George Kennan
Zeltleben in Sibirien
George Kennan

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20. Kapitel.

Unser langer Verkehr mit den nomadischen Korjäken verschaffte uns Gelegenheit, viele ihrer Eigentümlichkeiten zu beobachten, die der Aufmerksamkeit eines flüchtigen Besuchers entgehen werden, und da unsere Reise bis zu unserer Ankunft am Penschinagolf sehr arm an Ereignissen war, will ich diesen Abschnitt meiner Reiseskizzen mit einem Bericht über Sprache, Religion, Aberglauben, Sitten und Lebensweise der kamtschadalischen Korjäken beschließen.

Es kann kein Zweifel darüber herrschen, daß die Korjäken und der mächtige sibirische Stamm der Tschutschken desselben Ursprungs und zusammen aus ihrer alten Heimat nach ihren jetzigen Wohnsitzen ausgewandert sind. Selbst nach mehreren Jahrhunderten der Trennung haben sie noch so große Ähnlichkeit, daß man sie kaum von einander unterscheiden kann, und ihre Sprachen weichen weniger von einander ab, als das Portugiesische vom Spanischen. Unseren Korjäken-Dolmetschern bereitete es durchaus keine Schwierigkeit, sich mit Tschutschken zu unterhalten, und ein Vergleich von Wörtern, den wir später anstellten, ergab nur eine kleine Dialektveränderung. Keine der sibirischen Sprachen, die mir bekannt sind, wird geschrieben, und da es an einem feststehenden, mustergiltigen Vorbilde fehlt, verändern sie sich sehr rasch, wie dies ein Vergleich 173 zwischen einem neueren tschutschkischen Wörterbuch und dem von M. de Lesseps im Jahr 1788 zusammengestellten, beweist. Viele Wörter haben sich zur Unkenntlichkeit verändert. Andere sind ganz dieselben geblieben, wie z. B. »tintin,« Eis, »uttut,« Holz, »wingay,« nein, »ay,« ja und die meisten Zahlwörter bis zehn. Sowohl die Korjäken wie die Tschutschken zählen nach Fünfern anstatt nach Zehnern, eine Eigentümlichkeit, welche sich auch in der Sprache der Co-Jukons in Alaska findet.

Die Zahlwörter der Korjäken sind:

Innín eins
Neé-ak ° h zwei
Nee-ók ° h drei
Nee-ák ° h vier
Míl-li-gen fünf
Innín mil-li-gen fünf-eins
Neé-ak ° h " fünf-zwei
Nee-ók ° h " fünf-drei
Nee-ák ° h " fünf-vier
Meen-ye-geet-k ° hin zehn.

Nach zehn zählen sie zehn-eins, zehn-zwei etc. bis fünfzehn und dann zehn-fünf-eins; über zwanzig hinaus werden die Zahlwörter so unbeschreiblich kompliziert, daß es leichter wäre, eine Tasche voll Steine zum Rechnen mit sich herum zu tragen, als die entsprechenden Wörter auszusprechen.

Sechsundfünfzig z. B. heißt »Nee-akh-khleep-kin-meen-ye-geet-kin-par-ol-in-nin-mil-li-gen« und ist doch nur sechsundfünfzig, wenn es alles ausgesprochen ist! Es sollte wenigstens zweihundert dreiundsechzig Million, neunhundert vierzehntausend siebenhundertundeins sein, und dafür wäre es nicht kurz. Die Korjäken haben freilich selten Gelegenheit, hohe Zahlen auszusprechen, und wenn dies der Fall, haben sie Überfluß an Zeit dieses zu thun. Es wäre ein hartes Stück Arbeit für einen Knaben, eine der mannigfaltigen Aufgaben in Rays höherer Arithmetik auf Korjäkisch zu lösen. Zu sagen 324×5260 = 1 704 240 würde ihn zu einer freien Stunde und einer Belohnung 174 für besonderes Verdienst berechtigen. Wir waren nie imstande, irgendwelche Ähnlichkeit zwischen der korjäkisch-tschutschkischen Sprache und den Sprachen der Eingeborenen auf der östlichen Seite der Behringsstraße festzustellen. Wenn dieselbe besteht, muß sie in der Grammatik liegen.

Die Religion aller nomadischen und ansässigen Eingeborenen Nordostsibiriens, einschließlich sechs oder sieben anderer verschiedener Stämme, ist ein korrumpierter Buddhismus, der als Schamanismus bekannt ist. Derselbe nimmt bei verschiedenen Stämmen andere Formen an. Bei den Korjäken und Tschutschken kann er kurz als die Verehrung der bösen Geister definiert werden, von denen man glaubt, daß sie sich in den geheimnisvollen Naturkräften und Erscheinungen verkörpern, wie z. B. in epidemischen und ansteckenden Krankheiten, Orkanen, Hungersnot, Sonnen- und Mondfinsternissen und besonders glänzenden Nordlichtern. Der Name kommt von »Schamans«, den Priestern, welche die Dolmetscher der Wünsche der Dämonen und die Vermittler zwischen ihnen und den Menschen spielen. Alle ungewöhnlichen, von schlimmen Folgen begleiteten Naturerscheinungen werden diesen bösen Geistern zugeschrieben und gelten als Kundgebungen ihres Mißfallens. Viele behaupten, das ganze System des »Schamanismus« sei ein ungeheurer Betrug, dessen sich einige listige Priester gegen die Leichtgläubigkeit beschränkter Eingeborener schuldig machten. Dies ist sicherlich eine irrige Auffassung. Keiner, der je unter sibirischen Eingeborenen gelebt, ihren Charakter studiert hat, den Einflüssen unterworfen war, welche sie umgeben, und sich so viel wie möglich an ihre Stelle versetzt hat, wird die Aufrichtigkeit der Priester und ihrer Anhänger bezweifeln, oder sich wundern, daß die Verehrung von bösen Geistern ihre einzige Religion ist. Es ist die einzig mögliche Religion für diese Menschen unter den gegebenen Umständen. Ein neuerer SchriftstellerW. E. H. Lecky, Geschichte des Rationalismus in Europa. von großer Unparteilichkeit hat 175 den Charakter der sibirischen Korjäken und den Ursprung und die Art und Weise ihres religiösen Glaubens so bewundernswert geschildert, daß ich nichts Besseres thun kann, als hier seine eigenen Worte wieder zu geben:

»Schrecken ist überall der Anfang der Religion. Die Erscheinungen, welche sich dem Geiste des Wilden am stärksten einprägen, sind nicht diejenigen, welche sich der Ordnung der Naturgesetze einreihen und wohlthätige Wirkungen hervorbringen, sondern solche, welche unheilvoll und scheinbar abnorm sind. Das Gefühl der Dankbarkeit ist bei weitem weniger intensiv, als das der Furcht, und die geringste Störung eines Naturgesetzes macht einen viel tieferen Eindruck als der erhabenste alltägliche Vorgang. Wenn daher die furchtbarsten, erschreckendsten Naturereignisse seinen Geist überwältigen, wenn Krankheit und Erdumwälzungen in ihren zerstörendsten Formen sein Land verheeren, so drängt sich dem Wilden die unabweisbare Überzeugung auf, daß dabei diabolische Kräfte wirksam sind. Im Dunkel der Nacht, am gähnenden Abgrund, bei dem vielfachen Echo der Bergschlucht, bei der unheimlichen Glut eines Kometen oder der feierlichen Düsterkeit einer Sonnenfinsternis, wenn Hungersnot das Land heimsucht, Erdbeben und Seuchen Tausende von Opfern gefordert haben, in allem, was seltsam, unheilverkündend, todbringend ist, fühlt er das Übernatürliche und beugt sich vor demselben. Allen Einflüssen der Natur preisgegeben, ohne sich des Zusammenhangs ihrer mannigfaltigen Teile bewußt zu sein, lebt er in fortwährender Angst vor dem, was er für die unmittelbaren, isolierten Thaten böser Geister hält. Da er sich stets von denselben umgeben fühlt, wird er natürlich darnach streben, in Beziehung zu ihnen zu treten, wird suchen, sie mit Gaben zu versöhnen. Wenn irgend ein großes Unglück über ihn hereingebrochen, oder ein rachsüchtiger Gedanke Herr seiner Vernunft geworden ist, wird er versuchen, sich selbst mit ihrer Macht zu bekleiden, und seine erregte Einbildungskraft 176 wird ihn bald glauben machen, daß ihm dies gelungen sei.«

Diese einleuchtenden Worte sind der Schlüssel zur Religion der sibirischen Eingeborenen und machen den Ursprung der »Schamans« begreiflich. Wenn ein Beweis nötig wäre, daß dieses Religionssystem der natürliche Ausfluß der menschlichen Natur unter gewissen Bedingungen des Barbarismus ist, so würde er dadurch erbracht werden, daß der Schamanismus unter so vielen Stämmen von verschiedenem Charakter und Ursprung überwiegt. Der Stamm der Tungusen z. B. ist sicherlich chinesischer, und der der Jakuten türkischer Abkunft. Beide kamen aus von einander entfernten Regionen mit ihrem eigenen Glauben und Aberglauben, ihren eigenen Anschauungen; aber als beide allen störenden Wirkungen entzogen und den nämlichen äußeren Einflüssen unterworfen wurden, bildete sich dasselbe Religionssystem bei ihnen aus. Wenn eine Schar unwissender, barbarischer Mohammedaner nach Nordostsibirien verpflanzt und gezwungen würde, jahrhundertelang in den wilden, düsteren Gegenden des Stanowoigebirges zu leben, wo sie unter schrecklichen Stürmen litten, deren Ursachen sie nicht erklären könnten, ihre Renntiere plötzlich durch eine Seuche verlören, die aller menschlichen Mittel spottet, durch Nordlichter, die das Weltall in Flammen zu setzen scheinen, erschreckt, und durch Epidemieen decimiert würden, deren Ursache sie nicht begreifen, und deren unheilvollen Folgen sie ohnmächtig gegenüberstehen – sie würden ganz gewiß nach und nach ihren Glauben an Allah und Mohammed verlieren und Schamaniten werden wie die sibirischen Korjäken und Tschutschken. Selbst ein ganzes Jahrhundert teilweiser Civilisation und christlicher Erziehung hat den unwiderstehlichen schamanistischen Einfluß, welchen die wilden, schrecklichen Naturereignisse in diesen einsamen und unwirtlichen Regionen auf den Geist ausüben, nicht ganz zu überwinden vermocht. Die Kamtschadalen, die mich in das Samankagebirge begleiteten, waren Söhne christlicher Eltern und von Kindheit an in der griechischen Kirche erzogen worden; sie 177 glaubten fest an die göttliche Vorsehung und die göttliche Erlösung und beteten abends und morgens um Schutz und Erhaltung ihres Lebens; und doch, als der Sturm uns in den Bergen überraschte, besiegte das Gefühl des Übernatürlichen ihre religiösen Überzeugungen; Gott schien ferne, die bösen Geister waren nahe und geschäftig, und sie opferten wie wirkliche Heiden einen Hund, um den diabolischen Zorn, der den Sturm hervorgerufen, zu versöhnen. Ich könnte viele ähnliche Beispiele anführen, wo die festesten und augenscheinlich aufrichtigsten Überzeugungen von der Wahrheit von Gottes Weltregierung durch den Einfluß, den erschreckende und außergewöhnliche Naturerscheinungen auf die Einbildungskraft ausübten, überwältigt worden sind. Die Handlungen des Menschen werden nicht so sehr von seinem Verstande, als von seiner Einbildungskraft beherrscht; der lebendige Eindruck diabolischer Gegenwart hat den Schamanismus erzeugt.

Die Funktionen der Schamáns oder Priester bei den Korjäken bestehen darin, am Krankenlager Beschwörungsformeln zu singen, sich mit den bösen Geistern in Beziehung zu setzen und ihre Wünsche und Beschlüsse den Menschen auszulegen. Wenn irgend ein Unglück, wie Krankheit, Sturm oder Hungersnot, die Korjäken heimsucht, so wird dies natürlich dem Mißfallen irgend eines Geistes zugeschrieben und der Schamán über die beste Art, seinen Zorn zu besänftigen, um Rat gefragt. Der Priester versammelt nun das Volk in einem der größten Zelte des Lagers, bekleidet sich mit einem Gewande, das mit phantastischen Figuren von Vögeln, anderen Tieren und merkwürdigen hieroglyphischen Sinnbildern verziert ist, löst sein langes, schwarzes Haar, ergreift eine große, einheimische Trommel, und unter Begleitung von langsamen, gleichförmigen Trommelschlägen fängt er an, mit gedämpfter Stimme zu singen. Der Gesang wird allmählich lauter und schneller, die Augen des Priesters scheinen starr zu werden, er gerät in krampfhafte Zuckungen, die wilde Weise wird immer ungestümer: die Trommelschläge sind nur noch ein ununterbrochenes Rollen. Dann springt er auf, wirft seinen Kopf 178 konvulsivisch hin und her, daß sein Haar den Boden berührt, und beginnt einen rasenden Tanz im Zelte herum. bis er offenbar erschöpft auf seinen Sitz sinkt. Einige Augenblicke später verkündet er den von heiliger Scheu ergriffenen Eingeborenen die Botschaft, welche er von den bösen Geistern empfangen hat, und die gewöhnlich in dem Befehle besteht, den erzürnten Göttern eine gewisse Anzahl von Hunden oder Renntieren oder vielleicht einen Menschen zu opfern.

In dieser wilden Ekstase machen sich die Priester gegen ihre leichtgläubigen Anhänger allerlei Betruges schuldig, thun als ob sie glühende Kohlen verschlängen, oder sich mit Messern durchbohrten; meist jedoch glaubt der Schamán wirklich, daß er unter dem Einfluß eines diabolischen Geistes stehe. Die Eingeborenen scheinen selbst manchmal die angebliche Inspiration des Priesters zu bezweifeln und peitschen ihn durch, um die Aufrichtigkeit seiner Aussagen und die Echtheit seiner Offenbarungen zu prüfen. Wenn er die Züchtigung mit Geistesstärke erträgt, ohne menschlichen Schmerz oder Schwäche zu verraten, dann ist seine Autorität als Diener der bösen Geister erwiesen, und seine Befehle werden befolgt. Außer den Opfern, welche von den Schamáns befohlen werden, spenden die Korjäken wenigstens zweimal im Jahre Opfergaben, um sich einen guten Fisch- und Seehundsfang und ein gedeihliches Jahr zu sichern. Wir sahen häufig über einem einzigen Lager zwanzig bis dreißig Hunde mit den Hinterbeinen an langen Pfählen aufgehängt. Während des Sommers werden große Mengen grüner Gräser gesammelt, zu Kränzen geflochten und den gemordeten Tieren um den Hals gewunden. Wenn die Korjäken einen Berg überschreiten müssen, bringen sie den bösen Geistern Tabakspenden dar. Bei all den Nomadenstämmen werden die Körper der Toten samt ihren beweglichen Gütern verbrannt, in der Hoffnung auf eine Auferstehung des Geistes und der Materie; die Kranken werden, wenn ihre Genesung hoffnungslos ist, entweder zu Tode gesteinigt oder mit einem Spieße durchbohrt. Wir fanden die Aussage der Russen und Kamtschadalen 179 bestätigt, daß die Korjäken alle bejahrten Leute, welche durch Krankheit oder Altersschwäche untauglich geworden, die Beschwerden des Nomadenlebens zu ertragen, ermordeten. Lange Erfahrung hat sie mit der besten und schnellsten Methode, das Leben zu vernichten, schrecklich vertraut gemacht, und sie erklärten uns oft, wenn wir abends in ihren rauchigen Pologs saßen, mit schaudererregender Genauigkeit die verschiedenen Arten wie man einen Mann töten könne, und bezeichneten die wesentlichsten Teile des Körpers, wo ein Messer- oder Speerstich augenblicklich verhängnisvoll werden mußte. Alle Korjäken lernen einen derartigen Tod als das natürliche Ende ihres Daseins betrachten und sehen demselben im allgemeinen mit vollkommener Fassung entgegen. Beispiele, daß ein Mann die Periode seiner physischen Thätigkeit und Nützlichkeit zu überleben wünscht, sind selten. Er wird in Gegenwart der ganzen Gesellschaft mit sorgfältigen, aber unverständlichen Ceremonien getötet, sein Körper verbrannt und seine Asche in alle vier Winde gestreut.

Die Gebräuche, die Alten und Kranken zu ermorden, die Körper der Toten zu verbrennen, beruhen auf dem Wanderleben der Korjäken und sind nur Beweise von dem mächtigen Einfluß, den physische Gesetze überall auf die Handlungen und sittlichen Gefühle der Menschen ausüben. Beide sind eine logische und so zu sagen unvermeidliche Folgerung aus der natürlichen und klimatischen Beschaffenheit des Landes. Die Unfruchtbarkeit des Bodens in Nordost-Sibirien und die Strenge des langen Winters veranlaßten den Menschen als einziges Mittel, sich Unterhalt zu verschaffen, das Renntier zu zähmen; die Zähmung des Renntieres machte das Nomadenleben zur Notwendigkeit; das Umherziehen ließ Krankheit und Altersschwäche sowohl für die davon Betroffenen als auch für ihre Umgebung außerordentlich lästig erscheinen, und dies führte endlich zum Mord der Alten und Kranken, als einer von Klugheit und Mitleid vorgeschriebenen Maßregel. Denselben Ursachen verdankt die Sitte, die Toten zu verbrennen, ihren Ursprung. 180 Ihr nomadisches Leben machte einen gemeinsamen Begräbnisort zur Unmöglichkeit, und nur mit der größten Schwierigkeit konnten sie in dem immerwährend gefrorenen Boden ein Grab graben. Man wollte die Leichname nicht den Wölfen preisgeben, und da war das Verbrennen die einzig übrig bleibende Alternative. Keine dieser Sitten setzt von seiten der Korjäken eine ursprüngliche, angeborene Roheit oder Barbarei voraus. Sie sind die natürliche Entwickelung gewisser Umstände und beweisen nur, daß die stärksten Regungen der menschlichen Natur, wie kindliche Ehrfurcht, brüderliche Zuneigung, selbstsüchtige Liebe zum Leben, Ehrerbietung vor den Überresten teurer Freunde, vollständig machtlos sind, dem Einfluß großer Naturgesetze Widerstand zu leisten. Die russische Kirche ist bemüht, durch Missionare alle sibirischen Heiden zum Christentum zu bekehren, und obgleich diese unter den ansässigen Stämmen einen gewissen Grad von Erfolg gehabt zu haben scheinen, die nomadischen sind noch Anhänger des Schamanismus, und unter der spärlichen Bevölkerung Nordostsibiriens befinden sich mehr als 70 000 Bekenner desselben. Einer dauernden und wirklichen Bekehrung der wandernden Korjäken und Tschutschken müßte aufklärende Erziehung und eine vollständige Veränderung ihrer Lebensweise vorhergehen.

Zum Aberglauben der nomadischen Korjäken und Tschutschken gehört auch ihre Abneigung, sich von einem lebenden Renntiere zu trennen. Tote Renntiere kann man so viele kaufen, wie man will, bis zu fünfhundert, das Stück für siebzig Cents; aber ein lebendiges ist weder für Geld noch gute Worte zu haben. Du kannst ihnen ein Vermögen in Tabak, kupfernen Kesseln, Perlen und scharlachrotem Tuche für ein einziges lebendiges Tier anbieten, sie werden sich weigern, es zu verkaufen; wenn du ihnen aber erlaubst, das nämliche Tier zu töten, kannst du es für eine kleine Reihe gewöhnlicher Glasperlen erhalten. Es führt zu nichts, sie der Abgeschmacktheit ihres Aberglaubens überführen zu wollen. Sie geben keinen andern Grund, keine andere Erklärung 181 als, »ein lebendes Renntier zu verkaufen, wäre »atkin« – schlecht«. Da es bei der Errichtung unserer projektierten Telegraphenlinie notwendig für uns war, eigene dressierte Renntiere zu besitzen, boten wir alles Erdenkliche auf, die Korjäken zur Abtretung eines einzigen zu bewegen; alle Bemühungen blieben erfolglos. Für hundert Pfund Tabak gaben sie bereitwillig hundert geschlachtete Tiere; aber selbst fünfhundert Pfund Tabak konnten sie nicht in Versuchung führen, sich von einem einzigen Tiere zu trennen, so lange es noch atmete. Während der dritthalb Jahre, die wir in Sibirien verbrachten, gelang es keiner von unseren Abteilungen, die Korjäken oder Tschutschken je zum Verzicht auf ihren Aberglauben zu bewegen. Alle Renntiere, die wir eventuell besaßen, ungefähr achthundert, kauften wir von den nomadischen Tungusen.

Die Korjäken sind wahrscheinlich die reichsten Renntierbesitzer Sibiriens und folglich der Welt. Viele der Herden, denen wir im nördlichen Kamtschatka begegneten, beliefen sich auf acht- bis zwölftausend, und es wurde uns erzählt, ein reicher Korjäke, der in der Mitte der großen »Tundra« wohne, besitze an verschiedenen Orten drei ungeheure Herden zusammen von dreißigtausend Köpfen. Die Sorge für diese großen Herden ist fast die einzige Beschäftigung der Korjäken. Sie müssen wegen der Nahrung ihrer Tiere beständig von Ort zu Ort reisen, und sie bei Tag und Nacht vor Wölfen beschützen. Acht bis zehn Korjäken verlassen jeden Abend vor einbrechender Dunkelheit mit Speeren und Messern bewaffnet das Lager, gehen eine Meile oder zwei an den Ort, wo die Tiere weiden, machen sich aus Kiefernzweigen kleine Hütten, die ungefähr drei Fuß hoch und zwei Fuß lang und breit sind, und kauern in denselben während der langen, kalten Stunden einer arktischen Nacht, um auf die Wölfe zu passen. Je schlechter das Wetter, desto größer die Notwendigkeit, auf der Hut zu sein. Manchmal macht eine Schar Wölfe in einer dunkeln Winternacht, während ein schrecklicher Nordoststurm mit Schneegestöber über die Steppe heult, 182 einen ungestümen, plötzlichen Angriff auf eine Renntierherde und zerstreut sie nach allen Himmelsrichtungen. Derartige Angriffe sollen die Korjäkenwachen verhindern. Allein und fast obdachlos auf diesem ungeheuren Schneemeere, kauert jeder in seinem zerbrechlichen Bienenkorb von Hütte, beobachtet das wundervolle Nordlicht, welches das blaue Himmelsgewölbe und die Erde karmesinrot zu färben scheint, horcht auf das Pulsieren des Blutes in seinen Ohren und das ferne Geheul seiner Feinde, der Wölfe. Geduldig erträgt er die Kälte, die das Quecksilber zu festen Klumpen gefrieren macht, und Stürme, die sein Obdach wie Spreu in einer Schneewolke hinwegfegen. Nichts entmutigt ihn; nichts erschreckt ihn, daß er je den Schutz der Zelte aufsuchte. Ich habe ihn des Nachts mit erfrorenen Wangen und von Frost gedrückter Nase, so daß sie ganz unempfindlich und schwarz geworden waren, auf der Wache gesehen, und an manchem kalten Wintermorgen unter einem Busche kauernd, sein Gesicht vom Pelzrock bedeckt, als ob er tot wäre. Nie konnte ich an einer der kleinen Buschhütten der trostlosen »Tundra« vorübergehen, ohne an den einsamen Mann zu denken, der darin gewacht, und mir vorzustellen, was während der langen, traurigen Nächte, in denen er auf den ersten, schwachen Dämmerschein wartete, in seinem Geiste vorgegangen. Hatte er sich je gefragt, wenn die feurigen Strahlen des Nordlichtes über seinem Haupte wogten, was diese geheimnisvollen Lichtströme verursacht? Hatten die unaufhörlich über der Schneeebene kreisenden Sterne ihn nicht an die Möglichkeit schönerer, glücklicherer Welten denken lassen?

»Der silberne Mond, die glitzernden Sterne,
Die wandeln still in unendlicher Ferne,
Erweckten sie nicht im Alltagsgetriebe
Gedanken an Gott und ewige Liebe?«

Ach die arme, hilflose, menschliche Kreatur! Übernatürliche Einflüsse konnte er fühlen und fühlte sie; aber die Trommel und das wüste Geschrei des Schamán bewiesen, wie sehr er dieselben und ihre Lehren mißverstand.

183 Die natürlichen Anlagen der wandernden Korjäken sind durchaus gut. Sie behandeln ihre Frauen und Kinder mit großer Güte; während meines mehr als zweijährigen Verkehrs mit ihnen sah ich nie, daß eine Frau oder ein Kind geschlagen wurde. Ihre Ehrlichkeit ist bemerkenswert. Es kam öfter vor, daß sie uns fünf bis zehn Meilen mit einem Renntiergespann nacheilten, um uns ein Messer, eine Pfeife oder sonstige Kleinigkeit, die wir in der Eile in ihrem Zelte zurückgelassen, nachzubringen. Unsere mit Tabak, Perlen und anderen Tauschmitteln beladenen Schlitten standen unbewacht vor ihren Zelten, aber nie wurde unseres Wissens irgend etwas gestohlen. Wir wurden von vielen mit so viel Güte und so großmütiger Gastfreundschaft behandelt, wie ich nur je in einem civilisierten Lande von christlichen Bewohnern erfahren, und wenn es mir an Geld und Freunden fehlte, würde ich mich mit weit größerem Vertrauen an die nomadischen Korjäken als an manche amerikanische Familie wenden. Grausam und barbarisch mögen sie sein, nach unseren Begriffen von Grausamkeit und Barbarei; aber Verrat haben sie nie begangen, und ich würde ihnen mein Leben so rückhaltlos anvertrauen, wie irgend einem civilisierten Volke, das ich kennen gelernt habe.

Nacht für Nacht, je weiter nördlich wir kamen, desto mehr näherte sich der Polarstern dem Zenith, bis wir endlich am zweiundsechzigsten Breitegrad der weißen Gipfel des Stanowoigebirges an der Spitze des Penschinagolfes ansichtig wurden, welches die Nordgrenze von Kamtschatka bezeichnete. Unter dem Schutz seiner schneebedeckten Abhänge kampierten wir zum letztenmale in den rauchigen Zelten der kamtschadalischen Korjäken, aßen zum letztenmale aus ihren hölzernen Trögen und verabschiedeten uns mit wenig Bedauern von den trostlosen Steppen der Halbinsel und dem Zeltleben seiner Nomaden. 184

 


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