Victor Hugo
Die Elenden. Erste Abtheilung. Fantine
Victor Hugo

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Buch.

Der Sturz.

I.
Der Abend eines Marschtages.

Während der ersten Tage des Monats October 1815, ungefähr eine Stunde vor Sonnenuntergang, betrat ein Mensch, der zu Fuß reiste, die kleine Stadt D . . . Die wenigen Einwohner, welche sich in diesem Augenblicke an ihren Fenstern, oder auf der Schwelle ihrer Häuser befanden, betrachteten diesen Reisenden mit einer Art von Unruhe. Es war schwer, einen Menschen von elenderem Ansehen zu finden. Es war ein Mann von mittleren Wuchs, untersetzt und kräftig gebaut, in der Kraft des Alters. Er konnte 46 oder 48 Jahre zählen. Eine Mütze mit herabgeschlagenem Lederschirm verbarg zum Theil sein Gesicht, welches durch Sonne und Luft gebräunt war und über das der Schweiß rann. Sein Hemd von grober gelber Leinwand, an dem Halse durch einen kleinen silbernen Anker befestigt, ließ seine behaarte Brust sehen; er hatte eine Peitsche, die er umgeschlungen trug, Beinkleider von blauem Zwillig, zerrissen und abgetragen, weiß auf dem einen, durchlöchert auf dem anderen Knie, eine alte graue Blouse, zerlumpt, an dem einen Ellenbogen mit einem Stücke grünem Tuch geflickt, das mit Bindfaden aufgenäht war, und auf dem Rücken den Tornister eines Soldaten, sehr voll, festgeschnallt und ganz neu, in der Hand einen ungeheuern, Knotenstock, an den nackten Füßen eisenbeschlagene Schuhe, einen kahlgeschorenen Kopf und einen langen Bart.

Der Schweiß, die Hitze, die Fußreise, der Staub fügten diesem ganz natürlichen Aussehen noch etwas Schmutziges hinzu.

Die Haare waren kurz abgeschnitten und dennoch struppig, denn sie fingen an, ein wenig wieder zu wachsen und waren seit einiger Zeit nicht mehr verschnitten worden.

Niemand kannte ihn; offenbar war es nur ein Durchreisender. Wo kam er her? Aus dem Süden, von den Ufern des Meeres vielleicht, denn er zog in D . . . auf eben der Straße ein, welche sieben Monate zuvor den Kaiser Napoleon hatte vorüber kommen sehen, als er von Cannes nach Paris ging. Dieser Mensch mußte den ganzen Tag marschirt sein. Er schien sehr ermüdet. Weiber des alten Fleckens, welcher am Fuße der Stadt liegt, hatten ihn unter den Bäumen auf dem Boulevard Gassendi stehen bleiben und aus den Brunnen trinken sehen, der am äußersten Ende der Promenade liegt. Er mußte sehr durstig sein, denn Kinder, die ihn folgten, sahen, wie er bei dem Brunnen auf dem Marktplatze, nicht weiter als 200 Schritt entfernt, wieder stehen blieb und trank.

An der Ecke der rue Poichevert gelangt, wendete er sich links und nach der Mairie. Er trat in dieselbe ein. Eine Viertelstunde darauf kam er wieder heraus. Ein Gensdarm saß neben der Thür auf der Steinbank, welche der General Drouot am 4. März bestiegen hatte, um der erschrockenen Menge der Einwohner von D . . . die Proklamation aus dem Golf Juan vorzulesen. Der Mensch nahm seine Mütze ab und grüßte den Gensdarmen demüthig.

Ohne auf diesen Gruß zu antworten, betrachtete der Gensdarm ihn aufmerksam, folgte ihn dann einige Zeit mit den Augen und trat hierauf in das Rathhaus ein.

Es gab damals in D . . . ein schönes Gasthaus mit dem Schild »Das Kreuz von Colbas.« Dieses Gasthaus hatte einen gewissen Jaquin Labarre zum Wirth, ein Mensch der in der Stadt wegen seiner Verwandtschaft mit einem anderen Labarre geächtet wurde, der in Grenoble das Gasthaus zu den drei Dauphins besaß und in den Guiden gedient hatte. Bei der Landung des Kaisers waren über dieses Gasthaus zu den drei Dauphins viele Gerüchte in Umlauf gewesen. Man erzählte, daß der General Bertrand, als Kärrner verkleidet, im Monat Januar viele Reisen dorthin gemacht und dort Ehrenkreuze an Soldaten und Hände voll Napoleonsd'or an Bürger vertheilt hätte. Die Wahrheit ist, daß der Kaiser, als er in Grenoble eingezogen war, sich weigerte, das Hôtel der Präfectur zu beziehen. Er dankte dem Maire für das Anerbieten und sagte:

»Ich gehe zu einem braven Manne, den ich kenne,« und er ging darauf nach den drei Dauphins. Dieser Ruf des Labarre der drei Dauphins warf seinen Glanz fünfundzwanzig Stunden weit auf den Labarre des Kreuzes von Colbas. Man sagt von ihm in der Stadt: Er ist der Retter des Labarre von Grenoble. – Der Mensch ging also nach diesem Gasthause, welches das beste im ganzen Lande war. Er trat in die Küche, die unmittelbar auf die Straße führte. Alle Oefen waren in Brand, ein großes Feuer brannte auch in dem Kamin. Der Wirth, welcher zugleich auch der Koch war, ging von dem Feuerheerde zu den Kasserolen, er war sehr geschäftig und überwachte ein vortreffliches Mittagsessen, welches für Fuhrleute bestimmt war, die man in einem benachbarten Saal lachen und lärmend sprechen hörte. Wer gereist ist, weiß, daß Niemand besser ißt, als die Fuhrleute. Ein fettes Murmelthier, eingefaßt von weißen Rebhühnern und Haidehühnern, drehte sich vor dem Feuer an einem langen Spieße, auf dem Heerde kochten zwei große Karpfen aus dem Kai von Lauzet und ein Forelle aus dem See von Alloz.

Als der Wirth die Thür sich öffnen und einen neuen Ankömmling eintreten hörte, sagte er, ohne seine Augen von seinen Kasserolen zu erheben:

»Was wünscht der Herr?«

»Zu essen und zu schlafen,« sagte der Mann.

»Nichts ist leichter,« entgegnete der Wirth.

In diesem Augenblicke wendete er den Kopf, übersah mit einem Blicke das ganze Aeußere des Reisenden und fügte hinzu:

»Wenn man bezahlt.«

Der Mann zog einen großen ledernen Beutel aus seiner Brusttasche und antwortete: »Ich habe Geld!«

»In diesem Falle steht man Ihnen zu Dienst,« sagte der Wirth.

Der Mensch steckte seinen Geldbeutel wieder in die Tasche, nahm seinen Tornister ab, legte ihn neben der Thür auf den Boden, behielt seinen Knotenstock in der Hand und setzte sich auf einen niedrigen Schemel vor das Feuer.

D . . . liegt im Gebirge. Die Oktoberabende sind dort kalt. –

Indeß betrachtete der Wirth, während er ab und zu ging, den Reisenden.

»Ißt man bald?« fragte der Mensch.

»Sogleich!« entgegnete der Wirth.

Während der Ankömmling sich wärmte, den Rücken dem würdigen Gastwirth Jacquin Labarre zugewandt, zog dieser einen Bleistift aus der Tasche und riß dann eine Ecke von einer alten Zeitung ab, die auf einem kleinen Tisch neben dem Kasten lag. Auf den weißen Rand schrieb er ein oder zwei Zeilen, faltete das Blatt zusammen, ohne es zu siegeln und übergab den Fetzen Papier einem Kinde, welches ihm zugleich als Küchenjunge und Lakai zu dienen schien. Der Wirth flüsterte den Küchenjungen ein Wort in das Ohr und das Kind machte sich in der Richtung nach der Mairie auf den Weg.

Der Reisende hatte von alledem nichts gesehen.

Er fragte noch einmal:

»Ißt man bald?«

»Sogleich«, erwiederte der Wirth.

Das Kind kehrte zurück. Es brachte das Papier wieder. Der Wirth entfaltete es hastig, wie Jemand, der eine Antwort erwartet. Er schien aufmerksam zu lesen, warf dann den Kopf in die Höh' und blieb einen Augenblick im Nachdenken versunken. Endlich that er einen Schritt gegen den Reisenden, der in nicht sehr freundliche Betrachtungen versunken zu sein schien.

»Herr«, sagte er, »ich kann Sie nicht aufnehmen.«

Der Mann richtete sich halb auf seinem Sessel empor.

»Wie? fürchten Sie, ich würde nicht bezahlen? Wollen Sie, daß ich im Voraus bezahlen solle? Ich habe Geld, sage ich Ihnen.«

»Das ist es nicht.«

»Was denn?«

»Sie haben Geld!« sagte der Wirth.

»Ja,« sagte der Mensch.

»Und ich,« sagte der Wirth, »habe kein Zimmer.«

Der Mensch entgegnete ruhig: »Weisen Sie mich in den Stall.«

»Ich kann nicht.«

»Weshalb?«

»Die Pferde nehmen allen Platz weg.«

»Nun wohl,« entgegnete der Mann, »eine Ecke auf dem Boden, ein Bund Stroh. Wir wollen das nach dem Essen ordnen.«

»Ich kann Ihnen nichts zu essen geben.«

Diese Erklärung, welche mit gemessenem, aber festem Tone gegeben wurde, schien dem Fremden sehr ernst zu sein. Er stand auf.

»Ei was,« sagte er; »aber ich sterbe vor Hunger. Ich bin seit Sonnenaufgang gegangen. Ich habe zwölf Stunden Weges gemacht. Ich zahle, ich will essen.«

»Ich habe nichts,« sagte der Wirth.

Der Mensch brach in lautes Gelächter aus, wendete sich gegen den Heerd und das Feuer:

»Nichts! und das Alles?«

»Das Alles ist bestellt.«

»Von wem?«

»Von den Herrn Fuhrleuten.«

»Wie viele sind ihrer?«

»Zwölf.«

»Da ist zu essen für zwanzig.«

»Sie haben Alles bestellt und im Voraus bezahlt.«

Der Mensch setzte sich wieder, und sagte, ohne die Stimme zu erheben: »Ich bin im Wirthshause, ich habe Hunger und bleibe.«

Der Wirth neigte sich hierauf zu seinem Ohr und sagte mit einem Tone, bei dem er erbebte: »Gehen Sie!«

Der Reisende war in diesem Augenblicke gebückt und stieß mit dem eisenbeschlagenen Ende seines Stockes einige Brände in das Feuer. Er wendete sich rasch um, und als er den Mund öffnete, um zu antworten, sah der Wirth ihn fest an und fügte mit leiser Stimme hinzu: »Genug Worte. Wollen Sie, daß ich Ihnen Ihren wahren Namen sagen soll? Sie heißen Jean Valjean. Soll ich Ihnen jetzt auch noch sagen, wer Sie sind? Als ich Sie eintreten sah, vermuthete ich Etwas, ich schickte auf die Mairie, und hier ist, was man mir antwortet; können Sie lesen?«

Indem er so sprach hielt er dem Fremden das entfaltete Papier hin, welches die Reise vom Wirthshause zur Mairie und von der Mairie zum Wirthshause zurückgemacht hatte. Der Mensch warf einen Blick darauf. Der Gastwirth fuhr nach einigem Schweigen fort: »Ich habe die Gewohnheit, höflich gegen alle Welt zu sein. Gehen Sie.«

Der Mensch senkte den Kopf, nahm den Tornister vom Boden auf und ging.

Er schlug die große Straße ein. Er ging vom Zufall geleitet, vor sich hin dicht an den Häusern weg, wie Jemand, der demüthig und traurig ist. Er wendete sich nicht ein einziges Mal um, hätte er sich umgewendet, so würde er den Wirth des Kruges von Colbas auf der Schwelle seiner Thür gesehen haben, umgeben von allen Reisenden seines Gasthauses und zu allen Vorübergehenden lebhaft sprechend und mit dem Finger nach ihm zeigend; aus den Blicken des Mißtrauens und Schreckens der Gruppe würde er erkannt haben, daß seine Ankunft bald in der ganzen Stadt als Ereigniß bekannt sein mußte. Er sah von alledem nichts. Betrübte Menschen blicken nicht hinter sich, Sie wissen nur allzugut, daß das böse Geschick ihnen folgt.

So schritt er einige Zeit vorwärts, immer weiter, vom Zufall geleitet durch Straßen, die er nicht kannte, und vergaß die Ermüdung; wie dies oft in der Traurigkeit geschieht. Plötzlich fühlte er heftigen Hunger, die Nacht war nahe. Er blickte umher, ob er nicht irgend ein Nachtlager entdecken könnte.

Das schöne Gasthaus hatte sich für ihn geschlossen; er suchte nach irgend einem bescheidenen Cabaret, nach einer ärmlichen Kneipe.

Eben wurde am Ende der Straße ein Licht angezündet; ein Fichtenzweig, der an einer eisernen Stange hing, stach in der Dämmerung gegen den blauen Himmel ab. Dorthin ging er.

Es war in der That ein Cabaret; das Cabaret, welches in der Rue de Chaffaut liegt.

Der Reisende blieb einen Augenblick stehen, blickte durch das Fenster in das Innere des niedrigen Gastzimmers des Cabarets, welches durch eine kleine Lampe auf einem Tische und durch ein großes Feuer im Kamine beleuchtet wurde. Einige Männer tranken hier. Der Wirth bückte sich. Bei der Flamme siedete ein eiserner Kessel, der an einem eisernen Haken hing.

Man trat in das Cabaret, welches auch eine Art von Gasthaus war, durch zwei Thüren. Die eine ging auf die Straße, die andere nach einem kleinen, mit Dünger angefüllten Hofe.

Der Reisende wagte nicht, durch die Straßenthür einzutreten. Er schlüpfte in den Hof, blieb wieder stehen, erhob dann schüchtern den Drücker und öffnete die Thür.

»Wer ist da?« rief der Wirth.

»Jemand, der essen und schlafen möchte.«

»Gut. Man ißt und schläft hier.«

Er trat ein. Alle Leute, die tranken, wendeten sich um. Die Lampe beschien ihn von der einen Seite, das Feuer von der anderen. Man betrachtete ihn einige Zeit, während er seinen Tornister ablegte.

Der Wirth sagte: »Da ist Feuer. Das Abendessen kocht in dem Kessel. Wärmt Euch, Kamerad.«

Er setzte sich neben den Heerd und streckte vor dem Feuer seine von Anstrengung gemarterten Beine aus; ein angenehmer Duft stieg aus dem Kessel auf. Alles, was man von seinem Gesicht unter der herabgezogenen Mütze unterscheiden konnte, nahm einen Ausdruck des Wohlbehagens an, der mit jenem andern so ergreifenden Ausdruck gemischt ist, welchen die Gewohnheit des Leidens verleiht.

Es war ein festes, energisches und trübes Profil.

Diese Physiognomie war eigenthümlich gebildet; sie schien Anfangs demüthig zu sein und wurde endlich streng. Das Auge funkelte unter den Augenwimpern wie ein Feuer aus einem Gebüsch.

Einer der Männer bei Tische war ein Fischhändler, der, ehe er nach dem Cabaret de Rue de Chaffaut kam, sein Pferd bei Labarre in den Stall gebracht hatte. Der Zufall wollte, daß er an eben diesen Morgen diesen Fremden von schlechtem Aussehen getroffen hatte, wie er zwischen Bras d'Asse und – (ich habe den Namen vergessen, ich glaube – es ist Escoublon) wanderte. Als er mit dem Menschen zusammentraf, der schon sehr ermüdet zu sein schien, hatte ihn derselbe gebeten, ihn hinter sich auf das Pferd zu nehmen, worauf der Fischhändler nur dadurch antwortete, daß er den Schritt seines Thieres beschleunigte. Dieser Fischhändler stand eine halbe Stunde zuvor unter der Gruppe, welche Jacquin Labarre umringt, und er selbst hatte seine unangenehme Begegnung von diesem Morgen den Leuten in dem Kruge von Colbas erzählte. Er macht von seinem Platze aus dem Wirthe ein unbemerkliches Zeichen. Der Wirth ging zu ihm. Sie wechselten mit leiser Stimme einige Worte. Der Mensch war wieder in seine Betrachtungen versunken.

Der Gastwirth kehrte zu dem Kamin zurück, legte seine Hand rauh auf die Schulter des Menschen und sagte:

»Du mußt fort von hier!«

Der Fremde wandte sich um und erwiederte sanft:

»O! Sie wissen? –«

»Ja!«

»Man hat mich aus dem andern Gasthause fortgeschickt.«

»Und man verjagt Dich aus diesem hier!«

»Wohin soll ich denn gehen?«

»Anderwärts hin.«

Der Mensch nahm seinen Stock und seinen Tornister und ging.

Als er das Haus verließ, warfen einige Kinder, die ihm aus dem Kruge von Colbas gefolgt waren und auf ihn zu warten schienen, mit Steinen nach ihm. Er kehrte zornig um und bedrohte sie mit seinem Stocke; die Kinder stoben wie ein Schwarm Vögel auseinander.

Er kam vor dem Gefängniß vorüber. An der Thür hing eine eiserne Kette, die an einer Glocke befestigt war. Er läutete.

Ein Schiebefenster öffnete sich.

»Herr Pförtner«, sagte er, indem er ehrerbietig seine Mütze abnahm, »hätten Sie wohl die Güte, mir zu öffnen und mich für diese Nacht zu beherbergen?«

Eine Stimme antwortete:

»Ein Gefängniß ist kein Gasthaus. Laßt Euch arretiren und man wird Euch öffnen.«

Das Schiebefenster schloß sich wieder.

Er trat in eine kleine Gasse, in welcher viele Gärten sind. Einige derselben sind nur mit Hecken umgeben, wodurch die Straße ein freundliches Ansehen gewinnt. Unter diesen Gärten und diesen Hecken sah er ein kleines Häuschen, das nur eine einzige Etage hatte und in dem ein Fenster erleuchtet war. Er blickte durch dieses Fenster, wie er bei dem Cabaret gethan hatte. Er sah ein großes Gemach mit Kalk geweißt, mit einem Gardinenbett und einer Wiege in einer Ecke, einigen Stühlen und einem doppelläufigem Gewehr, das an der Mauer hing. Ein Tisch mitten im Zimmer war gedeckt. Eine kupferne Lampe beleuchtete das grobe weiße Tischtuch, den zinnernen Krug, der wie Silber glänzte und mit Wein gefüllt war und die braune dampfende Suppenschüssel. An diesem Tisch saß ein Mann von einigen vierzig Jahren mit heiterem offenen Gesichte, der ein kleines Kind auf seinem Knie schaukelte. An seiner Seite stillte eine noch sehr junge Frau ein anderes Kind. Der Vater lachte, das Kind lachte, die Mutter lächelte.

Der Fremde blieb einen Augenblick träumerisch vor diesem süßen beruhigendem Schauspiel stehen. Was ging in ihm vor? Er allein hätte es zu sagen vermocht. Wahrscheinlich dachte er, daß dies heitere Haus gastlich sein würde, und daß er da, wo er so viel Glück sah, vielleicht ein wenig Mitleid finden könnte.

Er that einen sehr leisen Schlag an die Scheibe.

Man hört ihn nicht. Er klopft zum zweiten Male an. Er hörte, wie die Frau sagte:

»Mann, mir scheint, es klopft Jemand.«

»Nein,« entgegnete der Mann.

Er schlug zum dritten Male an das Fenster. Der Mann stand auf, nahm die Lampe und ging zu der Thür, die er öffnete.

Es war ein Mann von hohem Wuchs, halb Bauer, halb Handwerker. Er trug eine große lederne Schürze, welche bis zu der linken Schulter hinauf ging, und in der ein Hammer, ein rothes Taschentuch, ein Pulverhorn einen Bauch bildeten, sämmtliche Gegenstände, welche der Gürtel hielt wie eine Tasche. Er warf den Kopf zurück. Sein weit geöffnetes und zurück geschlagenes Hemd zeigte den Hals eines Stieres, weiß und nackt. Er hatte dichte Augenbrauen, einen gewaltigen schwarzen Bart, hervor springende Augen; der untere Theil seines Gesichts trat ebenfalls hervor, und über das Alles war jenes Wesen des Zuhauseseins ergossen, welches etwas Unerklärliches ist.

»Mein Herr,« sagte der Reisende, »Verzeihung! Wenn ich zahle, könnten Sie mir dann einen Teller Suppe und einen Winkel in dem Schuppen dort im Garten geben, um zu schlafen! Sagen Sie, könnten Sie das, wenn ich zahle?«

»Wer sind Sie?« fragte der Hausherr.

Der Mensch antwortete: »Ich komme von Puy – Moisson. Ich bin den ganzen Tag marschirt; ich habe zwölf Stunden gemacht. Könnten Sie, wenn ich zahle?«

»Ich würde mich nicht weigern,« sagte der Bauer, »den ehrlichen Menschen, der bezahlt, aufzunehmen. Aber weshalb gehen Sie nicht in das Wirthshaus?«

»Es ist kein Platz dort!«

»Bah! nicht möglich! Es ist heute weder Meß- noch Marktag. Sind Sie zu Labarre gegangen?«

»Ja.«

»Nun?«

Der Reisende antwortete verlegen: »ich weiß nicht. Er hat mich nicht aufgenommen.«

»Sind Sie zu Dingsda gegangen in der Rue de Chauffaut

Die Verlegenheit des Fremden wuchs, er stammelte: »er hat mich eben so wenig aufgenommen!«

Das Gesicht des Bauern nahm einen Ausdruck des Mißtrauens an. Er betrachtete auf's Neue den Fremden von Kopf bis zu den Füßen, und plötzlich rief er mit einer Art von Entsetzen: »Sollten Sie der Mensch sein?«

Er warf wieder einen Blick auf den Fremden, trat drei Schritt zurück, setzte die Lampe auf den Tisch und nahm das Gewehr von der Mauer.

Bei den Worten des Bauern: Sollten Sie der Mensch sein? war die Frau aufgestanden, hatte die beiden Kinder in ihre Arme genommen und sich hastig hinter ihren Mann geflüchtet. Von hier sah sie voll Schrecken den Fremden an. Ihr Busen war bloß, ihre Augen sprachen Entsetzen aus, und sie stammelte leise: »tso maraude!«Patois der französischen Alpen. (das Raubgesindel).

Dies Alles geschah in kürzerer Zeit, als nöthig ist, es sich zu denken. Nachdem der Herr des Hauses den Menschen eilige Augenblicke betrachtet hatte, wie man eine Natter betrachtet, kehrte er zurück und sagte:

»Packe dich!«

»Aus Barmherzigkeit,« entgegnete der Mann, »ein Glas Wasser!«

»Einen Flintenschuß!« sagte der Bauer. Dann schloß er hastig die Thür und der Mensch hörte zwei große Riegel vorschieben: Einen Augenblick darauf wurde das Fenster mit dem Laden verschlossen, und das Geräusch eines Eisenstabes, den man davor legte, wurde hörbar.

Die Nacht brach immer mehr herein. Der kalte Wind der Alpen pfiff. Bei dem Schimmer des erloschenen Tages erblickte der Fremde in einem der Gärten, welche die Straße einfaßten, eine Art von Hütte, die ihm aus Rasenstücken aufgeführt zu sein schien. Er überkletterte entschlossen einen hölzernen Zaun und befand sich in dem Garten. Er näherte sich der Hütte; sie hatte als Thür einen offenen sehr kleinen Eingang und glich jenen Hütten, welche die Wegearbeiter sich am Rande der Straße errichten.

Er glaubte ohne Zweifel, es sei in der That die Hütte eines Wegearbeiters. Er fühlte Kälte und Hunger; in den Hunger hatte er sich ergeben, aber das war wenigstens ein Obdach gegen die Kälte. Diese Art von Wohnungen werden gewöhnlich während der Nacht nicht bewohnt. Er legte sich auf den Bauch und glitt in die Hütte. Es war warm darin und er fand ein ziemlich gutes Strohlager. Er blieb einen Augenblick auf diesem Lager liegen, ohne eine Bewegung machen zu können, so ermüdet war er. Da sein Tornister ihn auf dem Rücken im Wege war und überdies ein bequemes Kopfkissen bildete, machte er sich daran, die Riemen aufzuschnallen. In diesem Augenblicke ließ sich ein wildes Knurren vernehmen. Er erhob die Augen. Der Kopf einer gewaltigen Dogge zeigte sich im Dunkeln in der Oeffnung der Hütte.

Er war in einem Hundestalle.

Er war selbst kräftig und zu fürchten. Er bewaffnete sich mit seinem Stocke, machte sich ein Schild aus seinem Tornister und verließ die Hütte, wie er es vermochte, doch nicht ohne die Risse seiner Lumpen zu vergrößern.

Er ging ebenso aus dem Garten, doch rückwärts, denn um den Hund in Respect zu halten, war er gezwungen, zu jenem Manöver mit dem Stocke zu greifen, welches die Fechtmeister dieser Kampfart die bedeckte Rose nennen.

Als er nicht ohne Mühe wieder über den Zaun geklettert war und sich abermals in der Straße befand, allein, ohne Lager, ohne Obdach, selbst von diesem Strohlager aus dieser erbärmlichen Hütte vertrieben, ließ er sich mehr auf einen Stein niedersinken als er sich auf denselben setzte, und einem Vorübergehenden schien es, als hörte er ihn ausrufen: »ich bin nicht einmal ein Hund!« Bald stand er auf und ging weiter. Er verließ die Stadt, indem er hoffte, irgend einen Baum oder einen Schober zu finden, der ihm Schutz gewähren könnte.

So ging er einige Zeit fort, den Kopf gesenkt. Als er sich weit von jeder menschlichen Wohnung entfernt fühlte, erhob er die Augen und suchte rings umher. Er befand sich auf einem Felde; er hatte vor sich einen jener niedrigen Hügel, der mit kurz abgeschnittenen Stoppeln bedeckt war, welche nach der Ernte abgeschorenen Köpfen gleichen.

Der Horizont war ganz schwarz; es war nicht blos der Schatten der Nacht, sondern es waren sehr niedrig ziehende Wolken, die sich auf den Hügel selbst zu stützen schienen und von hier emporsteigend den ganzen Himmel erfüllten. Da indeß der Mond aufging und im Zenith noch ein Rest von Dämmerungsschein blieb, bildeten diese Wolken an der Höhe des Himmels eine Art weißlichen Gewölbes, von wo auf die Erde ein leiser Schimmer herabfiel.

Die Erde war daher mehr erhellt als der Himmel selbst, was einen besonders finstern Eindruck macht, und der Hügel, der ein ärmliches Aussehen hatte, zeichnete sich unbestimmt und fahl gegen den dunklen Horizont ab. Das alles war abscheulich, kleinlich, traurig und beschränkt. Nichts auf dem Hügel als ein mißgestalteter Baum, der sich zitternd einige Schritte von dem Reisenden entfernt bewegte.

Dieser Mensch war weit davon entfernt, jene zartsinnigen Gewohnheiten des Verständnisses und des Geistes zu haben, welche machen, daß man für das geheimnißvolle Aussehen der Dinge fühlbar ist. Indeß lag in diesem Himmel, in diesem Hügel, in dieser Ebene und in diesem Baume etwas so unendlich Oedes, daß er nach einem Augenblicke der Regungslosigkeit und Traurigkeit rasch umkehrte. Es giebt Augenblicke, in denen die Natur feindlich zu sein scheint.

Er ging wieder zurück, die Thüren in D . . . waren verschlossen. D . . ., welches während der Religionskriege Belagerungen ausgehalten hatte, war noch 1813 mit alten Mauern umgeben, aus denen sich viereckige Thürme erhoben, die seitdem demolirt worden sind. Er ging durch eine Oeffnung in der Mauer und trat wieder in die Stadt ein. Es mochte acht Uhr Abends sein. Da er die Straße nicht kannte, so begann er seinen Spaziergang wieder vom Zufall geleitet.

So gelangte er zu der Präfectur, dann zu dem Seminar. Als er über den Platz der Kathedrale ging, drohte er mit der Faust gegen die Kirche.

In der Ecke dieses Platzes liegt eine Druckerei, dort wurden zum ersten Male die Proklamationen des Kaisers und der kaiserlichen Garde an die Armee gedruckt, die von Elba mitgebracht waren und die Napoleon selbst dictirt.

Erschöpft durch Ermüdung und nichts mehr hoffend legte er sich auf die Steinbank neben der Thür dieser Druckerei.

Eine alte Frau trat in diesem Augenblicke aus der Kirche. Sie sah diesen Mann im Dunkeln liegen.

»Was machen Sie da, mein Freund?« sagte sie.

Hart und zornig antwortete er:

»Sie sehen es wohl, gute Frau: ich liege hier.«

Die gute Frau, dieses Namens in der That würdig, war die Marquise von R . . . »Auf dieser Bank?« erwiderte sie.

»Ich habe 19 Jahre lang eine Matratze von Holz gehabt,« sagte der Mensch, »jetzt habe ich eine Matratze von Stein.«

»Sie sind Soldat gewesen?«

»Ja, gute Frau, Soldat.«

»Weshalb sind sie nicht nach dem Wirthshause gegangen?«

»Weil ich kein Geld habe.«

»Ach,« sagte Frau von R . . ., »ich habe in meiner Börse nur 4 Sous.«

»Geben Sie immerhin.«

Der Mensch nahm die 4 Sous. Frau von R . . . fuhr fort: »Sie können hier mit so wenig Geld nicht in einem Wirthshause bleiben. Haben Sie es indeß versucht? Unmöglich können Sie so die Nacht zubringen. Sie frieren und hungern ohne Zweifel. Man hätte Sie aus Barmherzigkeit aufnehmen sollen.«

»Ich habe an alle Thüren geklopft.«

»Nun, und –?«

»Ueberall hat man mich zurück gewiesen.«

Die gute Frau berührte den Arm des Mannes und zeigte ihn auf der andern Seite des Platzes ein kleines niedriges Haus neben dem bischöflichen Palaste.

»Sie haben,« fuhr sie fort, »an alle Thüren geklopft?«

»Ja.«

»Auch an die dort?«

»Nein.«

»So klopfen Sie denn an!«

*


 << zurück weiter >>