brauchen.«

»Hm, ich ahne schon, wohinaus Sie wollen,« brummte Erno nachdenklich.

»Wenn ich ihn aber nun ausfindig gemacht, was hätte ich da zu ihm sagen sollen? Höre, guter Freund, ich kenne einen Herrn, der hat auf der Dreikönigsinsel ein stummes Weib gefunden, es ist ihm wieder gestohlen worden, und ich nehme an, daß es deine Tochter ist ...«

»Aha, ich verstehe! Er hätte Sie einfach ausgelacht. Beweise!«

»Na also. Nun ahnte ich aber ganz bestimmt, daß ich auf der Dreikönigsinsel etwas Besonderes über diesen persischen Kapitän erfahren würde, ich müßte nur geduldig warten. Und richtig, es kam denn auch. Daß ich freilich solche mit Gift arbeitende Mordbuben dabei ... doch das gehört jetzt nicht hierher. Ich erfuhr also auf jener Insel näher, weshalb ihre Umgebung damals von der ›Karabelle‹ aufgesucht wurde und es noch manchmal wird. Sklavenhandel! Und da habe ich denn vorhin dem edlen Perser die Daumschrauben angelegt. Höre, alter Junge, so oder so – hattest du vielleicht früher ein stummes Mädchen an Bord, das dir entflohen ist? Hast du es wieder an Bord?«

»Und da? Was sagte er?«

»Zuerst gar nichts, und er brauchte es auch nicht, ich las die bejahende Antwort aus seinem Gesicht ab. Das wurde plötzlich so weiß wie das von unserm Pestkranken, und dabei rollte er mit den Augen, als suche er ein Plätzchen, wohin er dieselben einstweilen verstecken könne, um mich nicht ansehen zu müssen.«

»Und dann?«

»Dann setzte ich die Daumschrauben noch etwas fester an, und da fletschte er die Zähne. Aber es half alles nichts, er mußte mir Ihre Frau und Ihr Kind wieder herausgeben.«

»Ich bewundre Ihre Kühnheit. Das hätte für Sie gefährlich werden können.«

»Sie denken an einen Dolchstich, der mich für immer beseitigt hätte? Natürlich deutete ich an, daß ich nicht allein sei.«

»Und was sagte die Mutter?«

»Gar nichts!«

»Gar nichts?«

»Kein Sterbenswörtchen. Die ist nämlich tot. Die hat die Schweizer Luft nicht vertragen können, hat sich dort einen tödlichen Schnupfen geholt. Das erleichterte die Sache nun ungemein, denn der Papa scheint gar nicht so an seiner Tochter zu hängen. Ihre Schwiegermama hatte die Hosen an, soll überhaupt eine Hexe gewesen sein.«

Nobody erzählte ausführlicher und mit etwas weniger drastischen Worten. Es wäre kaum nötig gewesen, denn es war, als ob er einen Sehergeist besessen hätte. Es war eben alles so gewesen, wie er es vorausgesagt hatte. Nur Undines Entführung bedarf noch einer Erklärung.

Die ›Karabelle‹, nach der die an Bord wie eine Gefangene gehaltene Tochter genannt worden war, hatte bei der Dreikönigsinsel wieder einmal an das spanische Schiff Sklaven abgegeben. Am folgenden Morgen, als der Dampfer aber schon wieder eine weite Strecke zurückgelegt hatte, wurde das Mädchen vermißt. Anfangs glaubte man nicht anders, als das oft melancholisch gestimmte Mädchen sei auf offner See über Bord gesprungen, um sich den Tod zu geben. Das Wasser wurde nach ihrer Leiche abgesucht. Erst dann dachte man an die Dreikönigsinsel, man kehrte zurück. Unterdessen aber waren zwei Tage verstrichen, die ›Woge‹ hatte die Insel schon wieder verlassen.

Auf dieser Insel wurden Streichhölzer gefunden, ferner in angesetztem Schlamm die Spuren eines großen Hundes. Man schloß ganz richtig, daß das Schiff einer wissenschaftlichen Expedition vor einigen Tagen hier gewesen sein müsse. Ob diese Leute das Mädchen gefunden hatten, davon hatte man freilich keine Ahnung, aber jedenfalls hieß es jetzt auf dieses Schiff fahnden.

In jedem Hafen, den die ›Karabelle‹ anlief, wurde nach einem Schiffe gefragt, welches beabsichtigt hätte, die Dreikönigsinsel zu besuchen, das einen großen Hund, an Bord gehabt – ein halbes Jahr erfolglos, bis die ›Karabelle‹ zufällig einmal Funchal auf Madeira anlief.

Dort war auch Erno gewesen, hatte von seiner Absicht gesprochen, und so erfuhr Hormidas endlich den Namen jenes Schiffes.

Nun war es nicht mehr schwer, festzustellen, wo die ›Woge‹ sich jetzt befand. Sie lag in Nizza zum Verkauf. Dorthin begab sich die Mutter, eine gebildete Chiotin, die während ihres langen Aufenthaltes an Bord noch nicht ihr Französisch und alle Lebensart vergessen hatte, wenn sie davon auch nichts der Tochter beigebracht.

In Nizza hatte es nicht verschwiegen bleiben können, daß sich die ganze Besatzung der ›Woge‹ nach der Schweiz begeben hatte. Dann war ja auch der Agent da, der mit dem Besitzer der ›Woge‹ korrespondierte.

Nun war die Frage, ob Karabelle verraten hatte, was ihr Vater für ein heimliches Handwerk trieb. Schwerlich! Sie war stumm, konnte nicht schreiben, verstand nur das wenig bekannte Chiotisch. Außerdem hatte sie, wenn die Sklaven an Bord genommen und wieder abgegeben wurden, nie die Kajüte verlassen dürfen. Und wenn sie ihren Vater verraten hätte, und der, bei dem sie sich befand, wollte gegen jenen vorgehn, so hätte dies doch schon längst geschehen sein müssen.

Trotzdem, das wie eine Sklavin behandelte Mädchen mußte so bald wie möglich seinem jetzigen Besitzer wieder entführt werden.

Die Chiotin mit den grünen Augen hüllte sich tief in einen Schleier, fuhr nach Genf, nahm einen Wagen, dessen Kutscher sie mit einer reichlichen Geldsumme bestach, begab sich nach der Villa auf dem Hügel. Das Gartentor war offen, sie sah ihre Tochter in der Laube sitzen, ein Kind an der Brust.

Die Mutter enthüllte ihr Gesicht, sprach mit der Tochter, und wenn diese auch schon eine Entführung ahnen und ihr Schreck furchtbar groß sein mochte – um Hilfe rufen konnte sie ja nicht, und der sklavenähnliche Gehorsam der Tochter gegen die Mutter war ein solcher, daß sie auch nicht entfloh, gar keine Kraft dazu hatte, vielmehr der Aufforderung gehorchte, ihr folgte, wenigstens bis zum Gartentor. Hier wurde sie von dem starken Weibe aufgehoben und in den Wagen getragen; es ging nach Genf, nach Nizza, wo schon die ›Karabelle‹ bereitlag.

Es lag im Charakter und in der Erziehung der griechischen Orientalin, daß sie sich in ihr Schicksal fügte. Sie hoffte, daß sie den Mann, den sie liebte, wiederfinden würde, und darin hatte sie sich ja auch nicht geirrt.

Die Mutter hatte schon immer den Keim einer tödlichen Krankheit in sich gehabt, sie erlag bald den Anstrengungen der letzten, ungewohnten Landreise, fand ein Seemannsgrab im Ozean, Und mit dem Vater hatte Nobody sehr leichtes Spiel gehabt. Der persische Kapitän war schon längst der lästigen Fesseln überdrüssig, die ihm ein maßlos eifersüchtiges Weib während zwanzig Jahren auferlegt hatte. Wenn der allwissende Mann, der so tief in seine Karten geblickt hatte, ihm zuschwor, nichts zu verraten, so gab er gern die Tochter und deren Kind wieder her. Andernfalls tötete er alle beide und sich selbst, denn dann war er sowieso ruiniert; auf den Sklavenhandel steht der Galgen.

»Ich habe die geforderten Schwüre geleistet. Mit der Besatzung Ihrer Jacht werde ich noch sprechen. Und ich hoffe, daß auch Sie mir Ihr Ehrenwort geben, nicht zu verraten, was für ein dunkles Nebengeschäft Ihr Schwiegervater treibt oder getrieben hat. Ich glaube, er gibt es auf. Der Schreck vor meiner Allwissenheit ist ihm gar zu sehr in die Glieder gefahren.«

Wie gern gab Erno sein Ehrenwort!

»Nun machen Sie, daß Sie von hier fortkommen,« schloß Nobody. »Von Ihrem Schwiegervater haben Sie nichts mehr zu fürchten, kein Mensch wird Ihnen wieder Undine und das Kind entführen wollen, aber ... halten Sie fest, was Sie haben, verduften Sie!«

In überströmendem Danke streckte Erno ihm beide Hände hin.

»O, wie soll ich Ihnen danken! Dafür fehlen mir die Worte. Ja, Sie sprachen doch von einer Belohnung ...«

»Von einer Belohnung,« fiel Nobody ihm ins Wort, einen Blick an seinem Anzug hinabwerfend, der noch deutliche Spuren von einer kindlichen Katastrophe zeigte. »Allerdings fordre ich eine Belohnung. Ich möchte Ihnen das tiefste Geheimnis meines Lebens anvertrauen, und Sie sollen mir Ihr Ehrenwort geben, es im Busen bewahren zu wollen.«

»Mehr fordern Sie nicht? Sie haben mein Ehrenwort!«

»Akzeptiert. Passen Sie auf. Ich will Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Es war einmal ein kleiner Laubfrosch ...«

»Ein – kleiner Laubfrosch?« wiederholte Erno erstaunt. Wußte dieser amerikanische Detektiv denn, daß er, Erno, als Junge von seinen Spielkameraden den Spitznamen ›Laubfrosch‹ bekommen hatte?

»... der schwamm eines Tages lustig in der Elbe bei Blankenese. Da kam ein Kahn angegondelt; in demselben saß ein nur mit einer Badehose bekleideter Jüngling von 17 Lenzen. Und der kleine Laubfrosch schwamm unbemerkt hinter den Kahn, faßte ihn und kippte ihn um, daß der Jüngling von 17 Lenzen ebenfalls schwimmen mußte. In diesem Augenblick fuhr dicht ein Raddampfer vorbei; der kleine Laubfrosch hatte es nicht bemerkt, er kam in den Wellenschlag, schluckte Wasser, und da half ihm all seine Schwimmkunst nicht – der kleine Laubfrosch sackte wie ein Stein auf den Grund. Ein Glück war es, daß der Jüngling von 17 Lenzen gut tauchen konnte, er holte den kleinen Laubfrosch wieder herauf ... na, was gibt's?«

Erno hatte sich halb erhoben; starr waren seine Augen auf den Sprechenden geheftet, und da tauchte ein andres Gesicht vor ihm auf, und doch waren es dieselben schönen, stolzen, immer so überlegen lächelnden Züge ...

»Alfred! Mein Lebensretter!!«

»Ja, Erno, und jetzt habe ich dir Frau und Kind wiederverschafft. Das kostet dich eine Pulle Sekt.«

 

Erno hatte mit Frau und Kind Loando verlassen, mit einem Dampfer. Auch die ›Woge‹ war abgesegelt. Wohin, davon meldet Nobodys Tagebuch nichts.

Vorher hatte der gefangene Steuermann Selbstmord begangen. Es war das beste gewesen, was er hatte tun können; die Aussagen eines Hypnotisierten gelten ja vor Gericht nichts.

So wollte Nobody jetzt noch einmal von vorn beginnen; auf die beiden andern Schiffe hatte er es abgesehen, welche Giftmischer ausschickten; einen handgreiflichen Beweis für ihr verbrecherisches Tun wollte er liefern.

Aber es sollte nicht so weit kommen. Hatten sie auf irgend eine Weise Lunte gerochen? Oder war es ein Zufall? Sowohl die ›Freyman‹ wie die ›Tyne‹ waren plötzlich spurlos verschwunden; Nobody hat nicht herausbringen können, wo die beiden Schiffe mit der Besatzung geblieben sind.

An wen sollte Nobody sich jetzt halten? Sollte er den Gerichten erzählen, was er einst erlebt hatte? Für das Gewesene gibt der Jude nichts. Und auch das hätte wenig Zweck gehabt, daß er jetzt noch die Besatzung der ›Woge‹ als Zeugen aufrief, woran er aber gar nicht dachte.

So war Nobody diesmal um allen Ruhm gekommen. Seine einzige Belohnung hatte ihm Ernos Kindchen gegeben.

Belohnung? Noch niemals hatte Nobody sich so reich belohnt gefühlt! Nicht nur, daß er die Welt von vielen Bestien in Menschengestalt befreit, sondern er hatte auch ein direktes Glück gezimmert.

Er weiß, wo dieses Glück, welches in seinem eignen Herzen nachwirkt, wohnt, er kennt das Haus, aus dem ein gar berühmtes wissenschaftliches Werk hervorgegangen ist, er weiß, daß der zweite Junge Alfred genannt worden ist, er korrespondiert mit diesem Glück – aber in seinem Tagebuch steht die Adresse nicht.


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