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XVI. Stromab mit frischem Pflaumenkuchen

In Glogau wurde angelegt, obwohl keine Notwendigkeit vorlag. So oft es aber nur möglich war, bestand Frau Kapitän Woitschach auf diesem Aufenthalt. Vor ihrer kleinen Tochter letzter Fahrt war man in Glogau zum letzten Male an Land gewesen, in Filkes Spiel- und Galanteriewarengeschäft am Ring. Wenn man in Glogau haltmachte, stand der Besuch bei Filke als letzter und wichtigster Punkt, als feierlicher Abschluß auf dem Programm. Und jedesmal mußte die Mutter dem Kinde versichern, daß Herr Filke wirklich nicht der Weihnachtsmann wäre. Ganz geheuer war es ihrem Mädelchen nie damit gewesen; die guten braunen Augen, der weiße Bart, das hohe Alter, die Pelzmütze, die Herr Filke auch im Laden trug, die Anhäufung von Spielwaren um ihn – das konnte einen schon daran irremachen, daß der richtige Weihnachtsmann auf einem weißen Schiff die Oder herabkäme, vom mährischen Gesenke, von der Quelle her, und daß er immer auf der Oder hause, im Sommer an einer geheimen, vereisten Buhne, die niemand kenne. Da wo die Eisschollen herstammen, die »Brieger Gänse«, dort sollte die Höhle sein. Hinter dem Ohlauer Walde.

Das Kapitänstöchterchen war sehr für das Poetische gewesen, und niemand wußte, woher sie das hatte. Aber die Mutter meinte später, bei Kindern, die sehr zeitig sterben, dürfe einen das nicht wundernehmen. Immerzu wollte das Kind Märchen erzählt haben, und am liebsten hatte es die alte Odersage aus Glogau. Immer auf dem Rückweg von Filke war sie wieder fällig: auf der düsteren Straße, die an dem grauen Block des Schlosses vorbeiführte, das die Tänzerin Barbarina bewohnt hatte; beim Überqueren des Franziskanerklosterplatzes mit seinen scharfen Giebeln.

Die Kapitänsfrau erzählte ihrem Kinde etwas zu derb und zu schnell. Die Kleine war meist unzufrieden und ruhte nicht eher, bis die Mutter die traurige und liebliche Geschichte Wort für Wort auswendig lernte, wie sie in dem Niederschlesischen Heimatkalender gedruckt stand.

Als die Kapitänin heut nun nach Jahren wieder mit einem blonden Mädelchen an der Hand die alten Wege hier ging, mußte ihr ja alles wieder einfallen, haarscharf.

Mit Wilhelmine Herrn Filke in seinem Spielwarengeschäft zu besuchen, das allein hatte sie nicht fertiggebracht. Nur in der Konditorei nebenan war man gewesen, und da war es nun derselbe Weg zum Hafen; am Torbogen der Schloßeinfahrt fing sie mit der Geschichte an, und am Kloster konnte sie schon ohne Nachdenken alles auswendig sagen: Wie ein Knabe sich »Oder« nannte, weil er am Ufer des Flusses aufgefunden worden war und nichts über seine Herkunft zu sagen wußte. Wie er mit den Wassertropfen des Stromes spielte und in ihm sich spiegelte, weil er keine Gefährten fand um seiner Seltsamkeit willen. Wie er heimkehrte in sein weites, kühles Vaterhaus, den Fluß.

Wilhelmines Stimme war nicht so ganz sicher und noch eine kleine Spur rauher als gewöhnlich, als sie fragte: »Dann sind Sie wohl manchmal gar nicht so traurig, daß Ihr kleines Mädchen auch bei der Oder ist, Frau Kapitän?« Und dann meinte sie noch altklug: »Ich will Ihnen etwas sagen: für mich ist Ihre Geschichte zu fein. Aber Sie müßten sie einmal Onkels Großneffen, dem Michel in Zeuthen, erzählen; ich glaube, der versteht so etwas gut, weil er so traurige Augen hat und die Oder auch so gern mag. Schade, daß wir in Zeuthen nicht auch noch anlegen können. Nun werden Sie ihn nicht kennenlernen. Aber ich werde Ihnen sein Haus zeigen und die Fischertreppe, die er immer hinaufgeht zu seinem Fräulein Zerline.«

Und nun erzählte Wilhelmine ihrerseits eine Geschichte, und es war die von Michel, dem Flittermantel und dem Dampfer. Es lag wohl daran, daß man auf Zeuthen zufuhr.

Aber schon oberhalb der Zeuthener Fischerei, an den breiten, grünen Hügeln der Nenkersdorfer Schweiz, machte Frau Kapitän ganz wider Wilhelmines Erwarten die Bekanntschaft ihres Freundes, wenigstens aus geringer Entfernung.

Michel Burda hatte Wilhelmines Rat befolgt und in seinen Mußestunden des Vaters dürftigen Marketenderbetrieb etwas ausgebaut, das hieß, er führte mehr Ware mit sich und wagte sich ein erhebliches Stück weiter auf den Fluß hinaus. So hatte er sich heut von einem der ersten Schleppzüge, die schon wieder von Stettin heraufkamen, bis fast nach Tschirne, nach des tollen Grafen Pückler Tschirne, mitziehen lassen und von Kahn zu Kahn ein gut Teil Ware abgesetzt. An einer Buhne wartete er dann, bis ein Kahn oder Dampfer stromab sichtbar wurde, damit er ihm den Rest seiner Ware aufschwatzte. Das machte den Vater allen Vorschlägen, in die Marketenderei etwas zu stecken, immer wesentlich zugänglicher, wenn Michel mit leerem Boot heimkam.

Der feine blaue Kahn, der da als Expreßfrachter mit dem Dampfer ›C. W. V‹ auftauchte, erschien dem Jungen als geeignete Kundschaft.

Da man in Glogau zu Einkäufen keine Zeit gefunden hatte, war es Frau Kapitän Woitschach nicht unangenehm, sich noch einmal verproviantieren zu können. Michel legte am Raddampfer besonders vorsichtig an, und Wilhelmine rannte fassungslos ans Bug:

»Frau Kapitän, Frau Kapitän«, schrie sie durch den Trichter ihrer Hände, »das ist er, das ist er. Er soll auch zu uns kommen.«

Michel Burda mußte sich damit beeilen, weil der Zeuthener Hafen schon ganz nahe war und er es nicht mehr wagte, auf einen neuen Schleppzug für die Fahrt stromauf zu hoffen, falls er sich jetzt zu weit mittreiben ließ. Ganz flüchtig durfte er sich nur mit Wilhelmine begrüßen.

»Na, siehst du«, sagte sie und raffte in höchster Eile den ersten frischen Zeuthener Pflaumenkuchen in ihre Schürze.

»Und mit dir geht's ja immer höher hinaus«, vermochte er gerade noch zu antworten und stieß vom Kahne ab, quer durch einen Entenschwarm in den Hafen zu steuern. Den Onkel konnte die Butenhof gar nicht mehr herbeirufen; er tröstete sich mit dem Pflaumenkuchen leicht darüber, daß er aus purer Bequemlichkeit nur unten aus dem Bullauge auf die Heimat hinübergeschaut hatte und um die Begegnung mit einem Familienmitglied gekommen war. Der Onkel fand mit der ganzen Verwandtschaftsgeschichte nicht alles so, wie es sein mußte; er gehörte zu dem blutsfremden Mündel und sein Schwestersohn zu Fräulein Zerline.

Frau Kapitän Woitschach räumte indessen ihre von Michel erstandenen Tüten und Päckchen in den Kajütenspind.

Es gibt gar nicht soviel Kinder, wie die alten Leute brauchen, dachte sie dabei, nur die jungen Ehepaare wollen immer keine Kinder.


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