Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

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Die laufende Straße

In Ottawa stehe ich um drei Uhr nachts auf dem Perron und warte auf den Expreßzug Quebec-Vancouver, der mich nach Winnipeg mitnehmen soll. Die großen Städte des Ostens haben mir wenig gegeben, ich habe mich auch mehr aus Pflichtgefühl in ihnen aufgehalten und war dankbar für jeden ungehobelten Telegraphenpfahl mit einem Rothemd und Cowboyhut darunter, der mich an den Westen gemahnte. Die alte stilvolle Stadt Quebec aber habe ich gar nicht aufgesucht. Alte stilvolle Städte gibt's in Europa genug, sagte ich mir; jetzt nur rasch nach dem Westen, wo der Stil noch nicht angefangen hat und das Leben uferlos, uneingeengt, auf keine Formel noch gebracht, über die Stränge schlägt.

An der Wand des Wartesaales hängt die Karte der C. P. R. Jedes Kind in Kanada weiß, was diese mysteriösen Buchstaben bedeuten: Canadian Pacific Railway. Eine starke, heiße Freude überläuft mich, wie ich die dicken 129 Striche betrachte, die auf der Karte quer durch den Kontinent vom Atlantischen zum Stillen Ozean gezogen sind und die Schienenwege versinnbildlichen, über die die Züge dieser Gesellschaft fahren.

Ich weiß nicht: aus welchem dummen atavistischen Trieb eines geborenen Vagabunden und Nomaden soll ich mir diese Aufwallung erklären, die mir immer wieder den Verstand trübt, wenn ich eine Landkarte oder ein Kursbuch, ja auch nur irgendeinen ordinären Fahrplan für fünfzehn Pfennige in die Hand nehme? Von Konrad Dreher habe ich einmal einen Lustspielnarren dargestellt gesehen, der das Reichskursbuch im Kopf hatte; aber wie bei mancher Lustspielfigur lag's auch bei dieser nur an dem Gesichtswinkel, aus der sie betrachtet wurde, daß sie nicht wie eine echte Figur der Tragödie dastand. Bei einer Eisenbahn- oder großen Dampfschiffsgesellschaft bin ich leichter als bei der Betrachtung irgendeines auf kapitalistischer Grundlage basierenden Betriebes dabei, die Zusammenhänge und Konsequenzen zu übersehen, die mich schon bei einer Dampfkessel- oder Lokomotivenräderfabrik fanatisch machen würden. Ein Eisenbahnzug, ein Dampfschiff sind die großen Werkzeuge der unaustilgbaren Sehnsucht des Menschen, und ohne daß dies Instrument sich seines fernerliegenden Zweckes bewußt würde, einfach dadurch, daß es den Drang des Menschen nach der Welt und der Weite stillt, dient es dem Endziele jeder Sehnsucht, der Verbrüderung des Alls, all der Menschen auf diesem allen gehörenden Erdball, dessen Gesetzen wir alle gleich untertan sind, an allen Punkten und in allen Klimaten unseres Planeten.

Dieser Eisenbahnzug, mit dem ich nach dem Westen hinausfahren werde, gilt mir mehr, als wofür mir ein bequemes Vehikel allein gelten würde. Und wenn's eine Bahn gibt, so ist es diese mit den mystischen drei Buchstaben, die aus unserer heutigen Zeit, aus der Nähe besehen, mehr als bloß eine Aktiengesellschaft mit Kapital, Dividende, 130 Landbesitz und gut und schlecht bezahlten Angestellten vorstellt. Ich bin nicht der erste, der sie ein Weltwunder nennt, auch nicht der erste, dem sie einen gelinden Schauer der Begeisterung den Rücken hinunterjagt.

Auf einer Farm in Saskatchewan habe ich ein Notenheft auf einem Harmonium gefunden, in dem unter allen möglichen nationalen und geistlichen Gesängen eine Hymne: »The C. P. R. Hymn« mit Text und Noten abgedruckt stand. Ich hab mir die letzten Zeilen gemerkt, sie lauten:

»The Railroad cars are going humming
Through the great North-West,
We'll sacrifice our hats, we will,
Four Dollar hats, brand new!
«

Wenn der gute Farmer seiner Begeisterung einen neuen Vier-Dollar-Hut zum Opfer bringt, so darf ich wohl das gleiche mit einer Druckseite meines Buches anfangen! –

Man setzt sich in den Imperial Limited am Ufer des Atlantic und fährt einen Tag lang durch die Normandie und die Bretagne. Man geht in der Bretagne schlafen und erwacht in Thüringen. Man geht im Harz schlafen und erwacht in Sibirien. Man legt sich in Sibirien zu Bett, erwacht in Ungarn und fährt zwei Tage und zwei Nächte lang durch die Weizenfelder Ungarns. Man legt sich in Vorarlberg in seine Klappe und fährt beim Aufwachen durch die Schweiz, die sich Stunde um Stunde mit sich selber und mit sich selber so lange multipliziert, bis man froh und atemlos die Dämmerung auf diese haarsträubendste Gebirgslandschaft herunterkommen sieht. Zwischen den träumerisch milden Seen und Hügeln des schottischen Hochlands wird's wieder Tag. Die Nacht aber und den nächsten Morgen fährt man durch ein zerklüftetes, donnerndes, unwahrscheinliches Felsengeröll, dessengleichen man nur aus den Bildern Gustave Dorés zum »Inferno« kennt. Zum letztenmal erwacht man zwischen Obst- und Blumengärten, in einem tropischen Land der turmhohen Zedern, Erlen und Schlingpflanzen, sieht in der 131 Ferne das Meer schimmern, sieht an den beiden Seiten der Bahn bärtige Hindus, bezopfte Chinesen, mit Speeren nach Fischen zielende Indianer stehen und weiß bei Gott keinen Vergleich mehr für Britisch-Kolumbien anzuführen, in dem man angekommen ist und der Zug nicht mehr weiter kann.

Wirklich es geht nicht an, von dieser Märchenbahn wie vom Orientexpreß zwischen Paris und Konstantinopel oder dem Nordsüdzug zwischen Petersburg und Palermo zu sprechen, die ja auch durch alle Wunder der Erde im Hui hinwegfegen. Denn diese kanadische Bahn verbindet nicht große Städte und verschiedenst geartete Zentren der Kultur miteinander, sondern sie hat sie geschaffen. An dieser Bahn, die sich durch Wald, Wüstenei, Fels und Tal ihren Damm gelegt und ihr Geleise festgenagelt hat, ist Leben aufgestanden und dagewesen Zoll für Zoll zwischen zwei Meeren. Menschen sind ihr gefolgt, Zoll für Zoll, und haben aus ihren neuen Heimstätten zugesehen, wie die Bahn sich langsam gegen Westen zu von ihrer Heimstätte entfernt. Zwei andre große Systeme gibt's noch in Kanada, die Grand Trunk Pacific und die Canadian Northern, und beide leisten der Menschheit Pionierdienste. Beide sehen an ihrem Weg durch den Norden, durch den Westen Hoffnungen und Erfüllungen aufschießen, Zoll für Zoll bei ihrem Vorwärtsdringen. Aber Kanada ist durch die C. P. R. erschlossen worden und darum darf man in ihr von Ozean zu Ozean mit anderen Gefühlen fahren als in einer xbeliebigen Bahn über lange Strecken.

Sie gebietet gegenwärtig einschließlich der zirka tausend Meilen, die sich unter Konstruktion befinden, über einen Schienenstrang von 11700 Meilen im Innern Kanadas. (In den Staaten der Union stehen weitere 4300 Meilen unter Kontrolle der Gesellschaft.) Ihre Schiffe fahren zwischen Liverpool und Montreal und zwischen Vancouver und Yokohama. Von Liverpool über den amerikanischen Kontinent bis Yokohama umspannen diese drei 132 Buchstaben den Weltverkehr. Die Regierung hat die Gesellschaft für die Erschließung ihres Landes mit einem Geschenk, einer Verleihung von fünfundzwanzig Millionen Acre belohnt. Um hieran eine Bemerkung zu knüpfen, fehlt es mir an Autorität und nationalökonomischen Kenntnissen; ich erwähne dies nur, weil ich auf dieses Detail später zurückkommen muß. Auch über die Gefahren für die politische Verwaltung eines Landes, das einer privaten Gesellschaft ein solches ungeheures Territorium überlassen hat, über die Gefahren, die dieser »grant« für Kanada mit sich bringt, kann ich aus dem erwähnten Grunde nicht urteilen. –

Um drei Uhr nachts fühle ich in Ottawa auf dem Perron eine starke, heiße Freude in mir sieden, wie sich in der Ferne der milchweiße Schein des Zuges zeigt, das kalt forschende Auge des Scheinwerfers auftaucht, das sich den Weg durch Kanada sucht. Hinter Häusern und Bäumen verschwinden Auge und Schein zuweilen, und dann liegt eine gespenstische Wolke allein in der Nacht da. Aber plötzlich ertönt das lang gezogene Heulen des Zuges ganz in der Nähe, und der Scheinwerfer wirft zwei silberne Linien, die parallel bis zu meinen Füßen herlaufen, auf den Boden vor sich. Ich gehe den Perron entlang, dem Neger nach, der mein Gepäck trägt.

Plötzlich bleibt der Neger stehen und schaut auf den Boden vor sich nieder. »What's the matter?« Und der Neger erzählt mir, mit weißbeleuchteten Zähnen in seinem Nachtgesicht, daß hier auf diesem Fleck vor drei Stunden ein Mensch überfahren worden ist, einem Menschen beide Beine abgerissen worden sind vom Zuge. Es ist um Mitternacht geschehen; er wird jetzt wohl schon tot sein. Er war erst vierzig Jahre alt, hatte Weib und Kinder. Er war kein Neuling und kein Springinsfeld, sondern ein alter, treuer und erfahrener Bediensteter der Gesellschaft.

Während der Neger mit meinem Gepäck auf den Schlafwagen am Ende des Zuges losgeht, bleibe ich auf 133 dem Fleck stehen. All meine gute Gotteslaune ist verflogen im Augenblick. Mir ist der Preis eingefallen, der für jede Freude jedes Menschen, für jeden Zollbreit Lebens auf dieser Erde gezahlt werden muß. Ich denke an die Tausende und Tausende, die draußen im lockenden Westen ihr Leben lassen mußten, damit die Bahn gebaut werden könne; damit sich Menschen an der Bahn niederlassen können in Heimstätten; damit eine freudige Gotteslaune aufflackern könne für einen Augenblick im Herzen eines Weithergekommenen.

Es nicht vergessen! Daran denken, wer das Leben der Welt schafft heutigen Tages und um welchen Preis. Es nicht vergessen. Es keinen Augenblick lang vergessen.

 

Hinten, am Ende des Zuges, in den Schlafwagen ist's finster, schläft schon alles. Aber hier vorn in den »Kolonistenwagen« hinter dem Gepäck- und Postwagen ist jetzt mitten in der Nacht noch Leben, Lärm und Licht hinter den heruntergelassenen Fenstern.

Indes der Neger mein Gepäck dort hinten hin trägt, bleibe ich vor einem dieser Wagen stehen und sehe in der Nacht eine Szene, die ich nicht vergessen werde.

Drin im Wagen steht ein riesiger dürrer Kerl – ich kann ihn nur von der Hüfte aufwärts sehn – mit nacktem Oberkörper mitten im Gang da und hält zwei nackte Beine, die vom oberen Schlafbrett herunterbaumeln, mit den Händen fest. Drei gespenstische Gestalten torkeln um diese Gruppe herum.

Der Kerl ist tätowiert vom Adamsapfel bis an den Nabel hinunter. Ich sehe eine blaue und rote Schlange unter der linken Achselhöhle auf die Brust hervorkommen. Auf den linken Oberarm ist die französische Fahne, auf den rechten ein fingerlanger Dolch, der nach oben steht mit der Spitze, tätowiert. Auf Brust und Bauch und um den Nabel herum das obszöne Bild eines nackten Frauenzimmers. Der Mensch hat auf seinem roten 134 schrumpfigen Hals den pomadisierten Kopf eines Jahrmarkt-Ringkämpfers sitzen und redet mit einer schaurigen syphilitischen Stimme auf den Menschen oben auf dem Schlafbrett ein, dessen strampelnde Beine er mit seinen rohen Fäusten festhält.

Auch die anderen drei, offenbar betrunken, gestikulieren und schreien dort hinauf. Einer schwenkt eine Flasche in der erhobenen Hand über seiner Mütze, es ist nicht zu erkennen, will er sie dem oben anbieten oder will er mit ihr auf ihn losschlagen.

Der Neger kommt, er kann sich nicht erklären, was mit mir geschehen ist.

Nächsten Morgen gehe ich durch den ganzen Zug und sehe mir die Leute in jenem Kolonistenwagen an. Die ganze Gesellschaft scheint unterwegs ausgestiegen zu sein. Es führt da, von North Bay, eine Seitenlinie nach Cobalt zu den neu entdeckten Goldminen in Porcupine, Nordontario, hinauf.

 

Ich erwache spät, in meinem Wagen ist schon alles auf.

Wir fahren durch eine öde Strecke, steinigen Boden, Nadelholz, verwildertes Gebüsch um verlassene Seen und Teiche. Zuweilen durchqueren wir reißendes Wasser, das Holz mit sich führt, systematisch und eckig behauene Scheite, die sich an den Biegungen und Buchten stauen und zuweilen ganze Seen zudecken. Stundenlang Steine, Nadelholz, Wasser, Steine. An den Stationen ein Blockhaus, aus dem ein paar verwahrloste Menschen, zerlumpte Kinder dem Zug nachglotzen. Einmal eine kleine Gruppe von Blockhäusern mit einer kleinen Holzkirche dazwischen.

Ich versuche es, mir vorzustellen, wie es dem Einwanderer zumute sein mag, der aus der alten Heimat in diese neue kommt, denselben Weg nach dem Westen fährt wie ich jetzt und aus dem Fenster des Zuges schauend, mit Erschaudern sich sagt: in diesem Land soll ich mein Leben neu beginnen?! Einen Tag und 135 zwei Nächte lang wird er durch diese Einöde fahren, Hügel, Wasser und Wald sehen. Man müßte ihm die Augen verbinden; das Herz muß ihm brechen vor Angst – in diesem Land?!

Aber auch für den, der als Tourist aus dem schönen Aussichtswagen am Ende des Zuges das Land sich anschaut, gibt es Verstimmendes hinter den Fenstern zu sehen, nicht nur zwischen Ottawa und Winnipeg, sondern auf der ganzen Strecke, vom Atlantik zum Pazifik. Und auf den Landwegen und Bergpfaden, wo nicht die Bahn durchfährt, sondern Wagenstraßen führen, auch. Ich meine die Art und Weise, wie man in diesem Lande Platz und Raum für Bahndämme, Straßen, Dörfer, Telegraphenstangen, Pfade und Pfädchen macht.

Es wird einfach jeder Baum, jeder Baumstamm und jede Handvoll Gebüsch, die im Wege steht, niedergebrannt oder mit Dynamit aus dem Wege gesprengt. Unbarmherzig, barbarisch und frevelhaft unsinnig zugleich.

In diesem reichen Kontinent kommt es, scheint's, auf ein paar tausend Quadratmeilen verbrannten Waldes wohl nicht an. Und so ist der Weg der Canadian Pacific und der Grand Trunk Bahn, über die ich gefahren bin, von verkohlten Waldstrecken und zerrissenen Baumrümpfen gezeichnet im weitesten Umkreis, den größten Teil des Weges lang, der ja, mit der Ausnahme der Strecke durch die Prärie, durch Wald und Wald und Wald führt vom einen Meer zum anderen.

In den Bergen des Kootenay, Britisch Kolumbien, nachdem wir vier Stunden lang durch einen vernichteten Urwald von fünf Mann dicken Zedern, Erlen und Hemlock gefahren waren, erklärte mir ein Ingenieur, daß das Wegsprengen der Bäume und Wurzeln auf einer Strecke, deren regelrechte Ausgrabung einen Tagelohn von vierthalb Dollar erfordern würde, sechzig Cent Dynamit kostet. Und auf demselben Wege klebten alle hundert Schritte weit die offiziellen Plakate des Ministeriums des Innern, Verhaltungsmaßregeln zur Verhütung von 136 Waldbränden enthaltend, an den zerrissenen und verkohlten Stämmen!

Stellenweise hat's den Anschein, als hätten die Menschen dieses Wüten gegen den Wald von den Stürmen gelernt, die mit Blitzschlägen und verheerenden Brünsten ganze Bergkuppen meilenweit in eine Einöde von grauen entlaubten und toten Lanzen- und Masten-Forsten verwandelt haben.

Dieser schwarze zersprengte Wald hier unten und dann, hinter dem Urwald landeinwärts, diese graublauen toten Lanzen gegen den Himmel geben ein Bild der trostlosen Vernichtung, an das man sich lange erinnert.

Aber die Natur, die fruchtbare, triumphierende, treibt auch in dieser Vergewaltigung ihr Spiel und ihren überlegenen Scherz mit dem törichten und anmaßenden Menschlein. Von der Glut der brennenden Wälder reifen die Samenkapseln der Blumen des Kleinkrauts in wenigen Minuten, bersten, und ihr Inhalt fliegt in weitem Bogen auf den Boden rings, wo er sich in die Ritzen der Erde verkriecht. . . . Die verkohlten Stümpfe ragen aus einem tropisch wuchernden Gewirr von buntem Unkraut hervor, in dessen undurchdringlicher, üppigster Fülle sich die Tiere des Waldes bis an die Schienenstränge hervorwagen! Im Westen sah ich sonderbar geformte Maschinen vor die Lokomotiven gespannt – »weedburner«, Unkrautverbrenner, die das bunte Gezeug mit Feuer übergießen und wohl auch die Schwellen ein bißchen mit anzünden dabei.

 

Die »Imperial Limited« fährt mit achtzehn Wagen von Ozean zu Ozean. Ich gehe einigemal durch den ganzen Zug und schaue mir die Menschen an, die in dieser laufenden, sausenden Straße mit mir wohnen; unsere Wohnung bewegt sich unaufhaltsam dem Westen zu, der unser aller Ziel ist.

Die Lokomotiven, die diese Straße hinter sich herschleifen über die ungeheuren Strecken, die Lokomotiven 137 sind Unterseeboote, die auf mannshohen Rädern einherlaufen. Ein komisches, kleinwinziges Schlötchen ragt aus ihnen vorn in die Höhe, dahinter zwei Buckel, wie kleine Observationstürme, und zwischen diesen Buckeln schwingt eine Glocke unaufhörlich hin und her – die entsetzliche amerikanische Eisenbahnglocke, die den Unglücklichen, der in der Nähe der Bahn haust, bis in seinen Schlaf hinein verfolgt und martert. Auf dem Schlot sitzt vorne das Polyphem-Auge, das ich auf dem Perron in Ottawa erblickt habe, und das ich dann in die Prärien, in Abgründe, Ströme und Felsenrisse und endlich auf die Wellen der Meerenge von San Juan de Fuca hab' starren sehen, in den Wochen, die kamen und die nun dahingegangen sind. Noch ein Instrument sucht der Lokomotive den Weg freizumachen und zu sichern durch die Weiten, es ist ein riesiges pflugartiges Eisengestell, der Kuhfänger, »cowcatcher«, und dieses hybride Wesen, vorn wie ein Pflug, hinten wie ein Unterseeboot anzusehn, ist also der Straße vorgespannt, in der die wohnen, die nach dem Westen wollen!

Eine Straße wahrhaftig. Eine lange sonderbare Straße, die in einem ärmlichen Arbeitervorort anfängt, durch das Viertel führt, wo die bescheidene Wohlhabenheit ihren Wohnsitz hat, und hinten in der Villenstadt der Reichen, der Muße und des Luxus aufhört. Laufe, wunderbare Straße, lauf' nach dem Westen!

Die Kolonistenwagen vorn im Zuge sind wie richtige Wohnräume eingerichtet. Ein Gang geht durch die Mitte der Wagen. (Aller amerikanischen Wagen, von den Pullmans bis hinab. Abteile kennt man nur in eigens dazu gebauten Wagen, die für den Bedarf der oberen Vierhundert eingerichtet und deren Preise auch danach sind.) Rechts und links sind Bänke mit je zwei Sitzen. Ein aufklappbarer Tisch ist an der Wand befestigt, über den Bänken aber sind Bretter an die Decke geschraubt, die man bei Nacht herunterlassen kann, und die sich als Schlafbretter an Ketten erweisen. Jeder Wagen der 138 Kolonistenklassen hat eine richtige Küche am Ende; zu allen Tageszeiten sitzen da die Mütter, Töchter und Frauen und kochen das Essen für die Familie. Drei, vier fünf Tage lang wird in diesen Räumen gekocht, gegessen, geschlafen, gespielt, gelebt – gehofft.

Und gesungen! In all den Gegenden, durch die ich gefahren bin, in all den rollenden Straßen, durch die ich durchgelaufen bin, hat es einen Mann, eine Frau, meist aber ganze Familien gegeben, die mit lauter Stimme Psalmen gesungen haben. Einmal, an einem Sonntagabend hoch oben im Nordwesten, habe ich einen ganzen Kolonistenwagen:

»Nearer, my God, to Thee«

singen gehört.

Unaufhörlich kommt und geht der Candy-Junge durch den Zug, mit monotoner Stimme: »Chiclets, Choc'lates, Chewing-gum!« Bücher, Zeitschriften und die Zeitungen aus den Städten auf der Strecke anbietend. Die Neger in ihren grauen Uniformen, die armen Neger, die für einen Dollar Taglohn dienen und oft drei Nächte hintereinander kein Auge zumachen dürfen, lehnen gähnend in den Übergängen zwischen den Wagen. Der weiße Kondukteur setzt sich zwischen die Reisenden, macht seine Rechnung oder sein Schläfchen oder einer allein reisenden Dame, die sich's gefallen läßt, den Hof. Drei Schreibmaschinen klappern von frühmorgen bis spät in die Nacht hinein vor armen rastlosen Sklaven, die das Wunder des Reisens nie kennen werden. Hinten in dem bequemen Aussichtswagen hat alles schon Bekanntschaft miteinander geschlossen. Die rotlackierte »Person« ist in feste Hände geraten. Zwei »jüngere Söhne« haben sich gefunden und verraten mir naiv und liebenswürdig im Rauchzimmer ihre Pläne, die sie aus Landkarten und Farmprospekten sich zusammenspekuliert haben. Die kleinen Kinder laufen umher und stiften Freundschaften zwischen den Eltern. Meine Tage vergehen mir angenehm zwischen den jüngeren Söhnen, einem guten und 139 warmherzigen alten Ehepaar aus Montreal und einem jungen Japaner, der nach Nagasaki heimreist.

In den Kolonistenwagen hab ich weniger Glück. Die Leute sind müde, verschlafen und wortkarg. Auch leben sie so ziemlich in Dreck und Speck dahin alle diese Tage und ziehen mürrische Mienen über ihre Gesichter, wenn jemand aus der Pullman-Welt dahinten den Schmutz besichtigen kommt, der sich um sie angesammelt hat. Genau wie die Zwischendecker auf den Schiffen den Besucher von »oben« anknurren, wenn er sich in ihre Mitte wagt.

An den Stationen, den spärlichen Haltestellen der Strecke, steigt alles aus, um sich die Beine ein bißchen einzurenken auf dem festen Boden nach dem Rütteln und Schüttern der endlosen Fahrt. Die ganze Bevölkerung der kleinen Orte um die Haltestellen tummelt sich auf dem Perron und mengt sich unter die Reisenden, während der Zug hält. Die Reisenden blicken neugierig auf diese Menschen, die hier inmitten der Wildnis ihr Leben verleben. Dann heult das Signal auf, die Neger erscheinen bei den Schemeln, über die man in die Wagen zurücksteigt, und die zurückbleibenden Bewohner der kleinen Orte in der Wildnis blicken ohne Neid dem davonfahrenden Zug nach, dessen letzter Wagen, der Aussichtswagen, über seiner offenen Veranda in transparenten Lettern die Worte trägt: »Imperial C. P. R.Limited.«

 


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