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VI.

Wir hatten gefrühstückt. Freund Dingo hatte erneut bewiesen, daß seine sauberen Finger keine bloße Äußerlichkeit waren. Er benahm sich beim Essen durchaus gebildet, mehr noch, er spielte sogar Kavalier, bediente Ethel Murray mit Aufmerksamkeit und Geschick und heimste dafür ein paar anerkennende Worte und einen freundlichen Blick ein. Er war für Ethel kein verächtlicher Nigger mehr.

Es war jetzt zehn Uhr. Mein Versuch, die Insel von der Verankerung zu befreien, war fehlgeschlagen. Colonel Bluß hatte wahrscheinlich Stahltrossen benutzt, und wir lagen bereits so gut wie in Eisen. Was Ethel über ihn beim Frühstück erzählt hatte, vervollständigte nur das Charakterbild eines rücksichtslosen Draufgängers, der unter der glühenden Sonne Australiens alle weichen Empfindungen von sich geworfen hatte wie höchst überflüssige Kleidungsstücke.

Und das Schlimmste: Ich merkte schon seit einer Stunde, daß die Luft, die wir atmeten, immer sauerstoffarmer wurde. Da halfen auch die überall geöffneten Türen nichts, – die Luft war verbraucht, und das Gefühl der Benommenheit und Müdigkeit steigerte sich immer mehr.

Ethel hatte matte Augen, Bell Dingo schlich müde mit dem Geschirr in die Küche, und ich zermarterte mir den Kopf, wie uns zu helfen sei. Als allerletzte Reserve war noch eine Stahlflasche Sauerstoff vorhanden. Aber ich wollte sie nicht öffnen, sie mußte unbedingt für die Stunde äußerster Not zurückgelegt werden.

Der Schwarze klapperte in der Küche mit den Tellern, ich stand vor dem Fenster und beobachtete die neugierigen Fische. Sie hatten es besser als wir, sie waren frei, sie tummelten sich eifrig in ihrem Element und machten sich keine Sorgen Frau Ethels wegen.

Und Ethel war so still und bedrückt geworden.

»Würden Sie sich mit Bluß in Unterhandlungen einlassen?« fragte sie leise.

»Vielleicht …«

»Und – mich preisgeben?«

»Niemals!«

Da trat sie neben mich, und der Duft ihres Leibes umwehte mich mit lockendem Zauber. Sie legte mir die Hand leicht auf die Schulter. »Sie sollen mich preisgeben«, sagte sie fest. »Im schlimmsten Falle wird man mich ein paar Jahre wegen Gefangenenbefreiung einsperren. Was liegt daran?!«

Ihre Nähe war mir unbehaglich. Ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mit Bell Dingo über das Schaltbrett zu sprechen, und ich traute ihr nicht.

»Aber an meiner Freiheit liegt mir sehr viel«, meinte ich brüsk. »Ich habe Bluß' Befehle bereits genügend mißachtet. Er wird auch mich nicht schonen, und auf eine Kerkerzelle und Handschellen lege ich keinerlei Wert.«

Sie war feinfühlig genug, zurückzutreten und wieder ihren Sofaplatz aufzusuchen. Ich ging zu Freund Dingo in die Küche und schloß die Tür. Er rieb einen Teller trocken, er hatte eine große Schürze vorgebunden und sein Gesicht verriet keinerlei Schuldbewußtsein.

»Weshalb hast du die Schilder abgeschraubt?«

Sein harmloser Augenaufschlag hätte einem Schauspieler Ehre gemacht.

»Ai ai, – wollten Schilder putzen«, sagte er mit erstaunlicher Frechheit.

Ich war dicht vor ihm. Meine Blicke durchbohrten ihn.

»Sollte Ethel Murray die Schilder nicht sehen?« fragte ich schärfsten Tones.

Er grinste beängstigend breit.

»Warum Frau nicht sollen sehen, ai ai, Mussu?! Warum nicht?! Sind schon geputzt … Da liegen … Ich nachher sie anschrauben.«

Auf dem Tische lagen die zehn in Messing gefaßten Schildchen und auch die zehn Richtungsanzeiger halb unter einem Handtuch. Sie waren blitzsauber.

»Bell Dingo, du bist entweder ein ganz geriebener Schwindler oder ein Sauberkeitsfanatiker«, meinte ich, bereits überzeugt, daß mein Argwohn lächerlich gewesen sei. »Du glaubst also wirklich, daß unsere Kameradin Ethel Murray ist?«

»Ai ai, Mussu, – Bild in Zeitung beweisen alles … Warum sollten Frau so lügen?! Kein Grund, ich denken …!«

Er stellte den Teller weg, und ich begab mich in den Vorraum. Mein Entschluß war gefaßt. Ich würde die Insel nun emportauchen lassen und alles auf eine Karte setzen. So schnell wie möglich sollte sie emporsteigen, bevor noch der Polizeikutter vom Ufer heranschießen konnte.

Und sie stieg empor. Die Druckpumpen arbeiteten. – ich beobachtete den Tiefenmesser …

Jetzt mußte die Falltür bereits über dem Wasser liegen, jetzt war es Zeit. Ich sprang die Eisentreppe empor, löste die Schrauben, drückte die Tür hoch, war droben auf dem feuchten Gestein im gleißenden Sonnenlicht … Ein Blick rundum …

Vor mir nach Süden in zweihundert Meter Entfernung ein heller Sandstreifen, dahinter Sanddünen, vermischt mit nackten dunklen Felsen und einigen Streifen Gestrüpp …

Ich hatte das Fernglas mitgenommen, ich stellte es ein, suchte das Ufer ab …

Leer … Keine Menschenseele. Nur Vögel …

Doch halt: Dort an der einen Stelle, – ja, dort lagen zwei Leute im Schatten der Büsche. Und die schlichte Uniform kannte ich. Es waren Buschpolizisten. Aber sie schliefen. Sie hatten sich sogar zum Schutz gegen fliegendes Ungeziefer ihre bunten Taschentücher über die Gesichter gedeckt.

Nach einer Falle sah das nicht aus. Wenn Kolonel Bluß etwas gegen mich hätte unternehmen wollen, mußte er unbedingt ein Boot bereithalten. Es war kein Boot da.

Ich rief Dingo. Im Nu hatten wir das kleine Aluminiumboot nach oben geschafft. Ethel Murray war derweil unten am Inselstrand und empfing uns hier mit der Meldung, daß das Eiland mit zwei Stahltrossen verankert sei. Sie war glückselig, weil der Colonel hier offenbar nur die beiden Wachen zurückgelassen hatte. Sie drückte mir die Hand, sie trieb Dingo zur Eile an, denn er wollte zunächst allein hinüberrudern und die beiden Gegner entwaffnen …

»Mussu, – ich das können«, hatte er schlicht erklärt. »Ich sein zweibeiniger Dingo, ich schleichen, nehmen Karabiner weg, nehmen Pistolen weg, nehmen auch Pferde weg – alles …«

Er versprach viel, und wenn ihm auch nicht alles gelang: Wir beobachteten, wie er landete, wie er auf die Schläfer zukroch, wie er die Karabiner nach unten in den weichen Dünensand warf, – – aber dann hatte er Pech, der eine Mann erwachte, Dingo drohte mit meiner Pistole, und die beiden Leute rannten davon. Ich sah sie noch auf ihren Gäulen in einen Einschnitt der Küste davonjagen.

Ethel Murray fieberte vor Aufregung bei alledem. Sie wurde blaß und rot, – sie jubelte, winkte Dingo zu, schwenkte ihre Jacke …

»Oh, ich freue mich so, Herr Abelsen …! Nun haben Sie durch mich keine Ungelegenheiten. Ich werde mich sofort von Ihnen trennen und landeinwärts wandern und zusehen, was ich für Paloma tun kann, die doch sicherlich wieder in Marcadari oder in Burketown eingekerkert ist … «

Das war sehr selbstlos von ihr. Aber wenig klug. Die australische Wildnis ist keine Kurpromenade, und ein Mensch ohne Pferd und ohne die nötige Ausrüstung ist in diesen wasserarmen Einöden verloren.

»Darüber sprechen wir später«, sagte ich. »Dingo erklettert dort die Kuppe und hält Ausschau. Sehr verständig von ihm …«

Als der Schwarze dann wieder vor uns stand, meinte er kleinlaut: »Ai ai – keine Gefahr mehr … Nur …« – und sein Kopf senkte sich noch mehr – »nur … fünf Gräber drüben, fünf Grabhügel und fünf Kreuze aus Kistenbrettern mit aufgepinselten Namen.«

Ethel schrie atemlos:

»Meine Schwester – tot?!«

»Ai ai –, nicht Schwester«, beruhigte Dingo sie mit rauhem Mitgefühl. »Nur fünf tote Buschklepper da begraben sein … Tot aus nächtlichem Kampf von gestern …«

Ethel hatte sich matt an mich gelehnt. »Ich … war … so … in … Angst«, flüsterte sie unter Tränen.

Bell Dingo schielte zu ihr empor. »Ai ai, – keine Angst … Schwester leben … Nur fünf Gräber … fünf Kreuze … Schwester gefangen oder entflohen, – das feststellen, – wenn gefangen, dann befreien, – Mussu doch auch so denken?«

»Genau so«, versicherte ich und schüttelte ihm die Hand. »Bist ein braver Kerl, mein lieber schöner Dingo, bist eine echt schwarze Perle. Nur für Zigarren und Mundwasser hast du kein Verständnis.«

Wir ruderten hinüber, wir stiegen das Steilufer hinan bis zu der Mulde, wo die Polizisten ihre Pferde stehen gehabt hatten. Hier lagen die fünf Hügel in einer Reihe. Ich entzifferte die Namen, und schluchzend bestätigte Ethel, daß diese fünf Palomas treueste Verbündete gewesen.

Stehlen und rauben – vielleicht auch nur ein Sport, vielleicht auch nur ein Erwerb … abseits vom Alltagswege. Mein Coy hatte mit viel Geschick Pferde »eingetauscht«, mein Coy hatte sehr primitive Begriffe von Dein und Mein. Diese fünf Toten hatten gebüßt. Frieden ihrer Asche.

Bell Dingo zeigte für die Gräber wenig Interesse. Er betrachtete den zertretenen Sandboden, er verfolgte die Fährten, er fand auch dicht am Ufer mehrere mit Blut getränkte Stellen.

Ethel hatte sich auf einen Felsblock gesetzt und den Kopf in die Hand gestützt. Sie ließ meine Fragen und Vorschläge unbeantwortet, sie war so in ihre trüben Gedanken versunken, daß selbst Dingos wildes Gebrüll und seine tollen Freudensprünge sie völlig kalt ließen. Er war ein Stück landeinwärts gelaufen bis zu einem Wäldchen, und dort vollführte er diesen Indianertanz, warf sich plötzlich zu Boden, schnellte wieder hoch und kam wie ein Pfeil herbeigeflogen, schwang in der Linken ein unförmiges Stück Holz, an dem grobe Schnitzereien angebracht waren.

»Mussu – – Mussu, – hier sein meine Heimat, – hier sein Dingo als Kind gewesen, – hier dies sein Totensäule von Grab von mein Vater …«

Er war wie von Sinnen. Seine Freude rührte mich. Aber Ethel Murray hob nicht einmal den Kopf. Nachdem Dingo sich wieder beruhigt hatte, nachdem er die Grabsäule an Ort und Stelle zurückgebracht und dann wieder bei uns erschien, suchte ich die Frau ihrem dumpfen Schmerz um das ungewisse Schicksal ihrer Schwester zu entreißen.

»Sie müssen sich aufraffen, Frau Murray!!« Der energische Ton ließ sie zusammenschrecken. Sie blickte mich an, und ich las in ihren dunklen Augen etwas ganz anderes als Verzweiflung, ich möchte sagen: Schuldbewußtsein und Reue.

»Ich verdiene Ihre Güte nicht«, murmelte sie beklommen. »Ich habe kein Anrecht auf irgendwelche Rücksichtnahme …«

Ich verstand sie nicht. Ihr sprunghaftes Denken entbehrte jeder Logik.

»Ich wüßte nicht, daß ich an Sie allzu viel Güte verschwendet hätte«, meinte ich hart. »Was Sie mit Güte bezeichnen, liegt mir nicht. Ich bin so ziemlich der schamloseste Egoist, den ich kenne, freilich keiner von denen, die andere durch ihre Selbstsucht schädigen. Ich traue Ihnen immer noch nicht ganz. Ich vermute hinter Ihren bleichen Zügen irgendein Geheimnis besonderer Art. Sie werden es sich gefallen lassen müssen, daß ich dieses Geheimnis gegen Ihren Willen ergründe. – Folgen Sie uns … Die Insel muß anderswo versenkt werden.«

Sie zuckte merklich zusammen, und flammende Röte kam und ging auf ihrem schönen Gesicht. Ihr Blick wurde fast lauernd, und die Falten auf der Stirn und die geschürzten Lippen standen durchaus in Einklang mit ihren rasch und schroff hervorgestoßenen Worten: »Sie wollen dieses Wunderwerk versenken?! Das wäre Frevel, das … dulde ich nicht!«

Und sie erhob sich und schaute hinüber zu den grauen Bimssteinfelsen meines Heims, das da vor uns auf dem leicht bewegten Wasser schwamm. »Niemals, niemals!« wiederholte sie und stampfte leicht mit dem rechten Fuße auf. Es war, als ob ein Vorhang von ihren Zügen herabglitte: Ihr Antlitz war wie aus Erz gegossen, jede Linie schien verändert, redete eine klare eindeutige Sprache von ungeheuerer Willenskraft. »Es wäre ein Frevel, auf ein so sicheres Versteck zu verzichten!« fügte sie etwas beherrschter hinzu, und allmählich wandelte sich der Ausdruck ihres Gesichts wieder zu maskenhafter Undurchdringlichkeit. »Herr Abelsen, ich muß Sie mißverstanden haben«, lautete ihr milder Nachsatz, und verwirrt wandte sie den Kopf zur Seite.

Seltsames Weib! Kind eines Landes der unbegrenzten Möglichkeiten, Kind eines Kontinents, der in den weniger denn hundert Jahren den Kulturstaaten Europas Konkurrenz machte und doch weit mehr der dunkle Erdteil geblieben war, als es Afrika heute ist.

Ein stiller, aufmerksamer Zuschauer mischte sich ein: Bell Dingo, der sich etwas abseits gehalten hatte, weil er sich fraglos seines Rückfalls in den naturwüchsigen Freudentaumel beglückenden Heimatgefühls geschämt hatte. »Ai ai, – Mussu meinen mit Versenken ganz anders –, ich verstehen!« Er kam näher, und er hielt die Augen im Sonnenglast halb geschlossen und blinzelte Ethel leicht grinsend zu. »Dort drüben sein Sandbarre und dahinter kreisende Strömung mit Treibholz und Seetang und andere Pflanzen … Dort Insel tauchen lassen, bis Falltür bei Ebbe freiliegt … Inselklippen mit Seetang bedecken, – sein dort auch natürliche Klippen, also niemandem auffallen …«

»Freund Dingo, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen …« – und wiederum wunderte ich mich über die Klugheit dieses Schwarzen, der so viel Widersprüche in seinem Wesen vereinte. Ethel lächelte mit einem Male. »Oh, wie töricht war ich nur! Ja – beeilen wir uns, verbergen wir die Insel …« Sie lief zum Strande herab. Sie trug wieder ihre inzwischen getrockneten derben und doch zierlichen Schuhe. Sie war flink wie eine Gazelle, ihre Bewegungen blieben harmonisch selbst in der Hast langer Sprünge – ein Prachtweib!

Wir ruderten dorthin, wo die eine Stahltrosse schräg in die Tiefe tauchte. Wir holten einen mittelgroßen Anker vom sandigen Grunde hoch, – auch den zweiten, und dann begann die fast übermenschliche Arbeit, die Insel hinter die Sandbarre zu schleppen. Bell Dingo hatte alle Oberkleider bis zum Gürtel abgeworfen und ließ seine prachtvolle Muskulatur spielen. Unbarmherzig brannte die Sonne auf uns herab. Ethel stand am Inselrand und überwachte die beiden Schlepptaue. Es war eine Arbeit, die wir erst nach Stunden glücklich zu Ende führten. Meine Hände hatten dicke Blasen, die Arme schmerzten mich, ich war steif und wie gelähmt, als ich mich im Boote erhob.

Ein Blick auf die Flutmarken des Festlandrandes zeigte mir, daß der tiefste Stand der Ebbe in einer halben Stunde zu erwarten war. Die Anker wurden versenkt, die Trossen gekürzt, und wieder eine Stunde drauf war mein Heim verschwunden. Wir hatten alles, was wir dringend brauchten, an Land geschafft und in einem nahen endlosen Busch verborgen. Der Kirchhof der fünf Buschklepper lag etwa eine Meile weiter nach Osten zu. Hier würde uns niemand suchen, hierher war niemand gekommen, der Boden war frei von Spuren. In der Lichtung neben unseren Vorräten errichteten wir ein Zelt mit zwei Abteilungen. Ich sank todmüde auf meine Wolldecke. Es war jetzt fünf Uhr nachmittags. Wenn ich gewußt hätte, was die nächsten Stunden bringen sollten, würde ich kaum so fest und traumlos geschlafen haben.


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