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Drittes Kapitel

Edith behandelte ihre Schwester mit der alten Liebe; nichts verriet, daß Kitty ihr heute so weh getan hatte!

Aber Papa fing plötzlich an bei Tisch und sagte: »Kittchen, ist denn deine Vorsteherin in allem mit dir zufrieden?«

Kitty bekam einen Schreck.

»Hm! Ja!« sagte sie und trank schnell einen Schluck Bier.

»Na, zum Beispiel im Betragen, Maus, wie steht's denn damit? Hattest du da die I, Kittchen?«

Kitty warf einen bösen Blick auf Edith. Die hatte alles verraten! Oh, diese böse Schwester!

Papa war aber unerbittlich, er wollte seiner Tochter zeigen, daß er hinter ihre kleinen Manöver komme. Kitty brachte es nicht über die Lippen, zu sagen, was sie im Betragen hatte. So erbat sich Papa nach dem Essen das Zeugnis noch einmal.

Jetzt war's um Kittys Fassung geschehen. Sie hatte sich schon so in dem Bewußtsein gewiegt, ohne Tadel davon zu kommen, und nun brach das Unwetter herein. Und da war bloß Edith schuld.

Weinend sprang Kitty aus, warf ihre Serviette hin und lief hinaus. Im Vorbeigehn traf sie Edith mit einem bitterbösen Blick und sagte: »Du hast geklatscht!«

Der Justizrat lachte. Seine Schwäche für Kitty hatte auch ihre Grenze. Daß seine Jüngste ihn auf so schlaue Weise hintergangen hatte, war ihm nach reiflichem Überlegen doch nicht so ganz einerlei gewesen. Edith sagte:

»Papa, wir müssen Kitty noch ein Jahr zu Fremden geben, glaube mir, hier wird sie nicht vernünftig. Wir beide lieben sie zu sehr.«

»Ich will's mir mal überlegen, meine Edith! Wirst schon recht haben! Aber schwer würde das für uns! Das würde ja eine fürchterliche Leere um uns sein!«

»Freilich, Papa,« fügte Edith, »aber da es zu Kittchens Bestem diente, müßten wir uns drein fügen!«

»Hast du schon eine Ahnung, wohin wir sie geben könnten?« fragte Papa.

»Ich dachte, zu dem dir befreundeten Schuldirektor nach L.; es ist ein Studienfreund von dir, Väterchen! Kitty könnte dort ein Jahr die höhere Töchterschule besuchen. Dann ist sie bald sechzehn Jahre alt. Da entschließt sie sich schon, was sie für einen Beruf erwählen will. Sie möchte Jura studieren!«

Überrascht blickte Papa auf und rief: »Was? Der Tausendsasa! Vater und Tochter Kollegen vom Fach! Das wäre ja köstlich und dabei noch etwas ganz Besonderes!«

Er strahlte wieder vor Stolz über seine Tochter. Ja, das war ein modernes Mädel! Die setzte sich nicht an den Herd, die rührte keine Nadel an, die las, strebte, wollte über das Mittelmaß hinaus! Wie konnten zwei Schwestern so verschieden sein! Edith, die stille Hausfrau, zufrieden in ihrem Wirkungskreise, nicht hoch hinaufstrebend; sie suchte und fand das Glück in ihrem kleinen Reich! Anders seine Kitty! Die mußte herrschen, die stellte oft Fragen an ihren Vater, deren Beantwortung diesem wahrlich nicht immer ganz leicht wurde. Kitty wollte studieren! Recht so! An Mitteln dazu sollte es ihr nicht fehlen! Freilich in dem kleinen Thüringer Heimatstädtchen konnte sie das nicht haben, da mußte sie nach Berlin oder in eine andre Universitätsstadt!

Erst hieß es freilich, das Gymnasium besuchen. Oh Kittchen, da gehört noch viel Zeit und Fleiß dazu, bis wir so stolz sind, daß sich uns die Pforten der Universität öffnen!

Kitty kam wieder mit verweinten Augen, legte ihr Zeugnis auf den Tisch vor Papa hin und ging.

So klug war sie doch wieder, daß sie sich im entscheidenden Augenblick aus dem Staube machte. Und zwar suchte sich Kitty die Kammer Minnas aus. Dort vermutete man sie nicht. Sie setzte sich im fahlen Dämmerlicht auf den einzigen Stuhl, der Minnas Kammer zierte. Bei näherer Besichtigung entdeckte Kitty, daß er zerrissen war.

Kitty blickte sich um. Himmel, wie anspruchslos mußte solch ein Dienstbote sein! Und dabei die Schufterei von früh bis abends!

Über Minnas Bett hingen in schwarzen, billigen Rahmen zwei kleine Bilder, ihre toten Eltern darstellend. Kränze von gemachten Blättern, die Kitty giftgrün erschienen, schmückten diese Bildchen.

Auf der Kommode, die bloß noch einen Fuß hatte, lag Kittys Socke und die Wolle zur zweiten. Die gute Minna!

Kitty hockte sich auf den durchlöcherten Stuhl und blickte durch die trüben Scheiben in den Garten. Eigentlich war's zum Fürchten hier! So dunkel schon überall!

Und diese ganze unangenehme Sache verdankte sie Edith! Nennt man das schwesterliche Liebe? Oh, Kitty hatte gelesen, daß die Geschwisterliebe überhaupt etwas Törichtes sei! Mußte man diese Menschen lieben, weil sie zufällig unsre Geschwister waren? Nein, sie liebte Edith nicht, wenn sie so klatschig war! Die brachte es sicher noch fertig, daß Papa sie aus dem Hause gab! Natürlich, dann war sie die Alleinherrscherin hier und hatte es gut!

»Kitty!« rief Edith droben von der Treppe herab. Kitty hörte es wohl und schwieg.

Als es aber begann, sehr dunkel um sie zu werden und gar eine Maus zu knabbern anfing, wurde es Kitty doch ungemütlich. Sie verließ ihr freiwilliges Gefängnis und ging in ihr Stübchen.

Zum ersten Male zog sie sich zurück, ohne dem lieben Papa und Edith den Gutenachtkuß gegeben zu haben. Aber sie hatte Furcht, sie wagte sich nicht ins Wohnzimmer. Und es war doch stets so gemütlich nach Tisch. Da stand die Lampe mit Papas Schreibtisch. Da saß er in seinem Sessel, da las man oder plauderte oder spielte auch mal »Sechsundsechzig«. –

Heute ging Papa übrigens aus, hinüber in die »Traube«, zu seinem Stammtisch. Eben hörte Kitty die Klingel. Da ging im Augenblick Papa auch schon fort.

Nun klopfte es bei ihr. Edith fragte, ob sie da sei.

»Ja!« war die trotzige Antwort.

»Aber, Kittchen, mach doch auf! Papa ist gar nicht böse!«

Keine Antwort.

Endlich rief Edith: »Dann gute Nacht, Kitty! Ich gehe noch auf ein Stündchen zu Tante Melitta! Minna ist in der Küche, wenn du etwas brauchst!«

Ediths leichter Schritt verhallte.

Wohlig fühlte sich Kitty nicht. Sie lag lange mit offenen Augen da und grübelte über die Frage nach, ob man seine Geschwister lieben solle oder nicht! –

Es schlug acht Uhr, als Edith in Jäckchen und Hut die Haustüre öffnete und die steinernen Stufen hinabschritt. Sie lauschte auf die ehernen Töne, die in abendlicher Stille so mächtig über die Stadt hinklangen.

Schon war es tief dämmerig. Aus einem offenen Fenster drüben in der »Traube« kam Gesang.

Einen Augenblick lauschte Edith auch diesem, dann lief sie am Friedhof, dessen Tor eben geschlossen wurde, vorbei in eins der bergigen, winkligen Gäßchen hinein.

Einen Blick hatte sie auf den im Abendschatten liegenden Friedhof geworfen. Ihres geliebten Mütterchens dachte sie. Sie sah sie so deutlich vor sich, als lebte sie noch. Doppelt innig liebte sie in dieser Stunde Mutters kleinen Liebling, die Kitty. Es hätte nicht viel gefehlt, so wäre Edith wieder umgekehrt; es war ihr ein schmerzlicher Gedanke, daß sie den roten Mund heute nicht geküßt hatte.

Hier, auf dem weiten, stillen Totenfeld spricht aus all den Hügeln das »Liebet euch untereinander! Liebet euch, so lange es noch Zeit ist.«

Edith klopfte an einen Fensterladen, der ein ausgeschnittenes Herz zeigte, durch das man Licht im Zimmer sah. –

Schnell in die Hausflur gehuscht. Eine weißhaarige Frau öffnete die Flurtüre zur Rechten.

Als sie Ediths Gesicht sah, ging ein Leuchten über das der Alten.

»Das gnädige Fräulein sind noch auf!« sagte die Mertens und ließ das junge Mädchen eintreten. Sie selbst ging in ihre Stube, denn nun bedurfte ihre gütige Herrin ihrer nicht. Für die ging ja jetzt am späten Abend die Sonne noch einmal auf und mit Recht! Die Mertens schwur, daß es auf der ganzen Welt keine zweite solche Edith gab! Was die ihr, der Mertens, nur alles schon für Liebe erwiesen hatte! Die Kleider nähte sie ihr, damit die Mertens nur ja alle Zeit ihrer Herrin geben konnte! Und den Richard, was der Mertens ihr einziger war, den hatte sie in einen Buchladen in die Lehre gegeben, weil er gar so toll ist in die Bücher! So ist er jetzt überglücklich, der Richard, denn jetzt sitzt er unter lauter Büchern! Seine Helferin, die Edith, erscheint ihm wie das leibhaftige Christkindlein selber! Und wie viel Suppen kocht Edith für die Armen! Da sitzen manchmal eine Reihe armer Menschen auf der Treppe und essen, so daß der Justizrat einmal gefragt hat, ob seine Tochter im Schloß eine Speiseanstalt eröffnen wollte.

Tief erglühend hatte Edith gemeint: »Die armen Leute hatten alle solchen Hunger!« –

»Tante Melitta!« rief Edith und flog auf die Gestalt zu, die in einem Fahrstuhl saß; eine wollene Decke war über die Knie gelegt, an den Händen trug die Dame Halb-Handschuhe.

»Meine Editha!« So nannte Fräulein von Dehring ihren »Sonnenschein«.

Das junge Mädchen beugte sich herab zu der lieben Tante und küßte sie.

Der Kopf von Tante Melitta war beinahe schön zu nennen. Auf dem weißen, lockigen Haar lag ein schwarzes Spitzenhäubchen. Die Augen waren leuchtend blau und verrieten lebhaftes Innenleben, Geist und Herzensgüte. Um den Mund lag ein Schmerzenszug, den die langen Jahre körperlichen Siechtums eingegraben hatten. Die Stimme des alten Fräuleins war tief und schön wie voller Glockenton.

Ediths Mutter war das Kind von Tante Melittas Freundin gewesen. Sie hatte nur diese eine Freundin gehabt und nach deren Tod ihre ganze Liebe der jungen Frau Amtsrichter Wagemann geschenkt. Edith und Kitty hatte sie heranwachsen gesehen. Als die junge Frau gestorben, flüchtete Edith förmlich an das Herz Tante Melittas. Und sie hatte recht daran getan, ihr Gefühl sie den richtigen Weg geführt. –

»Editha,« sagte die Dame, »sieh mal dort in die Ofenröhre! Die ersten Äpfel für dich gebraten! Mertens und ich ahnten schon, daß du heute kämst! Oh, wie gut bist du!«

Edith hing Jackett und Hut auf, strich mit beiden Händen das Haar glatt und holte sich ihre Apfel. Sie wußte, damit machte sie Tante die größte Freude. Diese strahlte auch, als Edith sich einen Sessel heranrollte und tapfer in den Apfel biß. –

»Wie geht es Kitty? Die läßt sich gar nicht mal sehen! Und wie sehr lieb' ich das Kind!« sagte Tante Melitta.

Ein Schatten flog über Ediths stets so sonnenklares Gesichtchen. Tante, die eine feine Beobachterin war, sah das sofort. Arme Editha, dachte sie, es liegt viel auf deinen jungen Schultern! Diese Kitty ist ein wildes Röslein!

»Tante, ich möchte mancherlei mit dir besprechen! Bist ja mein guter Schutzgeist!«

»Komm näher, mein Kind!« bat die alte Dame.

Und als Ediths schlanke Gestalt sich an sie schmiegte, legte sie deren Köpfchen zärtlich an ihre Schulter. Edith schwieg noch eine Weile. Es tat so wohl, dies Ausruhen, dieser Friede, diese zärtliche, mütterliche Liebe! Und dann erzählte Edith leise von Kitty, welche Sorge ihr deren zügelloses Leben mache. Und ob es nicht recht getan sei, sie fort zu geben?

»Es ist das einzige, was die Kleine kuriert, Editha, ich sagte es dir schon oft,« meinte Tante Melitta, »sieh, mein Herz, Fräulein Richter besucht mich bisweilen. Du weißt's ja, Liebling! Sie steht allein und hat als Frau einen schweren Kampf zu kämpfen! Da erlahmt sie manchmal und holt sich Mut zum Weiterkämpfen bei deiner Tante Melitta. Fräulein Richter ist nicht entzückt von Kitty, nennt sie eingebildet und überspannt. – So seid stark, du und Papa, laßt ihr mal fremde Menschen den Kopf zurechtsetzen! Oh, sollst mal sehen, was für eine vernünftige Kitty wieder heimkehrt! Sieh, Editha, wir waren in unsrer Backfischzeit auch oft recht querköpfig! Du wohl nicht, meine Maus! Du bist deiner seligen Mutter Ebenbild! – Ich halte Kitty nicht für begabt genug, Jura zu studieren! Die Trauben hängen zu hoch! Laßt sie aber nur beginnen! Sie kehrt auf halbem Wege um und ist dereinst froh, wenn sie zu Vater und Schwester zurück kann! –

»Dort liegt ein Buch, mein Kind. Das lege Papachen auf den Geburtstagstisch. Er liebt diesen Autor, ich weiß es. Und für meine Editha habe ich einige Geschichtswerke kommen lassen. Da liest du mir vor, wenn du Sonntag nachmittag kommst. Gelt, Maus? Die Mertens lassen wir mal einen Nachmittag fort. Die will mit ihrem Richard eine Waldpartie machen.« –

»Gewiß, Tante!« – »Sieh, Editha, es geht jetzt ein andrer Zug durch die Menschheit! So wie dein Großmütterchen, von dem du dir so gern erzählen läßt, und ich lebten, so will die heutige weibliche Jugend nicht mehr leben! Das strebt über die engen Wände der Häuslichkeit hinaus! Oh, diese Wände sind gar nicht so eng, wie man glaubt! Sie umschließen einen Himmel für den, der sich ihn aufbaut. Die Welt gibt einem das niemals, was einem die vier Pfähle geben, die man sein nennt! Und wären sie noch so bescheiden!

»Jetzt wollen die jungen Mädchen wie unser Kittchen nichts mehr von der schlichten, stillen Arbeit der Hausfrau wissen. Darauf sieht man mit der nötigen Verachtung herab. Bloß eine Hausfrau! So heißt es, gelt, meine Editha?

»Da streben sie hoch hinaus, wollen es den Männern gleichtun und sind zu schwach. Einige, die sich reich begabt fühlen, die mögen den Sonderweg einschlagen, die mögen studieren, und solche werden kraft ihres Genies und ihres Fleißes das hohe Ziel erreichen! Aber wie viele betreten diesen Sonderweg, die ermattet auf halbem Wege umkehren, die flügellahm werden! –

»Sieh, Editha, Kitty sollte jetzt einmal wie durch einen Zauberspiegel in das Pfarrhaus blicken können, wo eure Großmama als Mutter waltete und deine selige Mama als Pfarrtöchterlein aufwuchs. Sehnsucht würde Kitty fühlen nach einem solchen Heim des Friedens, jetzt noch nicht, aber wenn sie dereinst heimkehrt! – Oh, sieh zu, Editha, daß du Kitty am Sonntag mitbringst! Da erzähle ich euch! Kitty läßt sich gern von Mama berichten; das ist die Stelle ihres jungen Herzens, wo sie am zugänglichsten ist!«

Edith zog fürsorglich die Decke herauf, die von den Knien der Leidenden herabgeglitten war. Sie erzählte von ihren Freuden und Leiden, die alte Dame, und Edith berichtete von ihrem Leben. Sie erzählte von dem letzten Kirchgang, schilderte die Predigt, beschrieb Mamas Grab, auf dem die bunten Astern blühten. Edith klagte nicht, sie sagte nichts von Kittys Mangel an Liebe ihr gegenüber. Sie schilderte im Gegenteil die drei, wie sie so artig mit Bohnen geschnitzt hatten. »So ist's recht!« nickte Tante Melitta, »immer beschäftigen muß man diese Kinder!«

»Hast du das Ave Maria geübt?« fragte Tante.

»Ja, es ist schwer, Tantchen, ach, bitte, bitte!«

Fräulein von Dehring lächelte und nickte. Sie wußte schon, was ihr Liebling wünschte.

»Da klingt der Abend so herrlich aus!« hatte Editha manchmal gesagt. Mit des jungen Mädchens Hilfe setzte sich das alte Fräulein ans Klavier. Von den Händen streifte sie die Handschuhe. Edith legte Kissen in den Rücken der Spielerin.

Diese winkte lächelnd ab, als Edith die Wachskerzen am Klavier anzünden wollte. Das junge Mädchen setzte sich leise in die Ecke des Sofas, faltete die Hände, denn was an ihr Ohr drang, war wie ein Gebet.

Ganz leise, kaum hörbar klang es, wie von Engeln gesungen, wie von betenden Lippen geflüstert: »Ave Maria.«

Als ziehe eine Schar Nonnen zur Andacht in die Klosterkirche, wo das ewige Licht glüht, wo es seinen sanften Schein gleiten läßt über das dornengekrönte Dulderhaupt dessen, der da gesagt hat: »In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen …«, der uns die Religion der Liebe lehrte.

Mächtig, in vollen, hinrauschenden Akkorden erklang die Melodie, die sich aus einem Meer von Tönen heraushob.

Wenn Edith ihre Tante Melitta nicht schon so geliebt hätte, in solchen Minuten hätte sie sie anbeten gelernt. Es war, als seien der schwachen, siechen Gestalt Flügel gewachsen! Alles, was armselig, was irdisch an ihr, war vergessen, und die Seele sprach, eine feinfühlende, große, weiche Künstlerseele.

Wie sank da vor Ediths geistigem Auge alles in ein Nichts zusammen, um was sie sich gegrämt hatte, was ihr Sorge machte! Tief im Grunde ihrer Seele fühlte sie: es geht nach ehernen Gesetzen, es will alles vom Höchsten erbeten sein!

Mochte Kitty jetzt noch wie ein ungestümes Füllen sein, mochte sie hinausstürmen ins Leben mit vollen Segeln! Gott leitete sie, ihr Herz. Und es würde die Zeit kommen, wo sie einsehen lernte, was es heißt, von Liebe umgeben sein, im Schutz des Elternhauses zu stehn, und die Liebe wird sie an der Schwester Herz treiben, wissend, daß hier ihres Herzens Heimat ist. Wie eine Läuterung ging es durch Ediths Herz. Ihr war, als habe sie frommem Orgelklang gelauscht.

Wie reich war Tante Melitta, die Einsame, Große, die nichts brauchte, die nur immer die Gebende war!

Die Töne verklangen. Edith, die Tränen in den Augen hatte, trat leise zu der Spielerin und schmiegte deren Kopf an ihre Schulter. »Ach, war das wieder schön!« sagte Edith, »nichts Herrlicheres, als die Kunst! Du gibst mir so viel, Tante Melitta, ich dir nichts!«

»Aber, Kind!« rief die Spielerin und wandte ihr Gesicht voll Edith zu. Diese sah, daß es blaß war von der Erregung des Spiels.

»Meine Editha, du gibst mir mehr, als du ahnst!« sagte Tante Melitta, »deine Liebe zu mir ist der warme Sonnenschein meines Lebensabends! Man muß auch ein wenig Liebe bekommen, wenn man reichlich Liebe geben will! Und sieh, du bist mir mein alles! In dir sehe ich meine längst entschwundene Jugend noch einmal, denn du bist anders als die andern! – Ja, meine Kunst, wie du es nennst! Sie ist das, was Gott mir als Herzenstrost an mein Krankenlager gestellt hat. Du, Editha, dein Vater, dein Kittchen, ihr seid meine Lieben! – Und du, Liebling, du wirst auch dereinst noch in einer Kunst tätig sein! Blick' nur nicht so scheu zu Boden! Dein Tantchen liest in deiner Seele! – Ich hab' die kleine Erzählung, die du mir gabst, gelesen, sie zeigte mir meine Editha in neuem Licht! Ein Talent, von dem Vater und Schwester nichts ahnen, liegt in dir, eine feine Beobachtungsgabe …!«

Tante Melitta konnte nicht weiter sprechen, denn Edith küßte sie vor lauter Seligkeit über ein Lob aus diesem Munde.

»Mein Kind!« sagte Tante weich, »vorläufig bleibt das unser Geheimnis. Du schreibst weiter, gibst es mir und erst, wenn wir mit einem vollen Erfolg vor Papa hintreten können, verraten wir alles! Gott segne dich und erhalte dich in deiner Reinheit!«

Fräulein von Dehring küßte ihre Editha auf die Stirn.

Ein paar Minuten später ging Edith, von der Mertens begleitet, heimwärts. Wangen und Augen glühten, es war so viel des Beglückenden, des Schönen, was sie eben erlebt hatte. –


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