Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

9. In der Arche Noah

Die Nacht war schon angebrochen, als an dem großen, eisenbeschlagenen Tore, welches das ehemalige Kloster der Ursulinerinnen von der Welt abschloß, von einer dunkelgekleideten Gestalt die Glocke gezogen wurde.

Die beiden aus Pfeilern ruhenden Torlaternen brannten nicht, und in dem unsicheren Sternenlichte erkannte man nur, daß die Person eine Frau war.

Das Läuten erscholl laut genug, doch nichts rührte sich. Die Frau schien das Warten nicht gewöhnt zu sein, sie klingelte nicht nur noch mehrmals hintereinander, sondern sie riß ganz gehörig an dem Klingelzug.

»Wer ist draußen?« fragte da hinter dem Tore eine grobe Stimme im barschesten Tone, und man mochte fast annehmen, daß sie einem Manne angehörte.

»Ich möchte Senora de la Fonserra sprechen,« lautete die recht befehlerisch klingende Antwort der draußen Stehenden.

»Wer ist das, der so fragt?«

»Eine Frau, welche der Welt den Rücken kehren möchte.«

»Und du begehrst auf solche Weise Einlaß in ein Haus, wo die Demut und die Bescheidenheit wohnt?«

»Demut und Bescheidenheit will erst gelernt sein, und eben ihr sollt mich darin unterrichten.«

»Wie ist dein Name?«

»Lady Isabel Roger.«

Die Pause, welche hinter der Tür entstand, ließ daraus schließen, daß dieser Name einen großen Eindruck machte.

»Sie sind die Herzogin von Exeter?« erklang es dann wieder und diesmal weit höflicher.

»Ich bin's. Bekannter dürfte ich Ihnen aber unter dem Namen der tollen Herzogin sein.«

Ja, es war ein bekannter Name, mit dem sich die Zeitungen und die Gesellschaft, welche die Skandalgeschichten liebt, viel beschäftigten.

Lady Isabel war die Schwester Lord Hannibal Rogers, und zwar eine dieses exzentrischen Gesellen würdige Schwester. Nach den englischen Feudalgesetzen ohne Vermögen, heiratete das schöne Mädchen den enorm reichen Herzog von Exeter. Die kinderlose Ehe währte nur ein Jahr, der junge Lord verunglückte tödlich. Nach den englischen Bestimmungen nahm die Witwe wieder den Namen und Titel an, den sie als Mädchen geführt hatte, wurde also wieder Lady Roger. Aber die Erbin ihres Mannes war sie. Doch das erste, wofür die Verwandten sorgten, war, daß sie unter Kuratel gestellt wurde. Das sagt wohl schon genug. Die hätte, sich selbst überlassen, ihre Millionen gleich im ersten Jahre durchgebracht. Danach war auch ihr Leben beschaffen. Ohne grade zur Dirne herabzusinken, war sie doch eine Anhängerin der freien Liebe und wußte damit auch Humor zu verbinden. Eine Spezialität von ihr war, Pantoffelhelden zu verführen, daß sie mit ihr durchbrannten. Dieses Kunststück führte sie so im Durchschnitt monatlich einmal aus, und das verteidigte sie allen Ernstes als eine ganz moralische, sogar edle Handlung. Sie wolle die bösen Weiber von ihrer Eifersucht heilen und aus den Waschlappen Männer machen.

Mögen diese Andeutungen über die tolle Herzogin genügen.

»Verzeihen Eure Herrlichkeit, wenn ich Sie einen Augenblick draußen warten lassen muß,« sagte es hinter dem Tore in ganz anderm Tone, »ich werde es meiner Herrin sofort melden.«

Es dauerte nicht lange, so rasselte im Schloß ein Schlüssel, das Tor wurde geöffnet. Es war das ›Skelett‹, die Orranda, welche mit einer großen Stalllaterne der Dame ins Gesicht leuchtete.

Sie sah schöne, edle Züge, und die noch junge Witwe unterschied sich besonders dadurch von ihrem blasierten Bruder, daß es jugendfrische Züge waren. Das abenteuerliche Liebesleben mußte ihr sehr gut bekommen, ihrer Gesundheit hatte es wenigstens nichts geschadet.

Es war eine übermittelgroße Gestalt, sonst nicht näher zu beurteilen, denn sie war in ein Gewoge von Spitzen eingehüllt.

»Bitte, wollen Eure Herrlichkeit mir folgen,« sagte das Skelett, verschloß die Tür wieder und schritt der Dame voran.

Nobodys Spekulation war, wie immer, eine richtige gewesen. Denn unter diesen Spitzen verbarg sich kein Weib, sondern ein Mann, und der hieß Nobody.

Mit Lord Roger, von dem der Leser wohl annehmen darf, daß er nicht enthauptet worden ist, war der Plan verabredet worden, und seine in London weilende Schwester, davon benachrichtigt, um was es sich handelte, hatte sofort zugesagt, ohne sich um die näheren Einzelheiten zu kümmern, da sie gerade wieder mit der Entführung eines besonders ängstlichen Pantoffelhelden beschäftigt war.

Bisher hatten in der Arche Noah nur Kokotten aus Monte Carlo Aufnahme gefunden. Das heißt, andre hatten sich noch nicht gemeldet. Nobody war überzeugt, daß er auch als irgend eine andre Dame aufgenommen worden wäre, aber so schnell wäre das sicher nicht gegangen, man hätte sich jedenfalls über sie erst erkundigt, da hätte man leicht auf einer Unwahrheit ertappt werden können, jedenfalls wäre ihr nicht sogleich bei Nacht das geheimnisvolle Tor geöffnet worden.

Aber bei der Lady Isabel Roger war das etwas andres. Welcher Triumph mußte das für die Fonserra sein, wenn es ihr gelang, diese vornehme, exzentrische Weltdame, welche schon halb und halb zu den Priesterinnen der Venus gehörte, zu einem entsagungsvollen Leben mit Gebet und Buße zu bekehren! Da wurde alles andre übersehen.

Allerdings war dabei, wie wir später sehen werden, ein besondrer Fall zu bedenken, welcher es nicht ausgeschlossen erscheinen ließ, daß die tolle Herzogin sofort zurückgewiesen wurde. Aber Nobody hatte an diesen Fall gedacht, hatte es riskiert. Vorläufig war er innerhalb der Klostermauern, und das war schon ein großer Erfolg.

Die vermeintliche englische Herzogin ward über den Hof geführt, eine Treppe hinaus, die Orranda öffnete in dem Korridor eine Tür, Nobody trat ein. Das bisherige Fremdenzimmer hatte sich wiederum in eine Nonnenzelle verwandelt, deren ganze Einrichtung in einem Tisch, einem Stuhl und einer hölzernen Pritsche bestand, welch letztere jetzt auch nicht mit einer der angeschafften Seegrasmatratzen belegt war.

Ferner befanden sich an den Wänden noch einige geschnitzte Heiligenbilder, darunter der Gekreuzigte fast in Lebensgröße, noch fleißiger schien der Betschemel vor dem Muttergottesbilde benutzt zu werden, nach den Eindrücken zu schließen, welche die Knie in dem Holz zurückgelassen hatten – wenn diese Spuren echt waren, oder die Mexikanerin mußte sehr spitze Knie haben.

Für Licht sorgte eine einfache, auf dem Tische stehende Petroleumlampe, daneben aber lag ein aufgeschlagenes Gebetbuch.

Hier stand die reichste Frau der Erde, wie die gleichfalls mit eingetretene Orranda in eine baumwollne Kutte gekleidet, welche an Einfachheit mit der des Eremiten von La Turbie wetteiferte, die der heiligen Prinzessin noch übertraf, denn da gab es nichts von roter Einfassungsborte. Am Gürtel hing zwar das Kreuz, aber nicht von Gold, sondern von Eisen, und der Rosenkranz.

Im übrigen war die Mexikanerin ganz dieselbe geblieben. Ihre Feierlichkeit, mit der sie die Herzogin empfing, paßte nicht zu der rohen Sinnlichkeit, die aus den unruhig flackernden Augen sprach.

»Sei mir gegrüßt, meine liebe Schwester,« hob sie an. »Was führt dich zu mir?«

»Der Überdruß an dieser Welt,« entgegnete Nobody, ganz naturwahr die reiche Aristokratin spielend, welche wohl respektvoll gegen die war, unter deren Obhut sie sich stellen wollte, aber ihr herrisches, selbständiges Auftreten doch nicht ganz verleugnen konnte. »Ich habe in englischen Zeitungen gelesen, wie Sie in Monte Carlo ein Kloster von der strengsten Observanz gegründet haben ...«

»Eine Genossenschaft von Schwestern mit gleichen Interessen,« verbesserte die Vorsteherin. »Und dann nenne mich du, vor Gott sind wir alle gleich, oder nenne mich Mutter! Ich bin die Mutter der Schwestern.«

»So laß mich deine Tochter werden!«

»Warum ist dies dein Wunsch? Ich habe dich vorhin unterbrochen, fahre fort!«

»Wie gesagt, ich bin des Lebens überdrüssig – wenigstens eines solchen Lebens, wie ich es bisher geführt habe. Die englischen Zeitungen spotteten über dein Unternehmen. Mich aber packte plötzlich etwas. Ich weiß nicht, was es war ...«

»Es war der heilige Geist, der über dich kam und dich erleuchtete.«

»Möglich,« klang es kurz zurück, ohne daß dies spöttisch wirkte. »Es kann auch sein, weil mich die Nachricht tief erschütterte, daß mein unglücklicher Bruder sein Leben verloren hat oder verloren haben soll. Hast du davon gehört?«

»Ja, zufällig. Wir kümmern uns sonst nicht mehr um das, was in der Welt passiert, sie ist für uns gestorben.«

Wenn's wahr ist, so ist das sehr günstig für mich, dachte Nobody, und laut fuhr er als Lady Roger fort:

»In Monte Carlo hat mein Bruder sein Haupt zwar nicht verloren, das war aber der Ausgangspunkt seines Unglücks - in Monte Carlo war das Kloster – das Haus, nach welchem es mich mit einer mir selbst ganz unbegreiflichen Sehnsucht unwiderstehlich hinzog. In Monte Carlo bin ich auch einst gewesen, vor wenigen Jahren, und ich gestehe, daß ich hier ein sehr ausschweifendes Leben geführt habe ...«

»Du wirst nur noch mehr gestehen müssen, du wirst mir alles bis ins kleinste beichten, wenn du eine der Unsrigen werden willst.«

»Ich bin mit Vergnügen bereit dazu. Schon als kleines Kind ...«

»Halt!« unterbrach abermals die Priorin oder Mutter die im legeren Tone Sprechende. »Noch will ich es nicht hören. Fahre erst in deiner Erklärung fort, warum und wie du nach Monte Carlo gekommen bist.«

»Das Warum habe ich wohl schon erklärt. Nun, ich bin gewöhnt, dem Zuge meines Herzens sofort zu folgen, alle meine Wünsche müssen augenblicklich befriedigt werden, soweit dies im Bereiche der Möglichkeit liegt. Ich setzte mich in den Zug, nahm ein Coupé für mich, und während dieser vierundzwanzigstündigen, ganz einsamen Eisenbahnfahrt nun kam ich zu einer Erkenntnis. Ich sagte: ich muß alle meine Wünsche augenblicklich befriedigen, soweit dies im Bereiche der Möglichkeit liegt. Nun aber erstrecken sich meine häufigsten und sehnlichsten Wünsche sehr oft auf etwas Unerreichbares ...«

»Auf was?«

»Ach, das ist ganz verschieden.«

»Nenne ein Beispiel!«

»Zum Beispiel ist es mein sehnlichster Wünsch, Mutter eines Kindes zu werden,« entgegnete unser Nobody mit der größten Unverfrorenheit.

Da aber sah er, wie die Fonserra hämisch den Mund verzog.

»Sonst nichts? Sonst hast du keine Sehnsucht weiter, die nicht gestillt werden kann?«

Teufel, dachte Nobody, gibt es denn einen unmöglicheren Wunsch, als daß ich Mutterfreuden genießen möchte? Ha, wenn die wüßte ...

»Es gibt noch andre Wünsche, die nicht zu befriedigen sind, obgleich sie gar nicht außerhalb der Grenzen der Möglichkeit liegen. Darf ich rückhaltlos sprechen?«

»Das sollst du sogar.«

»Es ist nichts für keusche Ohren.«

»Dem Reinen ist alles rein, wir sind mit dem Panzer der Gottseligkeit umgeben,« war die salbungsvolle Antwort.

»Ich bin wiederholt Männern begegnet,« fuhr die Herzogin fort, »die mich zu rasender Liebe entflammt haben, und gerade bei ihnen blieben alle meine Bemühungen erfolglos, sie an mich zu fesseln. Ist auch das keine Qual, welche einem dieses Leben verleiden kann?«

Der hämische Zug verschwand. Sie sagte es nicht, aber Nobody sah ihr an, daß sie hiermit schon eher einverstanden war, sie mochte Ähnliches durchgemacht haben.

»Peinigen dich sonst keine unerfüllbaren Wünsche?«

»Ja, ich denke manchmal daran, wie schön – nein, das kann ich wirklich nicht sagen, auch wenn wir Frauen unter uns sind.«

Und Nobody gehörte zu jenen seltenen Menschen, welche die Kunst verstehen, auf Kommando das Blut in die Wangen treten zu lassen.

Bemerkenswert fand er dabei, wie jetzt die Augen der Mexikanerin in noch sinnlicherer Glut aufflackerten. Aber sie sagte nicht, was sie dachte, sie beherrschte sich.

»Du wirst es mir und den andern Schwestern doch noch beichten müssen, wenn du bei uns bleiben willst.«

Aha, also aus diesem Loche pfeift hier der Wind, dachte Nobody, und daß es in diesem Augenblick hinter ihm laut gähnte, wobei das Skelett seinen Rachen wie ein Krokodil aufriß und die vier großen, gelben Eckzähne fletschte, das machte ihn nicht in seiner Ansicht irre.

»Wenn dies eine Pflicht ist, die hier gefordert wird, so werde ich es wohl noch über mich bringen, eine Generalbeichte abzulegen, die geheimsten Falten meines Herzens zu enthüllen.«

»Das ist auch unbedingt erforderlich. Doch nicht jetzt. Da du nun Wünsche hattest, welche du nicht zu befriedigen vermochtest, so kamst du endlich zu der Erkenntnis, daß es besser ist, überhaupt allen Wünschen zu entsagen. Nicht wahr?«

»So ist es. Es war ganz seltsam. Als ich hier ankam, dachte ich gar nicht daran, erst über meinen unglücklichen Bruder Erkundigungen einzuziehen, ich bin sofort hierhergeeilt, um mich dir zur Verfügung zu stellen.«

»Wann kamst du hier an?«

»Vor einer Stunde, vor einer halben Stunde.«

»In welchem Hotel wohnst du?«

»Ich bin gar nicht in einem Hotel abgestiegen, sondern direkt vom Bahnhof hierhergeeilt.«

»Wo befindet sich dein Gepäck?«

»Gepäck? Wir englischen Damen belasten uns wenig mit Gepäck, wenn wir reisen. Eine kleine Handtasche liegt beim Portier auf dem Bahnhofe.«

So, nun sollte man auf dem Bahnhofe sich erkundigen, ob da nicht vor einer halben Stunde eine Handtasche von einer Dame abgegeben worden war, welche mit dem letzten Schnellzuge in einem separaten Coupé erster Klasse ankam. Daß die Dame dieses Coupé erst in Nizza genommen hatte, das freilich war eine andre Sache. Aber um darüber bei der Bahnverwaltung Auskunft zu erhalten, das hätte doch einige Tage in Anspruch genommen, und Nobody gedachte in zwei Tagen alles zu erfahren, was er über die Arche Noah und seine Bewohner auskundschaften wollte. Überdies hätte er immer eine Ausrede gehabt.

»Mir fällt auf, daß du gar keinen Schmuck trägst.«

»Den habe ich unterwegs in die Handtasche gepackt. Sollte ich, wenn ich mich zum Aufnehmen in das Kloster meldete, mit Diamanten prahlen? Die Spitzen konnte ich freilich nicht herunterreißen.«

»Kannst du dich legitimieren, daß du wirklich Lady Isabel Roger, die verwitwete Herzogin von Exeter bist?«

Also ein Mißtrauen bestand doch. Oder man war doch sehr vorsichtig. Aber Nobody war auf alles vorbereitet. Gelassen griff er in den ausgestopften Busen und brachte eine elegante Brieftasche zum Vorschein, der er einen Reisepaß entnahm, vorgestern in London ausgestellt auf den Namen der Lady Isabel Roger.

Das Signalement stimmte. Und warum hätte es nicht stimmen sollen? Es ist überhaupt schwer, für eine Dame ein Signalement auszustellen, noch schwerer als für einen Mann – wenigstens so, wie die Polizei das jetzt handhabt. Es dürfte die Zeit kommen, daß für gewisse Fälle die Hand und die Länge andrer Gliedmaßen des betreffenden Paßinhabers gemessen werden.

Die Hauptsache war, daß Lady Roger keine besondern Kennzeichen besaß. Üppiges, schwarzes Haar – Nobody hatte für ein entsprechendes Toupet gesorgt, und die Perücke, welche als solche auch vom schärfsten und kundigsten Auge nicht zu erkennen war, saß fest genug, selbst wenn einmal der Fall eintreten sollte, daß sich die ›Schwestern‹ einander in die Haare gerieten.

Und es wäre schwer gefallen, zu erfahren, daß sich die eigentliche Lady Roger doch noch in London aufhielt. Die exzentrische Witwe ging wieder einmal auf Abenteuer aus, wozu sie sich eines andern Namens bediente.

Die Prüfung des Passes war zur Zufriedenheit ausgefallen.

»Weißt du nun auch, meine Tochter,« nahm die Fonserra wieder das Wort, »was für ein Leben dich hier erwartet?«

»Ja, soweit ich in den Zeitungen davon gelesen habe, welche darüber berichten, daß zum Unterhalt jeder Schwester jährlich nur 300 Francs ausgesetzt sind, und daraus kann ich mir alles andre lebhaft vorstellen.«

»Es ist ein Leben der strengsten Entsagung.«

»Das ist es eben, was mich anzieht. Ich habe das andre Leben schon zu sehr genossen, daß mich davor ekelt.«

»Glaubst du, daß unser Heiland für unsre Sünden gestorben ist?«

Es war das erstemal, daß die Religion in dem Examen vorkam, und Nobody beging eine große Kühnheit, aber eine wohlberechnete, als er erwiderte:

»So wurde mir als Kind gelehrt, aber ich gestehe ganz offen, daß ich bisher alles andre als fromm gewesen bin, und auch jetzt noch fehlt mir das, was man wohl die Erkenntnis Gottes nennt.«

»Sie wird dir in unsrer Gemeinschaft schon noch kommen,« antwortete die Priorin, und hiermit war seltsamerweise dieses Thema ein für allemal erledigt. Es wurde nicht einmal gefragt, welchem Glauben die Dame angehöre, welche als Engländerin doch sicher protestantisch war, während sich die Mexikanerin zum strengsten Katholizismus bekannte.

Für Nobody freilich war das nicht seltsam. Das war kein Haus der Frömmigkeit, hier lag ein ganz andrer geheimnisvoller Grund vor, aus welchem die Kokotten, die doch auch nichts von der Frömmigkeit gewußt hatten, hier festgehalten wurden, nicht durch Gewalt, kehrten sie doch immer freiwillig hinter die Mauern der Arche Noah zurück, und dieses Geheimnis eben wollte Nobody auskundschaften.

Außerdem hatte es auch unter den Kokotten Protestantinnen gegeben.

»Du willst sofort bei uns bleiben?«

»Wenn es irgend angängig ist, jetzt sofort. Ich bin gewohnt, jeder Regung meines Herzens augenblicklich zu folgen, und ich bin vollkommen unabhängig, niemand vermißt mich, meine Angelegenheiten sind immer geregelt.«

»Ja, du gibst einer augenblicklichen Regung deines Herzens nach, und nach einigen Tagen, vielleicht schon morgen denkst du anders und wirst uns wieder verlassen.«

Diese Vermutung hatte Nobody gefürchtet, als er die Maske der Lady Roger gewählt hatte, und doch glaubte er, daß der fanatischen Mexikanerin gerade sehr viel daran gelegen sein mußte, die tolle Herzogin der Welt der Lust zu entziehen, das mußte ihr ein noch viel größerer Triumph sein, als wenn ihr dies bei der grünen Eva oder einer andern Kokotte gelang, und wir haben schon gesehen, daß sich Nobody in seiner Kalkulation nicht geirrt hatte.

»Ich glaube nicht,« entgegnete er auf den gemachten Vorwurf. »Mein Entschluß, der Welt zu entsagen, ist sehr ernst, und ich bin nicht die Person, welche gleich wieder aufgibt, was sie sich einmal vorgenommen hat. Außerdem bin ich bereit, mein Vermögen, soweit ich darüber verfügen kann, dir oder dieser Gesellschaft von Schwestern mit gemeinsamen Interessen zu vermachen.«

»Das nehmen wir nicht an.«

»Warum nicht?«

»Das geht gegen unsre Prinzipien, das ist auch gar nicht gestattet, dann kämen wir mit der Polizei in Konflikt,« war die offene Antwort.

Nobody hatte es gewußt, und er hätte auch ruhig unterschreiben können, es wäre mit Genehmigung der Lady Roger geschehen, und die Unterschrift dieser unter Kuratel stehenden Person war ungültig.

»So kann ich mich doch wenigstens verpflichten, hier ein Jahr aushalten zu wollen, wenn nicht, so muß ich ein Reugeld zahlen, dieses Recht steht mir doch zu. Nenne die Bedingungen!«

»Es gibt keine.«

»Keine Bedingungen, mit denen man sich einverstanden erklären muß, ehe man Aufnahme in eure Gemeinschaft findet?« stellte sich Nobody erstaunt.

»Gar nichts. Du kannst uns, wenn es dir bei uns nicht gefällt, jederzeit wieder verlassen.«

»Das finde ich sonderbar!«

»Wieso?«

»Ihr müßt doch Geheimnisse haben?«

»Geheimnisse? Was für Geheimnisse? Wir haben keine Geheimnisse!« sagte die Fonserra, lenkte aber schnell wieder ein, d. h., nahm wieder ihre hoheitsvolle Würde an, als sie fortfuhr: »Es gibt nur eine einzige Bedingung: wenn du mit uns unter einem Dache schlafen willst, nur diese eine Nacht, so hast du mir erst deinen ganzen Lebenslauf rückhaltlos zu beichten.«

»Ich bin bereit dazu.«

Hinter Nobodys Rücken ging die Tür, er blickte sich um und sah, daß die Orranda die Zelle verließ, aber statt ihrer trat, wie auf ein geheimes Zeichen, eine andre ›Schwester‹ ein, eine kleine, zierliche Gestalt, ebenfalls eine solche einfache Kutte tragend, aber noch das Gesicht mit einem grünen Schleier aus dichter Gaze verhüllt.

Die Priorin winkte. Mit zögernden Schritten näherte sich die kleine Gestalt.

»Lady Isabel Roger,« stellte die Fonserra vor, »welche in London von unsern gottgefälligen Bestrebungen gehört hat und eine der Unsrigen zu werden wünscht – dies ist unsere Vorbeterin, welche du noch näher kennen lernen wirst, welche es schon weit gebracht in der Kasteiung ihres Leibes.«

Das war das erstemal, daß hier etwas von ›Kasteiungen‹ gesprochen wurde. Den Namen dieser Schwester erfuhr Nobody nicht, er sollte heute auch nicht ihr Gesicht zu sehen bekommen. Aber er hatte schon früher in Begleitung ihrer Herrin jene Kammerzofe beobachtet, welche allgemein das Nixchen genannt wurde, und nur einige Bewegungen von ihr genügten dem scharfsichtigen Detektiv, um ganz bestimmt zu wissen, daß er diese vor sich habe.

»Setze dich, und nun bekenne rückhaltlos deinen sündhaften Lebenswandel!«

Die vorgebliche Lady Roger gehorchte, setzte sich auf die Pritsche, auf welche die Fonserra bei ihren Worten gedeutet hatte, diese selbst ließ sich auf dem Stuhle nieder, während die Verschleierte neben dem Tische stehen blieb.

Wohl, Nobody wußte ganz genau, was die beiden zu hören wünschten, und er legte los, die Phantasie zu Hilfe nehmend.

»Schon seit meiner frühesten Jugend ...«

So begann er abermals. Weiter wollen wir ihm nicht zuhören, dürfen es beim besten Willen nicht. Aber für jene beiden Frauenzimmer war das etwas! Die lauschten wie die Mäuschen! Die Fonserra hatte sich mehr in der Gewalt, die kannte das alles, was sie da zu hören bekam, wahrscheinlich schon aus eigner Praxis. Aber das verschleierte Nixchen fing nach und nach am ganzen Leibe zu zittern an, und der grüne Gazeschleier war doch nicht dicht genug, als daß des Detektivs scharfer Blick dahinter nicht die Augen gesehen hätte, wie diese in dem blassen Gesichtchen immer mehr in sinnlicher Glut auffunkelten. Also war es wohl ganz richtig gewesen, was man über das zierliche Kammerzofchen gemunkelt hatte. Aber das hinderte nicht, daß dabei immer der Rosenkranz durch die Finger glitt, und dann erklangen wohl auch hin und wieder Seufzer der Entrüstung über diese verdorbene Welt.

Was hätte die wirkliche Lady Roger gesagt, wenn sie gewußt, was sie hier für Sünden beichtete? Unserem Nobody war das ganz egal. Die beiden bekamen eben zu hören, was sie zu hören wünschten, des Menschen Wille ist sein Himmelreich, und diese beiden frommen Betschwestern hier hatten ihr besonderes Himmelreich. Nobody nahm sich kein Blatt vor den Mund, und er mochte wissen, daß es Lady Roger an seiner Stelle nicht anders gemacht hätte.

Endlich hielt er es für genug und machte Schluß. Aber den beiden Damen war es noch nicht genug. Gut, Nobody kramte in seiner Erinnerung und erzählte als Zugabe noch einige andre skandalöse Geschichtchen.

Schließlich waren die Damen zufrieden, wenigstens die Priorin.

»Du wirst das, was du uns jetzt erzählt hast, in Gegenwart aller Schwestern wiederholen.«

Aha, dachte Nobody, also das sind die Erbauungen, mit denen man sich hier die Zeit vertreibt!

»In Gegenwart aller Schwestern? Ach nein, das geht doch nicht gut!«

»Warum nicht?«

»Da – da – da – da schäme ich mich.«

»Die Scham ist eine Verblendung, welche der Teufel gegen den Menschen ins Werk setzt,« erklärte die Fonserra salbungsvoll. »Durch die Scham sind wir aus dem Paradiese vertrieben worden.«

Aha, dachte Nobody wiederum, jetzt rücken sie langsam mit der Sprache heraus. Die wollen hier wieder unschuldig wie im Paradiese leben.

»Wenn es so ist, dann werde ich es wohl auch noch über mich bringen, meine Sünden öffentlich zu beichten.«

»Daran tust du recht, und wenn du dich erst eingelebt hast in unsre Gesellschaft, so wird es dir leicht fallen. Jetzt folge der Schließerin, welche dich in deine Zelle führen wird! Morgen früh wirst du an unsrer frommen Übung teilnehmen, wonach es dir noch immer freisteht, uns wieder zu verlassen, wenn es dir bei uns nicht gefällt.«

Sie schlug nur ein Kreuz, und Nobody war entlassen. Die dürre Orranda war schon wieder zur Stelle, ein brennendes Licht in der Hand, Nobody folgte ihr auf den Korridor hinaus.

Es war derselbe, welcher die ehemaligen Nonnenzellen enthielt, die später zu Fremdenzimmern umgewandelt wurden, um jetzt wieder als Büßerzellen zu dienen. Die schweren Türen, jede mit einer Nummer versehen, enthielten also, wie schon erwähnt, in Kopfhöhe ein Fensterchen, und Nobody konstatierte, daß dieses unverhangen war, und daß in jeder Tür außen ein Schlüssel steckte.

Es war die Tür Nummer 14, welche das Skelett öffnete. Sie selbst folgte der Eingetretenen hinein.

Das Zimmer war genau so möbliert wie das vorige, mit Tisch, Stuhl und Pritsche, nur daß die Heiligenbilder fehlten, dafür aber lag – für weniger fromme Naturen viel wichtiger – auf der Pritsche eine Matratze, und war sie auch sehr dünn, so brauchte man doch nicht auf Holz zu schlafen.

»Dies ist dein Zimmer für diese Nacht, und es wird deine Zelle bleiben, wenn du uns nicht wieder verläßt,« sagte die Orranda, als sie das Licht auf den Tisch setzte.

Nobodys erster Blick hatte dem Schloß gegolten. Ein Riegel war nicht vorhanden, die Tür konnte nur verschlossen werden, wenn man den Schlüssel mit hereinnahm.

»Ich kann doch die Tür zuschließen?«

»Weshalb? Es wird dir hier nichts gestohlen.«

»Das glaube ich wohl, aber ich bin es nun einmal gewohnt, ich kann nicht schlafen, wenn ich die Tür unverschlossen weiß.«

»Es ist hier Sitte, daß der Schlüssel draußen stecken bleibt, falls einer Schwester einmal bei Nacht etwas passiert, aber wenn du abschließen willst, so tue es! Ein Verbot existiert nicht.«

Das war jedenfalls eine Garantie der persönlichen Sicherheit.

»Wo sind jetzt die andern Schwestern?«

»Alles schläft schon.«

»Wo sind die Schlafzimmer?«

»Hier auf diesem Korridor.«

»Wann wird früh aufgestanden?«

»Das ist ganz verschieden, je nach den Betübungen, welche täglich vorgenommen werden. Du wirst morgen früh geweckt werden. Nun,« die Orranda lüftete die Seegrasmatratze und brachte eine graue Kutte und Sandalen zum Vorschein, »da es dein fester Vorsatz ist, bei uns zu bleiben, so wirst du wohl auch gleich dieses Gewand anziehen.«

Die vorgebliche Herzogin hatte keinen Grund, dies abzuschlagen. Aber Nobody sah nichts weiter als die Nonnenkutte und die Sandalen.

»Behält man seine mitgebrachten Unterkleider an?«

»Nein, wir tragen keine.«

Und um die Wahrheit ihrer Worte zu beweisen, löste Madame Orranda mit einem Griff den Gürtel ihres Gewandes, welches sonst weder Knöpfe noch Heftel besaß, schlug es teilweise auseinander und ...

Es gehörten Nobodys starke Nerven dazu, um den Anblick dieses Knochenskeletts zu ertragen. Wenn er sich vor Grauen schüttelte, so tat er es nur innerlich.

›Nicht für drei Taler,‹ sagt Otto, dachte er dabei.

Zum Glück war er dem Anblick der schauderhaften Knochengestalt nicht lange ausgesetzt, Madame Orranda hüllte sich schnell wieder ein.

»Das ist unsre vorschriftsmäßige Tracht, und sie ist sehr gesund. Wenn du frieren solltest – hier unter der Matratze liegt noch eine dicke, wollne Decke.«

»Wenn das Vorschrift ist, so muß ich mich wohl fügen.«

»Dann ziehe dich um! Ich nehme deine Kleider gleich mit, sie werden dir aufgehoben. Soll ich dir behilflich sein?«

Jetzt wurde die Sache kitzlich für unsern Nobody.

»Nein, ich danke, ich kann mich allein entkleiden.«

»Eine Herzogin wird doch eine Kammerzofe gewöhnt sein!«

»Hatte ich bisher eine solche, so muß ich eben lernen, sie zu entbehren. Gute Nacht, ich bin sehr müde.«

Aber das Skelett mußte einen besonderen Grund haben, durchaus beim Entkleiden behilflich oder doch anwesend sein zu wollen.

»Es ist verboten, Licht in der Zelle zu behalten. Wenn ich gehe, muß ich es mitnehmen, dann bist du im Finstern.«

»Ich brauche kein Licht, ich kann mich im Finstern entkleiden.«

»Ach, geh doch! Ich glaube gar, du genierst dich vor mir, ich bin doch eine Frau! Komm nur, ich will dir helfen!«

Sie streckte schon die Arme aus, um der Dame die Heftel zu lösen. Ihre Hilfe aber war das einzige, was Nobody unmöglich dulden durfte, oder alles wäre verraten gewesen. Zwar war es auch gefährlich, was er jetzt tat, weil einer Dame nicht entsprechend, aber er wußte kein andres Mittel, und einer Lady Roger sah es schon ähnlich.

Mit einem schnellen Griffe hatte er die Orranda bei den ausgestreckten Armen gepackt und, obgleich das knochige Weib wahre Bärenkräfte besitzen mußte, es nach der Tür gedrängt, diese aufgerissen, das Weib hinausgestoßen und dabei schnell noch den draußensteckenden Schlüssel mit hereingenommen.

Ehe die Orranda noch klinken konnte, war schon abgeschlossen und im nächsten Augenblick das Licht ausgeblasen.

Als das Skelett die Tür schon verschlossen fand, grunzte es draußen etwas, dann aber hörte Nobody gleich schlurfende Schritte, die sich entfernten. Der neue Gast sollte nicht weiter eingeschüchtert werden. Auch die Kerze hatte man ihm gelassen, und auf dem Teller des Leuchters lagen Streichhölzer.

Nobody bedurfte ihrer nicht. Er selbst hatte eine Taschenlaterne und Feuerzeug bei sich, ferner einen kleinen, eleganten Revolver und einen Damendolch, was er alles unter seiner Kutte zu verbergen beschloß. Wurde das bei ihm durch irgend einen Zufall gefunden, so wäre das wohl bei jeder andern Dame sehr auffallend gewesen, aber nicht bei der tollen Herzogin, und dies alles hatte er in Betracht gezogen, als er diese Maske wählte.

Also er entkleidete sich vollständig, zog die Kutte an und befestigte die Sandalen an den Füßen. Wenn man morgen seine abgelegten Sachen untersuchte, würde man sehr intime Toilettenstücke darunter finden, denn der als Dame auftretende Mann hatte natürlich seiner Brust etwas nachhelfen müssen. Aber, das schadete nichts. Nobody wußte auch ohne Spiegel ganz genau, wie er in diesem sackartigen Gewand aussah, und daß er unter demselben seinen Trikotanzug trug, das verriet er natürlich den Weibern nicht.

Er legte sich auf die Seegrasmatratze, nicht um zu schlafen, sondern um nachzudenken. Doch wir wollen seinen Gedanken nicht folgen.

Das Skelett kam nicht wieder, alles war still im Hause. Etwa eine Stunde hatte Nobody gelegen, als er sich wieder erhob. Er war entschlossen, schon jetzt etwas zu spionieren. Er konnte dabei ertappt werden, konnte sich ›verirren‹, wohin er wollte – der in dem Hause fremde Gast hätte eine Entschuldigung gehabt.

Jetzt drang an sein Ohr ein leises Schnarchen, welches er in seiner Zelle nicht gehört hatte. Lauschend blieb er vor mehreren Türen stehen, hörte an der einen das Schnarchen deutlicher, an einer andern gar nichts, hinter einer dritten Tür schien sich eine Schwester sehr unruhig auf ihrem Lager herumzuwälzen.

Auch untersuchte Nobody an zwei Türen, hinter denen er nach den tiefen Atemzügen Festschlafende vermuten durfte, ob sie von außen verschlossen seien. Es war nicht der Fall, die Schlüssel waren nicht umgedreht, und so mußte man also annehmen, daß die Schwestern innerhalb der Klostermauern die größte Bewegungsfreiheit genossen.

Nobody hatte das Ende des Korridors erreicht, von wo eine Treppe hinabführte, welche durch keine Tür abgeschlossen war, wie überhaupt große Scheidetüren hier sehr selten waren. Ohne Zögern stieg er hinab. Er hatte ein bestimmtes Ziel im Auge, und da dieses Gebäude durchaus nicht winklig war, sondern mit den Plänen aller alten Klöster übereinstimmte, und da er wußte, daß er sich in der ersten Etage befand, so ward es ihm nicht schwer, dieses sein Ziel ohne langes Suchen zu erreichen.

Es war im Keller, in Wirklichkeit allerdings noch immer hoch über dem Meeresspiegel. Im Boden eines Gewölbes war eine große Eisenplatte eingelassen, an welcher ein Ring befestigt war.

Dies war die Falltür, welche Nobody bei nächtlicher Weile schon mehrmals gelüftet hatte, aber nicht von hier oben aus, sondern von untenher, denn hier war der Ausgang, der aus der Höhle führenden Treppe, von welcher wir jenen Matrosen schon haben erzählen hören.

Nobody lauschte, setzte das Licht hin und packte mit beiden Händen den Eisenring, und es bedurfte der ganzen Anstrengung des über außergewöhnliche Körperkräfte verfügenden Mannes, um die dicke Eisenplatte, die sich in Angeln drehte, aufzuklappen.

Als er steinerne Stufen sah, war er befriedigt, ließ die Falltür geräuschlos wieder hinab, und er hatte sich auch nur von etwas Besonderem überzeugen wollen – nämlich daß er die Angeln von unten her nicht umsonst mehrmals mit Öl geschmiert hatte.

Ohne sich weiter aufzuhalten, trat er den Rückweg an, nahm mit Absicht einen andern Weg als zuvor, der ihn durch andre Korridore führte. Das einst sehr stark bevölkert gewesene Kloster hatte äußerst zahlreiche Zellen, doch fehlten hier an den Türen die Schlüssel, und der lauschende Detektiv glaubte annehmen zu dürfen, daß sie unbewohnt seien.

Da, als er mit dem brennenden Lichte an einer alleinliegenden Tür vorüberstrich, ertönte plötzlich gegen diese von innen ein Klopfen, gleichzeitig ließ sich eine weibliche Stimme im jammerndsten Tone vernehmen:

»Wenn ihr Menschen seid, die noch ein Herz haben, so laßt mich doch wieder heraus, ich will's euch ja bei allem, was mir heilig ist, zuschwören, nichts von dem zu verraten, was ich hier zu sehen bekommen habe!«

Nobody hatte Johannas Stimme noch nicht gehört, aber er wußte, daß es keine andre sein könne.

Was sollte er tun? Johanna wurde hier gegen ihren Willen festgehalten, sie war eingeschlossen, der Schlüssel steckte nicht in der Tür. Auch diese besaß ein Fensterchen, der Lichtschein war in die Zelle gedrungen, war von der Schlaflosen bemerkt worden, sie flehte ihren vermeintlichen Gefangenwärter um Erbarmen an.

Nobody hielt es für das Beste, ihr nicht einmal ein tröstendes Wort zuzuflüstern. Helfen konnte er ihr im Augenblick nicht, und wenn er jetzt von irgend einer Bewohnerin des Klosters an dieser Tür gesehen wurde, so war jedenfalls alles verloren.

Er huschte also schnell vorüber. Mochte die Unglückliche glauben, sie habe abermals umsonst gefleht. Die Hauptsache war ihm, jetzt bestimmt zu wissen, daß Johanna sich hier befand und nicht zu denen gehörte, welche, nachdem sie einmal hinter die Mauern der Arche Noah gelockt worden waren, freiwillig hier verweilten.

Ohne eine Begegnung zu haben und ohne noch etwas zu vernehmen, erreichte Nobody seine Zelle wieder, und nur um sich nicht inkonsequent zu werden, falls doch jemand an seiner Tür klinken sollte, schloß er diese wieder hinter sich zu.

Im Finstern konnte er seinen Gedanken nachhängen. Was konnte das sein, was Johanna hier gesehen haben wollte? Es mußte doch etwas Entsetzliches sein, daß sie schwören wollte, nichts davon zu verraten.

Nun, Nobody gedachte es schon morgen mit eignen Augen zu schauen, und mit diesem Gedanken schlief er ein.

 

Ein derbes Klopfen ertönte an seiner Tür.

Es kam für Nobody nicht unvermutet, denn schon das leichte Geräusch, verursacht durch den Versuch, das Schloß aufzuklinken, hatte genügt, den Schläfer zu wecken, so gesund sein Schlaf auch gewesen war, und er sah, daß durch das vergitterte Fensterchen bereits der helle Morgen hereindrang.

Mit Absicht ließ er das Klopfen sich mehrmals wiederholen, ehe er eine Antwort gab.

»Wer ist da?«

»Schwester Eva! Ich bringe dir Waschwasser,« lautete die Antwort, und Nobody sah an dem Fensterchen der Tür ein blasses Gesicht.

Er stand schnell auf und öffnete, sich aber noch schlaftrunken stellend. Es war keine andre als die grüne Eva, welche dem neuen Gaste eine Schüssel mit Wasser, Seife und Handtuch brachte, alles so primitiv wie möglich, und als Waschtisch mußte der Stuhl dienen.

Die ehemalige Kokotte sah noch leidender aus als vor einigen Tagen, da Nobody sie auf der Straße erblickt hatte, als sie, aber auch schon in der Nonnenkutte, eine Freundin besuchte, um diese mit sich hinter die Mauern der Arche Noah zu nehmen. Die tiefliegenden, unruhig flackernden Augen waren von dunklen Ringen umgeben, das Waschbecken zitterte in ihren Händen, an der ganzen Gestalt war etwas ungemein Nervöses.

Die treibt's höchstens noch acht Tage, dann hat ihr Lebenslämpchen sich selbst aufgezehrt, dachte Nobody.

»Gelobt sei Jesus Christus, unser Heiland, daß er uns diesen neuen Tag geschenkt!« sagte die grüne Eva, als sie das Waschbecken auf den Stuhl setzte, wobei sie einen tüchtigen Schwapp Wasser an den Boden goß, so sehr zitterten ihre Hände.

»Amen,« antwortete Nobody auf diese klösterliche Begrüßung wohl ganz richtig, und dann, als sich die Nonne aufgerichtet hatte und die neue Schwester fragend anblickte, fuhr er fort: »Ich danke dir für deine Aufmerksamkeit. Nicht wahr, auch die Schwestern reden sich untereinander mit du an?«

»Selbstverständlich, und sind wir überhaupt vor Gott alle gleich, so erst recht in diesem Hause, in welchem die Demut wohnt.«

»Du nanntest dich Schwester Eva. Weißt du, wer ich bin?«

»Die Lady Isabel Roger, aber wenn du unsere Schwester werden ...«

»O, nicht das – ich meinte nur, ob schon die andern Schwestern erfahren haben, daß ich heute nacht gekommen bin.«

»Ja, die Mutter, wie wir die Priorin nennen, bereitete uns heute früh die freudige Überraschung. Willst du dich nun erst waschen?«

»Sogleich. Gestatte mir nur erst noch einige Fragen, wenn du mir dieselben beantworten darfst!«

»Bitte, frage! Hier gibt es keine Heimlichkeiten.«

»Es ist nur wegen der Hausordnung ...«

»Hier gibt es auch keine Hausordnung, jede Bewohnerin der Arche Noah ist vollkommen frei und unabhängig,« unterbrach ihn die Schwester.

Schon gestern abend hatte ihm die Mutter dasselbe gesagt, und es kam Nobody vor, als würde hierauf eine ängstliche Betonung gelegt. Dem aber widersprach Johannas Gefangenhaltung.

»Es scheint aber doch immer an einer Schwester die Reihe zu sein, der andern das Waschwasser zu bringen?«

»O nein, so etwas gibt es hier nicht. Alles geschieht freiwillig in Demut. Wir waschen uns gemeinschaftlich in einer Badeeinrichtung. In dieser aber konntest du doch nicht gut den dir noch fremden Schwestern vorgestellt werden, waschen mußtest du dich aber, eine mußte dir das Wasser bringen, und da erbot ich mich dazu.«

»Dann danke ich dir nochmals für diese deine Liebenswürdigkeit.«

»Gar keine Ursache dazu. Wir haben keine Dienstboten, und des Lebens Notwendigkeiten müssen doch erledigt werden, und so tun wir selbst alles in christlicher Nächstenliebe, unterziehen uns jeder Arbeit, ohne dazu erst aufgefordert zu werden.«

»Das ist allerdings sehr schön, und ich werde euch nachzueifern versuchen, daß ihr euch über mich nicht zu beklagen habt.«

»Wenn erst der Geist der Liebe über dich gekommen ist, so wirst du dies alles von ganz allein tun,« entgegnete die grüne Eva, und Nobody glaubte bei diesen Worten einen ganz besondern Ausdruck in ihren Augen zu lesen.

Doch er hatte erst noch andre Fragen an sie zu richten.

»Wann werde ich den Schwestern vorgestellt?«

»In einer Viertelstunde, wenn wir frühstücken.«

»Welch Zeit ist es jetzt eigentlich?«

»Ich klopfte um sechs Uhr an deine Tür.«

»Da fällt mir ein, daß ich doch noch etwas in der Welt zu erledigen habe, ehe ich sie für immer verlasse. Ich kann dann doch noch einmal hinausgehen?«

Ganz unverkennbar war, wie jetzt die Kokotte von einem ängstlichen Gedanken befallen wurde, oder wie unangenehm es ihr doch war, daß die Fremde jetzt noch diesen Wunsch äußerte.

»Gewiß,« bestätigte sie trotzdem, »das kannst du. Ich muß dir immer wiederholen, daß hier jede Schwester ganz frei ist und tun und lassen kann, was sie will. Aber du wirst doch nach dem Frühstück an dem gemeinsamen Gottesdienste teilnehmen? Er währt nur ganz kurze Zeit.«

Selbstverständlich erklärte sich Lady Isabel dazu bereit, was die grüne Eva wieder sehr zu befriedigen schien, und nachdem diese noch gesagt, daß jene dann zum Frühstück abgeholt würde, entfernte sie sich.

Nobody wusch sich, wobei er nur die weiten Kuttenärmel etwas zurückschlug. Daß er nicht gleich heute genötigt war, an der gemeinsamen Waschung teilzunehmen, aus der vielleicht ein allgemeines, gründliches Baden wurde, das war ihm sehr angenehm.

Im übrigen schien es ja hier höchst ehrbar und einträchtig herzugehen, alles in geschwisterlicher Nächstenliebe. Aber ... Nobody hatte schon genug andres zu hören bekommen oder herausgehört, er konnte kein rechtes Vertrauen zu dieser ›christlichen Nächstenliebe‹ fassen.

Wiederum war es die grüne Eva, welche ihn dann abholte. Sie führte ihn in das ehemalige Refektorium, welches auch zum gemeinschaftlichen Speisesaal der Klosterbewohnerinnen geworden war.

An einer langen, ungedeckten Tafel saßen die Schwestern, deren Nobody achtundzwanzig zählte, und diese Zahl stimmte, so viel waren bisher hinter diesen Mauern verschwunden, und der nicht zum ersten Male in Monte Carlo weilende Weltbummler sah lauter bekannte Gesichter, lauter Kokotten, und sie alle zeigten denselben, schon oft erwähnten krankhaft erregten Ausdruck.

Aber eine Person vermißte er doch: Johanna war nicht unter ihnen.

Die Vorstellung war eine einseitige und wurde von der ›Mutter‹ übernommen.

»Lady Isabel Roger, welche als unsere Schwester aufgenommen zu werden wünscht,« sagte sie, und damit war die Sache erledigt; die neue Schwester bekam einen Platz auf der Bank zwischen der Mutter und dem Skelett angewiesen.

Es ging ganz so zu, wie es in solch einer frommen Gesellschaft zugehen muß. Es wurde gebetet und heilige Lieder gesungen, und in den Zwischenpausen aß man Mehlsuppe, welche schon aufgetragen gewesen war, als Nobody eintrat.

Der Appetit der achtundzwanzig frommen Schwestern nach der schmalzlosen Mehlsuppe war ein sehr geringer, und schon nach den ersten zehn Minuten hatte der in aller Heimlichkeit scharf beobachtende Detektiv eine Ansicht ganz bestimmt gefaßt, ohne eigentlich einen sichtbaren Grund dafür zu haben:

»Dieses Frühstück mit Mehlsuppe findet sonst niemals statt, nur heute einmal, mir zu Ehren, ist gar nicht nach dem Geschmack der Damen, die können gar nicht erwarten, bis die Tafel wieder aufgehoben wird.«

Wie gesagt, es war dies aus gar nichts zu erkennen – aber Nobody hatte so etwas eben in seinem Gefühl, darin irrte er sich nie.

Übrigens währte das Frühstück nur eine Viertelstunde. Zuerst war das Skelett aufgestanden und hinausgegangen, kam aber schon nach zwei Minuten wieder zurück, und ihr Erscheinen war das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch.

»Jetzt begeben wir uns zu dem eigentlichen Morgengottesdienst, welcher in der Kapelle stattfindet,« sagte die Fonserra zu der neuen Schwester.

Diese ward von der Priorin und dem Skelett in die Mitte genommen und unter einem gemeinsamen Gesange marschierte alles hinaus.

Nobody achtete vor allen Dingen auf den Weg. Der Zug kam auch an jenem Gewölbe vorüber, wo in den Boden die Falltür eingelassen war, und gleich darauf zog der singende Nonnenzug in einen weiten, kreisrunden Saal ein, an dessen Wänden nebeneinander lauter kleine Türen mit vergitterten Fensterchen angebracht waren, und in der Mitte erhob sich ein aus dem Felsen stehengelassener, altarähnlicher Stein. Nobody hatte diesen Raum noch nicht gesehen, auch nicht heute nacht, aber er hatte schon von ihm erzählen hören.

Das war der Saal im Keller, dem die Fonserra und ihre beiden Begleiterinnen damals bei Besichtigung der Arche Noah ihre größte Aufmerksamkeit gewidmet hatten – das war der sogenannte ›Disziplin-Stuhl‹, auf dem sich die Ursulinerinnen ehemals freiwillig geißeln ließen, was der Mexikanerin eine so seltsame Bemerkung entrissen hatte.

Noch bewegte sich der singende Zug rund um den Saal, als Nobody an der jenseitigen Wand, wohin die Nonnen noch gar nicht gekommen waren, an einem der vergitterten Fensterchen ein Gesicht entdeckte – ein Gesicht, welches er sehr gut kannte ...

Seinen Gedanken wurde vorläufig ein Ende gemacht. Der Gesang war verstummt, die ersten Nonnen öffneten schon die Türen, eine nach der andern verschwand in einer Zelle, und auch vor der vermeintlichen Lady Isabel wurde von der Orranda, aber außerhalb der Reihe, eine Zellentür aufgeklinkt.

»Das hier ist deine Zelle, in welcher du unserm Religionsdienste beiwohnen wirst,« sagte sie, und obgleich sich Nobody gar nicht sträubte, wurde er mit etwas Gewalt in das Innere gedrückt, die Tür fiel hinter ihm wieder ins Schloß.

Obgleich in dem kleinen Raume ein Halbdunkel herrschte, konnten die scharfen Augen des Detektivs sofort alles unterscheiden, und sein Staunen war nicht gering, denn das hatte er wirklich nicht erwartet.

Hier war nichts von der bisherigen Einfachheit zu bemerken. Es war ein kleines, kosiges Boudoir, alles mit dicken, weichen Polstern und Kissen belegt, nicht nur der breite Diwan, welcher die Hinterwand einnahm, auch die andern Wände waren gepolstert. Man wurde lebhaft, besonders durch die Enge, an das erstklassige Coupé eines Schlafwagens erinnert.

Eine weitere Musterung unterließ Nobody vorläufig. Er blickte zunächst durch das Fensterchen, dabei nach einer Klinke suchend, fand eine solche, probierte sie, und er wunderte sich eigentlich, daß die Tür seinem vorsichtigen Drucke gehorchte.

Dann war es etwas andres, worüber er sich noch mehr wunderte. Seine Zelle befand sich auf der Seite, auf welcher in der Wand die nach dem Meere hinausführenden Lichtfenster angebracht waren, durch dieselben drangen die Strahlen der noch niedrig stehenden Morgensonne, sie fielen gerade in einige Gitteröffnungen der gegenüberliegenden Türen, und so konnte Nobody deutlich sehen, daß alle diese andern Zellen ganz genau so behaglich gepolstert waren wie seine.

Woher hatte die Mexikanerin diese Polstereinrichtung bezogen, wie dieselbe in die Arche Noah hereinbekommen? In Monaco-Monte Carlo glaubte man doch genau zu wissen, was sie alles mit hereingenommen hatte, aber von solchen Polstern, welche doch einige große Kisten füllen mußten, war nichts bekannt.

Gleichgültig! Sie hatten eben verstanden, diese Polsterungen unbemerkt hereinzuschmuggeln. Und zu ihrer Anbringung war kein Tapezierer nötig gewesen.

Sämtliche Nonnen waren in den Zellen verschwunden, in jede stets eine. Nur die Orranda war draußen geblieben, ging von Tür zu Tür und sprach mit den sich an den Fenstern zeigenden Köpfen. Nobody hatte sich die Zellentür genau gemerkt, hinter welcher er das blasse, ängstliche Gesicht Johannas gesehen hatte, aber gerade diese blieb unsichtbar. Höchstens glaubte er, weil in ihre Zelle ein Sonnenstrahl fiel, ihre graugekleidete Gestalt hinten auf dem Diwan liegen zu sehen.

Jetzt kam das Skelett auch zu ihm, und Nobody konnte einmal recht deutlich bemerken, wie dieses abschreckend häßlichen Weibes eines Auge ihm forschend ins Gesicht blickte, während das andre beobachtend nach Johannas Zelle schielte.

»Nun, wie gefällt dir diese Betzelle?« begann sie ohne weiteres mit so recht höhnischem Grinsen, und auffallend war es, daß sie dies, wenn sie etwas im Hinterhalte hatte, gar nicht zu verbergen suchte.

Es war fast, als ob sie plötzlich mit Absicht eine Maske fallen lasse.

»Ich wundre mich sehr, daß diese Betzelle so luxuriös eingerichtet ist.«

»Du wirst dich bald noch über mehr wundern.«

»Über was denn?« fragte die vorgebliche Engländerin, und wenn sie dabei überrascht tat, so geschah dies mit guter Absicht.

»Über das, was du hier zu sehen bekommen wirst.«

»Ich denke, ihr wollt hier eine Andacht abhalten?«

»Ja, aber es ist ein ganz eigentümlicher Religionskultus, den wir ausüben.«

»Ich hoffe doch, es ist ein christlicher!« sagte die Lady Isabel mit großen Augen.

»Und wenn dies nun nicht der Fall wäre?« fragte das Skelett lauernd zurück. »Unter solchen Umständen würde ich dieses Haus sofort wieder verlassen.«

Nobody mußte immer die Maske der energischen, selbständigen Engländerin wahren, die wohl auf jedes Abenteuer einging, aber dabei immer frei bleiben wollte.

Obgleich er nun bei seinen Worten gar keine verdächtige Bewegung gemacht hatte, wurde doch draußen plötzlich ein Riegel vorgeschoben, wie er wenigstens hören konnte, und jetzt war auch sein Griff nötig, um sich von einer Freiheitsberaubung zu überzeugen.

»Wie? Sie wagen es, mich einzuschließen?«

»Nur in deinem eignen Interesse, daß du uns nicht eher verläßt, als bis du an dir selber erfahren hast, warum es von uns kein Fortkommen gibt, oder warum doch jeder, der einmal bei uns gewesen ist, wieder freiwillig zu uns zurückkommt, wie von einem Magnet angezogen. Und du willst wissen, was das für eine Religion ist, deren Kultus wir hier betreiben? Jede Religion hat den Zweck, seligzumachen, und die unsere ist in Wirklichkeit die alleinseligmachende. Paß auf, gleich geht der Tanz los, und wenn du in deiner Zelle mittanzt, dann lasse ich dich wieder heraus, damit du draußen weitertanzen kannst!«

Nach diesen zum Teil sehr rätselhaften Worten ging das alte Weib nach der Mitte des Saales, stieß ein schrilles Geschrei aus, das man aber eher mit einem gellenden Pfeifen vergleichen konnte, und wirklich war auch eine Melodie herauszuhören, streckte beide Arme aus und begann sich plötzlich schnell wie ein Kreisel um sich selbst zu drehen.

Was nun Nobody weiter beobachtete, das läßt sich in allen Einzelheiten schwer beschreiben, und zuletzt hörte auch die Beobachtung ganz auf, denn nach und nach entstand ein wahres Chaos von menschlichen Figuren, die aber gar keine Menschen mehr waren.

Das Skelett hatte sich unter solch gräßlichem Pfeifen oder Schreien noch nicht lange im Kreise gedreht, als sich eine der Zellentüren öffnete, und in der herausschlüpfenden, zierlichen Gestalt erkannte Nobody das Nixchen.

Auch sie streckte beide Arme aus, auch sie begann sich schnell im Kreise zu drehen, immer schneller und schneller auf derselben Stelle, bis diese blitzschnelle Umdrehung unmöglich auf natürliche Weise geschehen konnte, d. h., es mußte ein krankhafter Zustand sein, wie er z. B. auch beim Veitstanz vorkommt.

Ein dritter menschlicher Kreisel gesellte sich zu den beiden, dann ein vierter, ein fünfter – die neuen kamen schon sich drehend aus der Zelle heraus, andre tanzten bereits in der Zelle und konnten kaum noch die Tür öffnen, bis schließlich der ganze Saal von solchen wahnsinnigen Kreiseln angefüllt war, welche sich aber nicht mehr nur auf der Stelle drehten, sondern sich auch durcheinanderzubewegen begannen, alle jenes gellende Schreien ausstoßend, zu welchem das Skelett den Takt heulte.

Was lag hier vor? Etwas, von dem es besser ist, wenn man es gar nicht näher untersucht. Einige Andeutungen müssen aber doch gemacht werden.

Es ist ein krankhafter Zustand, ein Krampf, und Krampf steckt an.

Wenn in einem überfüllten Theater oder noch mehr in einer Kirche eine Person in Krämpfe fällt, so werden stets noch andre davon befallen, besonders Frauen. Wer das zu seinem Glücke noch nicht beobachtet hat, dem sei ein andres Beispiel gegeben, daß der Krampf durch bloßen Anblick ansteckend wirkt: Das Gähnen ist nichts weiter als ein Krampf der Atmungswerkzeuge und der Kinnladen, und es gibt zahllose Menschen, welche gähnen müssen, wenn sie einen andern Menschen gähnen sehen, sie können es sich auch mit aller Energie nicht verhalten.

Das fürchterlichste Beispiel aber, wie der Krampf ansteckend wirken kann, gab ungefähr um das Jahr 1840 in Amerika die sogenannte Shakerseuche.

Die Shaker, auf deutsch ›Zitterer‹, bilden eine besondere Religionssekte. Bei ihnen fährt der heilige Geist in die Glieder. Die Shakerpriester verstehen zu predigen, erst malen sie der Gemeinde die Schrecken der Hölle aus, dann schildern sie mit glühenden Farben die Glückseligkeiten des Paradieses. Die Zuhörer erhitzen sich immer mehr, erst wimmern sie, daraus wird ein Lachen, plötzlich fängt einer vor Freude an zu tanzen, alle tanzen mit, daraus wird ein Hüpfen, sie springen meterhoch, drehen sich mit ausgestreckten Armen wirbelnd im Kreise, bis sich zuletzt alles in konvulsivischen Zuckungen am Boden wälzt.

Es genügt aber noch nicht, von der Ansteckung des Krampfes zu sprechen. Hierbei treten nämlich auch die seltsamsten physikalischen Erscheinungen auf, mit denen sich die Gelehrten einmal ernstlich beschäftigen sollten. So ist es eine Tatsache, daß sich bei den im Kreise Drehenden die längsten Kopfhaare, anstatt daß sie eine horizontale Richtung einnehmen, senkrecht aufrichten, oder aber, daß sie wie Schlangen peitschen und knisternde Funken sprühen. Ganz offenbar handelt es sich also hierbei um eine durch heftige Muskelbewegungen erzeugte Elektrizität, und zwar um galvanische.

Um das Jahr 1840 nun trat dieses ›Zittern‹ einmal in ganz Nordamerika epidemisch auf. Die Shaker hatten gerade um diese Zeit sehr viele Missionare ausgeschickt, und überall, wo sie im freien Felde predigten, fing das Hüpfen, Drehen und Krampfwälzen an: ganze Städte wurden davon ergriffen, jeder mußte mitmachen, wenn er auch gar nicht wollte, und das ›Zittern‹ stellte sich später immer wieder ein. Die Shaker hielten dies für einen Beweis ihrer göttlichen Mission. Die aufgeklärten Ungläubigen spotteten darüber und sprachen von Einbildung, Nachäffung und Hysterie – und wenn sie einmal hingingen, so mußten sie selbst mit hüpfen und sich drehen, wie sie sich auch dagegen sträubten. Die Regierung ließ nichts unversucht. Die sämtlichen Distrikte, in denen der Veitstanz – denn nichts weiter ist es – epidemisch ausgebrochen war, wurden abgesperrt. Allein das hatte höchstens den Erfolg, daß die Krankheit auf ihren Herd beschränkt blieb, behoben wurde sie dadurch nicht.

Da kam man auf den Einfall, in die verseuchten Distrikte besonders nervenstarke Männer zu schicken, welche die Feuerprobe schon einmal ausgehalten hatten, diese mußten enggedrängt die Versammlungen der Shaker umstehen, und wenn der Unfug losbrechen wollte, mischten sie sich mit Hohn und Spott unter die Tanzenden – sie sollten sich doch nicht lächerlich machen, das wäre doch nur alles Schwindel – und wahrhaftig, ihre starken Nerven paralysierten den schädlichen Einfluß auf die Schwachen! – Das ist wiederum so etwas, wovon sich unsre Schulweisheit noch nichts träumen läßt. –

Hier nun in der Arche Noah lag wieder eine andre Art von künstlich erzeugtem und ansteckend wirkendem Veitstanz vor, und der weitgereiste Nobody, der in manche Verhältnisse Einblick genommen hatte, welche andern Menschen sonst verschlossen bleiben, wußte auch gleich, welchen Kultus die Mexikanerin hier eingeführt hatte, oder vielmehr, er hörte es, hörte es an der eintönigen und doch durch Mark und Bein gehenden Melodie, welche pfeifend oder schreiend den schrecklichen Tanz begleitete.

In ganz Mexiko ist eine Sekte von religiösen Schwärmern verbreitet. In den verschiedenen Gegenden werden sie Duskis oder Botas oder Kondas genannt, im allgemeinen aber werden sie als ›Schlangenanbeter‹ bezeichnet. Der rohe Kultus soll aus Afrika stammen, von Negersklaven eingeführt worden sein, und auch in Mexiko hängen ihm noch heute meistenteils Neger und Mischlinge von diesen an, Mulatten, Sambos usw., obschon auch die stolzen Kreolen in dieser Sache gern mit den sonst maßlos verachteten Farbigen gemeinschaftliche Sache machen, eben weil die damit verbundenen Orgien den heißblütigen Menschen zusagen.

Der durch Mexiko reisende Fremde sieht häufig vor den Hütten der Eingebornen kleine, steinerne Näpfe stehen, mit Wasser und sogar mit Milch gefüllt; er freut sich, daß die Leute so für die Katzen und Hunde sorgen, wundert sich aber, wenn er sieht, daß diese durstigen Tiere von den Trinknäpfen weggejagt werden, und dann kann er wohl einmal mit Entsetzen beobachten, wie aus diesen Näpfen Schlangen saufen, sogar giftige, ohne daß sie von den Eingebornen dabei behindert oder gar getötet werden. Die Bewohner solcher Hütten bekennen sich eben offen als Mitglieder jener Sekte, die daher gar keine geheime genannt werden kann, und das Gesetz steht denn auch dem obskuren Treiben dieser Schlangenanbeter ganz machtlos gegenüber.

Diesen heidnischen Kultus also hatte die Mexikanerin eingeführt, nur der Orgien wegen. Schlangen, die bei den Duskis selbst eine Hauptrolle spielen, brauchten hier gar nicht dabeizusein, und während man draußen glaubte, in der Arche Noah wurde gebetet, wurden hier die größten Ausschweifungen begangen, für welche ein gesunder Mensch gar kein Verständnis hat, deren Zweck er überhaupt nicht begreift.

Bei den Kokotten von Monte Carlo freilich, die sowieso sämtlich an Hysterie leiden, hatte die Fonserra schnell treue Anhängerinnen gefunden, sie brauchte dieselben nur einmal von der neuen Speise kosten zu lassen. –

Schon als nur einige der tollen Weiber wie die Kreisel in dem Saal herumwirbelten, hatte die Orranda plötzlich ihr Drehen eingestellt und stand gleich ganz fest, ohne daß sich bei ihr ein Zeichen des Schwindels erkennen ließ.

Sie war den Weibern, welche, vom Wahnsinn der Hysterie angesteckt, sich schon in ihrer Zelle zu drehen begannen und daher den Ausgang nicht mehr allein fanden, behilflich, die Tür zu öffnen, bis alle in einem wilden Wirbel durch den Saal kreiselten, mit Ausnahme Johannas und der neuen Schwester, welche ja auch eingeschlossen war.

Dieses Drehen sollte aber erst die Einleitung zu der eigentlichen Orgie sein, bei deren Anblick einem normalen Menschen der Verstand stehen bleiben mußte, weil er sich hier vor einem entsetzlichen Rätsel sah. Das zierliche ›Nixchen‹ war die erste, welche plötzlich mitten im schnellsten Kreiseln zusammenbrach, sie lag mit fliegendem Atem da.

In demselben Augenblick aber stürzte sich die Orranda, welche plötzlich unter ihrer Kutte eine lange Rute hervorgezogen hatte, auf sie, schleifte sie nach dem in der Mitte stehenden Stein, dem ›Disziplinstuhl‹, riß ihr die Kutte vom Rücken, drückte das Mädchen mit der Brust auf den Stein und begann es unbarmherzig zu peitschen. Schon nach wenigen Schlägen sah Nobody Blut fließen.

Und was tat die Gemarterte? Nobody konnte ihr gerade ins Gesicht blicken. Wohl wand sie unter der Faust des Bärenweibes den schlanken Leib auf dem blutigen Steine, wohl heulte sie dabei, aber das schien ein Heulen des Vergnügens zu sein, denn das drückte auch ihr Gesicht aus, so verzerrt dasselbe auch war.

Eine solche Verquickung von wahnsinnigstem Schmerz und seligstem Entzücken hatte Nobody noch nie beobachtet – auch nicht bei den Duskis in Mexiko, wo genau dieselben Szenen stattfinden, erst das Drehen und dann das Auspeitschen der Frauen, wie der Männer mit spitzen Ruten.

Endlich war die Kammerzofe unter den Schlägen ohnmächtig geworden, und jetzt war der Schmerz aus ihrem Gesicht gewichen, es war nur noch von der himmlischsten Seligkeit wie verklärt. Das Skelett hob den blutigen Leib auf die Arme und trug ihn in die Zelle zurück, wo sie sich mit der Ohnmächtigen zu schaffen machte. Doch die Orranda mußte sich beeilen, ihres hauptsächlichsten Amtes zu walten, denn schon war eine andre tanzende Kokotte zusammengebrochen und wartete darauf, mit der Rute ausgepeitscht zu werden – und so ging das fort, auch die Fonserra kam daran, auch sie heulte vor Lust, als die spitzen Ruten ihren Rücken zerfleischten, welcher ebenso wie der aller andern Weiber schon mit kaum verharschten Narben bedeckt gewesen war, und sie alle wanden sich auf dem bluttriefenden Steine und schrien vor Schmerz und kreischten vor Lust und ...

Doch genug, genug!! Was hier vorlag, daß sich diese Weiber freiwillig auspeitschen ließen und dabei in Seligkeit schwelgten, das läßt sich für den nicht erklären, der von solchen menschlichen Verirrungen gar nichts weiß.

Der berühmte Philosoph Rousseau hat in seinen ›Bekenntnissen‹ diesem Phänomen des menschlichen Charakters ein besonderes Kapitel gewidmet, auf dieses sei hier hingewiesen.

Wir brauchen überhaupt gar nicht so weit zu gehen, um in der menschlichen Gesellschaft genau dasselbe zu finden. Man glaube doch nicht, wenn sich Mönche und Nonnen und andre ›Heilige‹ mit Geißeln den Rücken zerfleischen lassen, daß sie dies tun, um ein gottwohlgefälliges Werk der Buße und Frömmigkeit zu üben. Wohl mögen sie dies selbst glauben, aber die Haupttriebfeder dazu ist doch immer die allergröbste, an Wahnsinn grenzende Sinnlichkeit – ist die Wollust. Der Isisklub in Paris, dessen Mitglieder den höchsten Gesellschaftskreisen angehören – ist genau dasselbe.

Es wurde schon einmal gesagt: wenn der Bogen zu straff gespannt wird, dann knackt er. Das gilt auch in bezug auf Sinnlichkeit und Wollust.

Immer toller und immer toller wurde inzwischen dieser Hexensabbat der ›heiligen Schwestern‹, an denen der Teufel seine Freude hatte.

Die Ohnmächtigen kamen wieder zu sich, von neuem begannen sie sich im wilden Tanze zu drehen – und von neuem stürzten sie hin, um von neuem ihre noch blutigen Leiber peitschen zu lassen. Dabei war ihr Benehmen ganz verschieden, nicht eine verhielt sich wie die andre. Nicht jede begann sich erst wieder zu drehen, sie wollte gleich wieder gepeitscht werden, und war die Orranda gerade beschäftigt, so erwies sie diesen ›Liebesdienst‹ erst einer andern, um dann erst hinterher wie ein lebendiger Kreisel im Saale herumzutaumeln, immer unter jenem gräßlichen Pfeifen und Heulen.

Die Orranda hatte ein ganz besonderes Vergnügen. Sie selbst tanzte nicht und ließ sich auch nicht peitschen – sie peitschte nur andern den Rücken blutig, und was für ein Vergnügen ihr das gewährte, das war in ihren Zügen zu lesen. Es war die wollüstige Grausamkeit in eigener Person.

Auf der andern Seite war es die Fonserra und noch mehr das zierliche, so unschuldig aussehende Nixchen, welche sich nicht genug peitschen lassen konnten, und von den Kokotten war die grüne Eva diejenige, welche es jenen an fanatischem Eifer bald nachtun würde.

Nobody beobachtete an seinem Gitter kaltblütig die wüsten Szenen. Er hatte Interesse dafür, nichts weiter. Er gehörte zu jenen Männern, welche dahin geschickt werden müssen, wo bei Gelegenheit der Veitstanz oder überhaupt der religiöse Wahnsinn epidemisch aufzutreten droht, um den schädlichen Einfluß durch seine kalte Willenskraft zu paralysieren.

Und es genügt schon, daraufhin die Zeitungen zu lesen, um zu erkennen, daß es im Laufe der rollenden Zeit nicht einen einzigen Augenblick gibt, in dem nicht irgendwo an einem Punkte der Erde die Menschheit in fanatischer Schwärmerei fürchterliche Ausschweifungen begeht, ebenso, wie es keinen Augenblick gibt, in welchem sich nicht irgendwo die Erde selbst in vulkanischer Aufregung befindet.

Ja, erkennt man hierin nicht sogar einen gewissen Zusammenhang?

Und es würde wohl wenige Menschen gegeben haben, welche nicht bei diesen fürchterlichen Szenen wenigstens von einer gewaltigen Aufregung befallen worden wären, bis sie – vielleicht selbst mitgetanzt hätten, ohne daß sie es wollten, und dann brauchten sie nur einmal blutig gepeitscht worden zu sein, ohne ihren Willen, um zuletzt Geschmack daran zu finden, und sei es auch nur an der darauffolgenden wohltätigen Ohnmacht.

Spotte niemand über so etwas, halte niemand so etwas für ganz undenkbar! Suche jeder lieber in seiner eignen Erfahrung, ob er nicht etwas Ähnliches finde – und er wird es finden! Man denke nur an die Gewohnheit des Rauchens. So harmlos das auch ist – es ist doch ein großes Rätsel damit verbunden. Die ersten paar Züge machen übel, und es wird doch immer wieder probiert, bis das Rauchen, das Einatmen eines giftigen Gases schließlich zum Genusse geworden ist. Wirklich, auch hierbei ist ein Rätsel, schon in dem unwiderstehlichen Nachahmungstriebe, der den Knaben zum ersten Male zum Rauchen verleitet.

Und was in diesem Falle für ein Nachahmungstrieb vorlag, der wie ein mächtiger Magnet wirkte, das erkannte der beobachtende Nobody an seinem Gegenüber, an Johanna.

Noch hielt sie sich.

Die Kokotten mochten gleich dem ersten Anblicke dieser wüsten Szene, welche die Phantasie des Teufels erdacht hatte, unterlegen sein, denn ihre Nerven waren schon genug zerrüttet. Das auf dem Lande aufgewachsene Mädchen dagegen wußte nichts von so etwas, und hatten ihre Nerven in Monte Carlo, besonders nach den schrecklichen Erlebnissen auf der Teufelsinsel, gelitten, so hatte sie sich doch in der einsamen Ruhe ans dem Felsenhorste des Eremiten wieder erholt. Sie mußte, ihrem Hilfeschrei um Erbarmen heute nacht nach zu urteilen, diesen wüsten, blutigen Greuelszenen schon gestern beigewohnt haben, und sie hatte ihnen getrotzt. Jetzt aber war ihr Nervensystem bereits zu sehr geschwächt, heute würde sie der unheimlichen Anziehungskraft auf die Dauer nicht widerstehen, das konnte Nobody schon jetzt erkennen.

Schrecklich war der Kampf, den das arme Mädchen auszustehen hatte. Sie wollte sich in die entfernteste Ecke zurückziehen, und sie konnte nicht, eine geheimnisvolle, unwiderstehliche Macht drängte sie immer wieder an das Gitterfenster. Sie wollte nicht hinsehen, und sie mußte, und immer nervöser tasteten ihre Finger an den eisernen Stäben, sie klammerte sich daran fest, um das Drehen ihres Körpers noch aufzuhalten.

Nobody beobachtete sie also, und ihr Benehmen änderte seinen ganzen Plan, mit dem er in die Arche Noah gekommen war.

Er hatte genug gesehen, um zu berichten, was für Dinge darin von den ›heiligen Schwestern‹ getrieben wurden! Gab es denn noch gröbere Ausschweifungen? Jede Stunde konnte zudem die französische Polizei in dieses Haus führen, und Nobody kam es immer darauf an, daß, wenn die Polizei erschien, um erst Erkundigungen einzuziehen, sein Bericht in ›Worlds Magazine‹ den ganzen Sachverhalt schon völlig aufdeckte.

Er hätte also die allgemeine Verwirrung und den allgemeinen Sinnestaumel benutzen können, um unbemerkt davonzukommen. Seine Zellentür war zwar verschlossen, aber das hätte ihn nicht zu hindern vermocht, es wäre gar nicht nötig gewesen, daß er unten erst einen bequemen Fluchtweg von der Treppe aus brechen ließ. Dann wäre er schon unbemerkt hinabgekommen, und dann hätte er auch Zeit gehabt, sich auf die lange Schwimmpartie unter Wasser vorzubereiten. –

Jetzt aber änderte sich alles. Das unschuldige Mädchen dort durfte er nicht länger in dieser Gesellschaft von blutdürstigen Hyänen in Menschengestalt lassen. Nur einmal brauchte sie vom Taumel ergriffen zu werden, nur einmal brauchte sie gepeitscht zu werden, bis sie ohnmächtig wurde, und wiederum war ein junges Menschenleben für immer dem Teufel der Wollust verfallen. Er mußte sie mit sich nehmen, jetzt, sofort, mochte es kommen, wie es wollte. Dadurch freilich ward das Unternehmen hundertmal gefährlicher, als er es sich zurechtgelegt hatte. Aber Nobody war nicht der Mann, vor einer hundertfachen Gefahr zurückzubeben, wenn es galt, einen Menschen zu retten, für dessen Sicherheit er gebürgt hatte.

Da – da – jetzt begann es schon!

Johanna hatte das Eisengitter losgelassen und begann sich plötzlich in der Zelle zu drehen, erst ganz langsam, dann immer schneller und schneller.

Aber nicht das erfüllte Nobody mit einer bangen Ahnung, sondern daß er erkennen mußte, wie die Orranda bei vollkommener Besinnung war, und wie sie mit ihren schielenden Augen alles, was um sie her vorging, scharf beobachtete.

Kaum hatte sich nämlich Johanna in ihrer Zelle langsam zu drehen begonnen, als die alte Megäre ihr letztes Opfer zum Durchpeitschen auch schon einem andern dienstbereiten Weibe überließ, nach jener Zelle hinsprang, den Riegel zurückschob, die Tür öffnete und die Drehende unter einem häßlichen Gelächter herauszog. Noch einen Stoß, noch ein letztes Sträuben der Willenskraft – und auch Johanna wirbelte mit ausgestreckten Armen zwischen den andern im schrecklichen Reigen durch den Saal.

Da erscholl auf der andern Seite ein gellender Schrei, alle andern Laute noch übertönend.

Als dis Orranda den Kopf nach jener Richtung wandte, sah man ihr an, daß sie überrascht war, auch die Lady Roger in ihrer Zelle sich drehen zu sehen. Doch nur einen Augenblick der Überraschung, dann war sie mit drei Sätzen auch an jener Zelle und riß die Tür auf.

»Ei, sieh da, das ist ja schnell mit dir gegangen! Das hätte ich gar nicht geglaubt! So, nun tanze auch du, dann sollst auch du die höchste Seligkeit genießen – und ich nicht minder, nämlich wenn ich dir deinen weißen Rücken zerfleische, der sicher noch keine Schwiele aufzuweisen hat, und daß ich die erste bin, die ihn dir blutig schlagen kann, das ist mir ein ganz besonderer Genuß!«

Mit diesen Worten ergriff sie die vermeintliche Lady Roger, die ebenfalls dem magnetischen Einfluß unterlegen war, gab ihr einen Stoß – und Nobody drehte sich mit ausgestreckten Armen weiter im Kreise.

Aber hierbei war ein großer Unterschied. Nobody merkte es sofort. Das Drehen jener Weiber war ein ganz andres, ein ganz unnatürliches. So gewandt er auch in allen Leibesübungen war, ein Ballettmeister war er nicht – und wäre er auch ein solcher gewesen, diese blitzschnelle Geschwindigkeit hätte er doch nicht fertig gebracht. Hierin lag das Übernatürliche oder das Übermenschliche.

Außerdem fühlte Nodody wohl, daß er trotz seiner eisernen Nerven schon in den nächsten Sekunden, wenn er aufhörte, schwindlig sein würde, eben weil er sich nicht in jenem krankhaften, veitstanzähnlichen Zustande befand. Also er mußte so schnell wie möglich handeln, durfte er doch auch nicht durch sein bedeutend langsameres Drehen das Mißtrauen des nüchternen und auf alles achtenden Skeletts erwecken.

Zu seinem Unglück drehte sich Johanna gerade weit im Hintergrunde des Saales, bewegte sich wohl hin und her, wollte sich ihm aber nicht nähern, und die Richtung, welche er dann bei einer Flucht einschlagen mußte, war gerade die entgegengesetzte. Wollte er sich nicht selbst zu allem Weitern unfähig machen, so mußte er schnellstens hin zu ihr, und er tat so. Sich so schnell wie möglich umdrehend, tanzte er durch den ganzen Saal auf Johanna zu und versuchte sie unbemerkt vor sich herzudrängen.

Es sollte nicht gelingen. Die Orranda war aufmerksam geworden oder hatte die neue Schwester schon immer mit einem ihrer Augen beobachtet, es kam ihr etwas auffällig vor, jetzt auch noch dieses Drängen der andern, welche heute zum ersten Male dem Einfluß des Nachahmungstriebes erlegen war – kurz, das Skelett näherte sich den beiden, mit vorgebeugtem Oberleibe, die grünen Augen schillernd, gerade wie ein die Beute beschleichender Panther.

Nobody konnte trotz des Drehens sie noch beobachten, er sah schon alles so gut wie verraten, und er griff zum Äußersten. Plötzlich im Drehen einhaltend, riß er Johanna an sich und auf seine Arme und jagte mit großen Sprüngen durch den Saal, dem offenen Gewölbe zu.

Sein Weg ging an der Orranda vorüber. Ein kräftiger Faustschlag war ihr zugedacht gewesen, der sie zu Boden gestreckt hätte. Aber einmal behinderte Nobody sehr das Mädchen auf dem Arm, dann war er durch das Drehen doch etwas schwindlig geworden, und schließlich war das Skelett dem zugedachten Schlage mit katzenartiger Geschmeidigkeit ausgewichen.

»Haltet sie! Fangt sie! Sie hat sich nur verstellt! Sie will uns verraten!!«

So erklang es gellend. Aber nicht nur das! Das dürre Hünenweib war ihm auch mit einem riesenhaften Satze nachgesprungen, Nobody fühlte sich von hinten an dem fliegenden Gewande gepackt, es riß – und im nächsten Augenblicke ertönte der Schreckensruf durch den Saal:

»Ein Mann!! Haltet ihn, es ist ein Mann!!!«

Da glitt Nobody auch noch in einer Blutlache aus und stürzte, wobei er das Mädchen fallen ließ, und zwar mit Absicht, um es nicht zu beschädigen.

Im Nu war er wieder auf und streckte die Arme schon aus, um auch Johanna wieder aufzunehmen, welche er nun um keinen Preis zurücklassen wollte – aber während dieses Aufspringens sah er auch, was der Ruf des Skeletts angerichtet hatte, und hätte er Zeit dazu gehabt, so würde er sich gewundert haben.

Der alles übertönende Ruf ›ein Mann, es ist ein Mann!‹ mußte alle die tanzenden oder selbst in Ohnmacht liegenden Weiber geradezu plötzlich ernüchtert haben, um sie in eine neue Art von Rausch zu versetzen.

Er sah eine Rotte fanatisierter Weiber auf sich losstürzen, mit glühenden Augen, gierig die Hände nach ihm ausstreckend – mehr freilich sah er nicht, er hatte keine Zeit, nähere Beobachtungen anzustellen – dann hatte er schon wieder das Mädchen auf dem Arme, um die tolle Flucht fortzusetzen.

So schnell war alles gegangen, daß nur die Orranda ihn eingeholt und sogar überholt hatte. Sie wollte sich ihm entgegenwerfen, diesmal aber verfehlte er sein Ziel nicht. Seine Faust fuhr mit einer solchen Vehemenz in den dürren Leib, daß das Skelett gleich einen doppelten Salto mortale schlug und ächzend am Boden liegen blieb.

Nobody hatte das Gewölbe mit der rettenden Falltür erreicht. Zu spät! Die schwere Eisenplatte hätte er nicht mehr rechtzeitig aufheben können, zumal er dazu das Mädchen erst aus dem Arme lassen und dann wieder aufnehmen mußte.

Also vorbei an dem Gewölbe, um durch schnelle Flucht möglichst Zeit und Vorsprung zu gewinnen! Dabei arbeitete unausgesetzt sein Gehirn, aber nicht fieberhaft, sondern ganz kaltblütig überlegend.

Wenn es ihm nun niemals gelang, einen genügenden Vorsprung zu gewinnen, um seinen ursprünglichen Plan auszuführen? Dann wurde ganz einfach während dieser Flucht eins der wahnsinnigen Weiber nach dem andern unschädlich gemacht. Das konnte ihm, mußte ihm gelingen! Aber gegen zwei Dutzend solcher vom Wahnsinn erregter Furien wäre auch Herkules ohnmächtig gewesen.

Die Jagd ging weiter durch die Korridore, die zum Glück im Viereck ohne Tür um das ganze innere Gebäude herumliefen, immer gut durch Fenster erhellt, es ging auch treppauf und treppab, der Plan der verschiedenen Etagen war ganz derselbe, und hinter Nobody her immer die rasenden Weiber, immer sich durch denselben Ruf anspornend:

»Ein Mann, ein Mann!!!«

Es war merkwürdig oder auch nicht, daß keines der Weiber daran dachte, umzukehren und so dem Flüchtling entgegenzukommen. Sie waren eben vollständig blind oder sahen nur daß eine Ziel – dort, den fliehenden Mann!

Gerade mit diesem Entgegenkommen von einigen hatte Nobody aber gerechnet, durch solche wenige wollte er sich wohl schlagen, ohne das Mädchen auf seinem Arme fahren zu lassen, und dabei auch immer eine unschädlich machen. Doch dies geschah eben nicht, alle zugleich blieben ihm immer auf den Fersen sitzen, und er hatte doch eine gewichtige Last zu tragen, und die Weiber rasten eben umher wie die Furien – der Vorsprung wollte sich nicht vergrößern.

Es mußte zu einem Ende kommen! Auch dem stärksten Manne erlahmt endlich die Kraft der Arme und der Füße.

Als Nobody wiederum an jenem Gewölbe vorbeijagte, bog er in dasselbe ein. Hier gab es keinen Ausweg mehr, hier an der Falltür mußte er den Kampf gegen die siebenundzwanzig weiblichen Hyänen ausfechten. Trug er den Sieg davon, so konnte er die Falltür noch öffnen, wenn nicht, dann –

Da plötzlich geschah etwas, von dem Nobody glaubte, es sei nur eine Vision. Er fühlte sich plötzlich im Theater, er sah eine Verwandlung.

Mit einem furchtbaren Knall sprang die schwere Eisenplatte empor, aber nicht in den Angeln, sondern ward von diesen losgerissen und gleich bis zur Decke emporgeschleudert – ein dröhnendes Donnern grollte nach, dann ein Krachen und Prasseln wie von stürzenden Steinen und Balken, ein gellendes Schmerzgeheul, der Boden kam in wellenförmige Bewegung – aber Nobody sah nur den Fluchtweg offen, mit gleichen Füßen sprang er, das Mädchen im Arme, in das vor ihm gähnende Loch.


 << zurück weiter >>