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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Während des Mittagessens, bei welchem Anton stets die Wahl hatte zwischen den Rollen eines an königlicher Tafel aufwartenden Lakaien oder eines zur Tafel gezogenen Kammerherrn (denn er bekleidete streng genommen beide Chargen), benahm sich Laura, wie wenn durchaus nichts vorgefallen wäre, gleichgültig, unbefangen, artig. Anton fühlte sich mehrfach versucht, seine Linke verstohlen zu betrachten, ob sich nicht vielleicht Spuren des flüchtigen Druckes, Blutmale einer glühenden Berührung vorfänden. Die Hand sah aus wie gewöhnlich und brannte dennoch ins Herz hinauf.

Madame Simonelli war übler Laune. Ihr »Permissionär«, der in K. die nötigen Voranstalten treffen sollte, meldete ihr, daß ihm der Reisende für die große Reitertruppe des Herrn Guillaume begegnet sei, und daß ersterer heute noch in D. eintreffen werde, um über Hals und Kopf einen Sommerzirkus errichten zu lassen. »Sie wollen heute über acht Tage schon anfangen,« sagte sie ärgerlich. »Das verdirbt mir den Platz. D. wäre noch für einen Monat gut gewesen, wenn wir's allein für uns behielten. Jetzt ist's aus. Wer einmal bei uns war, trägt jetzt sein Geld zu den Reitern, während er ohne diese noch etliche Male uns besucht hätte. Nun kommen wir zu früh im Sommer nach K. Unterwegs in E. und Br. wird nicht viel zu machen sein. Und ich hätte mir K. so gern für den Winter aufgespart!«

»Also in acht Tagen schon geht es fort von D.?« fragte Anton.

»Ja, mein Junge. Bald nachdem Guillaume angefangen hat. Am liebsten bräche ich auf, ehe er noch eintrifft, denn wir sind nicht die besten Brüder, ich und er. Aber es geht nicht. Sie rücken mir zu rasch auf den Hals. Einige Tage hindurch werden wir uns in das Geld der D.ger teilen müssen, so gut und schlecht es gehen will. – Man klopft. Siehe nach, Anton, und wenn es etwa gar schon Herr Guillaume wäre, der uns besuchen will ...«

»So bin ich nicht sichtbar!« rief Laura heftig und schickte sich an, die Flucht zu ergreifen. Doch augenblicklich warf sie sich wieder völlig beruhigt in ihren Sessel, denn die Tür war mittlerweile aufgegangen und eingetreten war ein kleiner, derber Mann von etwa fünfzig Jahren, dessen schwarze Augen über eine krummgebogene Nase herüber ins Zimmer leuchteten, wie wenn sie alles in Brand stecken wollten. Er trug einen dunklen Schnurrbart, der mit einem weißgrauen, doch vollen Lockenkopfe seltsam kontrastierte. Gekleidet war er halb stutzerhaft-elegant, halb abgeschabt-ärmlich. Mit ausgesucht verbindlichen Manieren näherte er sich Madame Simonelli, die ihm sogleich wie einem alten Bekannten die Hand zum Küssen entgegenstreckte. Von ihr zu Madame Amelot gewendet, lächelte er dieser, die reinsten und schönsten Zähne fletschend, eine schmeichlerische Huldigung ihrer täglich wachsenden und reicher blühenden Reize zu und nahm sodann, wie wenn er eingeladen und nur wichtiger Geschäfte halber zu spät erschienen wäre, seinen Platz am Tische, wozu er den eben leergewordenen Stuhl Antons benutzte. Dieser brachte das Dessert, stellte es auf und schob einen Teller mit prachtvollen Äpfeln vor Laura, wobei er sie ansah, als wollte er sie an die Apfelszene des Morgens mahnen. Nachdem er dies getan, machte er Miene sich zu entfernen.

Madame Amelot jedoch ließ das nicht geschehen. Sie rief ihn zurück, hieß ihn, sich einen vierten Stuhl holen, lud ihn ein, diesen zu benützen und stellte ihn, da er zögerte, dem Fremden in aller Form als – Antoine, Diener und Freund des Hauses, vor. Worauf der kleine Herr sich voll militärischen Anstandes erhob und die Damen ersuchte, ihn gleichfalls zu präsentieren. Solche Mühe übernahm Madame »Mutter«; sie bezeichnete und nannte den weltberühmten Herrn Michaletto Sanchez, Künstler und Vater dreier allerliebster Töchter, die als Equilibristinnen und Drahtseiltänzerinnen ihresgleichen suchen.

Michaletto wie Anton verbeugten sich gegenseitig, dann setzten sie sich wieder. Madame Simonelli kredenzte ein großes Glas Bordeaux, und Kuchen, Käse, Äpfel usw. wurden, wie man sich heutzutage darüber ausdrückt, in Angriff genommen.

»Woher kommen Sie, mein alter Freund Sanchez?« fragte die Simonelli. »Wie gehen die Geschäfte?«

»Abscheulich«, antwortete dieser, während er mit der Rechten ein Stück Chesterkäse, mit der Linken einen halben Borsdorfer seinen allerdings zur Zermalmung höchst fähigen und geeigneten Kauwerkzeugen überantwortete, »abscheulich, erbarmungswürdig. Dieser dicke Hahnrei von Guillaume mit seinen vierbeinigen Hilfstruppen hat mir K. totalement verdorben. Wir sind nun hierher nicht gereist, vielmehr geflogen, um ihm wenigstens den Vorrang von einigen Tagen hier in D. abzugewinnen, die wir benützen wollen, ehe sein verfluchter Reitstall fertig wird. Wir fangen morgen an in einem Salon; jawohl, nur in einem Salon, ausschließlich für die Noblesse. Eintrittsgeld ein harter Taler. Wie? Ah, nicht zu viel. Beim heiligen Blute, zu wenig! Sophia stellt jetzt andalusische Räuberszenen auf dem Drahte dar, im roten Mantel, die Flinte dabei, sie ladet, sie schießt – und diese Drapierungen! – Sie werden sehen und staunen. Lisette geht noch immer mit den Beinen oben an der Decke, aber ungleich rascher und gewandter, als vor drei Jahren, so lange ist's her, daß wir uns trafen? wie? – Damals hatte sie diese Force noch nicht. Rosalie, die jüngste, ist ein Satan von Schönheit und Bravour. Sie arbeitet auf dem Schlappseil. Früher mein Genre, wie Sie wissen. Ich war bekannt; ich war ein wenig bekannt, darf ich die Ehre haben zu versichern. In Madrid ließen sie die Stiergefechte leer, wenn es hieß: Michaletto wird arbeiten. Was brauche ich die Stiere zu sehen, rief einer dem anderen zu, haben wir nicht Michaletto Sanchez? Das tut wohl, mein Herr! Gut! Bei allen Heiligen, wenn es möglich wäre, so würde ich sagen: Rosalie übertrifft mich. Sie nimmt noch einen wilderen Schwung. Wolle Gott und seine Engel, daß die Mauern des Hauses fest stehen mögen, wo wir unseren Salon gemietet haben, sonst reißt sie alles zusammen. Und dann müssen Sie bewundern den Leuchtertanz, ausgeführt von Lisetta und Sophia. Der ist ganz neu, nie sonst produziert, meine Invention. Darin ist vereinigt Grazie, Kraft, Balance, Ausdauer. Der Bürgermeister X., ein Mann in meinem Alter, geriet in eine so heftige Leidenschaft, als er diesen Leuchtertanz gesehen, daß er sich entschließen wollte, mit uns zu gehen. ›Vater Sanchez‹, sprach er zu mir, ›du hast keinen Bajazzo; aus Liebe für diese himmlischen Gestalten will ich mit dir ziehen, will dir als Bajazzo dienen, damit ich nur täglich diesen Anblick genießen kann!‹ Glücklicherweise hat seine Gattin ihm keinen Urlaub erteilt, sonst wäre jene Stadt gegenwärtig ohne Oberhaupt. Schrecklich, aber wahr!«

Madame Simonelli fand Vergnügen an Michalettos Geschwätz, weshalb sie fleißig sein Glas füllte, um ihn noch gesprächiger zu machen.

Anton, anfänglich sehr geneigt, zu glauben, was er hörte, schenkte volle Aufmerksamkeit. Wie er jedoch wahrnahm, daß Laura sich langweilte und unverhohlen gähnte, wendete sich seine Aufmerksamkeit vom lustigen Prahler auf sie, und er beschäftigte sich ernstlich mit Vergleichungen, die er zwischen dem Gebiß des beglückten Vaters und jenem der gähnenden Schönheit anstellte, wobei er sich immer tiefer im Anschauen solcher Schönheit verlor.

Weil aber Vater Sanchez nicht müde wurde, in Verzückung zu geraten über seine drei Töchter, so leitete die oft erwähnte Dreizahl unseren Liebenauer allgemach auf Onkel Nasus hin, der ja ebenfalls dreier Töchter Vater gewesen. Höchst natürlich geriet er dabei auf Tieletunke, und ehe er selbst noch wußte, daß er mit seinen Gedanken bei seiner kindlichen Liebe weile, war er schon von der Vergleichung zwischen Lauras und Michalettos Zahnreihen zur Vergleichung zwischen den Personen des jüngsten Freifräuleins von Kannabich und Madame Laura Amelot übergegangen.

Einen gefährlicheren Übergang konnte es für ihn kaum geben.

Jetzt darf ich nicht länger verschweigen, daß ich ein rein gehaltenes, sauber geschriebenes, blätterreiches Manuskript besitze, aus welchem ich schöpfe: Antons Tagebuch! »Selbstgeständnisse« nennt er's.

Wir werden künftig erfahren, wie ich dazu gelangte. Er hat damit angefangen, auf einzelne Blätter die Eindrücke niederzuschreiben, die allerlei Erlebnisse auf ihn gemacht. Das hat er schon in Liebenau getan und auf Reisen fortgesetzt. Erst später hat er das Vorhandene zu einem Ganzen gesammelt.

Gewiß könnte ich mir meine biographische Arbeit oft gar sehr erleichtern, wenn ich daraus wörtlich abschriebe. Doch da ein solches Verfahren dem Buche nachteilig werden müßte, durch einseitige Auffassungen und – vorzüglich im Beginn seiner Erfahrungen – noch sehr beschränkte Lebensansichten, habe ich vorgezogen, als Autor das Wort zu nehmen und im Namen meines Helden zu sprechen. Manche Zustände aber eignen sich besser, denjenigen selbst redend einzuführen, den sie zunächst betreffen. Deshalb sei mir gestattet, hin und wieder, ein Blatt unverändert einzuschalten. Wenn sich dies im Laufe der Geschichte von Zeit zu Zeit wiederholt, dürften solche Zitate auch das beste Zeugnis ablegen über die fortschreitende geistige Entwicklung eines jungen Mannes, der immer reifer wird und täglich klarer sieht und denkt. Das nächste Kapitel sei einigen Auszügen dieser Gattung gewidmet.


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