Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel

Grau ging rasch und schwebend einher. Er hatte ein Gefühl, als sei seine Brust angefüllt mit Licht und blendender Helligkeit. Er spürte den Schein seiner Augen.

Alle Dinge kamen ihm verändert vor, schöner, verklärt, die Blumen leuchtender, die Haut der Kindergesichter heller, die Augen der Menschen strahlender. Als er durch seinen kleinen Garten schritt, der in der Frühsonne leuchtete, blieb er erstaunt stehen; er hatte ja nie zuvor gesehen, wie schön der kleine Garten eigentlich war. Alle Blumen schienen ihm zuzulächeln.

Er setzte sich augenblicklich nieder und schrieb fieberhaft einige Briefe. Ja, du guter Gott, was gab es doch alles zu tun! Verbindungen mußten angeknüpft werden, alles wollte ja vorbereitet sein. Er wollte arbeiten, arbeiten, Tag und Nacht wollte er arbeiten, es war ja eine Freude, eine Lust. Alles, alles mußte anders werden, sein ganzes Leben neu; keine Trägheit und Schlaffheit mehr, eifriger, reger, tätiger mußte er werden!

Dann hatte er eine Unterredung mit Eisenhut. Eisenhut verstand ihn nicht und fragte neugierig, aber Grau ließ sich nicht auf Erklärungen ein. Auf Eisenhut war in jedem Falle zu rechnen. »Danke, Eisenhut, Freund! Adieu!«

War es nicht sonderbar, daß heute alle Menschen lächelten? Da gingen sie dahin mit einem kleinen Glück im Herzen. Grau hatte Lust, ihre Hände zu erfassen, sie zu umarmen, er grüßte liebenswürdiger als je, sah ihn jemand an, so hatte er sofort ein freundliches Wort für ihn. Die Leute sahen ihm erstaunt ins Gesicht. Ein glückliches Lächeln lag auf seinen knabenhaften, roten Lippen, seine Augen leuchteten wie stille Feuer. Er hatte es sehr eilig und besuchte einen alten Tagelöhner, plauderte mit ihm, ermutigte ihn, dann sprach er mit einem Stadtrat, jenem Messerschmied Ulrich, dessen Bart Ähnlichkeit hatte mit einem Zopfe, um dem Tagelöhner einen Platz im Armenhaus zu verschaffen. Hierauf gab er zwei Stunden Unterricht in der Schule und als er damit fertig war, kaufte er für zwanzig Pfennig Kuchen und lud sich eigenmächtig bei der »ewigen Braut« zum Kaffee ein. Er traf es günstig, Fräulein Sperling war in festlicher Stimmung. Auf dem Tische stand ein Strauß von Kornblumen, heute war der Geburtstag des Bräutigams. Sie plauderten und zuweilen lachten sie beide laut heraus. Fräulein Sperling legte den weißblonden Kopf auf die Seite und lächelte Grau kokett zu.

Immer noch stand die Sonne mitten am Himmel! Wollte denn dieser Tag kein Ende nehmen?

Aber endlich wurde es dunkel und Grau verschwand irgendwohin. Er wartete oben auf der Höhe. Da saß er am Rand des Waldes, breitete die Hände vors Gesicht und lachte und weinte.

Es war ja nicht auszudenken, dieses Leben, dieser Glanz vor ihm, dieser Reichtum, so unerwartet und plötzlich! Daß ihm, ihm, ihm dieses Glück beschieden wurde, warum, weshalb? Gerade ihm dieses verwirrende Glück? Er konnte nicht daran denken. Er konnte nicht an die Zukunft denken, nein, das blendete, er konnte nicht an die vergangene Nacht denken, nein, nein, das funkelte. Er hörte ja immer noch wie die Vögel heute morgen im Walde zwitscherten –

Adele kam nicht in der ersten Nacht, auch nicht in der zweiten und dritten. Aber Grau erhielt ein Billet. »Mama ist nicht wohl. Ich bin dein, warte!« stand darin, sonst nichts.

Gewiß, er wartete!


»Schöne Tage sind nun für dich gekommen, mein Herz,« sprach Grau zu seinem Herzen. »Freude und Glück, du hast Gnade gefunden vor dem Schicksal. Jubele!«

Tag und Nacht pochte Graus Herz laut in der Brust.

»Es ist schön geradeaus zu blicken, nach oben und unten, alle Dinge sind freundlich. Es ist schön die Augen zu schließen und in die Brust hineinzublicken, wo es funkelt von Herrlichkeiten.«

Die Tage waren schön, und schöner noch waren die Nächte. Die Tage waren sonnig und heiß, die Nächte warm und nahezu silberweiß vom Mond und den vielen, vielen Sternen. Die Stadt lag ganz in Sonne gebettet und funkelte wie ein Schmuck in einem Blumenstrauß. Freundliche Wolken zogen langsam über den tiefblauen, glänzenden Himmel, oft blieben sie stundenlang an der gleichen Stelle stehen, es war gänzlich windstill. Manchmal regnete es, nur fünf Minuten lang, während die Sonne schien, dann war die Luft um so köstlicher und alle Düfte des Sommers erwachten um so stärker.

Es war so schön und Grau war so glücklich, daß er plötzlich zu sich sagte: Könnte ich mir nicht einige Tage Ferien geben, wie? Zwei, drei Tage, an denen ich nur das Notwendige verrichte? Ja, ja, weshalb nicht, gehen und wandern, schauen und fühlen.

Er ging und ging und war immerzu unterwegs. Bald ging er in einem Eichenwalde, den die Sonne vergoldete, bald zwischen den Kornfeldern, die sich schwer neigten, wieder da genoß er die leise Musik und Erquickung eines Baches, der sich durch die Wiesen schlängelte. Freude erfüllte seine Brust. Er fühlte sich gesegnet, beschenkt, geschmückt. Zuweilen nahm er Adeles Billet aus der Tasche, las es, nickte und steckte es wieder sorgfältig ein.

»Ich darf ja nicht daran denken,« sagte er und lachte und schüttelte den Kopf. »Es ist ja zuviel!«

Grau ging auf der Höhe, die der Sommer geschmückt hatte, es sang und klang im Tale, und er dachte an all das fröhliche Leben auf der grünen Erde. Wie es wimmelte! Überall wimmelte es, in den Städten, den Werkstätten, den Bahnhöfen, den Schiffen, den Bergwerken. Und zu denken, daß es immerzu lacht und singt auf der Erde! Da ist die Schule zu Ende, da ist eine Hochzeit, dort ist ein Bankett, ein Ball, diese Stadt hat geflaggt und in jener ist ein Feuerwerk. All die Freude, die jetzt in diesem Augenblick auf der Erde ist! Immerzu lacht und singt es auf der Erde, es lacht, kichert, jauchzt, jubelt. Und weshalb sollten die Menschen auch etwas anderes sein als die Vögel im Walde?

Grau stieg hinunter durch ein schmales sanftes Tal. Das Gras hier war saftig und vom tiefsten Grün. Er ging nach Hause und legte sich in seinem kühlen, dämmerigen Zimmer zur Ruhe nieder. Augenblicklich schlummerte er ein und obwohl er schlief, empfand er lange noch die Köstlichkeit seines Schlafes. Dann kam ein großer Tonkünstler in seinen Traum, der sich vor eine Orgel setzte und spielte. Grau saß in einem hohen Stuhle und hatte nichts zu tun als zuzuhören. Plötzlich brauste die Orgel: Auf, auf! Und er fuhr empor. Ja, es war Zeit, die Sonne war im Begriffe zu sinken.

Die Sonnte brannte noch auf seinem Rücken, als er zwischen Obstgärten und Weinpflanzungen empor zur Höhe stieg. Aus dem Walde hauchte Schwüle, Grau legte sich am Rande in das erfrischend duftende Gras, stützte den Kopf in die Hand und begann augenblicklich zu warten, obgleich er wußte, daß Adele erst kommen konnte, wenn es ganz dunkel war.

Die Sonne glühte in den sanften Höhenzügen im Westen, die gleichsam zerschmolzen und sandte breite Garben von rotem Feuer über die Ebene. Der Fluß brannte. Die Stadt unten sah aus als sei sie aus einem Berge von dunklem Golde gegraben. Der Glanz erlosch, die Wälder auf den Höhen erröteten. Im Tale stieg blauer Rauch auf wie von einem Schusse, aber er verging nicht mehr, er verteilte sich, wurde dichter und endlich erfüllte der Nebel das ganze Tal. Alle Farben erblaßten, in der Ferne blitzte ein kleines Feuer, das heller und heller flackerte. Nun war es plötzlich still geworden. In der Stadt läuteten die Glocken und dann war es lange ruhig, bis die erste Grille zu zirpen begann.

Am Himmel flimmerte ein kleiner Stern, dann tauchte der Abendstern auf, groß und feierlich, wie eine Fackel, die vor der Nacht einherschritt. Und jetzt kam die Nacht.

In der Dunkelheit, da und dort, sprühte geheimnisvolles Licht, aus der Stille kamen merkwürdige Stimmen und Laute, der Wald dehnte sich, ein warmer Strom von Wohlgerüchen zog daher, die Luft füllte sich mit Leben. Grau bekam wunderliche Besuche, kleine Milben, das Silber des Mondes auf den Schwingen, Käfer, Spinnen und Falter, fein wie ein Stückchen Seide, ein Eckchen Samt. Der Himmel war plötzlich übersät von Sternen, der Mond ging auf.

Die Sommernacht funkelte.

Wenn du das nicht fühlst? dachte Grau. Vielleicht ist es einerlei ob du gut oder schlecht bist, aber wenn du das nicht fühlst? Es gibt ja soviel Gutes, das Gute wächst ja immerzu, eine Schlechtigkeit kann es nicht schmälern und Gott wird dir vergeben. Er wird dich vielleicht wieder und wieder den Weg des Fleisches schicken, bis deine Seele edel und reif geworden ist, er wird vielleicht dem Trotzigen vergeben und dem Zweifler und seinem Feinde vielleicht, aber wenn du das nicht fühlst? Wenn du kalt bist und spottest, vielleicht hätte er dir eher die große Missetat vergeben.

Es rauschte! War sie es, die kam?

Grau wartete. Sein Herz war so reich, daß er die Stunden nicht zählte. Er lag im Grase und atmete. Je tiefer die Nacht wurde, desto tiefer atmete er und endlich atmete er wie alles ringsumher, die Bäume, die Gräser.

Und er lächelte.

Zu denken an den gewaltigen Weltenatem! Wie?

Wir spüren ihn ja nicht, aber sein Hauch traf auch die Erde, deshalb atmete sie und alles, was auf ihr ist, die Luft, das Meer, das Feuer, die Tiere, alles, alles atmet.

Zu denken, daß das ganze Weltengebäude ewig zittert und bis in die kleinsten und fernsten Teile immerzu bebt von der großen schwingenden Kraft! Wir fühlen sie ja nicht, aber sie ist in allen Dingen. Wie die Sterne schwingen, so schwingt die Erde und wie die Erde schwingt, so schwingt das Blut in den Adern der Menschen.

Und überall pocht und pulst und bebt es! In den Urwäldern, den Sümpfen, wo es gurrt und miaut, in der Brust der Vögel und des Tigers, der auf Raub ausgeht, überall pocht es, die ganze Welt ist ja nichts als ein einziges großes pochendes Herz!

Zu denken, daß sie nichts ist als ein großes pochendes Herz! All, all das zu denken!

Grau schwindelte und er schüttelte den Kopf.

Da knackt es und Schritte kamen. Adele? Nein, es war ein Reh, das aus dem Walde trat um zu äsen, ein feines, junges Tier, das sich zierlich auf den dünnen Läufen bewegte.

Und wieder wartete er und ließ sich von seinem Glücke dahintragen. Es schaukelte ihn wie ein warmes, funkelndes Meer.

Er lauschte erstaunt: In seinem linken Ohre sang jemand ein Lied!


Nahm es denn kein Ende, dieser Reichtum, dieses Glück? Zuweilen fuhr es über ihn dahin wie ein heißer, erstickender Sturmwind, zuweilen sang es ihm leise und fein wie eines Vogels Stimme, zuweilen lag es vor ihm ruhig und unendlich wie ein goldenes sanftes Meer.

Unaufhörlich spielten die Gedanken in seinem Kopfe, seine Augen waren schärfer geworden, seine Ohren feiner, sein Gefühl lebendiger. Er fühlte wie das Zittergras zitterte, er fühlte es, wie all diese kleinen wunderschönen Herzen des Zittergrases bebten, er fühlte wie der Zweig eines Baumes schwankte. Es war so schön in dieser Welt zu leben, wo alle Dinge so schön und sinnreich waren, selbst die unscheinbarsten. Da hast du die Blumen, ganz schlichte unscheinbare Blumen, sie haben die Farben der Sonne aufgesaugt und strahlen sie zurück, sie sind aber nicht nur schön, sie stehen nicht umsonst da, sie sind notwendig für die Quellen und die Luft; da hast du die Biene, sie geht nach Honig aus, aber sie ist nicht umsonst da, sie befruchtet die Blumen. Da hast du –. Alles, alles verschlingt sich, verwebt sich, jedes kleinste Ding hat Beziehung zu dem Ganzen, geheimnisvollen Zweck, es wirkt und dient, auch der Mensch, nichts anderes als ein Faden in dem rätselhaften Gespinst der Welt ist er. Er mag ein Unternehmer sein, der eine Eisenbahn baut, ein Erfinder, ein Künstler, ein Denker, einerlei – er arbeitet für Geld und Ruhm, ja, und doch dient und wirkt er, ob er will oder nicht, der Unternehmer, der die Bahn baut, dient der Verbrüderung der Menschen, der Erfinder spart ihnen Zeit, der Künstler verfeinert Sinne und Geschmack, der Denker vertieft ihren Sinn – alle, alle arbeiten sie für den kommenden Menschen, der die Sehnsucht und der Traum der Erde ist. Ein Faden im Gespinste der Welt ist der Mensch, verwebt mit dem was lebt und tot scheint, verwandt mit dem Grase und der Eiche, dem Pferde, der Luft und den Sternen.

»Weiter, weiter! Gehen und wandern!«

Der Wald war plötzlich zu Ende und Grau trat in die blendende Sonne. Er prallte zurück. Was war das, was mitten im Tale stand in der flimmernden Sonne? Ja, das war er, er, der Mensch, das Phantom Mensch! Seine Füße standen im Tal und sein Haupt reichte bis in den blauen Äther hinein. Sein Leib leuchtete in der dampfenden Sonne, seine Augen strahlten wie Sterne.

Die Erscheinung zerrann im Augenblick wieder. Grau schloß die Augen, eine ungeheure Erschöpfung lähmte seine Glieder. Er setzte sich in das Gras und lächelte. Wie herrlich war es doch gewesen? Wie wunderbar das Leuchten dieser erhabenen Augen, nie mehr würde er es vergessen! Ja, das war er, dachte Grau, der Mensch, das Phantom! Der Mensch mit seinen Gebräuchen und Sitten, seinen Städten, seinen Kathedralen und Tempeln, seinen Statuen und Gemälden, seinen Symphonien, seinen Geweben und Maschinen, seinen Wünschen, seiner Sehnsucht, seinen Religionen, seinen Hoffnungen, seinem Schmerz, seinem Wahnsinn, seiner Liebe und seinem Haß, stärker als der Elefant, schneller als der Vogel, mit köstlichern Gesängen als des Vogels Lieder sind.

Hast du dem Menschen schon ins Auge geblickt, wie es glänzt und dunkelt und blitzt unter der Wimper, die sich hebt und senkt, hast du schon gesehen wie sich seine Lippe schwingt? Ja, auch schön ist der Mensch.

Ich und du, wir sind ja nur zwei Halme am Rain, ein Volk wie ein Baum, der seine Zeit hat, aber der Mensch ist ein Phantom, das unvergänglich ist und wächst und wächst! –

Wie er in der Sonne stand, dachte Grau, ich sah ihn ja ganz deutlich, wie kühn, wie herrlich, nie mehr werde ich diese Erscheinung vergessen.

Er sprang auf. »Weiter, weiter, gehen und wandern, meine reichen Tage sind gekommen.«


 << zurück weiter >>