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Drittes Kapitel

Das emsige, dumpfe Bienensummen, das ganz vollen Theatern eigen ist, erfüllte das Haus mit seiner sonderbaren Musik. Es war, als wenn die Nervensaiten in all den erwartungsvollen, aufgeregten Menschen hörbar erklängen. Der erste Teil des Programms war vorüber, von manchen ganz versäumt, von den übrigen mit halber Teilnahme, mit lauem Beifall betrachtet. Jetzt aber hatten sich in der Pause sämtliche Plätze gefüllt. Xaver Stielers Auftreten stand unmittelbar bevor, – sein drittletztes Auftreten! Unzählige waren gekommen, um den Wundermann doch noch kennen zu lernen, bevor er für immer entschwand. Unzählige wollten die schon genossene Freude seines Anblicks noch einmal erneuern.

In der Mittelloge vom ersten Rang, der Bühne gerade gegenüber, saß Hanna Rainer neben der schweigsamen Kommerzienrätin Hell und ihrer Tochter, der gesprächigen Liselotte. Hannas Gesicht war ein wenig umwölkt, Spannung oder Aerger hatten leichte Zeichen in ihre Stirn gegraben. Wenn in der Nähe sich eine Logentür öffnete, schaute sie schnell dorthin, um ihre Blicke jedesmal enttäuscht wieder abzuwenden.

Liselotte machte jetzt eine leichte, grüßende Verbeugung nach unten. Dann wandte sie sich mit leisem, raschem Geplauder an Hanna.

»Dein Hans Heiling hat uns eben gegrüßt. Schnell, schnell, grüß' ihn wieder, sonst endet er durch Selbstmord.«

»Laß doch die Scherze, Liselotte.«

»Das ist kein Scherz, Hanna, das ist eine kolossal ernste, tragische Sache. So was von Verschossenheit, wie sie dein Herr Vetter für dich zeigt, ist mir in meiner ganzen, allerdings ja noch kurzen Praxis bis jetzt niemals und nirgends vorgekommen. Ich glaube, daß ich dem nicht widerstehen könnte, wenn es mir passierte. Mach ihm doch ein freundliches Gesicht; ich möchte so gern einmal sehen, wenn seine melancholische Visage sich aufheitert.«

Hanna hatte inzwischen den Gruß auch erwidert, aber ihre Züge waren dabei durch keinen freundlichen Strahl erhellt worden. Und so zeigte der emporblickende Männerkopf auch keinen Abglanz von solch einem Lichte. Liselotte hatte nicht unrecht, wenn sie von einem Hans Heiling sprach. Das gelblich-bleiche Gesicht, in dem die schwarzen Augen unter dicken, beinahe zusammenstoßenden, wie mit einem breiten Kohlestift gemalten Augenbrauen auch in dunkler Kohlenglut brannten, war im Kranze seines dunklen Vollbarts dem des Geisterfürsten in der Oper sehr ähnlich.

Die Wirkung dieses merkwürdigen Kopfes wurde noch dadurch gehoben, daß der Mann sich ganz allein in einer unerleuchteten Dienstloge direkt an der Bühne befand. Ueberall sonst nahe zusammengedrängte, hell beleuchtete Köpfe, hier dies bleiche Gesicht gleich einem Bildnis auf dunklem Hintergrund vor der finsteren Tiefe der Loge, von ihrer weiß-goldenen Barockumfassung eingeschlossen wie vom Rahmen eines Gemäldes. Die schwarzen Augen aber schauten unablässig empor nach dem Platze, wo Hanna saß.

»Ach, der Glückliche!« fing Liselotte wieder an. »So jeden Tag hier im Theater sitzen zu können, diesen himmlischen, himmlischen Xaver Stieler immer wieder sehen zu können –«

»Sag' lieber: sehen zu müssen,« unterbrach Hanna sie. »Das ›Muß‹ macht manches Vergnügen zur Qual. Mein Vetter zählt seine Pflichten als Theaterarzt keineswegs unter die Freuden des Lebens.«

»Dann sag' deinem Vetter Glaritz nur von mir, daß er sehr dumm ist. Ja, ja, du kannst es ihm ruhig bestellen, ich fürchte mich durchaus nicht vor seinen Heiling-Augen und vor diesen fürchterlichen schwarzen Augenbrauen, die, wenn er sich ärgert, zucken wie die Flügel eines Vogels, der fortfliegen will. Aber Hanna,« sie beugte sich ein wenig näher zu der Angesprochenen und sagte mit noch leiserer Stimme: »Süß muß es doch sein, so geliebt zu werden von solch einem interessanten Manne!«

»Hat er dir von seiner Liebe gesprochen?«

»Mir? Nein.«

»Mir auch nicht. Also stehen wir gleich in diesem Punkt. Und ich möchte dir doch raten, weniger über Dinge zu reden, von denen dir niemand etwas gesagt hat.«

»Puh, war das eine Moralpauke, die sich gewaschen hat. Kurz, aber bündig. Du bist heute schlechter Laune, Hanna, du bist nervös. Gut, ich werde mich in Schweigen hüllen, das kann ich nämlich ganz gut. Ach, da sitzt ja der Leutnant Grabert auch. Der ist gewiß gekommen, weil ich es ihm gesagt habe.«

»Du?«

»Jawohl. Ich bin ihm vorgestern begegnet, – er hatte Xaver Stieler noch nicht gesehen, denke dir. Da hab' ich ihm gesagt, er muß ihn unter allen, allen Umständen sehen.«

Das helle, seltene Lächeln kam wieder auf Hannas Gesicht.

»Vielleicht hat auch ein stärkerer Magnet ihn hergezogen.«

»Ich? Ach, das wäre großartig, wenn er sich etwas aus mir machte.«

»Getanzt hat er letzten Winter doch genug mit dir.«

»Er tanzt himmlisch, Hanna. Nur jammerschade, daß er nicht mehr in Uniform ist, entzückend hat er immer ausgesehen. Jetzt ist er bei der Polizei, hat er mir neulich auch erzählt, – aber ganz im Vertrauen.«

»Ich werde nichts verraten.«

»Himmlisch, himmlisch, da kommen die Musiker, nun geht es gleich an. Mutter, paß auf. Zuerst kommt Stieler im grünen Frack und jongliert, ich weiß das alles jetzt schon ganz genau. Todschick sieht er aus in dem Frack, – ach, ich glaube wirklich, daß er ein Graf ist. Gib mir das Opernglas, Mutter, ich muß ihn ganz, ganz, ganz genau sehen.«

»Ja, Kind.«

Liselotte nahm und putzte das Glas mit ihrem Taschentuche, tanzte fast auf ihrem Stuhl umher vor Aufregung und richtete zur Abwechslung auch einmal wieder die Blicke hinunter auf den Kopf des Doktors Glaritz, auf dies bleiche, dunkle Männerbild vor dunklem Hintergrund.

Jetzt aber begann wirklich die Musik. Noch ein gemischtes Geräusch von gerückten Stühlen, eiligen Schritten der ihre Plätze Suchenden, geschlossenen Logentüren, dann die tiefe Stille der Erwartung. Und nun öffnete sich wohl berechnet langsam der in der Mitte geteilte Vorhang von schwerem Plüsch in der Farbe ganz dunkelroter Nelken. Ein Tusch wirbelte vom Orchester empor zur Bühne, und wie der Donner eines lange schon angesammelten Gewitters brach der Beifall aus beim Anblick der schlanken, grünen, vornehmen Gestalt inmitten von allerlei buntem Theaterkram, zu dem sie selbst in ihrer echten Eleganz einen so fesselnden, prickelnden Gegensatz bildete.

Mit einem Lächeln, das ihm schon viele Tausende von Herzen gewonnen hatte, dankte Xaver Stieler, den schlanken, edlen Kopf nur ganz leicht verneigend. Liselotte kniff ihre Mutter in den fleischigen Arm vor Entzücken, und auch Hanna richtete das Glas mit Aufmerksamkeit auf den Beherrscher dieser Bühne, der in seinem kleinen, flitterblinkenden Reich als ein großer Fürst gelten konnte.

Beiläufig, wie zum Scherz, fing er an, zu jonglieren. Seine Zigarre, sein Hut, seine Handschuhe wirbelten in der Luft umher. Orangen, Billardkugeln, Stühle folgten als Wurfgeschosse; dann verschwand er für eine Sekunde hinter der Bühne, kam aber fast im selben Augenblick in verwandelter Gestalt wieder hervor. Er hatte mit unerhörter Schnelligkeit seine vorige Kleidung abgeworfen und stand nun in fleischfarbenem Tricot vor den betroffenen, mit neuem Beifallsjubel ihn begrüßenden Zuschauern. Und sein Anblick war in der Tat ein Genuß. Kein Muskelmonstrum, ein schlanker, schöner Antinouskörper stand vor den bewundernden Augen, von rasch herbeigebrachten Kanonenkugeln und schweren eisernen Gewichten drohend umgeben.

Wieder sein leichtes, liebenswürdiges, vornehmes Lächeln, und er begann das vorherige Spiel mit veränderten Waffen. Aber leicht wie die Billardkugeln und Orangen tanzten die Kanonenkugeln in der Luft herum, scheinbar mit gleich geringer Anstrengung emporgeschleudert.

»Himmlisch, himmlisch, – ist er nicht himmlisch?« flüsterte Liselotte Hanna zu. »Wenn ich ihn doch so photographiert bekommen könnte! Klassisch ist er, geradezu klassisch! Aber dein Heiling ist wirklich verrückt. Statt sich diesen Wundermenschen anzusehen, starrt er immer noch unausgesetzt hierher. Ich hätte wirklich Lust, ihm die Zunge herauszustrecken, – mein Gott!«

Sie hatte fast laut aufgeschrieen, und von vielen Frauenlippen erklang im selben Augenblick ein ähnlicher Schreckenslaut. Er gab Antwort auf einen dumpfen, schweren, krachenden Ton, der von der Bühne hergekommen war, der Ton stürzenden, das Podium beinahe durchschlagenden Eisens. Eine der sonst unfehlbar aufgefangenen Kanonenkugeln war der sie greifenden Hand entglitten und hatte das heitere Spiel der Kraft mit ihrem Donnerlaut gestört.

»Aber das ist ja nicht möglich,« rief Liselotte. »Stieler verfehlt ja doch niemals, niemals, niemals etwas. Ich habe das noch ganz kürzlich in der ›Tribüne‹ gelesen. Das ist ein Hauptgrund für seinen fabelhaften Ruf. Er ist Wetten eingegangen, – über zehntausend Mark, steht in der Zeitung, – daß ihm niemals etwas mißlingen kann, und hat sie glänzend gewonnen. Was ist nur heute los mit ihm? Sieht er nicht ein wenig blaß aus unter der Schminke? Mein Gott, wenn er krank wäre!«

Hanna gab keine Antwort, sie richtete nur das Glas fest und lange auf Stielers Gesicht. Er selbst schien betroffen, verwirrt. Ein Ausdruck wütenden Aergers verzerrte seine Züge für einen Moment und er warf einen Blick auf die gefallene Kugel, als wenn er einen lebenden, heimtückischen Gegner vor sich hätte. Dann aber siegte die gewohnte Schulung. Das Künstler-Lächeln, das bei ihm so viel natürliche Liebenswürdigkeit hatte, kam wieder auf sein Gesicht. Mit einer leichten Hand- und Schulterbewegung, aus der man eine Bitte um Entschuldigung herauslesen konnte, nahm er sein Spiel wieder auf, sprang auf die widerspenstige Kugel zu, packte sie fest gleich einem ungehorsamen Diener und machte sie mit ihren Genossinnen aufs Neue zum Spielzeug seines Willens. Jetzt gelang, was vorher fehlgeschlagen war, und nun donnerte das Beifallsgewitter wieder durch das Haus.

Auch was der Künstler zunächst vorführte, gelang. Als erstklassiger Schulreiter auf einem stolzen Rappen, als japanischer Zauberkünstler, als Turner am Reck erschien er in immer neuer und reizvoller Gestalt. Nur einem ganz aufmerksamen Auge vielleicht war es bemerkbar, daß eine gewisse Schlaffheit seine Bewegungen mehr und mehr lähmte, daß ein müdes, krampfhaftes Verziehen der Lippen sein Gesicht entstellte. Dann kam ein Augenblick, – Stieler hätte jetzt abtreten müssen, um sein Aeußeres wieder zu verwandeln, – in dem er gedankenlos in der Mitte der Bühne stehen blieb und mit weitaufgerissenen Augen vor sich hin starrte. Hanna kam es vor, als wenn er gerade sie mit seinen Blicken suchte; sie wurde blaß vor Ueberraschung und Schrecken. Jetzt aber klang aus den Kulissen auch schon die Stimme des Regisseurs hervor, die mit erstaunter Mahnung »Herr Stieler, Herr Stieler!« auf die Bühne rief. Und nun war es, als wenn Xaver aus einem tiefen Schlaf erwachte. Mit einer Hand über die Stirn streichend, mit seinen erstaunten Blicken von rechts nach links und von links nach rechts einen doppelten Halbkreis über das Publikum hin beschreibend, blieb er noch ein paar Sekunden auf seinem Platz in der Mitte der Bühne stehen. Dann ging er mit müden, schweren, langsamen Schritten in die Kulissen.

Das Publikum war erschrocken, bestürzt. Kein Beifalls- oder Mißfallenszeichen wurde laut, aber das Bienensummen verstärkte sich zum starken, meeresähnlichen Brausen.

»Was kann das nur sein?« rief Liselotte. »Was kann das bedeuten? Ist er krank oder –« In ihrem angstvollen Fragen wandte sie sich seitwärts und rückwärts und erblickte dabei den Grafen Stefan, der vor Kurzem in die Loge getreten war und ganz leise den Platz hinter Hanna eingenommen hatte. »Da sind Sie ja doch noch, Graf Hersberg. Wissen Sie's auch nicht, was mit Xaver Stieler los ist? Nein? Mein Gott, ich vergehe vor Angst um den himmlischen Menschen. Wenn doch Doktor Glaritz nach ihm sehen wollte, der Unglücksmensch aber starrt immer noch hierher. Hurra, die Musik fängt wieder an, es muß ihm besser gehen. Gott sei getrommelt und gepfiffen!«

Wirklich ließ die Musik nach einem unbehaglichen Schweigen ein kurzes Vorspiel ertönen, Theaterdiener in brauner Livree trugen allerlei Musikinstrumente hastig auf die Bühne.

»Ja, ja, jetzt kommen seine musikalischen Virtuosenkünste,« sagte Liselotte. »Das ist großartig, Mutter, paß nur gut auf. Sieh, die blanken Hängedinger sind lauter Schellen, verschieden abgestimmt. Er spielt ein paar famose Stücke darauf. Und hinterher arbeitet er auf dem Xylophon und noch mit anderen Phons, von denen ich die Namen vergessen habe. Gefällt er dir nicht auch ganz riesig? Du mußt mir doch kolossal dankbar sein, daß ich dich heute beredet habe, mitzukommen.«

»Ja, Kind,« gab die Kommerzienrätin mit immer gleichem Phlegma zur Antwort. Während aber ihre Tochter so lebhaft auf sie einsprach, benutzte Hanna die Gelegenheit, um durch einen Blick mit umgewandtem Kopf an den Grafen Hersberg eine Frage zu richten.

Er aber flüsterte, sich weit vorwärts beugend: »Es war mir unmöglich, zu kommen, mit bestem Willen unmöglich. Mein Chef hat mich gar zu lange festgehalten.«

Sie neigte nur ein wenig den Kopf und wandte die Blicke zur Bühne zurück. Xaver Stieler war eben wieder aufgetreten, diesmal in spanischer Tracht: eine Jacke von rotem Samt, Kniehosen von gleichem Stoff, seidene weiße Strümpfe, ein roter seidener Mantel, malerisch um den Oberkörper geschlungen. Er hätte prachtvoll ausgesehen, wenn das verzerrte, krampfhaft verzogene Gesicht, wenn der halbgeöffnete, scheinbar mühsam nach Atem ringende Mund nicht gewesen wären. Die Musik schmetterte den Torero-Marsch aus »Carmen«, den Stieler am Nachmittag auf dem Wege zu seiner Frau gesummt hatte. Mit rascher Schneidigkeit hätte nun der Spanier die Bühne zweimal zu diesen Klängen umkreisen sollen, er aber beschrieb langsam und schwerfällig in der vorgeschriebenen Zeit nur einmal den Kreis, ergriff dann einen Stuhl bei der Lehne, der vor dem schellenbehangenen Gerüst aufgestellt war, und fiel schwer darauf nieder. Die Musik endete, nun sollte sein Spiel beginnen. Und wirklich griff er nach einem kleinen, dumpfen Schweigen, das gleich einer schweren Wolke sich über die gedrängte Menschenmenge legte, nach einigen von den Schellenbändern und begann sie zu schütteln. Aber keine Melodie formte sich. Ein Wirrwarr unharmonischer Töne kam heraus, machte das Publikum erstaunt, unwillig, ärgerlich. Zurufe klangen von der Galerie herab, einzelne standen auf in den Logen, – unter ihnen auch Graf Stefan Hersberg, – von Unruhe getrieben. In seltsamem Gegensatz aber dazu schien Xaver Stieler Freude zu haben an seiner kindisch-wirren Musik. Das verzogene Gesicht verlor seinen krampfhaften Ausdruck, überzog sich mit einem glücklichen, friedvollen Lächeln. Dann ließ er die Hände sinken, daß die häßlichen Töne mit einem letzten leisen Klingen erstarben, lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen. Und in das tiefe Schweigen hinein, das jetzt entstanden war, klang es deutlich geflüstert von seinen Lippen: »Wie schön das ist!« Sein Kopf neigte sich zur Seite, der Oberkörper folgte, wie von einer schweren Last hinübergezogen, verlor das Gleichgewicht, glitt vom Stuhl hinunter und fiel schwer zu Boden.

Ein ungeheurer Aufruhr entstand. Eilig verhüllte der dunkle Vorhang das traurige Bild auf der Bühne, die Zuschauer sprangen jetzt alle von ihren Sitzen empor, fragten, riefen, schrien durcheinander. Graf Stefan war offenbar einer von den tiefst Erschütterten. Aber in ihm weckte der Schrecken die Tatkraft. Er sagte, zu Hanna gewandt: »Ich gehe hinunter, ich muß auf die Bühne. Mir werden sie den Eintritt nicht verweigern.«

»Ja, ja,« rief Hanna. »Gehen Sie rasch und berichten Sie mir gleich morgen, was es war.«

Mit einer leichten, flüchtigen Verbeugung vor den Damen verließ der Graf die Loge. Jetzt begann Liselottes neugieriges Fragen. »Wo will er hin? Auf die Bühne? Mein Gott, wenn ich doch mit könnte! Wenn uns der Graf doch nur gleich erzählen wollte, was eigentlich passiert ist. Aber ich glaube, man wird niemanden auf die Bühne lassen, auch der Graf kommt sicher gleich wieder, solange müssen wir jedenfalls noch warten.«

Hanna war aufgestanden gleich allen übrigen, ihr Gesicht war leichenblaß. Und ihre Stimme klang rauh bei den Worten: »Graf Stefan wird man schon einlassen. Darauf hat keiner näheres Recht als er. Denn Xaver Stieler ist in Wirklichkeit selbst ein Graf Hersberg, – und Graf Stefan ist sein Bruder.«

Während Liselotte mit Rufen des Erstaunens und ununterbrochenen Fragen diese Nachricht begrüßte, während noch einmal dann tiefe Stille das Haus für einen bangen Augenblick umfing, als der Regisseur vor den geschlossenen Vorhang trat und erklärte, daß die Vorstellung abgebrochen werden müßte, weil Herr Stieler plötzlich schwer erkrankt sei, während sich das Theater auf diese Nachricht hin langsam leerte, herrschte droben auf der Bühne noch wildere Bestürzung und Verwirrung als unter den so jäh von heiterem Spiel zu trauriger Wirklichkeit erwachten Zuschauern. Der Direktor, ein kleiner, gelbsüchtiger Mann mit großen Eulenaugen und langer, gebogener Nase, lief hilflos von rechts nach links, von links nach rechts über die Bühne.

»Was kann es bedeuten, was kann ihm fehlen, womit können wir ihm helfen? Ich bin ein ruinierter Mann, wenn er nicht auftreten kann morgen und übermorgen. Zwei bis unters Dach ausverkaufte Häuser. Wenn er, – Gott sei Dank, da sind Sie ja, Herr Doktor. Sehen Sie nach dem Stieler, – Sie müssen ihm helfen, er muß morgen wieder auftreten können.«

Es war Doktor Glaritz, der Theaterarzt, den er so begrüßte. Bei den letzten, aufregenden Vorgängen auf der Szene war auch er aufgestanden und – nicht ohne vorher noch einen letzten Blick nach Hannas Loge hinaufzuwerfen – durch eine kleine Tapetentür, die den direkten Zugang zur Bühne für ihn vermittelte, rasch hinausgegangen. Er schob den auf ihn einredenden Direktor bei Seite. »Lassen Sie mich sehen.«

Zwei von den braungekleideten Theaterdienern waren um Stieler bemüht; sie hatten den zu Boden gestürzten Körper emporgehoben und wieder auf den Stuhl gesetzt; so saß er, von den Dienern gestützt, mit hintenübergesunkenem Kopf und gläsernen, weitoffenen Augen. Einige von den Mitwirkenden, die den ersten Teil der Vorstellung mit ihren Künsten ausgefüllt hatten, standen umher, im bereits wieder angelegten Zivil, all ihres Flitterglanzes entkleidet. Gleich einem Blitze war das Ereignis des Abends eingeschlagen in die bunte, scheinbar so heitere Welt, und mit blassen, verstörten Gesichtern schauten die Tänzerinnen und Akrobaten auf den jäh niedergestreckten Beherrscher ihres Reiches. Einer von den Künstlern vor allem, dem die gebräunte Farbe seines Gesichts eine ferne Tropenheimat anwies, war so betroffen, daß ihm alle Glieder zitterten, die Zähne hörbar aufeinander schlugen. Er war vor dem leblosen Körper so weit als möglich zurückgewichen, hatte sich mit rückwärts greifenden Händen an eine der Kulissen angeklammert und starrte von dort unausgesetzt auf den Körper, der sonst ganz Bewegung und Leben gewesen und nun plötzlich so still und starr geworden war.

Mit raschen Schritten war Glaritz an den Stuhl herangetreten, hatte sich über Stieler gebeugt, war niedergekniet und hatte sein Ohr auf das eilig freigemachte Herz gelegt. Während er noch kniete, war hinter den Kulissen ein leiser Wortwechsel entstanden, und nun eilte der Direktor dorthin, um zu sehen, was es gab.

Drei Personen waren dort eingetreten. Zwei von ihnen, den diensthabenden Polizeikommissar und einen von ihm eingeführten, zufällig auch im Theater anwesenden Gerichtsarzt hatte der am Bühneneingang aufgestellte Diener ohne Schwierigkeiten eintreten lassen, während er einem Dritten, der aufgeregt nach dem Direktor verlangte, den Zutritt verweigern wollte.

Das war Graf Stefan, der nun dem Direktor seine Visitenkarte und eine Legitimation vorwies. »Ich denke, Herr Direktor, Sie werden in die Hersbergschen Familiengeheimnisse genügend eingeweiht sein, um zu wissen, daß Xaver Stieler in Wahrheit Botho Graf Hersberg heißt. Und wenn Sie meine Karte lesen, werden Sie kaum leugnen können, daß ich als Bruder Xaver Stielers mit zur Familie gehöre.«

»Sein Bruder, – mein Gott, gewiß, – ja, ja, vor mir hat er mit seinem Namen kein Geheimnis gemacht, – kommen Sie herein, Herr Graf, – Gott gebe, daß er sich bald erholt.«

Sie betraten die Bühne, wo Totenstille herrschte. Die Schritte der Eintretenden machten das einzige Geräusch. Aber auch das verstummte sofort. Alle standen und schauten regungslos auf des Arztes bleiches, vom schwarzen Bart umrahmtes Gesicht, als könnten sie von ihm ablesen, ob er noch Leben in dem Herzen fand, auf dem sein Kopf horchend ruhte.

»Botho, – Botho!« sagte Graf Stefan leise, während er behutsam zu dem bewußtlosen Körper herantrat. Er war nun auch bleich geworden; sein gewohnter, leichter Ton, der in den Worten zum Direktor noch durchgeklungen war, schien unter einer schweren Last erstickt.

Von einem Fuß auf den anderen tretend, seine Hände krampfhaft ineinander bewegend, als wenn er sie wüsche, zwang sich der Direktor zum Schweigen, solange Glaritz neben dem Körper Xaver Stielers kniete. Jetzt aber war des Arztes Untersuchung offenbar beendet, er stand auf. Auch in ihm arbeitete sichtlich eine starke Bewegung. Er atmete tief auf und stand noch eine Sekunde lang schweigend; luftbedürftig war sein Mund geöffnet, seine weißen Zähne blitzten unter dem schwarzen Barte hervor.

Jetzt hielt sich der Direktor Steinberg nicht länger. »Sprechen Sie doch, reden Sie doch, Herr Doktor. Geht es ihm besser, wird er morgen auftreten können?«

»Der Mann da tritt niemals mehr auf. Xaver Stieler ist tot.«

Eine tiefe Stille legte sich ein paar Augenblicke lang auf die Bühne mit ihrem Flitterkram, wo der Tod jetzt eben eine Gastrolle gab. »Mein Gott, mein Gott,« murmelte Stefan, der als erster wieder zu sprechen begann. »Das alles ist mir, – ich weiß wahrhaftig nicht, – ja, war er denn krank? Hat mein Bruder über Unwohlsein geklagt vor seinem Auftreten?«

»Ihr Bruder?« Glaritz war es, der die Frage tat. Er war plötzlich herumgefahren bei den Worten des Grafen.

»Ja, ja, Herr Doktor, mein Bruder. Sein Inkognito ist bis heute gewahrt geblieben, aber vor dem gestrengen Herrn, der hier heute sein Machtwort gesprochen hat, hilft ja kein Komödienspielen. Sagen Sie mir nur, wie war das alles möglich? Was halten Sie für den Grund von meines Bruders Tod?«

Glaritz hatte sich hoch aufgerichtet, er war jetzt ganz der kühle Mann der Wissenschaft.

»Mir scheint kein Zweifel möglich, daß ein Herzschlag seinem Leben ein Ende gemacht hat.«

Während Stefan sprach, war Doktor Stägemann, der Gerichtsarzt, mit ein paar leisen Schritten zu der Leiche herangetreten. Er war ein Mann mit scharfem, selbstbewußtem Gesicht, aus dem die grauen Augen durch gelblich gefärbte Brillengläser hervorschauten. Mit kaltem, hochmütigem Tone sprach er zu Glaritz:

»Verzeihen Sie, Herr Kollege, wenn ich dem widerspreche. Mir scheint ein Herzschlag sehr zweifelhaft.«

»Warum?«

»Weil verschiedene Symptome mir auf eine Vergiftung hinzudeuten scheinen.«

»Eine Vergiftung?«

»Jawohl, und auf eine von ganz besonderer Art. Ich würde wahrscheinlich urteilen wie Sie, wenn ich nicht ein paar Jahre drüben in Indien gewesen wäre. Dort gibt es ein Pflanzengift, von dem genau die Wirkung ausgeht, wie wir sie hier bei dem Gestorbenen im hellen Bühnenlichte heute bemerken konnten. Ich habe zur Beobachtung der eigenartigen Wirkung dieses Giftes dort Gelegenheit gehabt. Schon bei der Vorstellung ist mir darum einiges aufgefallen, was Ihnen vielleicht entgangen ist, und ich habe das gleich hinterher auch dem Herrn Kommissar Bauer gesagt.«

Zweifelnd bewegte Glaritz den Kopf. »Ich muß an meiner Ueberzeugung festhalten. Die Symptome lassen sich mit einem Schlaganfall sehr wohl vereinigen.«

»Wir wollen darüber jetzt nicht streiten, Herr Kollege. Jedenfalls muß ich den Herrn Polizeikommissar bitten, eine gerichtliche Untersuchung des Falles veranlassen zu wollen.«

»Auch das noch, – auch das noch!« rief der entsetzte Direktor. »Ich bin ein total ruinierter Mann.«

Der Kommissar, ein schwerer, langsamer Mensch mit einem gutmütigen, runden Seehundsgesicht und langem, struppigem Seehundsbart, räusperte sich, um sich den amtlichen Ton zu geben.

»Jawohl, Herr Sanitätsrat, ich werde das Nötige veranlassen. Die Leiche gilt als beschlagnahmt. Hier auf der Bühne und in den Garderoberäumen darf nichts angerührt oder verändert werden. Meine Leute werden die Wache für die Nacht übernehmen. Ist vielleicht noch jemand von seinen Angehörigen zu benachrichtigen?«

»Ich werde telegraphieren, – an unseren alten Herrn,« sagte Graf Stefan.

»Aber sie, – das müßte sie doch auch erfahren –« sagte der Direktor hilflos und unsicher.

»Wer?« fragte der Kommissar.

»Sie, – seine Frau, – die Baratta.«

Bei diesem Namen kam wieder ein Staunen auf das Gesicht von Glaritz, doch tat er keine Frage.

Der Kommissar aber sagte: »So, das ist seine Frau? Ja, können Sie nicht an die telephonieren? Die war doch auch hier in der Stadt.«

»Telephonieren, jawohl,« erwiderte der Direktor und eilte mit unsicheren, stolpernden Schritten hinaus.

Und nun herrschte noch einmal für ein paar Minuten das tiefe, große Schweigen des Todes auf der hell erleuchtet gebliebenen, von allerlei blanken Reflexen durchzuckten Bühne. Regungslos warteten die dort Versammelten auf das Wiederkommen des Direktors, der einer Frau den Tod ihres Mannes verkünden sollte.

Jetzt kam er zurück. Die Schultern hochziehend, hob er die Hände mit ausgespreizten Fingern. »Das war vergeblich. Afra Baratta ist vor eurer Stunde nach Petersburg abgereist.«


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