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XVIII.

Artur Salomon war seit seinem Unglück ein anderer Mensch geworden.

Er war, wie viele Juden seiner Generation, von Hause aus eine schwermütige Natur. Mitten in Wohlhabenheit und Reichtum groß geworden, hatte er allmählich den Glauben an alles Wirkliche und Geheimnisvolle verloren. Er war in sich so müde und stumpf geworden, daß ihm jede Betätigung ebenso sinnlos erschien wie der Gedanke an höhere Kräfte, die in unser Dasein eingriffen und über seine Endlichkeit hinaus es bestimmen.

Da hatte Agnes Jung seinen Weg gekreuzt, und plötzlich waren alle schlummernden Kräfte seines Leibes und seiner Seele in Aufruhr geraten.

Er hatte sich gegen Vater und Mutter empört und war sich bewußt geworden, daß in ihm ein Wille lebte.

Und nachdem Agnes Jung endlich die Seine geworden war, kam über ihn eine tiefe Lebensfreude, die das Kümmerliche, Kleinmütige und Zweifelsüchtige in ihm zu überwinden und Raum für ungeahnte Energien zu schaffen schien.

Erst im Laufe der Zeit hatte der alte Salomon dunkel begriffen, daß Arturs Neigung zu Agnes Jung auf dem Boden eines ungeheuren jüdischen Grams gewachsen war, daß dahinter nicht nur körperliche Sehnsucht gestanden hatte, sondern Trieb der Selbsterhaltung, Drang, an das Ufer zu gelangen, festen Boden unter die Füße zu bekommen.

Und ein unheimlich sicherer Instinkt hatte Artur bei seiner Begegnung mit Agnes Jung gesagt: Das ist der gesunde, starke Mensch, der dich von deinen Traurigkeiten heilen, dir helfen kann, Herr deiner eingeborenen Melancholie und deines Lebensüberdrusses zu werden.

Lächerlich anzunehmen, daß sich dies bei ihm zu einer klaren Vorstellung verdichtet hätte, Klarheit des Denkens war nicht seine starke Seite.

Aber gefühlsmäßig war er davon durchdrungen, daß diese Frau nicht mehr und nicht weniger als seine Rettung bedeutete.

Vielleicht war das auch der tiefste Grund für die Erkrankung der alten Frau Salomon: Sie spürte im Innersten und konnte es nicht verwinden, daß sie letzte Hilfe, die ihrem Jungen nottat, nicht zu bringen vermochte. Kein stärkerer Stoß hätte ihre eifernde Liebe treffen können.

Als Arturs heißester Wunsch sich dann zu erfüllen schien, schwoll sein Selbstgefühl gleichsam an.

Jetzt erst war er von seiner Existenzberechtigung überzeugt. Was verschlug es ihm, ob er sich lächerlich machte oder nicht! Jedem, der ihm begegnete, mußte er es ins Gesicht schreien: »Wissen Sie es denn schon, meine Frau kriegt ein Kind!«

Und dabei strahlte seine Miene, und er merkte nicht einmal, eine wie rührende und zugleich komische Figur er mit diesem Bekenntnis machte.

Das Kind war für ihn eben nicht nur das Kind. Gott hatte ihm in unendlicher Güte bewiesen, daß er, Artur Salomon, nicht umsonst in die Welt gestellt war. Sein Dasein hatte einen höheren Zweck. Er war über sich selbst in Verwunderung geraten, wie plötzlich eine Art von jüdischer Frömmigkeit ihn erfaßt hatte.

Gott hatte nicht nur Agnes' Leib gesegnet, nein, er selbst war dadurch letzter Gnade teilhaftig geworden.

Und nun war das große Unglück hereingebrochen.

Es konnte für ihn keinen tieferen Fall geben, und er hätte sich eher die Zunge abgebissen als irgendeiner Seele eingestanden, was in ihm zerstört war.

Es gibt eine Traurigkeit und Verlassenheit des Herzens, die so grenzenlos ist, daß niemand zu ihr Zutritt hat.

Artur Salomon schämte sich in seinem Innersten. Er war bis zu dem Grade zerknirscht, daß er es kaum noch wagte, einem Menschen ins Auge zu schauen.

Er war schuld an dem Unglück, er allein, und verängstigt und eingeschüchtert wich er den Blicken Agnes' aus, als hätte er sich ihr gegenüber aufs schwerste versündigt.

Es kam über den ärmsten Menschen eine entsetzliche Pein und der Drang, sich zu demütigen und zu erniedrigen.

Was hatte er noch in der Welt zu suchen?

Einen blühenden Menschen hatte er an sich gekettet und mit seinen selbstsüchtigen Wünschen elend gemacht, eine Schuld auf sich geladen, die nie wieder getilgt werden konnte.

Sich auf und davon zu machen wäre verdammte Pflicht gewesen, und dazu fand er den Mut nicht, obwohl er fühlte, daß der Boden unter seinen Füßen abgetragen war.

Er verfiel offensichtlich, mied auch den Vater und fuhr zusammen, wenn der alte Salomon, selbst vergrämt, wund und trostbedürftig, ihn aufzurichten versuchte.

Salomon erschien seit der Katastrophe nur selten im Geschäft. Und wenn er kam, schloß er sich in seinem Büro ein und ließ sich von niemandem sprechen. Auch Agnes ging er geflissentlich aus dem Wege.

Die schloß die Lippen trotzig aufeinander, und wenn sich auch über ihrer Nasenwurzel eine tiefe Falte eingrub – niemanden ließ sie in ihr Herz schauen.

Sie trug den Kopf hoch, gab kurz und einsilbig dem Personal ihre Anweisungen, arbeitete für drei und führte das Geschäft allein.

Das Geschäft durfte nicht leiden, und einer mußte da sein, der die Augen offenhielt und in dieser allgemeinen Auflösung klar und nüchtern blieb.

Von früh bis abends hatte sie zu tun: mit Reisenden und Fabrikanten zu verhandeln, über neue Muster sich zu einigen und Kataloge zu entwerfen.

Was Salomon anlangte, so fühlte sie, was in seinem Herzen vorging, wußte, weshalb er ihr aus dem Wege ging, litt darunter, auch wenn sie die Zähne zusammenbiß.

Ganz anders stand sie zu Artur.

Sie hatte Achtung vor seinem Schmerz, wobei sie innerlich feststellte, daß es in seiner Natur lag, ein solches Ereignis noch schwerer zu nehmen, als es ohnehin schon war.

Aber schließlich mußte alles ein Ende haben. Und wenn sie darüber hinwegkam und die Kraft zur Arbeit fand, so war es auch seine Pflicht, sich aufzuraffen.

Was waren das für seltsame, unbegreifliche Menschen!

Auf der einen Seite zäh, hart und bis zum äußersten widerstandsfähig, und auf der andern von einer Traurigkeit und. Weichheit ohnegleichen, daß sie in ihrem Schmerz rettungslos versanken.

Sie brachte in dieser Zeit für Artur ein mütterliches Mitleid auf. Sie sah, wie er sich quälte und härmte, aber sie fühlte auch, daß sie ihm helfen mußte, wollte sie Salomon nicht verlieren.

Der Weg zu Salomon führte über Artur.

Was nützte es ihr, daß sie voll Beherrschtheit auf ihrem Posten stand und die Pflichten dem Hause gegenüber ernst und schwer nahm, wenn sie dabei auch vertrocknete.

Sie brauchte Salomons Nähe, wie die dunkle Erde Licht und Feuchtigkeit braucht.

Ihr Herz schrie nach Salomon, auch wenn ihr Mund stumm blieb.

Seine Schritte, sein Atem, sein Auge, sein Lachen fehlten ihr.

Sie hatte die Kraft seines Wesens aufgesaugt, war seiner teilhaftig geworden und fühlte, daß ohne ihn der Tag und die Stunden leer waren.

Spürte Salomon denn nicht die Urkraft und herbe Stärke ihres Gefühls?! Und daß, damit verglichen, alles weichliche und sentimentale Empfinden lächerlich und klein wurde?

Hatte er, als sie sich vor Schmerzen wand und krümmte, ihre Blicke nicht verstanden?

Sie hätte ihn an der Schulter rütteln und ihm zurufen mögen: Alter Mann, begreife mich! Wenn unsereiner sich stumm die Kleider vom Leib reißt, seine Nacktheit zeigt und seine lautlose Leidenschaft offenbart, so will das mehr sagen, als wenn tausend Klageweiber vor Geschrei und Inbrunst sich nicht lassen können.

Aber statt dessen hielt sie den Mund verschlossen.

Niemand kommt dabei mehr zu Schaden, als du, Salomon, und niemandem wird es eines Tages weher tun als dir! dachte sie.

Etwas Hundsmiserables war das Leben!

Hinter dem Hund kam erst der Mensch.

Gestoßen und gepufft wurde er, wenn er seinen Anspruch auf Glück geltend machen wollte.

Ein Verbrechen war es, zu atmen und Freude am Licht zu haben.

Nein, sie wollte nicht grübeln! Das Leben mit beiden Fäusten packen, die Luft tief einziehen und sie mit Kraft wieder von sich stoßen!

Herr über das Leben wollte sie werden, allen Widerständen zum Trotz.

Mit allen Mitteln suchte sie Artur aus seiner Schwermut herauszureißen.

»Versinke mir nicht, Vater und Mutter hast Du, und mich,« setzte sie nach einer kleinen Pause hinzu.

Sein Gesicht wurde weinerlich wie das eines geprügelten Kindes und todestraurig.

Seine Pupillen irrten hin und her, als könnten sie den klaren, festen Blick ihrer Augen nicht vertragen.

Und plötzlich rannte er, ohne ein Wort zu erwidern, davon und lief schnurstracks, so rasch ihn die Füße trugen, zu Michalowski, verlangte ihn sofort zu sprechen, obwohl das Vorzimmer mit Klienten angefüllt war, die bereits eine Ewigkeit warteten.

Als er das Büro betrat, sank er erschöpft in einen Stuhl und war außerstande, ein Wort hervorzubringen.

Michalowski glaubte im ersten Augenblick, er sei übergeschnappt, über Nacht geisteskrank geworden. Am liebsten hätte er den Bürovorsteher hereingeklingelt, denn eine gelinde Angst ergriff ihn, mit diesem Menschen allein zu sein.

Artur merkte es, und ein verstehendes, stumpfes Lächeln huschte um seinen Mund.

»Du brauchst keine Furcht zu haben, Michalowski,« sagte er endlich, »ich habe meine fünf Sinne noch beisammen.«

Der Vetter beteuerte, daß er keine Sekunde daran gezweifelt habe.

Artur machte nur eine abweisende Handbewegung.

»Laß gut sein, jedermann hat seine persönliche Auffassung, und vielleicht bist Du tiefer im Recht, als Du ahnst. Um es kurz zu machen: Ich möchte meinen letzten Willen niederlegen.«

Michalowski brach in ein gewaltsames Lachen aus.

»Jetzt könnte ein Bösartiger wirklich glauben, Du seist irre. Was ist das für ein Gerede!«

»Pst!« machte Artur, und seine Hand fuhr tastend durch die Luft. »Ist es von Schiller oder von Shakespeare, jedenfalls ist es das einzige, was ich mir aus der Literatur gemerkt habe ...«

Er sah ihn dabei gespannt an.

»Ja, was meinst Du denn?« antwortete der Vetter erregt, und wieder wurde ihm unbehaglich zumute.

Artur pfiff vor sich hin, ehe er ganz leise hervorstieß: »In Bereitschaft sein ist alles ...«

Michalowski überlegte eine flüchtige Sekunde. Er fühlte sich auf einmal in der Rolle des Kriminalisten. Die Angelegenheit wollte psychologisch behandelt sein.

»Gut,« sagte er, »gehen wir also sachlich vor. Im Grunde genommen läßt sich nichts dagegen einwenden.«

Artur nickte.

»Ich möchte«, begann er feierlich, »in ein paar Sätzen ausdrücken, daß für den Fall meines Ablebens Agnes Salomon meine alleinige Erbin ist.«

Er machte eine überlange Pause. Dann fuhr er fort, indem er seine Augenbrauen aus eine unnatürliche Weise hochzog.

»Ich möchte zur Begründung hinzufügen, daß ich mich Agnes Salomon gegenüber schuldig fühle. Und dabei bitte ich Dich, mir zu helfen. Ich bin weder Stilist noch rechtskundig genug.«

Jetzt war Michalowski wirklich davon überzeugt, daß in Arturs Schädel etwas nicht richtig war.

Er ging mehrere Male durch das Zimmer.

Ihn um Gottes willen nur nicht reizen, sagte er sich im stillen. Laut aber erwiderte er: »Schön, schön, das ist eine ganz einfache Geschichte, die in wenigen Minuten erledigt ist. Darf ich mir nur eine Frage gestatten: Wer, meinst Du, würde Agnes gegebenenfalls ihre Rechte streitig machen?« Arturs Züge bekamen einen verstörten Ausdruck.

Er legte den Finger an den Mund und blickte sich scheu um, ob nicht etwa in irgendeinem Winkel sich ein Lauscher verkrochen hätte.

Dann lächelte er auf eine höchst einfältige Art.

»Darüber wollen wir kein Wort verlieren.«

Er drückte ihm heftig die Hand, und war plötzlich, ehe sich's der Vetter versah, aus dem Zimmer verschwunden.


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