Egon Erwin Kisch
Die Abenteuer in Prag
Egon Erwin Kisch

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I
Familiäres,
allzu Familiäres

Ueber fremde Wege wölbt sich der eigene, und manchmal kommt einer vom verklärten Urwald her: aus dem Lande Vergangenheit.

Stehend auf unserem Viadukt, schauen wir auf die fremde Straße hinunter, stemmen unsere Gedanken gegen die Strömung, wollen zu den Quellen.

Zu den Quellen im verschwundenen Land.

Neugierde überwog Modergeruch und Befangenheit, wenn man zu Tante Lotti kam, und sie saß mit vibrierender Unterlippe, pendelhaft schwingenden Händen, neunzigjährig, hundertjährig, ich weiß es nicht, in Häubchen und Biedermeierkleid im Biedermeierzimmer auf ihrem Kanapee, dem Fenster nahe. Nie habe ich sie anders gesehen, als in ihrer Wohnung im Hause »Zur Stadt Moskau«, Seilergäßchen (Ecke Brückel), auf dem Sofa beim Fenster. Ob sie groß war oder klein war, – kann es nicht sagen.

Kind noch war ich, und sie war meiner Großmutter, Marie Kuh, geborenen Fischel, bedeutend ältere Schwester. Meine Großmutter, die ich kaum gekannt habe, hat Tante Lottis Mann kaum gekannt. Denn Tante Lotti war sechzig Jahre Witwe. Charlotte Steinhardt hieß sie.

Sie hatte zu erzählen von Kaiser Franz und Kaiser Ferdinand, und dem Buberlkaiser Franz Josef, vom Preußeneinzug in Prag, vor dem sie mit meiner damals noch ganz kleinen Mutter nach Pilsen geflüchtet war, von Barrikadenkämpfen. Wie sie gerade auf dem Obstmarkt einkaufen wollte, als man die Fürstin Windischgrätz erschoß. Manchmal verwechselte sie 1848 und 1866, und trotzdem sie mich lieb hatte, weil ich einiges von Personen und Ereignissen wußte, die sie bis dahin für Privaterinnerungen ihres Lebens gehalten haben mochte, von Bismarck, Kaiser Wilhelm, Schlacht von Königgrätz, Napoleon III., Revolution, konnte sie sich meinen Namen nicht merken. 10

Statt »Egon« nannte sie mich »Egmont«. Das lag ihr näher, denn die große Leidenschaft ihres Lebens war Goethe.

Mutmaßlich hatte sie schon bei ihrer Geburt, zu welcher Zeit die Werther-Mode allerdings schon vorbeigerauscht war, der Romanheldin zu Ehren den Namen Lotti erhalten, welche Vorausbestimmung ihre Liebe zu »Werthers Leiden«, dann zu übrigen Werken Goethes und zu Goethes leibhaftiger Person bewirkt haben mag. Aber diese Liebe zum Dichter selbst ist eine unglückliche gewesen, oh, eine Enttäuschung! Noch sechzig Jahre später hatte sie das nicht verwunden.

Ihre Schwärmerei für Goethe blieb bis in ihr so hohes Alter eine Backfischliebe, nach der Gewichtsverteilung ihrer Erzählungen zu schließen, ist ihr der Anblick Goethes ein wichtigeres Erlebnis als die Lektüre seiner Werke gewesen, und die Leiden, die sie über das Scheitern der persönlichen Bekanntschaft mit ihm empfand, tragischer als die des jungen Werthers.

Sie hatte, so erzählte Tante Lotti, als Backfisch ihren Eltern nicht eher Ruhe gegeben, als bis diese mit ihr eine Reise nach Marienbad machten, damit sie Goethe selbst sehen könne, den sie immer las und dessen Werke sie auswendig kannte, den Dichter, den sie mit Tasso und Götz und Werther und Faust identifizierte. Und schon am ersten Tage begegnete sie ihm, beim Karolinenbrunnen geschah das, er war in zahlreicher Gesellschaft und viel, viel kleiner von Statur als sie sich vorgestellt hatte, aber sie erkannte ihn gleich, bekam Herzklopfen und wurde so blaß, daß ihre Mutter drohte, sofort abzureisen, wenn sich eine solche Aufregung noch einmal wiederholen würde.

Doch hatte niemand Fremder die Wirkung bemerkt, die diese Erkennungsszene auf das Prager Mädchen ausgeübt hatte, und Taute Lotti tat sich auf diese Selbstbeherrschung ebensoviel zugute, wie darauf, daß sie immer höchst unauffällig und unbemerkt in der Nähe des Hauseinganges gewartet hatte, bis ihr Gott auf die 11 Straße trat. Dann war sie ihm nachgegangen, vom Kirchenplatz auf die Straße und in die Umgebung, immer so weit abseits und so diskret, daß Goethe nichts davon merken konnte.

»Nur einmal, auf dem Wege zur Hohendorfer Höhe ging ich hinten, und Er ging mit zwei Herren. Hinter der Straßenbiegung blieben sie stehen, was ich aber nicht wußte und so überholte ich sie. Einer der Herren erklärte gerade etwas, und Goethe stand der Wegseite zugekehrt, auf der ich kam. Er schaute mich an. Mit wunderbaren schwarzen Augen, mit wunderbaren schwarzen Augen. Ich fühlte, wie ich rot wurde, und er hat das bemerkt, und hat genickt und gelächelt, du mußt nicht glauben, Egmont, daß ich mir das einrede, er hat mir wirklich zugenickt, so freundlich zugenickt und gelächelt, daß sich die zwei anderen Herren nach mir umwandten. Du kannst dir denken, wie ich gelaufen bin, daß ich nach Hause komme.

Seit der Zeit habe ich doppelt achtgegeben, daß er nicht bemerke, ich gehe ihm nach. Aber diese blöde Gans, die Lewetzow, die hat mich schon bemerkt und hat sich nach mir umgedreht und mich immer mit einem verächtlichen Blick gemessen. Das ist eine scheußliche Person gewesen, mit einem faden Puppengesicht, sie hat ihn immer abgeholt, manchmal hat er sie eine geschlagene Stunde warten lassen, aber dann ist sie neben Ihm spazieren gegangen mit hochgezogener Nase, als ob Er sie langweilte und dabei hat sie achtgegeben, ob auch jeder bemerke, daß sie mit Goethe spazieren gehe. Und sie hat auch mich gesehen und hat sich empört nach mir umgedreht, eifersüchtig war sie, die dumme Gans, na, so schön wie sie war ich noch lange . . .«

Tantchen Lotti sprach sich noch siebzig Jahre hernach in Wut gegen ihre Nebenbuhlerin. Das ist begreiflich, denn sie hat damals in Marienbad große Pläne gehabt und wenn sie ihr geglückt wären, so wäre Tante Lotti die letzte Liebe Goethes gewesen und nicht Ulrike von Lewetzow . . . Denn sie wollte zu Goethe in die 12 »Goldene Traube« gehen, mit der Bitte, ihr etwas ins Poesiealbum zu schreiben, und sie zweifelte nicht, daß Goethe sie schön, schöner als Ulrike gefunden hätte und von da ab mit ihr spazieren gegangen wäre. Leider fand Tante Lotti nicht den Mut dazu, und erst am Tage ihrer Abreise nahm sie alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz, und ging mit dem Poesiealbum in Goethes Gasthof. Der Dichter war gerade im Brösigkeschen Haus zu Besuch, Tante Lotti ging ins Brösigkesche Haus. Eine Zofe übernahm das Buch, es Goethe hineinzutragen.

Das waren in Tante Lottis Leben die aufgeregtesten fünf Minuten. Wird der Meister selbst herauskommen, oder wird er nur etwas in das Buch dichten, was so schön ist wie der »Erlkönig«?

Es kam – Ulrike von Lewetzow. Hochnäsig und brüsk gab sie Tante Lotti das Buch zurück: »Exzellenz hat jetzt keine Zeit für solche Sachen.«

Diese Enttäuschung, nein, ein neunzigjähriges Leben genügt nicht, sie zu verwinden! Und niemals nannte Tante Lotti den Namen der Beleidigerin ohne ein gehässiges Beiwort.

Das hat dem Fräulein Ulrike von Lewetzow nicht geschadet, ich habe sie oft gesehen, wenn ich bei meinem Freunde Franz Schiller auf dem Triblitzer Gut zu Gast war, und habe mich angesichts der schönen, alten Dame immer nur an Goethe erinnert, nie aber an die arme Tante Lotti, die gestorben ist, während ihre böse Nebenbuhlerin da lebte und leben wird, solange es Literaturgeschichte gibt.

Meine Enthüllungen aber werden Tante Lotti kaum zu diesem Ruhm verhelfen.

Jedenfalls hätte eine noch so intime Bekanntschaft Tante Lottis mit Goethe die Inbrunst ihres lebenslänglichen Kults nicht viel mehr verstärken können. Nie hat Tante Lotti z. B. in ihrer langen Witwenschaft über ihren Gatten gesprochen, und obwohl sie erwähnte, 13 durch die Austerlitzischen mit Heinrich Heine verwandt zu sein, kann ich mich nicht erinnern, daß sie je etwas aus Heine zitiert oder über ihn ausgesagt hätte, geschweige denn, daß sie ihm in ihrem Herzen, als welches ein schönes Poesiealbum war, einen Platz neben Goethe vergönnt hätte.

Ich bin selbstredend später den Spuren auch dieser Verwandtschaft nachgegangen, habe aber in den Biographien und in der in der »Montags-Revue ans Böhmen« erschienenen Artikelserie über Heines Beziehungen zu Prag von Julius Vinzenz Patzak (wo übrigens auch die Prager Provenienz der »Mouche« nicht erwähnt ist) den Familiennamen »Austerlitz« nicht zu finden vermocht.

Auf der Jungfernfahrt des Dampferprotagonisten »Vaterland«, wenige Wochen vor Ausbruch des Krieges, empfing mich jeden Morgen, wenn ich aus meinem Schlafsalon herrlich ausgeschlafen und sehr verspätet zum zweiten Frühstück in die Hall des Hotel Ritz-Carlton kam, Georg Brandes mit dem Ausruf: »Sieht er nicht genau wie Heine aus?« Die Korona von Schriftstellern, den Meister umgebend, in ihr vor allem der fanatische Heineaner Alfred Kerr, bemühte sich, spöttisches Lächeln über diesen physiognomischen Vergleich zu verbergen, schauten mich geringschätzig an, »bilden Sie sich nichts ein!«

In mir war ein fast unhemmbarer Drang, mit der Bemerkung »Heinrich Heine war ein Vetter von mir«, dem alten Brandes recht zu geben, jedoch ich hätte dem großen Literaturhistoriker diese kühne Meldung nur zur Hälfte begründen können, nur bis zu meiner Verwandtschaft mit den Austerlitzischen, deren Familienchef der winzige greise Barchesmann war, uns jeden Freitag abend die beiden großen Sabbathstrietzeln in unsere Wohnung bringend, und uns Kindern rosinengespickte Miniaturausgaben, wogegen sich die übrigen Austerlitzischen Familienmitglieder vor den Feiertagen mit irgend einer Handarbeit, Lampenschirm oder so etwas, 14 oder nur mit Wünschen einstellten, und dafür Geld, alte Kleider oder Stiefel erhielten.

No doubt, ich hätte das der ganzen deutschen Schriftstellergemeinde an Bord der »Vaterland« so deutlich schildern können, daß mir alle, auch Kerr, die Verwandtschaft mit den Austerlitz' geglaubt hätten. Aber die andere, keineswegs unwichtigere Hälfte des Beweises, he? Wie kommen die Austerlitzischen zu den Heineischen? Das wußte ich nicht, und so konnte der schöne Satz nicht gesprochen werden, und diese unterbliebene Abreaktion stört mich noch heute, so wie die Zigarette den ganzen Tag lang stört, die man nicht zu Ende rauchen konnte, oder eine nur zur Hälfte ausgetrunkene Tasse Kaffee.

Was nützt es, daß ich später – zu spät! – in Wachstein »Inschriften des alten Judenfriedhofes in Wien« und hernach in anderen Büchern das fehlende Bindeglied entdeckte: Helene Austerlitz, in den Akten der Zeit immer die »schöne Jüdin« genannt, war als Michael Eleasar Preßburgs erste Gattin die Schwägerin des Lazarus von Geldern. Also nur eine angeheiratete Verwandte Heines. Und meine von Georg Brandes beglaubigte, frappante Aehnlichkeit mit den also wunderschönen, idealisierten Zügen, welche die Jünglingsbilder meines Cousins Harry Heine aufweisen, ist nur ein Spiel des Zufalls jedenfalls.

Der Bruder der schönen Helena, mosaischer Konfession, war aber unzweifelhaft mein und des miesen, kleinen Barchesmannes Vorfahr, hieß Baruch Austerlitz und war in den Zwanzigerjahren des 18. Jahrhunderts der »Prager Juden Gemein Aelterster«. Ein anderer meiner direkten Ahnen mütterlicherseits war sein Nachfolger: der Primator Frankel.

Die Ghettodichter haben den Primator Frankel mit einer Gloriole umgeben. Aber im Lichte der Geschichte erscheint er als Unheil für seine Gemeinde. Die bedeutenden Verdienste, die sich Simon Wolf Frankel-Spira im Schulwesen und in der Waisenpflege während 15 der zwei Jahrzehnte seiner Amtsführung erworben hat, sie wurden wettgemacht durch unselige Folgen seiner Verschwendung und seines Ehrgeizes. Bei der Geburt des Erzherzogs und nachmaligen Kaisers Josef veranstaltete der reiche Primator am 14. April 1741 »zur allerunderthänigsten Freudensbezeigung der Pragerischen Judenschafft« einen unerhört prunkvollen Festzug durch die Prager Straßen. Herolde, Trompeter, Fahnen, Musiken leiteten den Zug ein, wie wir aus dem Stich sehen, welchen »der Primator Simon Frankel pro Memoria auf seine aigene Spesen in drukh verfassen lassen.« Nach dieser Vorhut kam Frankel auf goldaufgezäumtem Araberhengst, in Respektsdistanz ritt »der David Kuh, ältister beysitzer als Masor nebst hussarn und equipage«, dann kamen die jüdischen Aerzte, die Rabbiner, die Studenten, die Kaufmannschaft, die Zünfte mit Standarten, Gruppenwagen und Tragbühnen, die Schulklopfer, und dann allerhand Mummenschanz, eine Bauernhochzeit, Bacchus auf einem Faß, Schalksnarren, Hochzeitsnarren, Läufer, wilde Männer, Magiere, Affen, Tierbändiger . . . Diese Zurschaustellung entfachte Neid und Haß vieler in der Christenstadt, embarras de richesse erzeugt embarras de Rischeß, der Judenhaß wuchs immer mehr in Prag und entlud sich schließlich darin, daß der Mob in das Ghetto einbrach, viele Juden ermordete, Geschäfte und Wohnungen plünderte. Kurz darauf kam Maria Theresias Befehl, der alle Juden aus Prag auswies. S. W. Frankel bemühte sich alle seine glänzenden Verbindungen mit den Großen der Erde zur Abwehr des furchtbaren Unglücks abzuwenden, noch im Mai 1745 wandte er sich mit einem Hilferuf für seine bedrängten Glaubensgenossen an die Londoner Judenschaft, aber er starb, von den während der Tumulte erlittenen körperlichen Mißhandlungen und von Selbstvorwürfen niedergebrochen, am 9. Juni 1745.

Der deutsche Freiheitsdichter Ludwig August Frankel läßt in seiner Versnovelle »Der Primator« 16 den jüdischen Grandseigneur einer anderen Todesart sterben: der Vater Simons tötet selbst den Sohn, weil der beim Fest des Oberst-Burggrafen im Rausch und im Scherz die Taufe empfangen hat; durch diese Opferung hofft er ein Pogrom zu verhüten. Die poetische Lizenz ist statthaft, verwahren aber muß sich mein Familienstolz dagegen, daß sich Ludwig August rühmt, ein direkter Nachkömmling des Primators zu sein. Daß er, von sich sprechend, wie er knabenweis auf dem Prager Ghettofriedhof die Sage vom Primator und dessen Vater gehört hat, zweideutig die Hochstapelei niederschreibt:

»Er weiß es nicht, daß sie sein Ahn,
Ein wilder Glaubensheld getan,
Daß er in lichteren Zeiten, später,
Sein längst vergessenes Grab getreten.«

Das Grab ist das des Primators, und von dem stammt L. A. F. nicht ab, wohl aber vom Oheim des hier Begrabenen.

Dagegen danke ich den »Erinnerungen« des zum deutsch-österreichischen Klassiker gewordenen tschechisch-jüdischen Tabakverschleißersohnes aus Chrast, der sich liebevoll in unsere Familiengeschichte vertieft hat, eine mich stark berührende Mitteilung: unser Ahne Kopelmann Frankel hatte Anfang des 18. Jahrhunderts in Wien, Ecke der heutigen Herrengasse und Strauchgasse, sein Familienhaus besessen. An derselben Stelle steht heute das Café Zentral, das Literatur-Café. Dort hatte ich, als ich das erfuhr, bereits die Tage dreier Jahre verbracht, unbewußt, in tiefsten Atavismus verfallen.

Die in Prag bestehenden Frankelschen Stiftungen werden von der Kultusgemeinde Prag verwaltet und ein Angehöriger meiner Familie fungiert als Kurator; mein Onkel Landesschulrat Dr. Gustav Kuh hat einen genauen Stammbaum herstellen lassen, die Enkelin des Primators ist Esther Kuh, geb. Klaber, und meine Urgroßmutter gewesen. Die letzten Nachkommen seines 17 Namens sind Dr. Friedrich Frankel in Wien, in dessen Besitz der erwähnte Stich mit den Gruppen des Festzuges ist, und – ein imbeziler Gemeindeschnorrer, der im schlotternden Frack von Familie zu Familie geht und zur Begleitung eines mitgebrachten Phonographen zu singen versucht. Als Dr. Friedrich Frankel einmal nach Prag auf den Judenfriedhof (den Stimmungsbereich von Wilhelm Raabes »Hollunderblüte« und des Ewersschen Films »Der Student von Prag«) kam, um das Grabdenkmal seines berühmten Ahnen zu sehen, mußte er am Schlusse der Erklärungen, die der Friedhofcicerone gab, den wenig schmeichelhaften Satz anhören und – ohne Kenntnis von der Existenz des Bettelsängers – auf sich beziehen: »Die Familie des Primators Frankel ist im Mannesstamme erloschen, bis auf ein Mitglied, einen Idioten . . .«

In der Leitung der Prager Judengemeinde war des Primators Simon Wolf Frankel Nachfolger, der Sohn seines Bruders Koppelmann, Israel Frankel. Frankel 11. (1747–1767) war als Mischnahforscher, als Reformator der Seidenindustrie Böhmens und Gründer des »Invalidenbräuhauses« weit und breit geachtet. Sein Andenken wird in Prag durch ein Denkmal wachgehalten, aere perennius: das Landesgubernium verfügte 1747, daß das im Invalidenbräuhaus hergestellte Bier den Namen »Primatorbier« zu führen habe . . .

Von der Familie Kuh, der meiner Mutter, finden sich noch manche Angehörige in Büchern verzeichnet. Mein Vater, eifriger Mendelssohnleser, pflegte meiner Mutter in den Briefen des großen Philosophen oder in den biographischen Schriften von M. Kayserling und meines Religionslehrers Dr. Nathan Grün, froh die Stellen zu zeigen, wo Moses Mendelssohn gemeinsam von seinen Freunden Kuh und Kisch spricht. Jener Kuh war der Dichter Ephraim Moses Kuh; Ramler hat ihn gefördert, Gervinus stellt ihn über Gleim, Mendelssohn liebte ihn, Moses Hirschel edierte nach seinem Tode 18 seine Werke, Kayserling schrieb seine Biographie, Berthold Auerbach machte ihn zum Helden seines Romans »Dichter und Kaufmann« und – seine Werke liest doch kein Mensch mehr. Der Kisch aber, von dem in den Lebensbeschreibungen Mendelssohns die Rede ist, war der junge jüdische Arzt Dr. Abraham Kisch, Sohn eines Prager Apothekers. Er hatte sich im Prager Jesuitenkollegium die Kenntnis des Lateinischen und Griechischen erworben, und machte sich in Berlin erbötig, dem Knaben Mendelssohn beim Studium behilflich zu sein. Mit Feuereifer stürzte sich der zukünftige Philosoph in die Lektüre der ciceronischen Schriften, und mehr noch in die Entzifferung einer lateinischen Uebersetzung von Lockes »Versuch über den menschlichen Verstand«. Ueber Art und Wirkung dieser Lektüre auf den jungen Mendelssohn hat Nicolai in seinen Jugenderinnerungen des Ausführlichen Bericht erstattet.

Zu jener Zeit hat der zukünftige Meister der Philosophie als Abschreiber bei Rabbi David Fränkel die für seinen Lebensunterhalt notwendigen Groschen verdient, und es ist in Prag kaum sehr bekannt, daß sich ein Autograph des noch nicht dreizehnjährigen Mendelssohn in der israelitischen Kultusgemeindebibliothek zu Prag befindet, ein in jüdischer Kurrentschrift geschriebenes Manuskript auf dem Einschlageblatte des Rechtsgutachten des Isaak ben Scheschet.

Von einem anderen im Besitze meiner Familie erhaltenen Andenken an den großen Philosophen habe ich während des Krieges erfahren. Ich meldete eben beim Ersatzbataillon meines Regimentes in Gyula, Südungarn, der Heimatsstadt von Albrecht Dürers Vater, mein Eintreffen, als man mir einen gleichzeitig eingelangten Brief in seltsam kreuz und quer beschriebenem Kuvert einhändigte. Er war an mich, Redaktion des »Berliner Tageblatt«, gerichtet, von dort an die Adresse meiner Mutter geschickt worden, die meine Feldpostnummer, Regiment und Kompagnie darauf geschrieben hatte, das Feldregiment hatte das Schreiben 19 an das Spital geschickt, in das ich verwundet eingeliefert worden war, und von dort war es – inzwischen war ich bereits geheilt – in die Station meiner Lokalanstellung nach Orsova geschickt worden, dort hatte man mich gerade strafweise abgelöst und zum Ersatzbataillon »einrückend gemacht«, als der Brief von seiner Odyssee dort eintraf und nun mit gleicher Post mir folgte. Ich drehte den Umschlag hin und her: Reichsdeutsche Marke, Poststempel »Thale im Harz«, Absenderin Paula Luise Kisch. Meinen Scharfsinn wollte ich erproben, erraten, was in dem Brief stehe, wer wohl die Absenderin sei. Ihren Namen hatte ich nie gehört. Ich mußte es aufgeben, mußte lesen.

Die Absenderin stellte sich als alte Leserin meiner Feuilletons im »B. T.« vor, und fragte an, ob ich nicht ein Prager sei. Sie selbst sei zwar Holländerin, in Groningen lebe ihr Großvater, und erst während des Krieges sei ihr Vater nach Deutschland übersiedelt, um eine Drahtstiftenfabrik zu übernehmen. Aber ihr Ahne Hirsch (Hartog) Elias Kisch sei Mitte des vorigen Jahrhunderts aus Prag in die Niederlande ausgewandert und habe daheim einen jüngeren Bruder zurückgelassen, Salomon Enoch Kisch. Ob ich nicht ein Nachfahre von diesem sei, interessiere sie sehr. Sie teile mir auch mit, daß in ihrer Familie zwei Rasierbecken mit dem Monogramm M. M. von Generation zu Generation sich vererben und in hohen Ehren gehalten werden, denn sie seien ein Geschenk Mendelssohns an Dr. Abraham Kisch.

Da jener Salomon Enoch, der als Vorsteher der Prager Beerdigungsbrüderschaft in Urkunden genannt wird, der Vater meines Urgroßvaters Josef Ephraim war, so eilte ich zu antworten, und es entspann sich ein Briefwechsel. Zwar stellte sich in dessen Verlauf die »alte Leserin« meiner Artikel als 15jähriges Mädel heraus, das über den neuentdeckten Vetter Leutnant sehr erfreut sein mochte, aber ihre Briefe, hauptsächlich auf Mitteilungen ihres Vaters basiert, enthielten eine 20 ganze Menge familiengeschichtlicher Details, Episoden und Anekdoten.

Von diesen Miszellen möchte ich doch eine erzählen, sie ist von naiver Einfachheit, wie ein Volkslied. So steht sie in der Chronik der holländischen Kische, zum Beweis für die Weitergeltung des Wortes aus der Megillah Ester, »Kisch jeminie isch« (Kisch ist ein rechtschaffener Mann), verzeichnet. David Esra Kisch war als kleiner Junge von seiner Mutter zum Kaufmann geschickt worden, um für fünf Neukreuzer Senf zu kaufen. Sehnsucht nach seinem Großvater trieb den Knaben nach Wien. Zu Fuß marschierte er südwärts, bis er hinkam. Der Großvater sandte sofort Post nach Prag, der sicherlich verloren Geglaubte sei bei ihm. Der kleine David blieb in der Kaiserstadt, lernte beim Großvater das Posamentiererhandwerk. Nach mehreren Jahren kehrte er nach Prag zurück, zur selben Tageszeit, da er seinerzeit verschwunden war, und brachte um fünf Neukreuzer Senf und einen Neukreuzer zurück, denn er hatte damals einen Sechser mitbekommen.

Vielleicht interessiert die Mendelssohnforschung, die ausführliche Biographien von Dr. Abraham K. produziert hat, auch ein Brief, den dessen Vater an einen seiner Söhne gerichtet hat und der in Groningen noch erliegt. In hebräischen Schriftzeichen und mit »Dein Vater Jekew, Apotheker« unterzeichnet, steht unter anderem die Warnung darin, eindringlich und wortreich, der Sohn möge sich vor Weiberherzen hüten . . .

Ueber den größten Teil der Kischischen Hausgeschichte mit Familienfesttagen, Ereignissen und den beiden Hypothesen, die unsere Abkunft bis je auf einen König als Ahnen zurückführen, hat der verstorbene Balneologe der Prager Universität und Marienbader Badearzt Reg.-Rat Dr. Heinrich Enoch Kisch zu Lebzeiten in seinem Buche »Erlebtes und Erstrebtes« (Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart) mehr als genug berichtet. Erwähnt sei hier bloß, daß sich die Stelle auf meinen Großvater bezieht: »Mein Weg zum 21 Gymnasium führte durch die Dreibrunnengasse, an dem Hause meines Onkels, des ältesten Bruders meines Vaters, vorbei; er war ein reicher Kaufmann, welcher sich in ehrlicher, mühseliger Arbeit sein Vermögen erworben hatte. In diesem Hause wohnte auch Ignaz Kuranda.«

Das Haus war nach den Tagen der Weissenberger Schlacht beschlagnahmt worden, denn der Besitzer war Rebell gewesen, und der Hofjude Jakob Schmiles Bassewi von Treuenberg, der böhmische »Jud Süß«, erhielt es zum Geschenk, knapp bevor er selbst wegen seiner Finanzpetiten in Ungnade fiel und auf dem Jitschiner Schlosse seines herzoglichen Kommittenten Albrecht von Wallenstein ein verstecktes Refugium fand. In Jungbunzlau liegt er begraben.

In meiner Jugend habe ich immer gewußt, daß das preußische Grafengeschlecht derer von Bassewitz von keinem Anderen abstamme, als von Jakob Schmiles Bassewi. Nicht mehr genau weiß ich das seit einem Tage, an dem ich beinahe Gelegenheit gehabt hätte, mich um das deutsche Theaterleben verdient zu machen. Gerade war ich als unmittelbarer Nachfolger Gerhart Hauptmanns zum Dramaturgen des Künstlertheaters Sozietät in Berlin ernannt worden, als die Theaterleitung mit Agnes Sorma verhandelte, um sie zur Wiederaufnahme ihrer Bühnentätigkeit, zum Eintritt in das Ensemble zu bewegen. Die prinzipielle Geneigtheit der großen Diva war bereits vorhanden, ja sogar die Gagenfrage, das Rollengebiet waren schon geregelt gewesen. Nur eine Bedingung hatte das Engagement gehemmt. Die Sorma wollte partout mit fetten Lettern und dem Zusatz »als Gast« auf dem Theaterzettel figurieren. Die Direktion hatte beschlossen, das abzulehnen, es schien ihr eine Degradation des Theaters und ihrer Künstler zu sein, unter denen Berühmtheiten, wie Wegener, Rittner, Emanuel Reicher, die Durieux, Hedwig Reicher, Loos, Marr, Ziener, Gallen, Tiedtke, Lina Lossen, Grunwald waren. 22

Franz Zařtel, der Oberregisseur (»Cafrell« sprach man seinen Namen in Berlin aus) sandte mich, da er wußte, daß ich Gräfin Sorma-Minotto kurz vorher kennengelernt hatte, nach Wannsee hinaus, ihr begreiflich zu machen, daß schon in den Zeitungsnotizen, in den Zwischenaktszeitungen usw. entsprechend gesagt wurde, welche Bedeutung und so weiter.

Ich kam gerade zum Tee in die Villa Minotto, eine kleine Gesellschaft war da und ich kam neben einen Grafen Bassewitz zu sitzen, echter preußischer Junker, schütterer Blondscheitel, elegant bis dort hinaus, sehr gescheit, über Theater sehr versiert, so viel ich beurteilen konnte, was allerdings wenig ist, da ich vom Theater absolut nichts verstehe.

Die Unterhaltung war angeregt. Da ritt mich der Teufel, die Beziehung unseres Hauses in der Prager Judenstadt mit dem gräflichen Hause in der Uckermark zur Sprache bringen zu wollen. »Haben, Herr Graf, vielleicht schon einmal von Bassewi von Treuenburg gehört . . .?«

Seine Gesichtsmuskeln zuckten so heftig, daß er das Einglas mit der Hand zurechtrücken mußte: »Wollen Se mir vielleicht mit der Jeschichte kommen? Det is oller Quatsch, nachjewiesenermaßen. Wir sind mecklenburgischer Uradel . . . Kreuzzüge . . . im Welfen-Hohenstaufen-Kampf . . . Eroberung von Schwerin . . .«

Das Gespräch kam nicht mehr in Fluß.

Gräfin Sorma hatte sich, wie jede Hausfrau, des raschen Einverständnisses zwischen den beiden artfremden Gästen gefreut, und – die Abkühlung bemerkend – freute sie sich weniger. Als sie mich nach dem Tee in den Salon führte, wurden wir nicht handelseins.

Zwar ließ ich mir am Abend am Journalistentisch im Café des Westens die Nachricht von Verhandlungen des Künstlertheaters mit der Sorma absichtlich »unbedacht entschlüpfen«, bat, kaum war mir das Wort entfahren, flehentlich um Diskretion, erhielt sie feierlich 23 von allen zugesagt und verschwieg natürlich das Scheitern des Projektes. Am nächsten Tag stand die Sensation vom bevorstehenden Wiederauftreten der Sorma in den Blättern, das Künstlertheater war in allgemeiner Diskussion, – mein Engagement hatte sich rentiert.

Was nützte es? Binnen Monatsfrist brach ein bekannter Weltkrieg aus, die Mitglieder rückten ein, Pleite, Barnowsky übernahm das Theater, und auf der Paraschnica in Serbien, dreißig Schritt vom Feind, erhielt ich durch die Feldpost Kündigung und letzte Gage.

Ich selbst habe wohl noch das Haus auf dem Dreibrunnenplatz, von dem übrigens bloß ein Stockwerk meinem Großvater gehört hat, nicht aber meinen Großvater Jonas Enoch Kisch mehr gekannt, denn er war fast 100 Jahre vor mir geboren. Auch entsinne ich mich nicht, meinen Großvater mütterlicherseits, Zacharias Kuh, persönlich gekannt zu haben. Eine vergilbte Zeitung aus seinem Besitz liegt vor mir, sein Ruhmesblatt, die Beilage zur Nr. 41 der »Bohemia« von 1845, Redakteure Franz Klutschak, Bernhard Gutt. Darin ist der Amtsbericht über die wenige Tage vorher, 28. bis 30. März, hereingebrochene Hochwasserkatastrophe unter dem einem Journalisten von heute etwas befremdlichen Titel »Die Hochwasserkatastrophe im Jahre 1845« zu lesen. Hundertvierzehn Gassen und Plätze waren überflutet, alle Mühlen (mit Ausnahme der Schittkauer) weggeschwemmt, die Brücken der Moldau und Sazawa – »die elegante Brücke zur Sophieninsel wurde mit größter Anstrengung gerettet« – fortgerissen, 1657 Familien mit 7563 Individuen obdachlos, viele Menschenleben zu beklagen. Ich zitiere weiter:

»In Lieben, wo die Flut jene von 1784 überstieg und mehrere Häuser unter Wasser stecken, sind dreißig Häuser eingestürzt, sechs, darunter die Synagoge, das Frauenbad, das Gemeindehaus, dem Einsturz nahe. Mehrere edeldenkende Männer unternahmen mit Gefahr eigenen Lebens ihre Rettung und vollbrachten sie. Es 24 waren der Liebener Herr Amtsdirektor und Justiziär Wenzel Dawidek, ein junger Israelit Herr Zacharias Kuh und einige Pioniere. Ueberhaupt hat es Lieben diesen Männern, vornehmlich der Waghalsigkeit des Hrn. Kuh und eines Pionierkorporalen zu verdanken, daß es nicht noch mehr von den Verheerungen des Wassers zu leiden hatte und namentlich daß hier kein Menschenleben verloren ging.«

Die ein Menschenalter später am Grab meines Großvaters gehaltenen Grabreden wurden in Druck gelegt. Ich habe in der Hofbibliothek zu Wien nach der Broschüre gesucht, und war nicht wenig erstaunt, sie wirklich im Katalog verzeichnet zu finden. Amtsschimmel, dachte ich, nicht einmal in den Prager Bibliotheken hat wohl noch jemand nach diesen bezahlten rabbinischen Phrasenergüssen über einen braven, aber doch keineswegs bedeutenden Mann Wißbegier verspürt und hier in Wien schleppt sich das Pflichtexemplar von Jahrhundert zu Jahrhundert. Ich bekam die Schrift »Trauerreden gesprochen am Sarge des verstorbenen Zacharias Kuh den 22. Schewat 5648 (6. Februar 1888) von seiner Ehrwürden, dem Herrn Markus Hirsch, Oberrabbiner in Prag und seiner Ehrwürden, dem Herrn Dr. Moritz Tauber, Rabbiner und Prediger der Neusynagoge. Prag 1888, Druck von Gottlieb Schmelkes.« Wie verblüfft war ich aber, als ich auf der vermeintlichen Jungfernbesteigung Menschenspuren fand: mit Bleistift angestrichen, waren alle Stellen tatsächlichen Inhalts, die sich in dieser Fülle allgemeiner Redensarten und biblischer Vergleiche fanden, und bei Erwähnung jeder Funktion stand eine handschriftliche Ziffer am Rande, römisch I. bei »Obmann der Beerdigungsbrüderschaft«, eine »II.« bei »Vorsteher der Neu-Synagoge«, weitere römische Numerierungen bei »Vorsteher des Nächstenliebe-Vereines«, des Vereines zur Unterstützung der israel. Handelsangehören, der Freitisch-Vereine usw. 25

Wer mag der Wiener Forscher gewesen sein? Weh dir, wenn du ein Enkel bist! Denn leider hat Großvater Kuh bei seiner Tätigkeit in der Kultusgemeinde und jüdischen Vereinen mehr Ehren und Erfolg geerntet als in seinem Seidengeschäft. Daran hat wohl auch die Tüchtigkeit seines Lehrlings Sigmund Pick nichts zu ändern vermocht, weshalb der Knabe Pick schnell aus der Firma austrat, um auf dem Umweg über eine Kellnertätigkeit bei »Osman Pascha«, dem Wirte der Exkneipe Schipkapaß in der Scharka, sich als Prager Studentensensal einen Namen zu machen, den Namen »Abraham«, und zu einer populären, in Karl Hans Strobls »Vaclavbude« gebührend gefeierten Figur Prags zu werden. Das Seidengeschäft meines Großvaters aber, das sich in meiner frühesten Jugend in der Bergmannsgasse befand, und damals von meiner Großmutter geführt wurde, ist nie so berühmt worden.

Der letzte Ausläufer jener alten Generation, den ich noch in späteren Jahren sehen konnte, war mein Großonkel Leo Fischel, der Bruder meiner Großmutter mütterlicherseits. Den habe ich noch wenige Tage vor Ausbruch des Weltkrieges in London-Hampstead gesprochen, wo er mit seinen Kindern – fast ausnahmslos hohe Würdenträger der anglikanischen Kirche – lebte. Er war damals dreiundneunzig Jahre alt und seit langem blind. Als Knabe schon war er nach London gefahren, und auf dem Wege über ein »Mission-house« in die Hochkirche eingetreten, hatte eine Stockengländerin geheiratet und war nie mehr auf den Kontinent gekommen. Aber seinen Namen hatte er nicht geändert, schrieb ihn (wie seine Kinder, Enkel und Urenkel) noch immer mit »sch«, nahm an den Schicksalen der Prager Verwandten intensiven Anteil und hatte ein blendendes Gedächtnis für alte Persönlichkeiten Prags, für Institutionen, und konnte sogar noch tschechische Brocken sprechen. 26

Bei meinem ersten Besuch in London hielt er bei einem Familienfest einen Toast auf den Gast, eine halbe Stunde lang humoristische Erinnerungen an seine Prager Jugend zum Besten gebend. Darunter auch die: Seine Mutter ging einmal über den Altstädter Ring, wo ihr Hausmeister von den Stufen der Mariensäule der abendlich betenden Schar die frommen Verse vorsprach. Gebetspause, und der Hausmeister grüßt seine vorübergehende Dienstgeberin, auf daß sie ihn ja auf seinen Thronstufen bemerke, devot und laut:

»Dobrý večer, pani Fischlová!«

Das heißt wörtlich: »Good evening, Mrs. Fischel« und die Menge wiederholte in inbrünstigem Chor:

»Dobrý večer, pani Fischlová!«

Solcherart waren mehr der Reminiszenzen und Anekdoten aus ganz entlegener Zeit und ganz entlegener Welt in den behaglich lebhaften Trinkspruch des uralten Blinden gespannt, und der Betoastete wurde so aus dem Bereich einer Ehrung gerückt, die um so peinlicher war, als er sie nur dem Verdienste verdankte, aus Prag zu sein.

Nicht so glimpflich konnte ich beim Sohne Onkel Leos der Aufmerksamkeit eines Auditoriums entgehen. Bei meinem ersten Besuche in England war es Walter Sidney Fischel nicht möglich gewesen, nach London zu kommen, um mich kennen zu lernen, und so fuhr ich auf seine Einladung in Begleitung seiner Schwester nach Essex, nach Horndon on the Hill, seinem Bischofssitz. Sonntag vormittag trafen wir ein, gingen gleich in die Kirche, wo Walter Sidney gerade predigte. Er sah uns eintreten, und stellte mich, ohne einen Uebergang vom bisher Gesprochenen zu suchen, von der Kanzel aus der Gemeinde vor: »Hier tritt ein Neffe von mir ein, von weit her, von Böhmen gekommen, nie habe ich ihn gesehen und wir freuen uns doch, einander zu erblicken, denn das Band der Familie . . .« 27

Neugierig schauten die Gläubigen auf den neuen Neffen.

Vom alten Onkel Leo habe ich seit Kriegsbeginn nichts mehr gehört, und da er schwerlich hundert Jahre alt geworden ist, ist er wohl heute tot.

In meiner ziemlich vieljährigen Lokalreportertätigkeit in Prag habe ich mir keine Nachlässigkeit bei Raubmordberichterstattung vorzuwerfen. Aber doch habe ich einmal auf dem Tatorte eines Raubmordes gefehlt.

29. September 1910, nachmittags, war der Wechselstubenbesitzer Eduard Kisch, ein Vetter meines Vaters, in seinem Geschäfte, Poritsch Nr. 6 (»ich glaube, nicht in der Hausnummer zu irren«) erschlagen und beraubt worden. Die Täter: unbekannt, flüchtig.

Am selben Nachmittag war ich gerade in meinem Elendenkostüm in das Asyl für Obdachlose gegangen, um dort als Gleicher unter Gleichen zu nächtigen. Für das Sonntagsblatt der »Bohemia« wollte ich dann im Rahmen einer Serie solcher Prager Streifzüge auch über diesen berichten. Weder Arbeitsbuch noch Heimatsschein hatte ich, kein passendes Legitimationspapier (die Vorweisung meiner Identitätskarte als Geschäftsleiter des Syndikats der Prager Tagespresse hätte mich hier nur verdächtig gemacht) und die Aufnahme hätte mir schwerlich glücken können, wäre ich nicht informiert gewesen, daß der Name des Offizials im Expedit des Sicherheitsbureaus hier sozusagen Kennwort sei.

»Der Offizial Souček hat mich hergewiesen.«

Wir saßen abends neun Uhr etwa auf unseren Kavaletts, ich ohne Ahnung, wie sehr mich die Redaktion wegen des Raubmordes suche, notierte Gespräche, Sonderbarkeiten, fest aufdrückend in mein Gedächtnis. Plötzlich Ruf: »Štára!« Polizeistreifung.

Ein Wachinspektor, ein Polizist folgte ihm, gab den Befehl:

»Papiere vorweisen!« 28

Jeder holte sein Arbeitsbuch hervor, manche bloß den Heimatschein. Inspektor blättert, wirft einen Blick auf den Anzug oder auf die Hände des Betreffenden, zuckt die Achseln, geht zum nächsten.

Ich Neuling dachte: Das ist wohl jeden Abend so oder fast jeden Abend, hatte keinen Tau davon, daß ganz nahe von hier ein Raubmord begangen worden war, und daß die Polizei um nichts mehr wußte, als daß der Ermordete »Kisch« geheißen habe.

Bei mir angekommen: »Ihre Papiere?«

»Habe keine.« Er mißt mich in höchlichstem Mißtrauen. Nein, eigentlich sehe ich trotz meiner Fetzen, Unrasiertheit und Schmutz nicht wie einer dieser allerelendesten des Lumpenproletariats aus, bin kein Greis, habe keinen Ausschlag, keine entzündeten Augen. Und gerade der hat keine Legitimationspapiere!

»Namen?«

»Kisch.«


Ich habe mich schon oft in meinem Leben vorgestellt, oft überraschend – aber so wie in diesem Augenblicke mein Name gewirkt hat!

Der Inspektor trat einen Schritt zurück, der Wachmann einen auf mich zu, als ob er mich packen wollte.

Ich sah ihre zitternde Erregung und war zitternder Erregung voll.

»Was sind . . . wann sind Sie . . .« Er versuchte, einige Sätze anzufangen, wußte aber offenkundig nicht, welchen voranzustellen. »Kommen Sie hinaus!« Ich ging. Der Polizist nahm meinen Hut vom Haken, den ich bis zu meiner Rückkehr hatte liegen lassen wollen.

»Už ho mají« sagte einer meiner Zimmergenossen, während sich hinter mir die Tür schloß.

Verhör im Aufnahmszimmer. Ich entschließe mich, unumwunden zu sagen, wer ich bin, was ich hier will. »Weshalb haben Sie sich aber als Handlungsgehilfe aus Reichenberg einschreiben lassen?« Ja, warum habe 29 ich! Ob ich mit dem Bankier Kisch verwandt bin? Aha, denke ich mir, das ist ein guter Bekannter des Herrn Inspektors, natürlich der Politsch gehört zu seinem Dienstbereich, gleich wird er sehen, daß ich ein anständiger Mensch bin, wenn ich sage, daß das mein Onkel ist. Aber er und der Wachmann, der mich bisher nicht aus den Augen gelassen hat, als ob ich ein Raubmörder wäre, schauen einander bei dieser meiner Antwort groß an.

Das wird mir zu dumm. »Der Offizial Souček hat mich hergeschickt, die Herren von der Polizeidirektion kennen mich alle.«

Er ruft die Polizeidirektion an, verlangt das Sicherheitsdepartement.

»Trottel,« denke ich mir, »jetzt ist längst niemand im Sicherheitsbureau, um acht ist der Journaldienst aus.« Aber siehe da, schon spricht er mit dem Sicherheitsbureau, erstattet Meldung: »Asyl, Mann ohne Papiere . . . Kisch . . . Ja, heißt Kisch . . . gibt sich für einen Redakteur aus . . . Bitte? . . . Jawohl, Egon Erwin, sagt er . . . So? . . . Ja, er steht neben mir . . .« Zu mir, erstaunt, unwillig, enttäuscht: »Sie sollen zum Telephon kommen.«

Ich: »Hallo! Ah, pán Koncipista Banásek! Noch so spät im Dienst? Was Besonderes? Schade, daß ich nicht hinkommen kann, na, es wird noch morgen Zeit haben fürs Abendblatt . . . Jawohl, ich übergebe.«

Zwei Minuten später sitze ich wieder auf meinem Kavalett.

Im Sonntagsblatt der »Bohemia« vom 2. Oktober 1910 erschien gleichzeitig mit dem Bericht über die Recherchen in Sachen des vorvorgestrigen Raubmordes meine Schilderung des Nachtasyls. Die Streifung streifte ich nur. Die Szene meiner Anhaltung wiederzugeben, ohne zu erwähnen, daß mein Name im Zusammenhang mit dem Raubmord das Verdachtsmoment gebildet hatte, hätte nur dargetan, daß ich zu ungeschickt sei, mich als Obdachloser auszugeben. Aber den 30 Mord in Beziehung mit diesem Zwischenspiel auch nur anzudeuten, wäre damals mehr als geschmacklos gewesen.

Das Entsetzen über die Tat war in unserer Familie allgemein. Die Frau des Ermordeten, die mit ihrem Manne in sprichwörtlich zärtlicher Ehe gelebt hatte, sozusagen in mehr als 30jährigen Flitterwochen, starb aus Gram unmittelbar hernach.

Man hat den Raubmörder nie erwischt, man weiß nicht, wer die Tat begangen hat. Die Kopien der auf dem Tatorte vorgefundenen Fingerabdrücke wurden an alle Polizeibehörden gesandt, und aus Berlin und Wien kamen Depeschen apodiktischen Inhaltes: »Abdrücke sind die des Einbrechers Rudolf Hauser aus Innsbruck.« Man hat nach Hauser und nach seinem Freunde Karl Josef Heß aus Amstetten fieberhaft gefahndet, man hat die Wohnung des Mörders in Prag-Karolinental ausfindig gemacht, aber man hat ihn nie gefangen.

In den Umsturztagen, Ende 1918, hetzte die von Kapitalistensorgen gepeinigte Wiener Presse gegen die Rote Garde, indem sie Verleumdung über Verleumdung über deren Mitglieder veröffentlichte, es seien lauter entsprungene Sträflinge, steckbrieflich verfolgte Eigentumsverbrecher u. dgl. Die Folge hievon? Entsprungene Sträflinge, steckbrieflich verfolgte Verbrecher wollten sich anwerben lassen und taten sich bei der Anmeldung noch groß mit ihren Delikten; sie glaubten wirklich, hier seien Räuber willkommen. Natürlich waren sie schneller aus dem Werbelokal draußen, als sie hineingekommen waren. Andere verschwiegen ihr Vorleben, aber es waren zum Glück so viele politische Häftlinge unter uns, alle Verhaftete des Jännerstreiks. Pazifisten, Dienstverweigerer &c. und die standen bei den Werbetischen, erkannten ihre »Kollegen von der anderen Fakultät« und erklärten ihnen deutlich, hier hätten Opfer der Gesinnung nicht mehr mit Räubern, Dieben, Mördern ein gemeinsames Quartier. Trotzdem ließ sich's nicht vermeiden, daß es hie und da – im 31 ganzen war der Prozentsatz an Kriminellen sehr gering – einem gelang, sich einzuschmuggeln und wir hatten dann inmitten schwerster politischer und wirtschaftlicher Arbeit noch wochenlang zu tun, die für unsere Sache gefährlichen apachistischen Elemente aus den Bataillonen herauszufinden und zu extrahieren.

Am Tage, da wir das Militärkommando mitsamt der Telephonzentrale besetzten (ohne welche Maßnahme es wahrscheinlich noch heute keine Republik Deutschösterreich gäbe), hatte ich vormittags noch in der Kanzlei wegen Ausrüstung und Bewaffnung einiges zu tun. Unter anderem kamen einige im Maschinengewehrdienste ausgebildete Leute, mit denen ich unsere M.‑G.-Abteilung verstärken wollte. Jeder brachte einen Zettel mit, den ich zu unterschreiben hatte, da ihnen sonst in unserem Monturdepot keine Ledergamaschen ausgefolgt worden wären. Jeder wurde in die Standesliste der M.‑G.‑A. eingetragen, bekam den unterschriebenen Ausfolgeschein und wartete, bis die anderen so weit seien. Sie wollten dann gemeinsam in das Magazin gehen. Der Schein des »Weigend Alois« war eben unterschrieben und seinem Besitzer übergeben, ich nahm den nächsten vor, als Weigend meine Unterschrift zu buchstabieren begann, halb für sich:

»E. Kisch . . .« Und – wie aus der Erinnerung herausholend – zufügte: »Eduard Kisch.«

Schreibend fragte ich ihn, ohne an Besonderes zu denken: »Du kennst einen Eduard Kisch?«

»Na, na, ich hab' einen kennt, net in Wien, in Prag . . .«

Ich fuhr herum: die Richtigstellung meiner Frage ins Perfektum . . . Prag . . .

»Den Wechselstubenbesitzer, nicht? Der ist tot . . .«

Das war plump. Der Mann, untersetzt, schlecht rasiert, aber bartlos, wurde ganz blaß.

»Nein, nein, weiß nicht, was er war . . .«

Ich tat uninteressiert, nahm den Nächsten vor, fragte den nach seinem Namen, trug ein, unterschrieb. 32 Weigend aber sprach ungefragt weiter, wollte sich herausreden.

»Ja, a Schlosser war er, richtig, hab mit ihm gearbeitet in Ternitz.«

Ich reagierte nicht, amtierte weiter; alle waren abgefertigt, verließen das Bureau, über den Hof ins Magazin. Nach fünf Minuten wollte ich unauffällig hinüberkommen, meinen Mann beiseite rufen, tat dies, – aber Weigend war nicht da. »Der ist zum Tor gegangen, er hat gesagt, seine Frau wartet auf ihn.«

Ich zur Torwache. »Genossen, habt ihr jemanden hinausgelassen?«

»Ja, aber der kommt gleich. Er hat den Gutschein auf Ledergamaschen zum Pfand gelassen.«

Mit dem Posten war nicht viel zu machen; einen Bon auf Ledergamaschen läßt man nicht verfallen. Außer man hat triftige Gründe. Wie triftig die Gründe waren, konnte sich keine Torwache träumen lassen – – –

Im Grundbuch der R. G. ließ ich Nationale und Adresse von Alois Weigend suchen, und sandte den zweiten Adjutanten in die verzeichnete Wohnung, Neubaugürtel 72. Ein Weigend war dort unbekannt.

Es wäre möglich gewesen, weiter zu forschen. Das unterließ ich. Wie man schon aus dem bisherigen Abriß meiner Familiengeschichte entnommen hat, sind die Kisch's kein sizilianisches Bauerngeschlecht, und keine Tradition verpflichtet mich, Blutrache zu üben . . .

Um Jahre war dem auf den Wechselstubenbesitzer Kisch unternommenen Ueberfall, der für den Bankier und die Polizei so unglücklich und für die Räuber so glücklich verlief, ein Ueberfall vorausgegangen, der für die Räuber unglücklich und für den Bankier und die Polizei glücklich verlaufen ist.

Das ist innerhalb des immerhin stattlichen Zeitraumes gewesen, der zwischen der Ermordung der Pfandleiherin und Juwelenverkäuferin Gollerstepper in der Hußgasse und der Ausfindigmachung ihrer Mörder, 33 Pravda und Outrata hießen sie, verstrich. Damals regnete es gegen den Chef des Sicherheitsbureaus, Polizeirat Wenzel Olič, Vorwürfe der Unfähigkeit, man sang Spottlieder, Witze wurden gerissen und fast schien es, daß seine Stellung ins Wanken geraten sei, die Stellung des allmächtigen »Polizeirates Oltschin« aus dem Meyrinkschen »Golem«! Da wurde er plötzlich durch eine kriminalistische Glanzleistung bei einem anderen Raubmordversuche rehabilitiert: In die Wechselstube des Eduard Kisch kamen zwei Männer, ließen sich Wertpapiere vorlegen, und sprangen dann auf den Wechsler mit Beilen zu, ihn zu töten. Im selben Augenblicke tauchten hinter dem Ladentisch und aus den Regalen ein Beamter und zwei Detektivs mit Revolvern auf, und machten die Mörder dingfest. Olič hatte vorher von dem Mordplan erfahren und sich der Räuber im Augenblicke der Tat, absichtlich erst im Augenblicke der Tat, bemächtigt. So stand es im Polizeirapport, die Zeitungen besorgten die Begleitmusik und einige Tage lang sprach Prag von dem genialen Coup Olič's. Die tote Gollerstepper verschwand in der Kulisse.

Aber das »Pravo lidu« gab sich nicht zufrieden: es sei zwar ein genialer Coup gewesen, aber in anderem Sinne. An dem Wechsler sei gar kein Raub, geschweige denn ein Raubmord beabsichtigt gewesen, sondern Polizeirat Olič habe diese Theaterszene arrangiert, um die öffentliche Aufmerksamkeit von dem unaufgehellten Mord an der Juwelenverkäuferin abzulenken. Die Räuber seien Kreaturen Olič's gewesen, deren Freilassung er schon nach einiger Zeit bewerkstelligen werde. »Das ist so wahr,« schloß der Artikel, »wie es wahr ist, daß sich Herr Polizeirat Olič diesen Artikel nicht hinter den Spiegel stecken wird.«

Herr Polizeirat Olič aber steckte sich diesen Artikel hinter den Spiegel in seinem Arbeitszimmer, und zwar so, daß man ihn sehen konnte. Vor fünfzehn Jahren wurde ich beim Chef des Sicherheitsbureaus als 34 Lokalreporter eingeführt und Olič zeigte mir, den neuen Zeitungsmann durch unendliche Liebenswürdigkeit kaptivierend, die Einrichtungen der Kriminalpolizei. Als ich in seiner Kanzlei das Zeitungsblatt bemerkte, lud er mich ein, es zu lesen. Dann: »Haben Sie es gelesen, Herr Redakteur? Auch den letzten Satz?«

Und während er das Blatt wieder sorgfältig in den Spiegelrahmen schob: »Sehen Sie, Herr Redakteur: bis zum letzten Satz erlogen.«

Der Sohn des Eduard Kisch, kleiner Bub, hat sich einmal durch einen öffentlichen Ausruf zu mir bekannt, der im Sportleben Flügel bekommen hat und daher hier nicht fehlen darf. Es war bei einem Fußballwettspiel D. F. C. gegen Prager »Union«, ich war Schiedsrichter, das Publikum pfiff, johlte, brüllte gegen mich und bezichtigte mich der Parteilichkeit für »Union« und gegen D. F. C. Als schließlich das Spiel beim Stande 1:0 für »Union« mit Krach abgebrochen wurde, ich das Feld verließ, umringte man mich schimpfend. Es war eine wohltemperierte Revolution, streng in den Grenzen gehalten, die in der Prager deutschen Gesellschaft auch auf dem heißen D. F. C.-Boden nicht überschritten werden, sie beschränkte sich auf Anspielungen, Frozzeleien, selbst der alte Oberingenieur Traube schrie nur »Skandal« und gab mir dann gerne seine Visitkarte, Kristian schwor Stein und Bein, es sei das letztemal, daß jemand von »Sturm« auf dem Belvedere umpire, Meißner warf mir vor, ich hätte mich bloß vor der Tonči wichtig machen wollen und eine junge Dame der Gesellschaft kreischte, ich hätte die off-side-Regeln wohl bei »Gogo« gelernt. Ich gebe Antworten, es ist alles von aufgeregtem Humor, aber da kommt schon der elfjährige Stephan Kisch, zertrennt er gewaltig den dichten Chor, schreit mit gellender Stimme, gebieterisch, flehend, bürgend:

»Laßt's ihn leben, er ist mein Cousin!«

Und Erstaunen ergreift das Volk umher, und da bleibet kein Auge tränenleer vor Lachen, mein Leben 35 war gerettet . . . Das Wort wurde kolportiert. Wenn später je zwei Endbacks einen auswärtigen Forward »in die Presse« nahmen, wenn eine verpatzte Chance einem Stürmer Vorwürfe des Publikums oder der Mannschaft eintrugen, wenn in der Sitzung des deutsch-böhmischen Fußballverbandes (dessen Vorsitzender ich nach Hofrat Prof. Hueppe war) allzu tragische Gründe für die Disqualifikation eines Spielers in die Arena geführt wurden, wenn in Klubversammlungen gegen jemanden gewettert wurde, immer fand sich einer, der die Stimmung zu besänftigen vermochte, indem er überlegen das Wort zitierte: »Laßt's ihn leben, er ist mein Cousin!« Aber mancher, der mit diesem Wort die gewünschte Besänftigung der Gemüter erreicht hat, erfährt erst heute die Genesis.

Die zwölf beleibten Bände »The Jewish Encyclopedia« (New-York, London) geben über bedeutende Söhne der Rasse ausreichenden Aufschluß, über eine Familie als solche sprechen sie nie. Nur über die Familie Kisch findet sich ein eigener Artikel: »Family of distinction, migrated in the 16th century from Chiesch in Bohemia; the founder of the family lives in Prague in the eighteenth century, the members are now spread through-out Europe.«

Da sich in der Lokalhistorie Prags wie kaum in der einer anderen Stadt Mitteleuropas das Weltgeschehen projiziert, wird wohl hier jeder Sproß einer erbeingesessenen Familie, ». . . der seiner Väter gern gedenkt, Der froh von ihren Taten, ihrer Größe, Den Hörer unterhalten möchte . . .«, solcher berühmter »Taten« (im Doppelsinn des Wortes) genug finden, vielleicht mehr als sie jene »family of distinction« aufzuweisen hat. Zu meiner Sippe gehörten: der Vetter meines Vaters, Ignaz Amadé Tedesco, berühmter Klavierspieler und Komponist (gestorben in Rußland). Generalpostmeister von Bengalen, Hermann M. Kisch, als Pionier europäischer Humanität, bei den Hungersnöten von Bengalen (1874) und Madras (1877) bewährt. Die 36 Klaviervirtuosen Alois Taussig (1820–1880) und dessen Sohn Karl Taussig (1841–1871), Schüler und Propagator Liszts, Liebling aller Höfe, Reisegenosse Wagners und Bülows. Herzliche Erinnerungen, Andenken und Geschenke Richard Wagners besaß und veröffentlichte auch Josef Stefan Oesterreicher, Posamentierer und Vetter meines Vaters. Richard Wagner hat in Prag bei Popper in der Melantrichgasse gewohnt, in dem Hause uns gegenüber; aber Richard Wagner kam immer in so unanständigem Aufzug zum Fenster, daß es ihm meine Mutter nie verziehen hat, und noch bis heute Antiwagnerianerin ist.

Durch geflüsterte Weitergabe ist wohl der ganzen Bevölkerung der alten österreichisch-ungarischen Monarchie eine Episode zur Kenntnis gelangt, die man leicht für charakteristisch, aber erfunden halten könnte, wenn ich das Richtigkeitszeugnis für diese Habsburgeranekdote, die gleichzeitig eine Familienanekdote der Kisch' ist, nicht besäße: mein Vater, Augenzeuge des Vorfalles, hat ihn oft genug in meiner Gegenwart erzählt. Vor zirka 40 Jahren war in Wien der jüngste Bruder meines Großvaters, Emanuel Ezechiel K., ein Tuchhändler in der Leopoldstadt, gestorben. Mein Vater war in Vertretung des Prager Stammhauses zur Beerdigung nach Wien gereist. Als sich der Leichenzug über den Praterstern bewegte, sprengte von der Reitallee des Praters her eine Kavalkade, an ihrer Spitze ein junger Husarenoffizier. Dieser setzte mit seinem Pferde über den Leichenwagen hinweg und ritt dann, ohne sich umzuwenden, weiter, als ob nichts geschehen wäre. Der nächste Reiter wollte es wohl nachmachen, aber der entsetzte Leichenkutscher gab seinen Pferden die Peitsche, und die fröhliche Reitgesellschaft, solcherart der Hürde beraubt, mußte sich damit begnügen, durch den Zug der Leidtragenden zu galoppieren, der auseinanderstob.

Der Polizist, zu dem man eilte, zuckte die Achseln: der Kavallerist, der sich bei seinem Ritt über alle 37 rituellen Vorschriften für Leichenzüge so kühn hinweggesetzt hatte, war Erzherzog Otto, nachmaliger Vater des nachmaligen Kaisers Karl. Es blieb nichts anderes übrig, als der Allerhöchsten Hofkanzlei des Kaisers Franz Josef von diesem unerhörten Vorfall alleruntertänigste Mitteilung zu machen, doch ist nie eine Antwort auf diese Eingabe erfolgt.

Wie gesagt, hat die Fama die Kenntnis von dem Vorfall in die »im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder« getragen, eine Ueberlieferung läßt sie fälschlich in Meidling spielen, aber die vorliegende Darstellung ist authentisch und unwiderleglich, denn mein Vater hat oft genug in meiner Gegenwart Familienangehörigen alle Details erzählt, und in die sich immer erneuernde Empörung mischte sich – wie ich als ehrlicher Chronist nicht verschweigen darf – bei manchen unverkennbar der Stolz darüber, daß ein Mitglied des erhabenen Kaiserhauses in charakteristischer Weise an einer Trauerfeier unserer Mischpoche allerhöchst teilzunehmen sich persönlich bemüht hatte . . .

 


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