Egon Erwin Kisch
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Egon Erwin Kisch

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Die Himmelfahrt der Galgentoni

Wahrlich, ich sage euch, die Buhlerinnen und die Zöllner werden euch einführen ins Himmelreich.
                                  Evang. Matthäi

Selten habe ich so wüste Nachtlokale gesehen wie die rings um den Prager Gemüsemarkt und Fleischmarkt. Nicht als Nachtlokale waren sie gedacht, sondern als Morgenlokale, wo die Kutscher, die Bauern und die Bäuerinnen, die Fisch- und die Blumenhändlerinnen, die Metzgerburschen und die Markthelfer im Morgengrauen ihren Kaffee oder ihre Suppe schlürfen sollten. Aber diese Stätten für Frühaufsteher wurden zu Sammelbecken für Spätschlafengeher. Denn da sich ihre Tore just zu jener Stunde öffneten, in der die anderen Gaststätten von der polizeilichen Sperrvorschrift geschlossen wurden, traf sich hier all das, was das Bett scheute oder scheuen mußte, Kellner, Musikanten, Zeitungssetzer, Journalisten, Prostituierte, Säufer, Obdachlose, Zuhälter. Und die biederen Landleute und Marktleute wurden in den Hintergrund gedrückt.

In vielhundertjährigen Häusern staken diese Kneipen, und jede hatte ihre Geschichte. Unter dem Eichentisch der Schenke »Zur Hölle«, wo immer Betrunkene liegen, lag 1378 Herzog Wenzel von Luxemburg, als Kammerherren eintraten, um ihm den Tod seines Vaters zu melden, des Deutschen Kaisers Karl IV. Sie trugen den sinnlos Betrunkenen ins Schloß hinauf und setzten ihn auf den Thron.

Von der größten Zeche, die je im »Grünen Frosch« gemacht ward, erzählen noch heute Wirt und Stammgäste, als wären sie dabeigewesen. Aber es sind schon dreihundert Jahre her, seit Scharfrichter Mydlarz hier die zehn Schock Meißner Silberthaler nach dem Tagewerk vertrank, für das er sie verdient hatte: für die Massenhinrichtung der böhmischen Adelsherren. 193

In der Kaschemme »Bataillon« gibt es keine Teller, nur Mulden, die in die Tische eingeschnitten sind; in diese Mulden wird aus einem Schlauch die Suppe gespritzt. Die Blechlöffel sind mit Ketten am Tisch befestigt, damit sie der Gast nicht mitnehmen könne.

Hier bezog Doktor Unger, Universitätsdozent für Staatsrecht und Abgeordneter des Landtags, seinen permanenten Aufenthalt, als er erfuhr, daß seine Frau Orgien mit seinen Kollegen feiere. Bevor er sich bewußt zu Tode trank, vermachte er sein Vermögen den neunzig Stammgästen des »Bataillon«. Dafür sollten sie – so stand es im Testament – jeder mit einer Flasche Haferschnaps in der Hand an seinem Begräbnis teilnehmen, unterwegs auf sein Seelenheil trinken und sein Lieblingslied singen »Vorbei, vorbei ist alles, vorbei mein Lebensglück . . .«

Hinter dem Leichenwagen schritten die Witwe in schwarzem Schleier, der Oberstlandmarschall von Böhmen mit Zweispitz, goldgesticktem Frack und Degen, der Rektor und die Dekane der Universität in Talaren und Halsketten; und die Pedelle in purpurnem Ornat trugen die Zepter der Fakultäten. Neben ihnen und zwischen ihnen aber drängte sich der zerlumpte, saufende, grölende Chor der Erben. Nach wenigen Schritten brach die Witwe vor Scham zusammen. Am Grabhügel versuchte der Rektor seine Rede zu halten, die melodramatisch vom Gebrüll des Liedes »Vorbei, vorbei . . .« begleitet wurde. Seine Magnifizenz konnte nicht zu Ende sprechen; ein Dekan sank in Ohnmacht und wurde davongetragen, die anderen Trauergäste flüchteten in panischem Schrecken, dieweil die Bataillonsbrüder den Platz behaupteten und dem toten Kumpan weinend die geleerten Haferschnapsflaschen ins Grab schleuderten.

Ein Schwesterlokal des »Bataillon« war die »Mimose«. Der bescheidene Name stammte wohl aus der Biedermeierzeit, aber für die Gäste war er ein Fremdwort, das sie sich nicht merken konnten, weshalb sie es »Phimose« nannten. Größer als die Wirtsstube war der Hof, in dem Gebirge von leeren Kisten standen. Sie gehörten dem im gleichen Hause befindlichen 194 Leinenwarengeschäft Brumlick, wurden jedoch in der Nacht vom »Mimose«-Wirt an Liebespaare vermietet. Der Kellner Honza Luft, sonst als Athlet gefürchtet, war wegen seiner Geschicklichkeit im Herausziehen von Spänen als Helfer beliebt.

Ich habe in der »Mimose« vielen gefährlichen Zusammenstößen beigewohnt, und alle wurden von Honza Luft geschlichtet, knapp bevor es zu Blutvergießen kam. Nur einmal sah ich seine Intervention kläglich scheitern. Das war, als zwei Veteraninnen der Prostitution aufeinander losgingen. Die eine stotterte, und die andere fluchte in einem wilden Rotwelsch, dem ich nur entnehmen konnte, daß es um einen Gast ging, den die Stotternde der Fluchenden abspenstig machen wollte. Plötzlich begann die Stotterin »Galgentoni, Galgentoni« zu brüllen und »diese da wird geholt, bevor einer aufgehängt wird«. Da sprang die als »Galgentoni« Apostrophierte auf sie zu, warf sie zu Boden und schlug, allen Trennungsversuchen des Hünen Honza Luft spottend, so lange auf die unheimlich gellende Feindin ein, bis diese verstummte und leblos dalag. In diesem Augenblick trat die Polizei ein und arretierte die Galgentoni.

Die Schilderung, die ich als Zeuge dieses Frauenduells zu schreiben versuchte, mißlang, weil ich nicht wußte, was mit der Anspielung gemeint war, die diese brachiale Wut ausgelöst hatte. Ich nahm mir vor, die Partnerinnen gelegentlich darüber zu befragen. Jedoch keine der beiden erschien mehr in der »Mimose«. Vielleicht war infolge der Schlägerei die eine verurteilt und die andere tot, oder beiden das Lokal verboten.

Eine andere der Marktspelunken hieß »Café Melantrich«. Auch hier saßen an den Tischen Gestalten, die sich durch nichts von den Stammgästen des »Bataillon« oder der »Mimose« unterschieden. Dennoch stellten sie eine Elite dar gegenüber den Außenseitern, die sich im Korridor drängten, Krakeeler, Gewalttäter, Epileptiker oder Aussätzige. Ihnen erlaubte Herr Isidor Natscheradetz, genannt »Mungo«, nicht den Eintritt in das Innere seines Lokals. Stehend mußten sie ihre Zeche konsumieren und neidisch ein Spalier für die 195 Privilegierten bilden, die ungehindert im inneren Heiligtum ein und aus gehen durften.

In diesem Spalier bemerkte ich eines Tages die beiden Duellantinnen aus der »Mimose«. Ich ging auf die Galgentoni zu, und unser Gespräch begann mit ihrer Frage, ob ich ihr einen Schnaps bezahlen wolle. Ich zahlte nicht nur ihr einen Schnaps, sondern auch der Stotterin und sogar ihrer anderen Nachbarin, die als Frieda Kniefall angesprochen wurde. Allviert tranken wir einander zu und waren fast Freunde. Als ich jedoch mit der Frage herausrückte, weshalb denn die Galgentoni damals so wütend geworden, verstummte sie unwillig. Vergeblich redeten Stotternde und Frieda Kniefall – die eine schimpfend, die andere gleisnerisch – auf sie ein, mir Auskunft zu geben.

Von Zeit zu Zeit ging Mungo Natscheradetz mit mißtrauischem Gesicht vorbei; er schien sich von einem Interview mit den verrufensten seiner Stammkundinnen keine Reklame für das Lokal zu versprechen.

Erst nach der dritten Runde Schnaps erklärte sich die Galgentoni bereit, mir zu verraten, worin ihre Beziehung zum Galgen bestand, aber sie knüpfte eine Bedingung daran: ich müßte zu ihr kommen in ihre Wohnung, dort werde sie mir alles genau erzählen. An diesem Besuch lag ihr mehr als an Schnaps oder Geld, ihre Wirtin und ihre Mitbewohnerinnen sollten sehen, daß sie noch Gäste empfange!

In einer unbeschreiblich elenden Kammer im Ledergäßchen saß ich viele nächtliche Stunden lang bei der Galgentoni. Mühselig mußte ich die Details ihrer Lebensgeschichte herausholen, aber ein Redeschwall brach aus ihr, als sie sich, sozusagen vor einem imaginären Richter, zu ihrer Verteidigung aufschwang und zu Anklagereden gegen eine polnische Wanda, die Stotterbetty und die Frieda Kniefall, gegen Mungo Natscheradetz und gegen die Sittenpolizei. Sie verlangte von dem imaginären Richter nicht nur einen glorreichen Freispruch für sich, sondern auch die Verurteilung jener Feinde und Feindinnen. 196

Ihr Schicksal aber war ein Schicksal zwischen blauester Romantik und grauester Realistik, der Sturz aus einem eingebildeten Paradies in die scheußlichste Gosse, in der sich nur der Wunsch spiegelte, in jenes Paradies zurückzukehren.

Ein paar Wochen später wollte ich die Galgentoni wieder sprechen, fand sie jedoch weder auf dem Korridor des Café Melantrich noch in ihrer muffigen Bude im Ledergäßchen. Dort sagte man mir, sie sei im Krankenhaus, im Krankenhaus erfuhr ich, daß sie gestorben sei.

Nun fährt sie also zu dem imaginären Richter hin, auf dessen Urteil sie sich mit ihren Plädoyers vorbereitet hat. Sicherlich vollzog sich diese Himmelfahrt so, wie es sich die Galgentoni vorgestellt hat. Freunde, laßt uns daran nicht zweifeln! Am Sammelplatz der Seelen, wo die Vorstadt der Welt endet, wartet ein gewöhnlicher Polizeiwagen. Und doch kein ganz gewöhnlicher. Es ist ein Polizeiwagen für Höhenfahrt, denn der Klepper, der ihm vorgespannt ist, hat weiße Fittiche, und auch der Polizeiwachtmeister, der auf und ab geht, ist geflügelt. Nicht lange braucht er der Fahrgäste zu harren. Seht, dort kommt schon jemand.

Im Nachthemd, ein weißes Tuch um Kopf und Kinn geknüpft, in der einen Hand einen Kranz, in der andern eine brennende Wachskerze, knickst Frieda Kniefall vor dem Polizeiwachtmeister. Direktenwegs geht sie auf den Wagen zu, direktenwegs will sie ins Paradies.

»Schutzmännchen, mein Schutzengelchen«, piepst Frieda Kniefall, »ich komme direktenwegs ins Himmelreich. Das hat mir vor einer Stunde der hochwürdige Herr Pfarrer versprochen, als er mir die letzte Ölung gegeben hat.« Fräulein Frieda Kniefall, habe der geistliche Herr zu ihr gesagt, Sie kommen direktenwegs ins Himmelreich . . .

Freundlich erklärt ihr der Wachtmeister, niemand komme sogleich ins Himmelreich, alle Seelen werden zunächst dem Fegefeuer eingeliefert. Dieser Umweg stört die Frieda nicht allzusehr, sie hat ja die Zusicherung vom Herrn Pfarrer, im Himmel aufgenommen zu werden. Aber warum fährt der Wagen noch nicht ab, da sie doch schon hier ist? 197

Ja, man müsse bis Mitternacht warten. »Wir sind heute der letzte Transport; wer bis vierundzwanzig Uhr stirbt, fährt noch mit uns hinauf.«

In der Tat kommt eben ein anderer Passagier, Herr Mungo Natscheradetz. Er entschuldigt sich, daß er die Herrschaften habe warten lassen, er ist überzeugt, nur auf ihn habe man mit der Abfahrt gewartet, und verlangt eine Fahrkarte erster Klasse in den Himmel, ohne Umsteigen, Schlafwagen womöglich. »Kostet, Herr Kondukteur?«

Wie oft schon mag der Wachtmeister die Auskunft gegeben haben, daß es keine direkte Linie in den Himmel gebe! Herr Natscheradetz hat ein überlegenes Lachen zur Antwort: »Das sagen Sie ! Sie scheinen nicht zu wissen, wer ich bin!« Er liest seine Todesanzeige vor: »Wir betrauern in dem Heimgegangenen einen hochprima Charakter von vorzüglicher, erstklassiger Qualität . . .« Hernach, der Wirkung sicher, die dieser Text gemacht haben muß, will er die Wagentür öffnen. Aber der Wachtmeister hält ihn zurück, und Frieda Kniefall äußert mit einem Seufzer: »Wir müssen uns in himmlische Geduld fassen.«

Mungo Natscheradetz ist baß erstaunt, die Frieda hier zu sehen, jovial streckt er ihr die Hand hin, aber Frieda Kniefall will hier mit dem Wirt der übelbeleumundeten Kaschemme nichts zu tun haben.

»Ich kenne Sie nicht«, äfft Mungo Natscheradetz ihr nach, »und seit zwanzig Jahren verkehren Sie bei mir im Lokal, um sich Gäste zu schnappen.«

Darüber erschrickt Frieda Kniefall, denn wenn das der Wachtmeister hört und höhern Orts meldet, kann ihr das sehr schaden, der Zusicherung des geistlichen Herrn zum Trotz. Spitzig flüstert sie Mungo Natscheradetz zu, seit langem verkehre sie nicht mehr in seinem Café, seit der Zeit nämlich, da ihr Bräutigam dort all ihr Geld verspielt habe.

Nun ist es Herr Natscheradetz, der erschrickt, denn mit der Beschuldigung, eine Spielhölle gewesen zu sein, könnte ihm, seiner Todesanzeige zum Trotz, die Hölle heiß gemacht werden. 198

Zum Glück für beide kann der Wachtmeister von dem Gespräch nichts hören, weil sich aus der Ferne ein Gassenhauer nähert, von einer heiseren Stimme geschmettert. Ist das überhaupt eine Stimme zu nennen? Ja. Denn wie aus einem Mund sagen Mungo Natscheradetz und Frieda Kniefall, die Stimme komme ihnen bekannt vor.

Und da erscheint auch schon unsere Galgentoni im Mondscheinlicht. Sie stoppt ihr Lied erst, als sie die vertraute Silhouette eines Polizeiwagens vor sich sieht. Wie sie es wohl immer getan, versucht sie die Wagentür mit dem Fuß aufzustoßen. Hier aber scheint das nicht die richtige Art und Weise zu sein, der Wachtmeister schiebt sie zur Seite. Die Galgentoni nimmt das nicht übel. Sie ist so froh, aus dem Spittel raus zu sein, daß ihr kein Polizist die Stimmung vermasseln kann. Nur ungeduldig ist sie, sie will in den Himmel; sie brauche kein Billett, ruft sie, sie habe eine Jahreskarte, sogar schon kontrolliert, einmal wöchentlich vom Herrn Polizeiarzt bei der Hurenvisite.

Entsetzt raunt Frieda Kniefall dem Herrn Natscheradetz zu, das sei doch die Galgentoni.

Herrn Natscheradetz zu erzählen, daß das die Galgentoni sei, ist auf Ehre sehr gut! Herr Natscheradetz hat sie nicht in die Gaststube gelassen, auf dem Korridor stehend mußte sie den Kaffee trinken. Und jetzt will sie in den Himmel!

Jawoll, das will die Galgentoni, und möglichst schnell. »Sollen wir denn hier warten, bis es irgendeinem Hottentotten in Italien beliebt, die Beine steif zu machen?«

»Mit solcher Benehmität will sie in den Himmel«, murmelt Mungo Natscheradetz seinem Bart zu.

Toni hat es gehört. Sie faucht ihn an, hier habe er nichts mehr zu befehlen, sondern zu schweigen, widrigenfalls sie ihn vor seine Adlernase stoßen müßte, daß er die Engel pfeifen hört, bevor er noch mit der Grünen Minna abgefahren ist. Dabei fällt ihr ein, daß die Grüne Minna, die Rheumatismuskiste da, noch immer nicht Miene macht abzudampfen.

»Ich will mir hier doch kein Geschäft aufmachen«, denkt sie laut, sehr laut sogar. »Das ist nicht mein Strich, so ein mieses 199 Revier such' ich mir nicht aus. Wie ein Kind freu' ich mich seit zweiundfünfzig Jahren auf meine Himmelfahrt, und jetzt soll ich Schlange anstehen? Also los jetzt, Himmel, Arsch und Zwirn, sonst passiert was!«

Frieda Kniefall bekreuzigt sich, der Himmel beschütze uns, betet sie, und der Wachtmeister schwingt seinen Gummiknüppel. Die Toni rät ihm eindringlich, keine Wellen mit seinen Flügeln zu machen. Ihre Bestimmungsstation sei der Himmel, und der warte schon auf sie.

»Oder aber die Hölle«, sagt der Wachtmeister, wofür er von Mungo Natscheradetz belobt wird, das sei eine ausgezeichnete Abfuhr gewesen, einfach brillant!

Das sei ihr scheißegal, brüllt die Toni, keinesfalls werde sie ihre Pedale hier anfrieren lassen, das sei kein Himmelsstrich für sie. »Wenn die Fuhre nicht gleich abgeht, wichse ich in den Schimmel hinein, daß euch die Pferdeäpfel um die Ohren sausen und die ganze Milchstraße auseinanderläuft.«

»So eine Ausdrucksweise hab' ich noch nicht erlebt, seit ich tot bin«, beteuert Mungo Natscheradetz. Der Wachtmeister ist wütend: »Halten Sie den Mund«, sagt er zu Toni, »sonst . . .«

Toni krempelt sich die Ärmel auf und geht auf ihn los: »Sonst? Sonst was?« zischt sie. »Jetzt hat's aber zwölf geschlagen!«

Und da schlägt es wirklich zwölf, und der Wachtmeister schlägt den Ton eines Bahnhofschaffners an: »Einsteigen die Herrschaften, nicht so drängen.«

Mungo Natscheradetz drängt sich vor, Toni stößt ihn zur Seite. Kann man's ihm übelnehmen, daß er verärgert fragt: »Gibt's denn da keine erste Klasse? Muß ich mit der Chonte im Wagen fahren?«

»Mit so einer Person«, assistiert ihm Frieda Kniefall, »wer mir das bei Lebzeiten gesagt hätte!« Niemals noch sei sie in einem Polizeiwagen gefahren.

»Wirklich nicht?« sagt Toni. Dann könne sich Fräulein Frieda Kniefall ja ein Taxi nehmen, sogar eins für sich allein und ihren Jungfernkranz, wenn sie fürchte, daß Herr Natscheradetz ihn im Wagen zerdrücken könnte. 200

Mungo Natscheradetz überhört das, er ist damit beschäftigt, den Wagen mißtrauisch zu mustern: »Das heißt eine Karosserie! Ich hab' direkt Angst, daß das auseinanderfällt.« Worauf die Galgentoni ihn höhnisch beruhigt: »Was kann Ihnen denn noch passieren, Sie toter Jud, Sie?«

Schließlich sind die Fahrgäste einwaggoniert, es knallt die Peitsche, es schwingen die Flügel des magern Hippogryphen, es pfeift der Wind, und es fährt der Wagen von der Erde ab über Wolkenberg und Wolkental, dem Fegefeuer zu.

Das Fegefeuer sieht aus wie eine Gerichtsstube, aber die Hinterwand hat zwei seltsame Tore. Das eine samt zugehörigem Schilderhaus ist blau und gold gestreift, und eine Lichtreklame mit der Aufschrift »Himmel« funkelt darüber. Schwarz und rot ist das andere Tor, düster seine Tafel: »Hölle«. Vor dem blaugoldenen Schilderhaus trippeln zwei Engel, den Palmwedel geschultert, auf und ab; vor dem anderen versehen den Wachtdienst zwei geschwänzte Teufel, die Birkenruten wie Säbel gezogen. Mond und Sterne leuchten nahe, Wolken durchschweben den Gerichtssaal.

Vorne am Gerichtstisch ist der Präsident des Obersten Gerichtshofs eingenickt, ein Herr mit langem Wattebart und ebensolchem Haupthaar. Rechts und links von ihm markieren zwei Assessoren, der himmlische und der höllische, eifrige Arbeit, bis sie am Schnarchen merken, daß der Alte schläft. Da schieben sie die Akten beiseite, zünden ihre Zigaretten an der Mondscheibe an und beginnen eine Diskussion über Gott und die Welt. Solange es nur über Gott und die Welt geht, sind sie in ihren Ansichten ziemlich einig, aber als die Debatte die Politik streift, bricht ein Konflikt aus. Der Himmelsassessor, ein glatter Herr mit Monokel, Schnurrbärtchen und Orden, schnarrt wütend, es sei eine Affenschande, daß man mit jeder hergelaufenen Seele lange Verhandlungen abführe, statt einfach kurzen Prozeß zu machen. Und immer, wenn er ein wenig das Römische Recht studieren wolle, müsse er das ewige Gewimmer aus der Hölle anhören. Wehleidige Schlappschwänze! Sollte man alle an die Wand stellen. 201

Demgegenüber bekennt sich der Höllenassessor zur Demokratie, jeder müsse wimmern können, soviel er wolle.

Der laute Streit weckt den Präsidenten. Der schwingt die Tischglocke: »Ruhe! Ich kenne keine Parteien, ich kenne nur Seelen.«

Die beiden Assessoren haben kaum die Zigaretten verlöscht und ihre Plätze eingenommen, als auch schon Pferdegetrappel, Wagenrollen und Peitschenknall die Ankunft von Zuwachs verkünden, – es ist der, den wir kennen. Unsere drei Freunde werden angewiesen, sich auf die Bank zu setzen, jedoch Mungo Natscheradetz gestattet sich höflichst vorzustellen und um Aufenthaltsbewilligung im Himmel zu ersuchen, vielleicht könne er früher drankommen, er sei nämlich momentan effektiv pressiert; er flüstert dem Präsidenten zu, er lasse sich's gern was kosten . . .

»Was fällt Ihnen ein?« schreit ihn der bemonokelte Himmelsassessor an, »Sie atmen hier Himmelsluft!« Nun, Mungo Natscheradetz ist auch bereit, ein Luftgeschäft zu machen, aber der Präsident heißt ihn sich hinsetzen und ruft Frieda Kniefall auf. Mungo Natscheradetz murmelt: »Rischeß!«

Der Präsident hat in Frieda Kniefalls Akten geblättert und erklärt sie schuldig der Heuchelei. Bevor die erschrockene Frieda auf die ausdrückliche Zusage des Herrn Pfarrers hinweisen kann, daß sie direktenwegs ins Himmelreich eingehen werde, wird sie von den beiden Teufelsposten gepackt. Sie sträubt sich und schimpft und droht, ohne daß es ihr nützt. Unsanft wird sie durchs Höllentor befördert, aus dem ein Feuerschein aufflammt.

Als nächster wird Herr Natscheradetz vorgerufen, was wiederum der Galgentoni nicht recht ist. Lange genug, zweiundfünfzig Jahre, warte sie schon auf den Klimbim, sie wolle hier nicht versauern; oh nein, da kenne man sie schlecht. Den Himmelsassessor, der sie schneidig zurechtzuweisen versucht, nennt sie einen vertrottelten Monokelfritzen. Die Teufelsposten wollen, sich schüttelnd und die Zunge bleckend, die Galgentoni einschüchtern. Die aber kriegt nur einen Lachkrampf: »Ihr seid wohl aus dem Pfefferkuchenladen geflitzt? 202 Verkriecht euch nur schnell mit euren Schwänzen, oder ich . . .« Flugs ziehen die Teufel ihre Schwänze ein und verstecken sich im Schilderhäuschen.

Milde sagt der Präsident zur Galgentoni: »Seien Sie endlich still.« Da wird sie endlich still. O weh, denkt sie, jetzt hab' ich die Karre ganz verfahren, jetzt ist's Essig mit dem Himmel.

Mungo Natscheradetz wird befragt, was er zu seiner Verteidigung vorzubringen habe. Schemajisröl! Zu seiner Verteidigung! Wenn er gewußt hätte, daß er hier eine Verteidigung brauche, hätte er seinen Anwalt mitgebracht. Mit bewegter Stimme liest er seine Todesanzeige vor: »Tiefbetrübt geben wir Nachricht vom Hinscheiden des Herrn Isidor Natscheradetz, Seniorchef des bestrenommierten Café Melantrich, Melautrichgasse . . .«

»Der alte Hurenstall«, ruft die Galgentoni dazwischen.

»Ihnen gesagt, hineingelassen worden zu sein!« antwortet ihr Mungo Natscheradetz und schickt sich an, in der Vorlesung seiner Todesanzeige fortzufahren, aber der Präsident nimmt sie ihm aus der Hand und gibt sie dem Teufelsposten, der sie durch das Höllentor wirft, »ein Stück Papier für besondere Zwecke«.

Natscheradetz schreit auf: »Was, meine Todesanzeige wollen Sie als Ascher-Joze-Papier verwenden? Wissen Sie, was die gekostet hat?«

»Sie können ihr gleich nach«, verurteilt ihn der Präsident, »Sie sind ein Kuppler.«

Bevor das Höllentor hinter Mungo Natscheradetz zufällt, hört man, wie er dort Freunde begrüßt: »Ah, Schlesinger und Sinaiberger, ihr seid auch schon da?«

Nun wird Antonia Havlova aufgerufen, und das ist der bürgerliche Name der Galgentoni. Ihre Akten werden herbeigetragen, Assessoren, Doppelposten und sogar der Wachtmeister haben daran zu schleppen, daß sie keuchen. Der Präsident liest die Titel der Aktenstöße: »Geheimprostitution«, »Körperverletzung«, »Ruhestörung«, »Grober Unfug«, »Verunreinigung öffentlicher Plätze«. Erschreckt hört die 203 Galgentoni diese Vorlesung: »Prost Mahlzeit«, brummt sie, »das Geschreibsel haben sie hier auch!«

Sie ist, wie sich ergibt, zweiunddreißigmal polizeilich und – drei-, nein viermal gerichtlich vorbestraft. »Immer unschuldig, hoher Gerichtshof«, beteuert sie, »immer unschuldig, so wahr ich lebe.«

Alle erschrecken. »Wer lebt?«

»Ach so, ich bin ja tot. Das vergißt man in der Aufregung.«

Der Präsident fragt sie: »Antonia Havlova, haben Sie noch einen anderen Namen, ich meine: einen Spitznamen?« Ja, antwortet sie mißtrauisch, den habe doch jede von ihrer Gilde. Auf weiteres Befragen gibt sie diesen Spitznamen an: »Mich nennt man die Galgentoni.«

Der Präsident schiebt die Akten fort und fragt, warum man sie so nenne. Da kommt er aber schön an. Das seien ihre ureigensten Privatangelegenheiten, das stehe in keinem Akt, da habe sich keiner hineinzumischen, darüber gebe sie keine Auskunft. Schikanieren lasse sie sich nicht, das habe nicht einmal die Sittenpolizei fertig gekriegt, darüber rede sie nicht und wenn man sie auch in den heißesten Höllenkessel schmeiße.

Ruhig läßt der Präsident diesen Wortschwall über sich ergehen und erinnert sie, daß sie ja die Geschichte auch bei Lebzeiten manchmal erzählt habe.

Oh, das sei eine ganz andere Kiste gewesen. Wenn jemand sie besucht habe, oder mal drei Glas Schnaps bezahlte, das war die Taxe, dann konnte er allenfalls die Geschichte verzapft kriegen. Aber zwingen, – nein, Herr!

Nun, Schnaps wird hier nicht geführt, aber dafür gibt's Äther genug. Auf ein Zeichen des Präsidenten senkt sich aus den Wolken eine Flasche nieder, und die Galgentoni äußert ihr Erstaunen, daß sich auch die himmlischen Heerscharen zeitweise einen hinter die Binde gießen. Gegen eine solche Verdächtigung protestiert der ganze Gerichtshof entrüstet.

Es ist ein guter Schluck, den Toni aus der Ätherflasche macht. »Fein! Ein Klassetröpfchen! Gibt's das in der Hölle auch?« 204

Statt einer Antwort erhält sie die Aufforderung, zu erzählen.

»Ja also, heiliger Gerichtshof, das ist schon eine alte Brühe. Das ist schon bald nicht mehr wahr. Es war am 12. August 1881.«

»Da sind es heute dreißig Jahre«, bemerkt der Präsident, worauf Tonis Mißtrauen verstärkt wiederkehrt: »Wirklich wahr, auf den Tag dreißig Jahre! Na und? Hab' ich mich nicht auf Erden genug damit herumgeschlagen? Wollen Sie mir aus der Sache hier auch noch einen Strick drehen?«

»Erzählen Sie nur ruhig, Toni.«

»Also, ich war damals im Salon Koutzki angestellt, in der Plattnergasse.«

»Hm«, macht der Präsident, »Ecke Saazergäßchen, nicht wahr?«

»Da schau her, Sie kennen das Lokal? Haben Sie auch bei uns verkehrt?«

Assessoren und Wachtposten kichern.

»Sie müssen sich dafür gar nicht genieren, Herr Gerichtshof, es war ein sehr nobles Etablissement, nur Herren aus der ersten Gesellschaft waren unsere Stammgäste. Das können Sie mir doch bestätigen, wenn Sie uns beehrt haben, Herr Gerichtshof.«

Vergeblich versucht das Personal das Lachen zu verbeißen, und ärgerlich gebietet der Präsident Ruhe. Und die Galgentoni erzählt weiter:

»Also, ich war damals bei Koutzki in der Plattnergasse und war weitaus die schönste von den Damen.«

Der Himmelsassessor räuspert sich.

»Sie sollten lieber nicht hüsteln, sonst kommt Ihnen Ihr Monokel in die falsche Kehle. Wenn ich sage, ich war die schönste von den Damen, so können Sie mir das glauben. Heute bin ich ja ein alter Schlampen, was hätte ich davon, mich zu rühmen? Aber damals war ich ›die blaue Toni‹, wegen meiner blauen Augen und weil ich ein blaues Empirekleid aus Atlas getragen hab', Ajour-Strümpfe und Lackschuhe. Wenn ich in den Salon hinuntergekommen bin, haben immer schon Herren auf mich gewartet, und um vier Uhr früh, 205 bevor Schluß gemacht worden ist, haben sie sich vor meinem Zimmer angestellt, ganze Reihen, jawohl. So eine Klasse war ich. Alle Damen – Sie wissen, die Kolleginnen – haben mich beneidet.«

»Nun, und was war am 12. August?«

»Ja, also am 12. August saßen wir, alle Damen, in der Küche beim Essen, da kam ein Detektivinspektor von der Polizei mit einem Gefängniswärter vom Strafgericht und tuschelte mit der Frau Koutzki. Wir haben gehört, wie die Alte sich aufregt und wie der Inspektor sagt, er habe es satt, von einem Puff ins andere zu laufen. Wenn ihm die Frau Koutzki Schwierigkeiten macht, so wird er ihr nächstens auch Schwierigkeiten machen. Natürlich hat die Alte sich mit ihm nichts anfangen wollen, na und da kommt sie zu uns nach hinten, und der Inspektor fragt, ob eine von uns Damen nicht ins Strafgericht gehen möchte zum Ferdinand Prokupek. Und Frau Koutzki hat dazu gesagt, sie gibt der Betreffenden noch fünf Gulden extra. Natürlich hat sich keine gemeldet.«

»Es hat sich eine gemeldet«, unterbricht der Präsident die Darstellung.

»Nein, hoher, heiliger Gerichtshof, es hat sich keine gemeldet. Ganz Prag hat ja gewußt, daß der Prokupek morgen gehängt wird, weil er drei Mädel erwürgt hat, eine bei Brandeis, eine bei Krtsch, und die restliche hat er ins Wäldchen bei Hodkowitschka gelockt. Alle drei hat er erwürgt und dann hat er die Leichen verstümmelt. Ein scheußlicher Kerl. Und so hat er auch auf dem Bild ausgesehn, das von ihm im ›Illustrierten Kurier‹ war, – ein Strolch mit zerfressenem Gesicht, das Kotzen ist einem angegangen, wenn man nur die Photographie angeschaut hat, pfui Teufel!«

Zum Glück baumelt die Flasche noch, so daß die Galgentoni den Ekel hinunterspülen kann und weiter erzählt: »Der Detektivinspektor hat eine Dame gebraucht, weil der Prokupek sich gewünscht hat, ein Mädchen bei sich zu haben, und wenn einer hingerichtet wird, muß ihm sein letzter Wunsch nämlich erfüllt werden.« 206

Diese Gelegenheit, mit seiner Kenntnis des Römischen Rechts zu protzen, läßt sich der Himmelsassessor nicht entgehen. Devot bemerkt er zum Präsidenten, das sei das alte Scortum Scorto.

»Was ist los?« fragt die Galgentoni.

»Nichts ist los, das ist aus dem Römischen Recht«, sagt der Himmelsassessor.

»Dann unterlassen Sie, bitte, solche Bemerkungen. Bei uns gilt das nicht, und es hat sich auch keine gemeldet.«

»Aber Toni«, sagt der Präsident, »es hat sich ja doch eine gemeldet.«

»Nein, hoher, heiliger Gerichtshof, das muß ich doch besser wissen, es hat sich keine gemeldet. Nicht einmal die Ludmilla wollte gehen, ›nicht für tausend Gulden‹, hat sie gesagt. Und sie war doch die mieseste von uns, daran werden Sie sich ja noch erinnern, Herr Gerichtshof, wenn Sie unser Stammgast waren.«

»Ruhe am Richtertisch, wenn ich bitten darf«, ruft der Präsident, denn die Assessoren prusten wieder los.

»Weil also keine von uns Damen zum Prokupek gehn wollte, so hat die Frau Koutzki zur Frau Petrikova gesagt, sie soll sich anziehn und ins Strafgericht mitgehn. Die Frau Petrikova war damals nur Bedienerin bei uns, dreiviertel Jahre vorher war sie noch Dame gewesen, aus dieser Zeit werden Sie sie vielleicht kennen, Herr Gerichtshof.«

»Ruhe!«

»Olga hat sie damals geheißen. Aber dann ist sie krank geworden, und als sie aus dem Spital zurückgekommen ist, hat sie so alt und häßlich ausgesehn, daß man sie unmöglich in den Salon lassen konnte. Eingefallene, fleckige Wangen hat sie gehabt und rote Augen, die Haare sind ihr ausgegangen, und immerfort war sie heiser. Furchtbar.«

Ein neuer Schluck aus der Ätherflasche schwemmt die Erinnerungen weg.

»Die Frau Koutzki wollte die Olga nicht mehr aufnehmen, aber weil sie so geheult hat, daß sie sich umbringen wird, hat man sie auf dem Sofa im Doktorzimmer schlafen lassen und 207 hat ihr das Essen gegeben. Dafür hat sie dann eben aufräumen müssen und hat natürlich nicht mehr Olga geheißen, sondern Frau Petrikova. Weil nun keine von uns Damen zum Prokupek hat gehn wollen, sollte sie diejenige sein. Da hat sie die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und hat aufgeschrien, aufgeschrien ohne Stimme. Lieber schmeißt sie sich in die Moldau, hat sie gesagt und hat gezittert wie Sülze . . . Da fiel mir plötzlich ein zu sagen: Ich geh zum Prokupek . . .«

»So, so!«

»Jawohl, dann bin ich also mit dem Inspektor losgezogen bis ins Strafgericht. Damals war ich zum erstenmal dort. Im Aufnahmebüro waren ein paar Aufseher, die haben so blöd gemeckert: ›Gute Unterhaltung wünschen wir Ihnen, Fräulein‹, und dann haben sie mich genau und gründlich abgetastet – angeblich, ob ich nicht ein Messer oder einen Strick für den Prokupek mitbringe. Na, vielleicht haben sie auch wirklich Angst gehabt, daß ich ihnen die schöne Hinrichtung verderben könnte. Und ein junger Aufseher hat ganz traurig zu mir gesagt: ›So ein bildhübsches Mädel, schämen Sie sich nicht?‹ Er hat geglaubt, ich mache es wegen der paar Gulden. Na, und dann haben sie mich in die Zelle vom Prokupek geführt. Sein Bild hab' ich schon aus dem ›Illustrierten Kurier‹ gekannt, das hab' ich Ihnen, glaube ich, schon erzählt. Aber er war noch viel ähnlicher als auf der Photographie. So eine schmierige Zuchthauskluft hat er angehabt und lauter Stoppeln und Pickel im Gesicht.«

Ein Zug aus der Ätherflasche beweist, daß der abstoßende Eindruck, den der Mörder auf sie gemacht hat, ein tiefer war.

»Wie ich ihn gesehn hab', hab' ich mir gedacht: wenn ich nur schon wieder draußen wäre! Aber anmerken hab' ich mir das nicht lassen. Wenn ich schon einmal da bin, soll er sich auch mit mir freuen. Ich weiß, was ich meinem Beruf schuldig bin. Ich hab' also zu ihm gesagt: ›Ihr Bild habe ich schon im ’Illustrierten Kurier‘ gesehen, hat mir gleich gefallen, deshalb bin ich gekommen.‹ Da hat er etwas ganz Ordinäres gebrummt: ich soll ihn . . .« 208

Hier hält es der Präsident für angebracht, den Satz selbst zu vollenden: ». . . den Buckel runterrutschen.«

Diese Fassung aber ist nicht die authentische. »O nein«, beharrt die Galgentoni, »noch viel gemeiner. Sie verstehen schon, hoher Gerichtshof, ich brauche mich hoffentlich nicht darüber zu verbreiten, das wäre mir peinlich. Eine halbe Stunde war ich mit dem Prokupek, da sagt er zu mir: ›Jetzt kannst du gehn.‹ Ich war heilsfroh, daß es vorbei war, ich hab' ja so eine Angst gehabt, daß er mich vielleicht auch erwürgen wird wie die drei Mädel. Aber wie ich ihm die Hand geben will, hat er mir leid getan. Ich hab' mir gedacht, am Morgen holt ihn der Henker, und da hab' ich zu ihm gesagt: ›Ich möchte gerne noch ein bißchen bleiben.‹ Da hat er wieder so etwas gebrummt wie vorher. Sie wissen schon . . .«

»Gewiß, Sie müssen es nicht wiederholen.«

»Nein, nein, ich wiederhole es nicht, ich erwähne nur, daß er wieder so etwas Unfeines gesprochen hat. Aber es hat ihn doch sehr gefreut, daß ich gesagt hab', ich möchte dableiben. Na, und um zwei Uhr nachts bin ich nach Hause gerannt und bin gleich auf mein Zimmer und wollte mich schlafen legen. Da sehe ich, daß mir meine Kolleginnen, die Damen, diese Säue, einen Galgen aus Pappdeckel auf den Nachttisch gestellt haben. Mit so etwas macht man doch keine Witze, nicht wahr, hoher Gerichtshof? Ich hab' einen solchen Zorn gehabt, daß ich kaum einschlafen konnte. Wie ich am Nachmittag zum Frühstück runterkomme, haben alle schon die Hinrichtung in der Zeitung gelesen und fangen an, mich zu uzen: ›Du bist wohl so stolz geworden, weil sie deinen Liebsten erhöht haben?‹ – ›Schlepp uns nur keinen kleinen Prokupek ins Haus, sonst erwürgt er uns noch alle.‹ Je mehr ich mich geärgert habe, desto mehr haben sie mich gehöhnt, und wütend bin ich auf mein Zimmer gelaufen.«

»Aber Sie sind doch wieder hinuntergegangen, Toni?«

»Erst am Abend, wie das Geschäft angefangen hat. Wie ich also abends in den Salon runterkomme in meinem blauen Empirekleid, das mir so gut gepaßt hat. Sie erinnern sich doch noch . . . ?« 209

»Ja, ja, erzählen Sie weiter.«

» . . . da haben die Luder alle im Chor gerufen: ›Galgentoni!‹ Und denken Sie, diese Gemeinheit: den Gästen haben sie auch erzählt, wo ich gestern abend war. Das ist doch unlauterer Wettbewerb, nicht wahr, hoher Gerichtshof? Meine treuesten Gäste haben mich nicht einmal angeschaut.«

Und jetzt dringt auf die Galgentoni eine Erinnerung ein, die nicht mit Äther hinunterzuspülen ist und nicht mit Tränen. Sie schluchzt, da sie vom blonden Willy erzählt: »Um ein Uhr ist der blonde Willy gekommen, der war schon dreiviertel Jahre mein richtiggehender Liebster – ich hab' den Lausejungen, den elenden, so schrecklich gern gehabt, nie mehr werde ich einen wieder so gern haben – ein feiner Junge, er war immer tipptopp angezogen, Sie werden sich sicherlich noch an ihn erinnern, hoher Gerichtshof, er ist immer am Mitteltisch gesessen, mit gelben Handschuhen und einer grünweißen Krawatte. Also, ich will mich zu ihm setzen, da schreit er durchs ganze Lokal: ›Bevor mich der Henker hochzieht, lass' ich dich schon rufen‹.«

Tonis Körper schüttelt sich vor Schmerz: »Und dann – und dann – ist er mit der – polnischen Wanda aufs Zimmer gegangen! Mit dem Biest, das immer so gemein zu mir war. Das hätte er mir nicht antun sollen, das nicht, nein, das nicht!«

»Trinken Sie einen Schluck, Toni, und erzählen Sie weiter.«

»Am nächsten Tag bin ich vom Salon Koutski weggelaufen. Bei der ›Blauen Nudel‹ haben sie mich aufgenommen.«

»Blaue Nudel?«

»Das werden Sie nicht kennen, das ist ein ganz kleines Puff gegenüber vom Blindeninstitut.«

Der Himmelsassessor nickt.

»Ja, Sie werden es kennen. Ach Gott, das war mit dem Salon Koutzki gar nicht zu vergleichen. Da hab' ich kein blaues Empirekleid mehr gehabt und keine Lackschuhe und keine durchbrochenen Strümpfe. Und wissen Sie, was mir am meisten gefehlt hat – das Grammophon. Erinnern Sie sich noch an das große Grammophon bei Koutzki? Da hab' ich so gern getanzt, wenn es gespielt hat: 210

›Komm, Karlinchen, komm, Karlinchen, komm,
Wir woll'n ins Grüne gehn . . .‹«

Erinnerungsselig streckt sie die Arme aus und beginnt zu summen und sich zu bewegen, dann zu singen und zu tanzen:

»Da ist es wunderschön . . .«

Und der Gerichtshof mitsamt dem Wachtpersonal summt und singt und bewegt sich mit, sogar die Wolken schaukeln im Takt des Liedes:

»Komm, Karlinchen, komm, Karlinchen, komm,
Wir woll'n ins Grüne gehn, Da ist es wun . . .«

Der Präsident ist der erste, der sich wieder besinnt. »Pst! Ruhe!« ruft er. Und als schon alle verstummt sind, fügt er hinzu: »Ein Skandal!« Dann sagt er zu Toni: »Weiter!«

Worauf sie wieder aus voller Kehle zu singen anfängt:

»Komm, Karlinchen, komm, Karlinchen . . .«

»Ruhe! Sind Sie verrückt geworden?«

»Aber Sie haben doch gesagt ›Weiter‹, Herr Gerichtshof.«

»Weiter erzählen sollen Sie.«

»Ach so! Ja, wo sind wir denn stehengeblieben? Richtig, bei dem Grammophon. Also das Grammophon hat mir, wie gesagt, sehr gefehlt. Nein, Koutzki und Blaue Nudel, das war wie Tag und Nacht, hoher Gerichtshof, den Unterschied sollen Sie Orgel spielen können. Ich war aber nur drei Nächte dort: in der dritten Nacht ist ein Gast gekommen, der mich vom Salon Koutzki gekannt hat, und der Quatschkopf hat die Geschichte gleich ausgepackt. Die Damen haben mich sowieso beneidet, weil ich den schönsten Körper gehabt hab', und weil ich eine Neue war. Gleich hat's wieder geheißen: Galgentoni! Das war ein richtiges Fressen für die: Galgentoni! Unter solchen Umständen ist es schwer, in einem Lokal zu arbeiten, das müssen Sie doch einsehen! Da bin ich dann wieder von der ›Blauen Nudel‹ weg und bin auf die Straße gegangen. Ja, was ist mir denn anderes übriggeblieben als der Strich? Dreißig Jahre 211 lang bin ich so gegangen, Abend für Abend, keine Müdigkeit vorschützen. Und ich hab' auch, Gott sei Dank, jeden Abend einen Freier gefunden.«

Hier kann sich der Himmelsassessor der spöttischen Bemerkung nicht enthalten: »Nulla dies sine linea.«

»Was heißt denn das schon wieder?« fragt Toni.

»Das heißt: kein Tag ohne Strich.«

»Jawohl, das stimmt, dreißig Jahre lang kein Tag ohne Strich. Zuletzt hat mir ein Kunde einen Pelzmantel versprochen, damit ich in den feinen Kaffeehäusern verkehren kann. Aber das hab' ich nicht mehr erlebt. Ist es denn ein Wunder? Die Straße ist doch das Furchtbarste, was es gibt.«

»Warum denn?« fragt der Präsident und gibt dem Assessor ein Zeichen, das zu protokollieren.

»Was man von der Polizei ausstehen muß. Und erst recht von der Zimmerwirtin! Jeden Tag schikaniert sie einen mit was Neuem, und alle nasenlang erhöht sie einem die Miete, und alles muß man sich gefallen lassen. Alles muß man sich allein besorgen, am hellen, lichten Tag, wo man doch schlafen sollte. Und wenn man was einkaufen geht, einen Hut oder eine Bluse oder Reizwäsche – man kann doch nicht in Flanell herumlaufen! – dann begaunern einen die Verkäufer. Jeder glaubt, unsereins kann geneppt werden. Und woher kommt das, unser ganzer schlechter Ruf?«

»Nun, woher glauben Sie?«

»Das kann ich Ihnen ganz genau angeben, Herr Gerichtshof, und der Herr dort soll es aufschreiben. Unser ganzer schlechter Ruf kommt nur von den Fräuleins auf der Promenade, von diesen Nutten. Das sind solche Rotznasen, die nichts gelernt haben und nichts können, und die glauben, wenn sie nachts ausgehen, dann sind sie schon Huren. Und sehen Sie: die gehn zu keiner Kontrolle, und von ihnen kommen dann die Krankheiten. Aber gerade diese Luder haben die meisten Kundschaften. Und wir müssen stundenlang herumjagen, bevor wir einen Freier erwischen. In der Nässe, in der Kälte – nein, die Straße ist einfach gräßlich. Das ist nicht wie im Salon, wo sie 212 einem alles besorgen, und wo man von hinten und vorn bedient wird.«

»Finden Sie's dort wirklich so schön?« fragt der Präsident und macht sich eine Notiz.

»Ach, das Puff ist das Schönste, was es gibt. Na, aber das ist vorbei. Und am Strich hat mich wenigstens niemand gekannt, und das mit der ›Galgentoni‹ hat aufgehört.«

Der Präsident stöbert in den Akten und fragt: »Für immer aufgehört?«

»Nein, nicht für immer. Die Menschen sind ja so schlecht! Einmal sitzen wir in der ›Phimose‹, wo man frühmorgens die beste Kuttelflecksuppe gekriegt hat – ich war mit einem Kerl da, mit dem ich mich schon die ganze Nacht herumgeschleppt hatte, und ich hoffte, doch noch Handgeld zu machen. In dem Lokal waren ein paar Nutten, die noch niemanden gefunden hatten, und bei denen am Tisch saß die Stotterbetty, die mich noch von der ›Blauen Nudel‹ gekannt hat. Das Aas hat ganz genau gewußt, daß ich schon stundenlang mit dem Kerl herumzottle, und trotzdem macht sie verliebte Nasenlöcher auf ihn. Na, ich lasse mich doch nicht aus einem Geschäft schieben! Also hab' ich sie aufs Klosett hinausgerufen und zu ihr gesagt: ›Das kannst du doch nicht machen!‹ Da stottert sie: ›Der Kakaka-Kartoffelbauer interessiert mich ja gagagar nicht.‹ Kaum haben wir uns wieder ins Lokal gesetzt, hat das Weibsstück wieder angefangen. Jetzt wollte der Kerl wirklich mit ihr anbandeln, und da hab' ich sie aufmerksam gemacht: ›Wenn die Komödie nicht gleich aufhört, hau ich dir das Tischbein um die Ohren, daß dir die Zähne in Doppelreihen aus dem Hintern marschieren, du dreckiger Abort.‹ Kaum hab' ich das gesagt, denken Sie nur, ist die Person schon ordinär geworden. ›Gegegeh doch zu deine Kukukundschaften in der Todeszelle, gegegeh doch zu deinen Mördern!‹ ruft sie durchs ganze Lokal. Und wie die anderen fragen, was denn das heißen soll, da brüllt die Stotterbetty, dieses Mistvieh: ›Wiwiwißt ihr denn nicht, daß das die Gagagalgentoni ist? Die wird geholt, wenn einer gegegehängt wird, damit er befriedigt aus dem Leben scheidet.‹ Alle haben gelacht, mir aber 213 ist ganz schwarz vor den Augen geworden, so eine Wut hab' ich gekriegt. Ich bin aufgesprungen und hab' ihr in die Fresse geknallt . . .«

Mehr und mehr hat sich die Toni in die Wut hineingelebt, die sie damals empfand, und nun haut sie auf den Gerichtstisch ein, als wäre er die Fresse der Stotterbetty. In weitem Bogen fallen die Aktenstücke auf den Boden. Das stört die Toni nicht in der Erzählung:

» . . . daß der Stottersau gleich die Marmelade aus der Nase gekommen ist. Dann habe ich sie zwischen die Beine genommen und so hingehaut, daß die Rettungsgesellschaft sie hat abholen müssen. Das werden Sie ja ganz leicht . . .«, sie zeigt auf den Boden, wo die Aktenstücke verstreut liegen, ». . . in den Akten finden. Seit dieser Zeit hütet sich die Stotterbetty, etwas von ›Galgentoni‹ zu erwähnen, auch wenn wir nächtelang im Café Melantrich auf dem Korridor miteinander streiten. Aber die Sache hat sich herumgesprochen. Zuletzt war's mir auch schon egal, und wenn ich gut gelaunt war und mir einer drei Glas Schnaps zahlte oder zu mir ins Zimmer kam, so kriegte er die ganze Geschichte von mir erzählt, wie ich beim Prokupek in der Zelle war, mit allen intimen Einzelheiten, auch wie er mich . . .«

Hier unterbricht der Präsident: »Toni, wollen Sie mir noch eine Frage beantworten?«

»Aber mit dem größten Vergnügen, Sie sind ja so ein freundliches gemütliches Huhn. Fragen Sie nur ruhig, was Sie interessiert.«

»Antonia Havlova, warum sind Sie damals zu dem Mörder Prokupek gegangen?«

Toni denkt nach. »Das weiß ich eigentlich selber nicht«, antwortet sie schließlich.

Da erhebt sich der Präsident und klingelt. Es wird dunkel, nur ein transparenter Schlüssel leuchtet. Unter Orgelklang und Glockengetön verwandelt sich die Gerichtsstube in ein Lokal mit runden Tischen, an denen Mädchen und Gäste sitzen. Wolken schweben darüber. 214

Toni selbst ist wieder jung, im blauen Empirekleid, mit großen gefiederten Flügeln. Sie klatscht entzückt in die Hände: »Ach, wie fein, da bin ich ja wieder im Salon Koutzki.«

Alle Gäste freuen sich, die blaue Toni wiederzusehen, und die sehr dicke, sehr dekollettierte und sehr geschminkte Frau Koutzki bietet ihr eine Zigarette an.

Und wer ist noch da? Der blonde Willy ist noch da. Er sitzt wie immer am Mitteltisch und hat seine knallgelben Handschuhe an und seine grünweiße Krawatte und ruft: »Na, Liebling, Gott sei Dank, daß du wieder da bist.«

»Der blonde Willy!« flüstert Toni, die das alles gar nicht fassen kann.

Geringschätzig rümpft der Himmelsassessor die Nase und äußert in dementsprechendem Ton: »Da haben Herr Präsident Ihrem Grundsatz wieder einmal Ehre gemacht: ›Jedem Menschen sein Himmelreich.‹ Den Geschmack dieser Person haben Herr Präsident jedenfalls tadellos getroffen.«

Der Präsident überhört die Ironie. »Glauben Sie wirklich, Herr Assessor?« fragt er.

»Na, zweifellos«, antwortet der, »Herr Präsident sind geradezu unfehlbar.«

Aber der Präsident will aus Tonis eigenem Mund hören, ob sie nun glücklich sei.

»So glücklich!« bringt sie nur hervor.

»Und hast du noch einen Wunsch, Toni?«

»Ach ja, ich möchte so gern das Grammophon wieder hören.«

Daraufhin gibt der Präsident ein Zeichen. Das Grammophon beginnt das Lied »Komm, Karlinchen« zu spielen. Die blaue Toni lauscht verzückt. Dann wirft sie die Zigarette fort, packt den blonden Willy und tanzt mit ihm. Sie ist im Himmel. 215

 


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