Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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Mutterseelenallein in Philadelphia

Der Doktor Becker befindet sich zum erstenmal in einer Stadt mit Millionen Menschen, von denen er keinen einzigen kennt, keiner ihn kennt, ja, von denen er keinen einzigen aufzusuchen und sich auf irgendwen oder irgendwas zu berufen imstande wäre.

Das mag nicht vorteilhaft sein, aber es erfüllt den Doktor Becker mit dem eigentlichen Gefühl von Reise und Fremde.

Um sich nun mit dieser Stadt Philadelphia, von der er nichts und niemanden weiß, bekannt zu machen, liest er auf den Straßenbahnen die Namen der Endstationen und besieht Ansichtskarten. Den ersteren entnimmt er eine Haltestelle des Namens »Delaware River Bridge«, woraus er schließt, die Stadt liege am Delaware. Die letzteren belehren, beziehungsweise erinnern ihn, daß Philadelphia mitsamt Pennsylvanien von William Penn gegründet worden ist, daß hier die Unabhängigkeitserklärung Amerikas erfolgte und daß außer dem verehrtesten Manne Amerikas, nämlich George Washington, auch der zweitverehrteste, nämlich Benjamin Franklin, hierorts gewirkt hat. Sie besitzen ihre auf Postkarten reproduzierten Denkmäler, das des William Penn steht sogar auf dem Dach des Rathauses.

Die Independence Hall ist gleichfalls ansichtskartengemäß vorhanden, und der Doktor Becker, froh, einen Punkt zu haben, nach dem er fragen kann, begibt sich dorthin. Von seinem Hotel in Chestnut Street (er verdankt es einem schwarzen Gepäckträger) sind nur wenige Schritte zu dem für die Weltgeschichte und den Doktor Becker bedeutsamen Gebäude.

Aber unterwegs wird er durch eine Tafel verlockt, seinen Weg zu unterbrechen. Sie sagt: »The Drs. La Grange & Jordan, European Museum; established in Philadelphia in 1858, open daily, except Sunday, for gentlemen only.« Der Doktor Becker tritt ein und sieht sich in einem Panoptikum.

Auf einen Mann, der, wie einleitend bemerkt, in der Millionenstadt keinen Bekannten vermutete, muß die Überraschung mächtig wirken, urplötzlich Venus und Cupido gegenüberzustehen, den siamesischen Zwillingen und vielen anderen alten Freunden aus Castanschen Tagen.

Besonders bewegt betrachtet der Doktor Becker die Nr. 206, die ihn an ein in Deutschland verübtes Verbrechen erinnert, an den zwecks Erlangung einer Versicherungssumme verübten Bombenanschlag von Bremerhaven; auf den Gedanken, die Büste von J. J. Thomas habe hier nur Aufstellung gefunden, weil er ein Engländer gewesen, kommt der Doktor Becker nicht. Erst nach und nach merkt er, beim Vergleich des Katalogs mit der wächsernen Wirklichkeit, daß – wohl seit dem Eintritt Amerikas in den Krieg – alle deutschen Gestalten beseitigt sind aus diesem European Museum.

Nur Bismarck findet er – doch wo findet er ihn! Er findet ihn verbannt in die äußerste Ecke der Abteilung für Geschlechtskrankheiten. Solches schmerzt den Doktor Becker, und daher leistet er dem Museumskustos keine Folge, der sich ihm gerade in diesem Augenblick mit Bart und Brille naht, als Spezialist für Männerleiden vorstellt und angelegentlich empfiehlt.

Auch der Doktor Becker empfiehlt sich. Er geht in die Independence- und die anliegende Congress-Hall. Außer einigen Reliquien befindet sich daselbst die Geschichte Amerikas in gemalten Romanzen, in Genrebildern. Der Doktor Becker staunt, wie idyllisch sich die Geschichte Amerikas vollzogen hat. Alles ging glatt von jenem zehnten Oktoberabend des Jahres 1492 an, da Christoph Kolumbus besonders inbrünstig das Salve Regina betete, worauf ihn promptest eine Brise zur lang ersehnten Küste der Vereinigten Staaten trieb, bis zu dem Tage, da Washingtons Mutter sich von ihrem Sohn verabschiedet, nicht ohne ihrem George den Rat zu geben, die Engländer auf Long Island zu schlagen und 42 000 Gefangene zu machen. Ferner haben die farbenfrohen Maler des achtzehnten Jahrhunderts festliche Landungen und ländliche Feste verewigt, an denen Indianer glückstrahlend teilnehmen, aber nirgends ist veranschaulicht, wieso diese Gäste für ewig aus der Welt verschwanden. Ebensowenig fand der Doktor Becker die Einfuhr der Neger, die doch in der Geschichte Amerikas eine entscheidende Rolle spielten, künstlerisch dargestellt.

Nicht lange darauf erblicken wir in Gottes freier Natur, weit draußen im Westen von Philadelphia, einen Mann, der uns bekannt vorkommt. Und wirklich: es ist der Doktor Becker. Er hatte einen x-beliebigen Straßenbahnwagen bestiegen und ihn verlassen, als ihn die Gegend dazu verlockte. Sie hielt, was sie versprochen. An belaubten Hängen, an einer Meile von Bootshäusern, an unbeschnittenen Bosketten und märchenhaften Rasenplätzen entlang, durch felsige Hohlwege und breite Uferstraßen darf der Doktor Becker lustwandeln, und diese Parkanlage ist noch in winterlicher Vermummung schöner als alle, die er jemals gesehen.

Durch ein Baby im Kinderwagen mit dessen Großmutter bekannt geworden, fragt der Doktor Becker nach dem Namen der Gegend. Die Auskunft, es sei der Fairmount Park, wird in derart erstauntem Ton gegeben, daß der Doktor Becker es für gut befindet, um den bekundeten Mangel an Bildung auszugleichen, mit seinen, den Straßenbahntafeln entnommenen Kenntnissen zu prunken. Auf den Fluß zu seinen Füßen deutend, erwähnt er, herrlich sei der Delaware. »Nein, Herr, das ist nicht der Delaware, das ist der Schuylkill River, der Delaware ist auf der anderen Seite von Philadelphia. Waren Sie denn wirklich noch niemals in unserer Stadt?«

Philadelphia gehört zu den größten Städten des Erdballs, und die mißtrauisch akzentuierte Frage war hier berechtigter als zum Beispiel in der Tschainaja des Dorfes Karpilow im Kaukasus, wo die Antwort des Doktor Becker auf die gleiche Frage eine fröhliche Sensation an allen Tischen hervorgerufen hatte: der Mann ist zum erstenmal im Leben in Karpilow!

Zum Glück lacht das Baby in dem Moment, da die Großmutter von Fairmount Park der Ahnungslosigkeit des Fremden zu mißtrauen beginnt, und aller Großmütter Herzen werden weich, wenn das Enkelkind lacht. Sie verzeiht dem Doktor Becker, daß er wirklich oder angeblich noch nie in Philadelphia gewesen, zeigt sich zu einer weiteren Belehrung bereit und ihm eine Villa auf dem Hügel.

Er folgt der Richtung ihrer Hand. »Ein wunderschönes Haus«, sagt er nur, aber auch dies erweist sich als Fehler. »Es ist der Schandfleck von Philadelphia, man sollte es beseitigen.« – »Ja«, gibt der Doktor Becker zu, »ein wenig stört es dort oben.« Ach, er kommt aus den Fehlern gar nicht heraus, Großmutter bemerkt hart: »Nein, es nimmt sich wunderbar aus, deshalb läßt man es auch stehen, obwohl es ein Schandfleck ist. Haben Sie schon einmal von General Benedikt Arnold gehört?« – »O gewiß, er ist sehr berühmt in Europa, ein glänzender . . .« – »Er war der größte Lump, hat Amerika während des Freiheitskrieges verraten. Gleichzeitig mit dem edelsten Mann Amerikas hat der größte Schurke Amerikas in Philadelphia gelebt. Und das Haus dort oben ist sein Haus. Wir von der Patriotischen Damenliga wollten, daß es niedergerissen werde, aber . . .«

Aber dem Baby scheint das zum Lachen.

Großmutter weist auf eine weitere Sehenswürdigkeit hin. »Dort in den Felsenhängen können Sie sehr viele Höhlen finden, wo vor hundert Jahren Einsiedler hausten, lauter Deutsche. In der deutschen Gemeinde war der Wahn ausgebrochen, man müsse im Walde leben und sich von Wurzeln nähren. Meine Mutter hat noch einige von den Eremiten gekannt. Sie hat mir erzählt, es seien gute Leute gewesen. Aber ich glaube das nicht. Wir wissen, wie die Deutschen sind, wie furchtbar sie im Krieg die amerikanischen Gefangenen gemartert haben.«

Das Baby hat genug Luft geschnappt und der Doktor Becker genug mündliche Belehrung, jedenfalls mehr, als er in einer wildfremden Millionenstadt erwarten durfte. Er fährt, von Philadelphia befriedigt, wieder in sein Hotel zurück.

 


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