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Juchzer

Schon vor sechs Uhr war die Polente dagewesen!

Überall hatten sie nachgesehen, und als sie auf dem Ofen ein altes verzinntes Kaffeebrett fanden, da dachten sie, sie hätten Juchzer schon wieder im Sack! … Ach, hatte er lachen müssen! Dann kam die alte Schmul'n herein und brachte ihm 'n Topp Kaffee und zwei Schrippen und dann schlief er weiter.

Er träumte. Von Plötzensee, natürlich. Davon träumt man ja immer, wenn man erst eben raus ist … Er sah oben in seiner Zelle, zweiten Stock, im »Rabenflügel«, und kuckte aus'm Fenster. Unten im Hof ging der Posten auf und nieder. Und mit einmal sah da ein Wolf, der aussah wie der Oberaufseher vom Maskenflügel. Der Soldat nahm das Gewehr an die Backe – ob er wohl schießen würde? Ach, wenn doch! Und wenn er nachher merkte, daß es der Oberaufseher Friedrichs war? – wurde er wegen Mordes angezeigt und kam auf 'n Block!

Huuuch!

Der kleine Dieb stieß mitten im Traum den hellen Ton aus, nach dem er seinen Spitznamen hatte. Und davon wachte er auf.

Es war schon hell. In die elende Kammer kam der Morgen nur durch ein Lichtschachtfenster herein wie unsauberes Wasser. Man sah da nicht viel. Nur noch ein Bett, in dem die alte Schmul'n schlief, eine Jüdin, die von Almosen lebte.

Juchzer ging durch die mit Gerümpel und Kram vollgepackte Stube, deren gardinenlose Fenster der Maimorgen mit Himmelsgold anfüllte, in die Küche hinein. Er war im Hemd, so zeichnete sich durch den dünnen Stoff die eckige Form des mageren, schlecht ernährten Körpers.

Die alte Frau war schon angezogen. Ihr Gebetbuch lag eingewickelt auf dem Küchentisch. Sie saß auf dem wackligen Holzstuhl und murmelte vor sich hin, als Juchzer, der so im Hemde, mit den bloßen Beinen, die darunter hervorsahen, einem zwölfjährigen Kinde glich – wiewohl er fast siebzehn Jahre zählte und schon dreimal bestraft war – hereinkam und ihr zunickte.

»Biste da, mei Gold?« fragte sie.

»Immer!« lachte er auf und juchzte … 's kam ihm so komisch vor, daß sie jeden Morgen dasselbe sagte.

»Nu iß doch!« meinte sie, ohne seine Lachlust zu beachten, und schob ihm eine alte Suppenterrine mit Wurstabschnitten näher. Brot lag da, Butter noch im Papier, auch Kaffee, der bei der Alten nie alle wurde.

Und Juchzer aß wieder, wenn man aus dem Kittchen kommt, hat man zehnmal am Tage Hunger.

»Was machste nu?« fragte sie.

Er zuckte die Achseln. Er lächelte.

Sie wurde unruhig, rückte mit dem Stuhl und in das gleichmütige, wie aus braunem Wurzelwerk geschnittene Gesicht brachten die schwarzen Augen ängstliches Leben.

»Was wirste machen nachher, mei Kind?« wiederholte sie; die dürre Greisenhand fuhr über den Tisch nach der des Jungen. Er gab ihr die seine, juchzte auf und wollte sich halbtot lachen.

»Sie sind doch gar nich meine Mutter, Schmul'n! Wenn's die noch wäre! Möchte bloß wissen, wo die jetzt überhaupt is!«

Der zahnlose Kiefer der alten Frau wackelte in Aufregung. Sie sprach Unverständliches. Dann sagte sie, ihr alter Kopf zitterte dabei vor Erregung:

»De brauchst doch aber gar nich! Ich geb' d'r doch!«

Er nickte, ruhig, verständnisinnig und voll Anerkennung.

»Ja, Schmul'n … aber …« er lachte wieder. Und stand auf, ging auf den nackten, ungewaschenen Füßen in der Küche umher und fing Fliegen.

Die Alte seufzte tief. Dann packte sie ihre Brille und das Gebetbuch in den verschossenen blauen Samtbeutel und wollte gehen. Aber sie konnte sich nicht trennen von dem Jungen, dessen Armseligkeit ihr altes Frauenherz so warm umfing.

»Sag' nur, daß de nischt hingehn wirst un gannef'n, Emilchen?!«

Er wollte sich scheckig lachen. Seine moralische Haltlosigkeit hatte ja ihre tiefen Wurzeln in der unbestimmten und ewig schwankenden Haltung aller seiner Empfindungen. Und wie diese ungezügelte, bei jeder Veranlassung sich auslösende Heiterkeit, so war fast alles, was er dachte, wollte und tat, eingegeben vom Augenblick, unkontrolliert vom Bewußtsein und keinerlei nachdenklichen Regungen unterworfen.

Die alte Frau, die keinen Sabbat hingehen ließ, ohne ihrem Gotte zu dienen, war fort. Sie hatte Emil Lademann, der im Arbeitshause von einer trunkfälligen Mutter geboren war, bei sich aufgenommen, nach seiner ersten Strafe, die er, zwölfjährig, verbüßte wegen Ladendiebstahls. Er sollte da zu einem Bauern in Fürsorge kommen, aber er entsprang bereits auf dem Transport. Und vereitelte durch seine raffinierte Schlauheit, die im seltsamen Gegensatz stand zu seinem kindischen Gehaben, jeden Versuch, ihn an eine geregelte Tätigkeit zu gewöhnen. Man ließ ihn schließlich der alten Schmul, bis er mit vierzehn Jahren rückfällig wurde. Er hatte sicherlich in der Zwischenzeit auch genug gestohlen, aber sich nicht dabei fassen lassen. Drei Monate war er fort und kam wieder mit dem Lachen und Juchzen, mit dem er hineingegangen war, ins Gefängnis. Inzwischen hatte die Alte ihn adoptiert. Und anderthalb Jahre vermied der Junge das große Gesetzesnetz oder schlüpfte geschickt durch seine Maschen. Dann ergriff man ihn abermals dabei, daß er eine Ladenkasse herauszog, und darauf gab es vier Monate. Juchzer mußte noch in der Erinnerung lachen über den Staatsanwalt, der dachte, wunder wie zerknirscht der Junge war, und deshalb selbst mildernde Umstände beantragt hatte.

Langsam zog sich der Junge an; er hatte ja keine Eile! Etwa wie draußen, haha! … Wo sie fortwährend, wie die Deibels, hinter ein'm her sind … Die Sachen waren ganz nett, die hatte er mitgebracht von draußen, bloß die Stiefel, die drückten 'n bißchen. Er schlenkerte mit den Füßen und lachte darüber.

Dann öffnete er die Korridortür und wollte fort.

Vor der Tür stand ein Dienstmädchen. Ein kleines, einfaches, blondes Ding, sauber, mit weißer Schürze und blankem Gesicht.

»Ist Frau Schmul zu Hause?«

Er log: »Ja!«

Sie trat ein.

»Wo is se denn?«

Er lachte und juchzte laut auf.

Sie lachte ebenfalls und sagte: »Sie is woll gar nicht da?«

Da lachte er erst! Es erstickte ihn fast, dies aus einem tollen, berauschenden Gefühl hervorbrechende Lachen. Er kam ihr dabei näher.

»Sie!« sagte sie, und drückte ihn mit der Hand von sich ab.

»Du!« jauchzte er, und küßte sie …

Ganz stolz auf seine Eroberung ging Juchzer nachher auf die Straße. Die Leute sahen ihm nach, er hopste wie ein Bock, er sang und lachte über alles.

Da kam er an ein Geschäft mit Bijouterien. Im Schaufenster lagen Nadeln, Armbänder und Ringe. Davon mußte er ihr was schenken! Ihr! Denn er war doch jetzt verlobt mit der kleinen Minna! Ja, aber Geld! … Die Alte? Die gab nichts her! So lieb sie ihn hatte, Geld gab sie fast nie, sagte immer, sie hätte keins … hahaha! Er lachte, wie nicht klug, über die geizige Alte …

Dann ging er in das Geschäft hinein.

Richtig, auf dem Ladentisch lag und stand alles mögliche. Und das Fräulein, das bediente, abzulenken, das war ja 'ne Kleinigkeit! Dann – er hatte schon eine Bernsteinkette, eine Brosche und ein paar kleine Nippes in der Tasche – wollte er sich nach vielem Suchen und hin- und herreden empfehlen.

Er kam bis zur Ladentür, da fiel ihm erst das eine, und dann das andere Bijou aus der zerrissenen Seitentasche …

Husch, war er draußen!

Aber das Geschrei! Das Geheule!

Er blieb stehen … Sie kriegten ihn ja doch!

Und er lachte verstohlen, denn er dachte an die kleine Minna, als sie ihn abführten.


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