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Polen

I.
Warschau

In diesem Teil der kapitalistischen Welt gibt es einige sehr arme Leute. Bettler gibt es in Moskau auch. Es würde ein falsches Bild geben, wollte man seine Augen vor der Armut verschließen, die in Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Polen existiert.

Ebenso falsch wäre es, wenn man es unterließe, die Tatsachen gegeneinander abzuwägen. Diese Untersuchung hat es sich zum Ziel gesetzt, ein wahres Bild, und auch ein lückenloses, davon zu geben, wie die Menschen unter dem Kapitalismus an den Grenzen des kommunistischen Rußlands leben.

Im Laufe von zwei Monaten unternommene, sehr gründliche Besuche bei Bauern und Arbeitern haben viel Licht und viel Schatten in der Erinnerung zurückgelassen. Da ist Anna Mlodzinski in der Gorizewska 15 in Warschau. Sie empfing uns mit ihrem fünfjährigen Sohn an der Tür, führte uns in ihr Wohnschlafzimmer und rang schon, bevor wir die zweite Frage aussprachen, die Hände.

Sie hat auch allen Grund dazu. Ihr junger Gatte, der als Kuchenbäcker arbeitet, verdient im Monat hundert Zloty, von denen er seine Frau, sein Kind und seine Schwiegermutter erhalten muß. Ein Viertel wird für die Miete gebraucht, es bleiben also 75 Zloty im Monat für vier Menschen übrig, das heißt ungefähr zwölf amerikanische Cent im Tag für alle Bedürfnisse eines Menschen, und das bedeutet Tee und Brot, Kartoffeln und Kohlsuppe, Tag für Tag, dreihundertfünfundsechzigmal im Jahr. Und sonst nichts.

Aber dann sind auch Amelia und Alexi Sossnowski da, die mit ihren drei quicklebendigen Kindern in dem großartigen Block von Arbeiterwohnungen leben, den die sozialistische Partei am anderen Ende Warschaus erbaut hat. Er ist Silberschmied, und sie arbeitet in einer Tabakfabrik; sie verdienen zusammen 280 Zloty im Monat, ihre Zweizimmerwohnung mit der modernen Kitchenette strahlt vor Zufriedenheit, und auf ihrem Tisch steht appetitliches Essen. In Helsingfors hatten wir die armselige siebenköpfige Familie gesehen, die in einem einzigen scheußlichen, schmutzigen und unordentlichen Zimmer lebte, die Kinder mager und kränklich, der Vater arbeitsunfähig, die Mutter zu verbraucht, um sich viel daraus zu machen.

In Kymmene aber und in Kaukas, dem Zentrum der finnischen Papier- und Holzindustrie, hatten wir die Reihen vorbildlicher Arbeiterhäuser gesehen, die schmuck waren wie Föhren, in deren Küchen Kupfertöpfe schimmerten, wo Radioapparate standen, Kinder vergnügt lachten und es viel Raum und viel Essen, frische Luft und ein gutes Leben gab.

In Reval lebte jenes alte Ehepaar, das zu schwach war, seine Wohnung sauber zu halten, und klägliche Versuche machte, das zu verbergen. Aber in Reval war auch jene Reihe von Arbeiterhäusern gewesen, deren Inneres wir ohne besondere Auswahl besichtigt hatten. Sie machten einen großen Eindruck auf uns mit ihrer Sauberkeit, ihrer Behaglichkeit und der selbstverständlichen Würde der Hausfrauen.

In Riga weinte eine Frau, aber das war unsere Schuld. Sie zeigte uns ihre Wohnung im Elendsviertel, und diese war so sauber, wie ein Mensch sie nur halten konnte, aber der Geruch des Elendsviertels fehlte natürlich nicht, und dafür entschuldigte sich die alte Dame, sie sagte, es regne durch, und die Ratten seien eine wahre Plage. Wir rechneten ihr armseliges Budget durch, mir fehlte eine Summe, und ich fragte, was sie mit der tue.

Ihr Gesicht begann zu zucken. Sie erklärte uns, das Geld werde dazu verwendet, den Aufenthalt ihres Sohnes in einer Heilanstalt zu bezahlen; dorthin hätte er gebracht werden müssen, weil ihm in der Fabrik, in der er arbeitete, ein großes Stück Metall auf die Stirn gefallen sei. Um das Thema zu wechseln, zeigte ich auf eine Gitarre an der Wand und fragte: »Wer spielt darauf?«

»Er hat sie gespielt«, gab sie zur Antwort, und dann fing sie an zu weinen.

Aber auf der anderen Seite der Düna wohnte der Zimmermann Chris Alderson mit seiner Frau und seinem jungen Sohn, dessen gut gemalte Ölbilder die Wände dieses schmucken kleinen Heims zierten ... Der Junge zeigte uns vier Paar Skier, die er mit eigenen Händen gefertigt hatte, und die so gut waren wie die Erzeugnisse jedes norwegischen Fachmannes. Seine Zeicheninstrumente lagen überall im Zimmer herum, und das alte Paar barst nahezu vor Stolz, während es uns erklärte, daß er Architekt werden wollte.

Das Elend der jüdischen Dörfer in Litauen, ihre langen Reihen baufälliger Häuser, ihre Klumpen ungekämmter Männer und Weiber, ihre bittere und verbitterte Armut prägt sich scharf dem Gedächtnis ein.

Aber unvergeßlich ist auch die Erinnerung an Andrew Pozas, den Marktgärtner bei Kowno, dessen Frau seine »geschickten Finger« pries; diese geschickten Finger hatten in fünfzehn Jahren ohne jede Hilfe ein Bauerngütchen aufgebaut, auf das jeder stolz sein könnte, ein Gütchen mit Haus und Scheune, mit vier Kühen, zwei Pferden, hundert Hühnern und fünf glücklichen Menschen.

Nichts wird die Erinnerung an das Bild auslöschen, das sich uns in dem polnischen Dorf Cuman bot, wo Gruppen stier blickender junger Burschen bis zu den Knöcheln im Dreck standen und Scharen in Lumpen gekleideter, blasser und verhungert aussehender Kinder zurückschraken und davonliefen, als unser Wagen vorbeikam.

Aber gleich in der nächsten Nähe, in dem Dorf Derno, war der prächtige Daniel Kichalok, der sich fünfzehn Jahre abrackerte, um seiner hübschen Frau ein anständiges Heim zu erarbeiten, und es auch schaffte. Die Wiege schaukelte, die Mutter sang, und wir vergaßen den Dreck von Cuman.

In Arbeiterheimen und Bauernhäusern ist in jedem dieser fünf Länder Armut und Kummer zu finden. Die Summe der Eindrücke, die Erinnerung an die Dinge, die im Gedächtnis haften, beweist, daß Wohlergehen, Auskömmlichkeit, und Zufriedenheit hier häufiger sind als Armut und Sorge, daß sie hier viel häufiger sind als in der Sowjetunion.

Was sagt die kalte Sprache der Zahlen?

 

Polen

II.
Olyka

Ein Gespann weißer Araber mit prächtiger Gangart brachte uns durch den schneidenden Wind zu dem Schloß Olyka, das, dreihundert Meilen südöstlich von Warschau, ganz dicht an der Grenze der Sowjetunion liegt.

Hier, auf dem Gut eines der größten polnischen Magnaten, des Fürsten Janusz Radziwill, lebt man, wie man seinerzeit auf den Gütern der Adligen im alten Rußland lebte. Unser Hausherr, der junge Prinz Edmund, ein kühler, hübscher junger Mensch im Sportanzug – er ist im Jahre 1907 im Berliner Palais Radziwill in der Wilhelmstraße, das jetzt zum deutschen Auswärtigen Amt gehört, geboren und spricht Englisch mit einem Oxford-Akzent – kann jenseits der russischen Grenze einen Teil der Güter sehen, die früher seiner Familie gehörten.

Dort drüben sind die Männer, die einst Landarbeiter der Radziwills waren, jetzt Kollektivbauern. Sie haben achtzehn Jahre Bolschewismus hinter sich. Die Landarbeiter hier haben unter dem Kapitalismus gelebt. Wie fällt ein Vergleich zwischen dem Leben der Landarbeiter hier und dem der Kollektivbauern jenseits der Grenze aus?

Diese Frage kann so speziell, wie sie gestellt ist, unmöglich beantwortet werden, weil es keinem Fremden in der Sowjetunion erlaubt wird, sich in solcher Nähe der Grenze aufzuhalten. Aber man kann den Lebensstandard hier mit dem auf dem erstklassigen Sowjetkollektivgut »Frunze« vergleichen, das wir in der Nähe von Iwanowo-Wosneschensk besichtigt hatten.

Das ist die beste Vergleichsbasis, die sich hierfür finden läßt. Denn gerade die Landarbeiter, die ärmsten der Ackerbau treibenden Bevölkerung, das »Landproletariat«, wie die Bolschewisten sie nennen, gerade diese waren es, für die die kommunistische Revolution auf dem Land in Rußland gemacht wurde.

Sie töteten alle Gutsbesitzer in Rußland oder trieben sie ins Ausland. Dieser Gutsbesitzer hier in Polen lebt auch heute noch in dem Schloß, das seit seiner Gründung vor vierhundert Jahren so oft zerstört und geplündert wurde, daß kein Mensch die Anzahl dieser Katastrophen nennen kann. Alle wissen jedoch, daß das letztemal gerade achtzehn Jahre zurückliegt, und es stecken noch heute Sprengstücke von dem letzten Bombardement in den wieder aufgebauten Mauern.

Das Gebäude bildet ein langes, an der einen Seite offenes Rechteck; die Sonne taucht den Hof in Licht und scheint in die Fenster der hundert Zimmer hinein. Nicht alle sind wieder hergestellt. Es ist noch zu wenig Zeit seit dem letzten Besuch der Freunde von jenseits der Grenze vergangen.

Sie sind noch da, sozusagen nur einen Steinwurf weit, aber der Prinz und seine junge Frau haben sich an den Wiederaufbau ihres Heims mit der durch nichts zu störenden Zähigkeit gemacht, die von den Tagen des Kurzschwertes bis zum Zeitalter des Maschinengewehrs die Radziwills nach jedem Krieg zurückgeführt und zum Wiederaufbau gebracht hat. Die Räume des Prinzen sind so modern wie die einer Wohnung in der Fifth Avenue und um nichts anspruchsvoller. Er hatte sich von seinem Buchhalter eine vollständige Liste der Einkommen aller auf dem Gut machen lassen, von ihm selbst angefangen bis zu den Schafhirten. Er bezieht ein Gehalt und führt sogar über seine Verpflegung Buch. Er arbeitet auf seinem Posten. Das kann man nicht von allen polnischen Magnaten sagen. Aber Prinz Radziwill tut es.

Wir interessierten uns vor allem für die Lebensbedingungen seiner ärmsten Arbeitnehmer, ganz einfach deshalb, weil das die Menschen sind, für die sich die Bolschewisten am meisten interessieren. Es folgt eine Aufstellung ihrer Einkommen; zur Ermöglichung einer Zusammenfassung und eines allgemeinen Vergleiches zwischen Kapitalismus und Kommunismus auf dem Lande sind auch die Ziffern der entsprechenden Einkommen in Litauen und Finnland genannt.

Einkommen der Landarbeiter unter dem Kapitalismus, verglichen mit dem Einkommen der Kollektivbauern in der Sowjetunion

Tabelle

Diese Einkommenziffern wurden persönlich festgestellt auf dem Gut Radziwill hier, auf einem kleinen Gut in der Nähe Kausalas in Finnland, auf einem mittelgroßen Bauernhof in der Nähe Kownos in Litauen und auf dem Frunze-Kollektiv in der Sowjetunion. Zweifellos enthält jede der Zahlen auch spezielle, nicht allgemein gültige Elemente. Aber im ganzen ist der Vergleich nützlich.

Er zeigt, daß der russische Kollektivbauer ungefähr 800 Pfund Getreide weniger empfängt als der hier zitierte finnische Landarbeiter, ungefähr elfhundert Pfund weniger als der Pole, und nicht ganz halb so viel wie der Litauer. Man muß im Auge behalten, daß dieses Getreide nicht verkauft werden soll, es ist zum Essen da.

Die Kartoffelration ist für den Russen größer. Es ist die billigste Nahrung. Alle vier Männer haben ein ungefähr gleich großes Stück Land, nämlich etwa einen Morgen, für Gartenzwecke und könnten wahrscheinlich ungefähr die gleiche Kartoffelmenge zum Essen oder zum Füttern der Schweine ziehen.

Der Kollektivbauer hat halb so viel Milch wie der kapitalistische Landarbeiter, gemessen in Litern oder in Kühen. Er hat ein Schwein, während die anderen zwei bis sechs haben. Schließlich ist zu berücksichtigen, daß er in bar 24 Dollar im Jahr bekommt und die anderen 80 Dollar.

In allen vier Fällen liefert der Besitzer bzw. das Kollektivgut Quartier, Heizung und Licht. Aber die Quartiere der kapitalistischen Landarbeiter waren bedeutend geräumiger, sauberer und behaglicher als die der Kollektivbauern.

Die Kommunisten können einwerfen, daß die Kollektivgüter in Rußland erst vor ganz kurzem organisiert worden sind und noch keine Möglichkeit gehabt haben, zu zeigen, was sie leisten können. Das ist wohl richtig, aber man kann nur die Gegenwart schildern, nicht die Zukunft. Sie können auch einwerfen, daß diese drei kapitalistischen Landwirtschaftsbetriebe nicht typisch seien, aber dem, der die Dinge von außen sieht, scheinen sie keineswegs untypisch zu sein für Betriebe gerade der Art, wie sie zu Beginn der bolschewistischen Revolution zerstört wurden.

Schließlich können Kommunisten noch einwerfen, daß nichts über das geistige Leben auf dem Lande hier und im Reich der Kollektive gesagt worden sei. Kultur ist etwas, daß sich schwer messen läßt. Eines ist sicher: das Interesse der ärmsten polnischen Bauern für den Kommunismus, das sehr lebhaft war, als die Bolschewisten den Großgrundbesitzern das Land wegnahmen und es den Bauern gaben, ist auf den Nullpunkt abgesunken, seitdem Moskau die Bauern in die Kollektive gepreßt hat.

 

Polen

III.
Warschau

95 bis 98 Prozent der Bevölkerung in den kapitalistischen Ländern, die sich an der Westgrenze der Sowjetunion hinziehen, sind heute materiell besser gestellt als die 168 Millionen Russen, die achtzehn Jahre lang unter der Flagge des Kommunismus schwer gearbeitet haben.

Das ist das wohlüberdachte Ergebnis einer Untersuchung, die mich von den Wäldern Finnlands oben bis hinunter zu den Sümpfen Südostpolens in viele Fabriken, Arbeiterheime und Bauernhäuser geführt hat, in so viele, daß sie unmöglich alle genannt werden können.

Kein objektiver Beobachter kann übersehen, daß die Sowjetunion in den letzten wenigen Jahren wirkliche Fortschritte in der Richtung einer Erhöhung des Lebensstandards ihrer Bürger gemacht hat, und niemand kann abschätzen, wo dieser Bewegung zum Besseren die Grenzen gezogen sind. Aber eben derselbe Beobachter muß seiner Überraschung darüber Ausdruck geben, daß selbst in diesen verhältnismäßig armen Ländern, in diesen an nationalen Gütern armen und durch den Krieg ganz besonders mitgenommenen Staaten, die an die Sowjetunion grenzen und früher zum kaiserlichen Rußland gehörten, der Lebensstandard der Massen noch immer ganz fraglos viel höher ist als der in der Sowjetunion.

Ein objektiver Beobachter kann auch nicht aus den Augen verlieren, daß der Lebensstandard in diesen Ländern immer, auch schon vor dem Krieg, höher war als im übrigen Rußland. Aber der Krieg drückte alle diese Länder auf ein Niveau herab, das dem der Sowjetunion vergleichbar ist. Sie alle begannen am gleichen Punkt der Verwüstung und Zerstörung mit ihrem Wiederaufbau.

Überdies erklärt der Kommunismus – bzw. diejenige Form industrieller Wirtschaft, die heute in der Sowjetunion herrscht und von den Bolschewisten Staatssozialismus genannt wird, aber auch Staatskapitalismus genannt werden könnte – er könne rationeller und in reichlicherem Maße produzieren, gerechter verteilen und eine ungestörte und theoretisch grenzenlose Vermehrung des Volksvermögens garantieren. Kurz, er könne die kapitalistischen Nationen »einholen und übertreffen«.

Bis jetzt hat er es nicht getan. Der Prüfstein ist der Lebensstandard der Bevölkerung. Und der ist in diesen kleinen unter Schwierigkeiten kämpfenden Ländern offensichtlich höher. Und zwar höher für alle Schichten.

Vier Schichten sind zu berücksichtigen: die sogenannten Reichen, die Unternehmer; der Mittelstand einschließlich der Stehkragenproletarier, der akademischen und technischen Berufe; die Arbeiter und die Bauern.

Offenbar sind die Arbeitgeber in diesen kapitalistischen Ländern besser daran. Es gibt in der Sowjetunion niemand, mit dem sie verglichen werden könnten.

Aber der Mittelstand kann sehr wohl mit dem neuen Mittelstand der technischen Berufe verglichen werden, der in den letzten wenigen Jahren des Regimes »sozialistischer Ungleichheit« in der Sowjetunion entstanden ist. Es ist eine Tatsache, daß der durchschnittliche bescheidene Ingenieur, Arzt oder Anwalt des Mittelstandes in Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Polen besser lebt als das höchstbezahlte Einzelindividuum in Moskau. Das hat seine Ursache vor allem darin, daß es im heutigen Rußland an Dingen fehlt, die man für Geld kaufen kann.

Das eigentliche Kriterium ist in den Massen zu finden, bei den Arbeitern und Bauern, für die die Revolution in Rußland gemacht wurde. Ich habe in allen diesen Ländern dreißig Bauernhäuser vom schlechtesten bis zum besten besucht. Die schlechtesten sah ich in Polen. Sie waren sehr schlecht. Aber auch noch in den Dreckdörfern Südostpolens waren die Bauern ebenso gut gekleidet, behaust und genährt wie auf den besten Kollektivgütern, die ich in Rußland gesehen habe.

Selbst die polnischen Landarbeiter waren materiell nachweislich besser gestellt als die russischen Kollektivbauern. Die Mehrzahl der Bauern in diesen fünf Ländern war, nicht nur materiell, sondern auch kulturell, in einer unvergleichlich besseren Lage.

Es bleibt also noch der Arbeiter, der Hauptförderer des Bolschewismus. Ich habe mindestens fünfzig Arbeiterheime in diesen Rußland vorgelagerten Ländern und etwa zwanzig in Moskau aufgesucht. Nur die allerärmsten in diesen kapitalistischen Ländern ließen sich mit den besten Arbeiterheimen in der Nähe von Moskaus besten Fabriken vergleichen. Was Wohnverhältnisse, Ernährung, Kleidung und sogar Vergnügungen betrifft, waren die kapitalistischen Arbeiter sichtlich im Vorteil.

Damit dies nicht auf Unglauben stoße, wird es wohl von Nutzen sein, unseren alten Freund herbeizurufen, den Vorratkorb, der gerade so viel Lebensmittel enthält, daß ein erwachsener männlicher Arbeiter sich davon ernähren kann. Wie viele Stunden müssen diese kapitalistischen Arbeiter arbeiten, um sich diesen Korb zu verdienen, und wie viele ihre kommunistischen Brüder?

Ich habe die Einzelzahlen, deren Erlangung wochenlange Arbeit auf den Märkten und in den statistischen Büros dieser fünf Länder kostete, der Einfachheit halber nicht mit aufgeführt. Hier folgen die Resultate:

Tabelle

Der Sowjetarbeiter muß also sieben Stunden mehr arbeiten als der Finne oder der Pole, sechs Stunden mehr als der Lette oder der Litauer und fünf Stunden mehr als der Este, um sich sein Essen für eine Woche zu verdienen. Das ist natürlich nur ein Faktor, aber es ist der wichtigste für jeden Lebensstandard.

Damit ist eines der Hauptprobleme unberücksichtigt geblieben: die Arbeitslosigkeit. Die Sowjetunion rühmt sich mit Recht der Tatsache, daß sie die Arbeitslosigkeit zum Verschwinden gebracht hat, und obgleich man sehr viel darüber debattieren könnte, aus welchen Gründen es so ist und aus welchen Gründen es auch dabei geblieben ist, wollen wir es einfach als Tatsache hinnehmen. Wir wollen auch, obwohl es nicht immer so ist, annehmen, daß ein Mann mit Arbeit in der Sowjetunion besser gestellt sei als ein Arbeitsloser in diesen Ländern. Was für ein Prozentsatz der Bevölkerung in diesen Ländern also könnte für schlechter gestellt gelten als in der Sowjetunion? Die Antwort ist in der folgenden Tabelle zu finden:

Tabelle

Die Arbeitslosigkeit in den Randstaaten und Finnland ist geringfügig. Man vervierfache sie, um ein reichliches Schätzungsresultat der davon betroffenen Familienmitglieder zu erhalten. Das ergibt 148 000 Menschen von neun Millionen, also weniger als 2 Prozent.

Man multipliziere die Anzahl der Arbeitslosen in Polen mit vier. Das Ergebnis ist 1 600 000 Menschen von 32 500 000, das heißt also, ungefähr 5 Prozent der Gesamtbevölkerung »können sich nicht selbst erhalten«. Man nehme an, daß alle diese Menschen schlechter gestellt seien als die ausnahmslos beschäftigte Bevölkerung der Sowjetunion. Man verdoppele diese Zahl und sage, zehn Prozent der Menschen in allen diesen Ländern seien schlechter gestellt. Man vergleiche das mit der Anzahl der Toten, den Strapazen und Leiden Rußlands in den letzten achtzehn Jahren.

Man addiere die kommunistischen Leistungen und die kommunistischen Versprechungen und ziehe davon die kapitalistischen Leistungen, selbst heute in der Tiefe der Depression, ab. John Maynard Keynes, der bedeutendste Nationalökonom Englands, der diese Rechnung ausführte, schrieb in seinem Kommentar zu H. G. Wells Unterredung mit Stalin:

Wenn uns der Kommunismus als Mittel zur Verbesserung der Wirtschaftslage angeboten wird, ist er eine Beleidigung für unseren Verstand. Wird er aber als Mittel zur Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage angeboten, so liegt darin seine raffinierte, seine nahezu unwiderstehliche Anziehungskraft.

 


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