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Sie hatten so in lebhaftem Gespräch die Richtung zum Fabrikeingang eingeschlagen. Der Weg führte an einer Ziegelmauer entlang. Dicht beim Scheichgrab befand sich eine Sakihje – ein Ziehbrunnen –, die eine Gruppe barfüßiger Treiber mit schreienden und sich drängenden Grautieren umlagerte. Weiterhin kreuzte die Straße ein schmalspuriges Gleis, auf dem ein paar Güterwagen standen. Das Einfahrtstor stand auf. Einstöckige Fabrikgebäude – die eine Hälfte älteren Datums und aus Nilschlamm, die andere ganz neu und aus rotgelben Ziegeln – umgaben den weiten Hof, auf dem inzwischen die mächtigen Ochsengespanne eingetroffen waren, übermannshoch mit Zuckerrohr beladen. In langen Zügen, taktmäßig unter einem eintönigen Gesang, schleppten bloßfüßige, nur mit langem Hemd und Ueberwurf bekleidete Araber auf den Köpfen hohe Lasten von Zuckerrohr von den Karren nach dem größten der Fabrikgebäude.

An einem Brunnen standen Frauen, die Wasser in mächtige Tonkrüge schöpften. Sie trugen den die untere Gesichtshälfte bedeckenden schwarzen Schleier, der mit einer über Stirn und Nasenrücken reichenden gelben Holzrolle am schwarzen Kopftuch befestigt war. Schöne, schwarze Augen blitzten Jutta an, als sie an Succos Seite den Hof betrat. Wie diese Frauen die Krüge auf die Schultern stellten und mit dem ausgestreckten rechten Arm am Henkel festhielten, erinnerten sie Jutta an allerlei malerische biblische Szenen.

»Oh – das Bild an dem Brunnen dort drüben – das ist ja ganz einzig!« rief sie aus, überrascht stehenbleibend.

»Richtig, Sie sind ja so sehr für malerische Wirkungen! Wissen Sie noch – der Aetna beim Sonnenaufgang in der feierlichen Morgenstunde!«

Sie schloß für eine Sekunde die Augen. Die Szene an Bord der »Holstein«, als sie durch die Straße von Messina gefahren waren, stand sofort wieder greifbar vor ihren Sinnen.

Und unversehens – wie in einer heißen Flut, die über sie hinströmen und über ihr zusammenschlagen wollte – kam eine Furcht sie an.

Was tat sie nur? War sie nicht schon wieder ungehorsam? Was würde ihr Mann sagen, wenn er sie hier an der Seite des ›Aegypters‹ sähe? Sie hörte wieder seine scharf tadelnden Worte – die sie so stark gedemütigt, ja erniedrigt hatten.

Sie wußte gar nicht mehr, was recht und was unrecht war.

Sollte sie nun etwa lieber wie ein gemaßregeltes Schulkind sich scheu zurückziehen? Machte sie sich dann nicht lächerlich? Und verstärkte sie nicht die Schwierigkeiten, wenn sie dem Vetter jetzt plötzlich demütig und reuevoll gestand: daß sie sich seinetwegen mit ihrem Gatten gezankt hatte, daß sie seinetwegen im Groll auseinander gegangen waren?

Sie preßte die Zähne fest aufeinander und schüttelte den Kopf.

Schon rang wieder der alte Trotz in ihr.

Ihr jäher Stimmungswechsel war Succo entgangen. Ein baumlanger Kerl mit fast schwarzem Gesicht und leuchtenden Augen hatte sich ihm genähert. Succo sprach mit ihm arabisch. Darauf wandte er sich Jutta wieder zu. »Das ist Ibrahim. Der wird solange die Aufsicht für mich übernehmen. Ein Charakterkopf erster Ordnung, nicht? Es ist ein Syrer.«

Rasch wich nun die letzte Unentschlossenheit von ihr. Sie freute sich darüber, und ein gewisses Triumphgefühl prägte sich in ihren Zügen aus. Lebhaft nickte sie und stimmte ihm frisch und interessiert bei: »Ja, ein wundervoller Typ!«

»Wenn Cooksche Gesellschaften durch Bedracheïn durchkommen,« plauderte der ›Aegypter‹ weiter, »dann halt' ich ihn natürlich geheim, den braven Ibrahim. Sonst muß der arme Bursche immer bis zur Erschlaffung den Kodaks der Misses stillhalten.«

Auf ihrer gemeinsamen Wanderung herrschte eine solche Ungezwungenheit und Herzlichkeit zwischen ihnen, als ob sie sich schon seit vielen Jahren gut kennten. Dabei gab er sich jetzt ganz anders, als er ihr im Gedächtnis geblieben war. Eigentlich hatte der flotte, in Rede und Bewegung so lebhafte Sportsman, der sie unter fröhlichem Geplauder durch all die Fabrikgebäude geleitete, sehr wenig von dem ruhigen Schiffsgast, den sie bei der ersten Begegnung für einen Amerikaner gehalten hatte.

Die am Nilufer auf den Dampfer wartende, schokoladeessende, zigarettenrauchende, botanisierende und ansichtspostkartenschreibende Hotelgesellschaft war vergessen, ganz und gar vergessen. Mit großen, wißbegierigen Augen sah sich Jutta in dieser fremdartigen Umgebung um. Die vierjahrtausendalten Wunder der Gräberwelt von Sakkarah hatten sie nicht so gefesselt, wie dieses Stück modernen ägyptischen Lebens.

Es war auch innerhalb des Fabrikbetriebes noch eine alte Zeit neben der neuen zu erkennen. Das Maschinenhaus, die Maischekessel, in denen das frisch geschnittene Rohr zwischen Walzen ausgepreßt wurde, die tadellos sauberen Küchen, wo man den Saft mit Kalk ausschied, die Zentrifugenanlage und die Vorrats- und Versandräume des Rohzuckermaterials wiesen durchaus den modernen Anstrich europäischen Fabrikwesens auf. Sobald man aber in die Nähe der mit dem ersten Verputzen und Zurichten des Zuckerrohrs betrauten farbigen Handarbeiter gelangte, die in Gruppen vor den Nilschlammhütten mit gekreuzten Beinen auf der blanken Erde saßen, glaubte man sich wieder ins Pharaonenreich zurückversetzt. Das primitive Werkzeug, dessen sich die Männer und Knaben bedienten, das bunte Gemisch der Trachten, der eintönige, näselnde Gesang, womit sie ihre Arbeit begleiteten – das alles wollte sich gar nicht mit den blitzsauberen Maschinenräumen, dem gekachelten Kesselhaus, den an hohen Masten baumelnden elektrischen Bogenlampen vertragen.

»Als ich vor zweieinhalb Jahren herkam, sah noch die ganze Fabrik so aus, wie der Teil hier. Das war malerischer, werden Sie sagen. Aber ich kann Ihnen versichern, entschieden unpraktischer. Und ich hatte heillos viel zu tun, um der Poesie den Garaus zu machen.«

»Ein bißchen barbarisch finde ich diese Ziegelbauten allerdings.«

»Aber die Fabrik bringt, seitdem wir mit Dampf und Elektrizität arbeiten, rund siebenmal mehr Rohzucker auf den Markt. Und denken Sie, die Begasse – die Preßrückstände – hatte man früher einfach in den Nil geschüttet. Jetzt ist das ein besonderes Geschäft. Ich verkaufe sie als Feuerungsmaterial. Der Khedive ist ein moderner Mensch, der war gleich von Anfang an für meine Vorschläge. Bloß die Wirtschaft mit seiner Rechnungskammer. Nein, Sie glauben nicht, was es mit den Leutchen für Tänze gab. Die dachten natürlich: aha, der Giaur will uns bloß auf die Finger gucken und auch was davon abhaben!« Er lachte. »Erst als ich den Generalsekretär höchstselbst durch diese Tempeltür hier an die warme Frühlingsluft befördert hatte, sah man ein, daß auch der fetteste Bakschisch den störrischen Franken nicht lockte. Man sah's ein; aber begriffen – hat man's in der Rechnungskammer des Khediven natürlich noch immer nicht.«

»Wie Sie sich nur als Jurist in so ein ganz fremdes Gebiet haben einarbeiten können.«

»Ei, – der preußische Referendar kann doch alles. Oder etwa nicht?«

»Nun machen Sie sich wahrhaftig wieder lustig. Das ist gar nicht nett von Ihnen.«

»Also ehrlich gesagt: ich hab eine heillose Menge Zeugs vergessen müssen, eh ich für was tauglich war.«

»Und hinzulernen?«

»Wenig. Bißchen praktischen Blick muß man haben – das ist alles. Und allerdings Menschenkenntnis. Ja, mehr Menschen- als Warenkenntnis.«

»Wenn das wirklich so leicht wäre.«

»Na ja. Es waren freilich auch ein paar Zwischenstufen nötig. Die hab ich aber noch drüben im lieben Europa abgemacht.«

»Zum Beispiel welche?«

»Als Dockarbeiter – Winkeladvokatenschreiber – Gärtnergehilfe – Feuerversicherungsagent – Reisender einer Maischmaschinengesellschaft …«

»Das ist ja ganz amerikanisch.«

»Ja, die landläufige Karriere der preußischen Referendare ist's nicht.«

»Ihr Beruf freut Sie jetzt aber doch?«

»Sehr. Er ist noch interessanter, als wenn man in Bomst oder Meseritz den Amtsrichter spielt.«

»O, mein Gott, ja. Wenn ich bloß an unsere Verbannung in Schneidemühl zurückdenke.«

»Sie stammen doch gewiß aus keiner Juristenfamilie, gnädige Frau?«

Sie lachte. »Das haben Sie mir also doch angemerkt.«

»In Schneidemühl kann ich mir Sie wirklich nicht denken. Dämmerschoppen der Männer – Kaffeeschlachten der Damen … Deutschland, Deutschland über alles!«

»Oh, wie garstig: das letzte bißchen Vaterlandsliebe haben Sie also schon verloren?«

»Nein, gnädige Frau. Das kleine Philister-Deutschland der unentwegten Bierbank, das hasse ich. Aber das große, das wir hier draußen von Jahr zu Jahr wachsen sehen, das bewundere ich. So heiß, so stolz, daß … daß ich mich herzlich darüber freue, es vom grünen Tisch aus in seiner Entwicklung nicht mehr mitzuhindern.«

»Aber sind Sie garstig. Nun hatt' ich schon geglaubt, es käme ein netter, aufrichtig sentimentaler Stoßseufzer – und es ist doch bloß wieder eine Bosheit gegen den preußischen Richterstand daraus geworden. Nennen Sie das artig gegen Touristenbesuch?«

»Ich kann nichts dafür: die Juristenfrau in Ihnen vergess' ich eben immer wieder. Aber wenn Sie mir darum böse sind, verspreche ich reumütig Besserung.«

Jutta zeigte sich frisch und flott. Sie war nicht übelnehmerisch. Es erquickte sie, sich gerade heute, nach all der Einsamkeit, einmal so recht burschikos und skrupellos auszuplaudern. Mitten in den lustigen kleinen Wortgefechten äußerte sie immer wieder ihr lebhaftes Interesse für irgendein Detail des Fabrikbetriebs. Mehr und mehr vereinigte sich's aber doch auf die Leuteverhältnisse. Succo ließ einzelne der Arbeiter nähertreten, mit denen er ein paar arabische Worte wechselte. Es fiel Jutta auf, daß die Männer, so oft sie ihrem Herrn ins Auge sahen, den Blick verlegen vor ihr senkten.

»Weil Sie nicht verschleiert gehen,« erklärte ihr der ›Aegypter‹ lächelnd.

Endlich bekam sie auch Achmed zu sehen. Es war ein mageres Kerlchen, nur Haut und Knochen. Aber klassisch schöne Gesichtszüge hatte er, wie von Bronze. Und darin standen schwarze, flammende Augen. Das Weiß dieser Augen hatte den bläulichen Schimmer von Porzellan. Es lag ein stolzer Ausdruck im Blick des Knaben.

»Achmed, bietest Du der Lady keine Erfrischung an?« fragte Succo.

»Steht schon bereit, Sir. Scherbet, Limonade und Kaffee.«

Succo wandte sich dem Besuch zu. »Hier in der Halle, gnädige Frau. Was wählen Sie? Sie müssen durstig sein nach dem staubigen Ritt. Achmed hat gut gesorgt, nicht?«

»Ich staune. Sah er mich denn kommen?«

»Achmed sieht alles, weiß alles, kennt alles, vergißt nie einen Namen, nie ein Gesicht und nie ein Gespräch.«

»Nie ein Gespräch,« wiederholte Jutta, denn er hatte die letzten Worte mit einem eigentümlich sinnenden Ausdruck gesagt. Sie war auf die zur Halle führenden Steinstufen getreten, blieb vor dem Eingang aber stehen und wandte sich Succo zu. »Es gibt auch Themen, die man nicht vergißt. Die in uns weiter arbeiten. Ohne daß wir uns darüber aussprechen können. – Oder dürfen,« setzte sie etwas leiser hinzu.

Er blickte fragend zu ihr empor. Es stand noch immer ein Lächeln in seiner Miene, aber seine Augen verrieten doch eine gewisse Bewegung. »Nicht dürfen?«

»Wir sprachen von Achmed,« wehrte sie ab.

Er ließ sich nicht beirren. »Gnädige Frau – seit fast einer Woche trage ich eine Postkarte in der Tasche mit mir herum. Einen Kartengruß an eine alte Dame in Königsberg. Das Kärtchen hat in der Stille mit mir geplaudert – hat ein Gespräch fortgesetzt, an das Sie sich, wie mir scheint, jetzt nicht erinnern lassen wollen. – Oder dürfen.«

Nun schämte sie sich der Feigheit, ihm ausweichen zu wollen. »Auch ich hab mich immerzu damit beschäftigt,« sagte sie, die Stimme etwas senkend.

»Immerzu.«

»Es ist der Anlaß gewesen zu einer tiefen Verstimmung zwischen mir und meinem Mann.«

Sie atmete auf. So – nun hatte sie sich das Geständnis endlich von der Seele gerungen.

Er hatte die Fäuste in die Taschen seiner Sportsjoppe gesteckt. »Es ist mir seltsam mit dem ergangen, was Sie mir neulich gesagt haben. Ich wollte es vergessen. Ja, ich ärgerte mich schrecklich über mich, daß ich so sentimental war, es nicht vergessen zu können. Hatte geglaubt, ich hätte die Sentimentalität schon völlig verlernt – und nun kam ein solcher Rückfall. – Hatten Sie das eigentlich neulich beabsichtigt gehabt? Und hatten Sie das vorausgesehen?«

»Nein.« Sie sah ihm gerade und fest in die Augen. »Es war nur meine ehrliche Absicht, Sie – aufzuhetzen.«

»Aufzuhetzen. Ja, das ist wohl das rechte Wort.«

Achmed kam mit einem Tablett, worauf die schon angekündigten Erfrischungen standen. Die Zunge klebte ihr am Gaumen. Sie ging dem Araber ein paar Schritt weit in die Halle entgegen und nahm ein Glas Limonade.

Das Hauptgebäude, dessen Empfangshalle nach dem Hofe zu eine offene Rundbogentür besaß, war aus roten und weißen Quadern erbaut. Mit der Kuppel und der Andeutung von Minaretts in den beiden Ecktürmchen machte es einen moscheeartigen Eindruck. Die Halle war kreisrund und hatte Oberlicht. Der Marmorboden war mit Matten ausgelegt. Schöne Gebetsteppiche lagen da und dort. Die Einrichtung des Raumes – ein Etablissement von arabischen Intarsienmöbeln bei einem teppichbedeckten Ruhebett, englische Klubsessel, rotlackierte Korbtische, Palmen, Muschrabijen und Hocker in arabischer Aetzarbeit – war stillos, aber trotzdem ganz anheimelnd.

Es war kühl hier. Nachdem sie sich den ganzen Tag draußen im warmen Wüstensand herumgetrieben hatte, empfand Jutta den Schatten im ersten Augenblick angenehm. Sie fröstelte aber stark, sobald sie, durstig wie sie war, das Glas Zitronenwasser, worin kleine Eisstückchen schwammen, durch den Strohhalm ausgeschlürft hatte. Sie zog daher den weißen, gestrickten Sweater wieder an, den sie bis jetzt überm Arm getragen hatte.

Fritz von Succo half ihr und wies dabei nach dem mächtigen Kamin, der sich dem Eingang gegenüber befand. Ein lustiges Feuer prasselte dort. »Achmed hat auch das vorausgesehen.«

Es lockte sie, sich ein wenig von der Glut bestrahlen zu lassen. Sie trat zum Kamin und hielt die Hände über die Flamme. Sinnend blickte sie vor sich nieder.

»An Bord hatt' ich den Eindruck,« begann sie wieder langsam, »als läge Ihnen herzlich wenig an einer sogenannten Ehrenrettung in den Augen Ihrer Landsleute. Und das verdroß mich.«

»Ich sagte mir: ich werde Deutschland ja doch nie wiedersehen. Und wie man am Pregel und an der Spree über mich urteilt, das kann mich hier am Nil ja ganz und gar nicht berühren.«

»Inzwischen hat sich Ihre Absicht geändert?«

»Ja, gnädige Frau. Ihre Worte sind mir nachgegangen, haben mich nicht mehr losgelassen.«

»Sie empfinden, daß Sie's wenigstens einem Wesen – am Haff da droben – schuldig sind, die Dinge endlich einmal in die rechte Beleuchtung zu rücken?«

»Schuldig? Nein. Ich bin keiner Menschenseele mehr etwas schuldig. Für jede Schuld, die ich mir vorwerfen muß, hab' ich die Quittung in Händen.«

Sie sah ihn fragend an.

»Die Versündigung gegen das Gesetz hab' ich im Gefängnis abgebüßt. Die Schuld gegen meine Familie hab' ich als hungernder und frierender Dockarbeiter abgetragen. Bis zum letzten Titelchen.«

Ein paar Augenblicke schwiegen sie beide. Sie hatte dicht am Gitter des Kamins Platz genommen. Er lehnte an einem Tisch, noch immer die Fäuste in den Taschen.

»Ich glaube wohl,« sagte sie langsam, »daß so etwas hart und verschlossen macht.«

»Und doch – warum soll ich's Ihnen nicht ruhig eingestehen? – an dem Abend nach dem Gespräch mit Ihnen in Kairo, da ist mir's zum erstenmal wieder seit Antwerpen passiert, daß ich geheult hab'.«

Sie schluckte. Ihr ganzes, weiches, weibliches Empfinden regte sich.

»Aber die Anfechtung ist vorbei,« fuhr er fester fort. »Gottlob. Als ich erst hier wieder in der Arbeit steckte, da kam ich so leidlich zur Vernunft. Und es ist jetzt gar nichts mehr von der Zerknirschung des ›verlorenen Sohnes‹ in mir.«

Er warf von den torfähnlichen Begassestücken, die neben dem Kamin lagen, ein paar ins Feuer und blickte in die aufzüngelnden Flammen.

»Die hab' ich auch nicht wecken wollen,« sagte sie, »gewiß nicht. Es war eher Egoismus. Oder Trotz. Oder revolutionärer Geist – Auflehnungsbedürfnis. Wie Sie's nennen wollen.«

»Vielleicht ist's auch bloß ein sehr empfindsamer Gerechtigkeitssinn,« sagte er.

Nun ging sie immer mehr aus sich heraus. »Ja, vielleicht. Sehen Sie, seitdem ich dem großen Kreis Succo angehöre, hab' ich immer anbetend vor all der feierlichen Würde stehen müssen. Ich kam mir so klein vor, so demütig und dankschuldig.«

»Onkel Bodo – der Regierungspräsident,« warf er lächelnd ein.

»Und nun seh' ich, wie ungerecht, wie schrecklich ungerecht Succos im Grunde doch sind, wie all das Selbstbewußtsein doch nur geborgt ist. Und ich mag die Heuchelei und Anmaßung nicht mehr mitansehen – und ich finde es grausam, ich finde es feige, daß man nicht nur Sie büßen läßt, sondern auch eine ganz Unschuldige. – Ihre Mutter!!«

Unvermittelt wandte er sich ab und ging ein paar Schritt weit durch die Halle. »Ja – nun kommen wir zusammen!« Er zog die Fäuste aus der Tasche und schüttelte sie trotzig. »Fünfmal bin ich in England gewesen – aber um Deutschland bin ich immer im Bogen herumgefahren. Weil ich mich schämte. Nicht für mich – nicht meinetwegen. Ich hatte mich ja wiedergefunden. Mich und meinen Stolz. Aber daß sie sich durch die Verwandtschaft in diese Unterwürfigkeit, in diese Abhängigkeit hat drängen lassen – in dieses verdammte demütige Schuldbewußtsein …!«

Seine Augen blitzten. Auch Juttas Wangen hatten sich gerötet. Sie war ganz Nerv, ganz Temperament – und sie wuchs, je mehr sie sich in die Sache verbohrte.

»Und Sie hätten doch nicht im Bogen um Deutschland herumfahren sollen. Der einzige, der ihr hätte beistehen, der sie hätte aufrichten können, der durfte nicht nur aus der Ferne grollen und verachten. Aug' in Aug' hätten Sie vor sie hintreten müssen – Anerkennung fordern – oder ihr wenigstens die Mittel geben müssen, sich freizumachen. Denn in Ihrer Mutter demütigt man heute noch täglich, stündlich Sie

Tief atmend standen sie einander gegenüber.

»Oh – Sie verstehen's, einen aufzurütteln – aufzupeitschen.«

»Ich freue mich, wenn mir's endlich gelungen ist.«

»Ich sagte Ihnen ja: ich war's nicht mehr losgeworden. Und ich sann und sann, wie ich Sie wohl noch einmal sprechen könnte, Sie noch allerlei fragen … Denn ich fühlte, daß ich an Ihnen einen Bundesgenossen haben könnte. Den ich natürlich brauche, so weit von dort entfernt.«

»Also soll ich doch wohl so eine Art Parlamentär abgeben?«

»Ja, jetzt … jetzt bitte ich Sie darum.«

»Jetzt. Weil Sie gemerkt haben, daß es nicht bloß das weibliche Mitgefühl mit Tante Eveline ist, sondern auch der Trotz gegen Onkel Bodo?«

»Ja, gnädige Frau.«

Achmed war eingetreten. Er brachte auf einer Schale eine Visitenkarte. Nachdem Succo mit dem jungen Araber ein paar Worte gewechselt hatte, wobei er unlustig den Kopf schüttelte, wandte er sich dem Gast wieder zu. Jutta hatte inzwischen nach der Uhr gesehen, bestürzt darüber, wie die Zeit dahingeeilt war. Es ging schon auf sieben.

»Ein Landsmann will sich den Betrieb ansehen. Aber es ist gleich Sonnenuntergang, da verrichten die Leute ihr Gebet und nehmen jede Störung übel.«

Er las von der Karte den Namen ab: »Marcks, Apotheker, Dresden.«

»Oh, der Weltreisende aus Dresden-Altstadt!«

»Sie kennen ihn – er ist von Ihrem Hotel?«

»Nein, er wollte nach Heluan, soviel ich mich entsinne. Aber an Bord der ›Holstein‹ war er mein Tischnachbar.«

»Wenn Sie befehlen, lasse ich ihn natürlich bitten.«

»Ums Himmels willen: nein!«

Sie gab in ihrer drolligen Art eine Schilderung von ihm – und er lachte herzlich.

»Aber nun muß ich ihn erst außer Sicht kommen lassen. Da nehm' ich die Gastfreundschaft Ihres Kamins noch für ein paar Minuten in Anspruch.«

Der Ton zwischen ihnen ward nun wieder leichter, eine gewisse kameradschaftliche Ungezwungenheit kam auf.

»Also hier werden immer die ägyptischen Nabobs empfangen, die für ein paar Millionen Zucker bestellen?«

»Nein, die Halle hier ist bloß Attrappe. Nabobs stellen sich zum Zuckereinkauf auch verhältnismäßig selten ein. Die Bestellungen werden in Kairo entgegengenommen. Wenn Sie also für Ihren neuen Berliner Haushalt den Khediven in Nahrung setzen wollen, dann müßt' ich mich erst telephonisch mit der Zentrale verbinden lassen.«

Sie hatte sich beim Kamin auf einen Ebenholzhocker mit Intarsienarbeit von Perlmutter gesetzt, hielt ihre Hände über die Glut und sah sich ein wenig um.

»Hier ist ja alles sehr primitiv,« sagte er, ihren Blicken folgend. »Auch meine Junggesellenwohnung. Dort nebenan hab' ich noch ein paar Räume. Im ganzen drei: Speisezimmerchen, Schlafstube und Bibliothek.«

»Bibliothek?«

»Nur klein natürlich. Aber doch mein größter Stolz.«

»Nach Ihrer Vorliebe für die Juristerei,« neckte sie ihn, »setze ich voraus, daß Sie darin dem Römischen Recht und dem Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch einen Ehrenplatz angewiesen haben.«

»Diesmal sind Sie der Spötter.«

Sie war wieder sehr lebhaft und sprunghaft. Nach der gemütlichen Ecke mit dem Schreibtisch zeigend, fragte sie: »Haben Sie selbst das alles so hübsch arrangiert?«

»Bewahre. Alles Achmed. Der hat sich bei unserem Besuch in England natürlich überall umgesehen mit seinen rabenschwarzen Augen – und das ist der Erfolg. So ähnlich war die Halle bei der Lady Salmour in London eingerichtet. Natürlich viel kostbarer dort.«

»Oh – die Dame von der ›Holstein‹?«

»Ja. Sie hat am Brechin-Place eine entzückende Cottage.«

»Sie kennen sie schon länger?«

»Als ihr Mann noch lebte, waren sie einmal einen Winter lang in Kairo. Daher. Sie ist seit anderthalb Jahren Witwe.«

»Eine schöne Erscheinung. Echt englische Aristokratie. Nicht? – War sie schon hier in Bedracheïn?« fragte sie unvermittelt.

»Ja. Vorgestern. Und ich soll sie übermorgen in Kairo im Hotel zum Lunch besuchen. Aber es ist jetzt kaum ein Abkommen von hier. Ich habe gar zu viel dringende Arbeit vorgefunden.«

Jutta stand auf. »Und da widmen Sie sich auch noch den Touristen, die sonst die Wartezeit im Lärm da draußen totschlagen müßten.« Sie knöpfte ihren Sweater zu. »Uebrigens ist's darüber fast finster geworden.«

Er wehrte ihr. Bis zur Ankunft des Dampfers habe sie noch reichlich Zeit, meinte er. Und setzte lächelnd hinzu: »Ja, nun gehen Sie – und sind ganz stolz darauf, dem Halbwilden von Bedracheïn die Seelenruhe geraubt zu haben.«

»Stolz? – Nein, eher ist mir's ein bißchen bange geworden bei alledem. Denn meine Schelte werd' ich schon abbekommen, das weiß ich. Ich hab' sie ja wohl auch verdient. Man macht nicht ungestraft Palastrevolutionen. Aber bin ich erst wieder daheim, dann freue ich mich doch.«

Nach kurzem Sinnen fragte er: »Und wenn ich Sie nun recht herzlich bitte – werden Sie eine Nachricht von mir nach Deutschland mitnehmen? Oder die, die ich nach Königsberg an die einsame Dame schicken will, drüben bei Gelegenheit kommentieren?«

»Gern.«

Sie standen Schulter an Schulter im offenen Portal und blickten über die Nillandschaft hin. In der stillen Luft lagen wundervolle Orangetöne. Das Wasser des breiten Stromes opalisierte – auch die weißen, kreuzweis gestellten Segel der Dahabijen schwammen in rosafarbenem Licht.

Fritz von Succos Blick wanderte nun wieder zu seinem jungen Besuch.

»Es ist noch Wochen – noch Monate bis dahin. Werden Sie's inzwischen auch nicht vergessen, gnädige Frau?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Oder bereuen?«

»Ich wäre ja erstickt, wenn ich mir's nicht hätte herunterwälzen dürfen von der Seele.«

Ohne Verabredung stiegen sie nun nebeneinander die Stufen hinab und wanderten in die sinkende Sonne hinein, die sich wie der Kuppelbau eines in Flammen stehenden Domes gerade über den Pyramiden von Gizeh erhob. Eine weiche, verträumte Stimmung herrschte. Nirgends war ein Mensch zu sehen. Die Araber verrichteten ihr Abendgebet. Man hörte aus der Richtung des Scheichgrabes den näselnden Gesang eines Muezzin. Dazwischen den Flügelschlag mächtiger Taubenscharen – das Schreien der Grautiere – irgendwo in der Ferne das Bellen eines Schakals.

Die feurige Glocke über der libyschen Wüste senkte sich immer tiefer – jetzt ragte schon das Dreieck der Cheops-Pyramide wie ein Turmaufsatz darüber hinaus – bläuliche Schatten senkten sich aufs Niltal, und eine ganz eigenartige Dämmerung, in der die Farben eher noch leuchtender wurden, als daß sie verblaßten, brach herein.

Jutta war weich gestimmt. Ihr leiser, ergriffener Ton, ihre ganze Erscheinung, der Kampf, in dem sie selbst noch stand – all das wirkte auf Fritz von Succo. Erinnerungen lösten sich aus. Er erzählte ihr im verträumten Hinschlendern noch dies und das von seiner Mutter – aus der Zeit vor seinem Unglück.

Und in dieser stimmungsvollen Aussprache stärkte sich in Jutta wieder das Bewußtsein: daß sie eine gute Tat vollbracht hatte.

Er hielt beim Abschied längere Zeit ihre Hand in der seinen, beugte sich schließlich auf ihre Finger nieder und küßte sie.

Sie duldete nicht, daß er sie weiter als bis ans Tor begleitete.

Auf dem Nil kam gerade der strahlend erleuchtete Salondampfer zu Tal, den die Hotelgesellschaft zur Heimfahrt benutzen wollte. Jutta legte den kurzen Weg durch das Palmenwäldchen bis zur Landungsstelle in raschem Schritt zurück. Sie hoffte, daß in der allgemeinen Aufbruchsunruhe ihr Dazustoßen nicht weiter bemerkt werden würde. Aber sobald sie in den Gesichtskreis der Gesellschaft geriet, ging eine auffällige Bewegung durch die verschiedenen Gruppen. Man flüsterte, warf einander halb verstohlene Blicke zu, man steckte die Köpfe zusammen.

Jutta nahm dem Eselsjungen das Plaidbündel, das er getragen hatte, ab und zog ihren weißen Lodenmantel daraus hervor. Nun sprang der ›Kohlenbaron‹ diensteifrig herzu, um ihr zu helfen und wieder den Versuch einer Unterhaltung anzustellen. Man hätte sie vermißt – Herr Marcks wäre zufällig auch hier gewesen, und der meinte, er hätte sie drinnen in der vizeköniglichen Zuckerfabrik gesehen – deren Direktor doch wohl der ›bewußte Mr. Succo‹ sei –?

Lässig antwortete sie, in ihren Gedanken weit ab vom Frager und von der übrigen Gesellschaft.

Festlich, feierlich, mit dem weißen elektrischen Licht siegreich ankämpfend gegen die Karmoisin- und Orangetöne der langsamen Dämmerung, hielt der fast vollbesetzte Dampfer auf die Landungsstelle zu. Vom Oberdeck klang die Musik einer italienischen Wanderkapelle: Geigen, Harfe und Flöte.

In breitem Zuge drängte die Schar der Sakkarah- und Memphisbesucher über die rasch hergestellte Verbindung. An Deck war jeder Platz besetzt, die Ankömmlinge mußten Schulter an Schulter zwischen den Bankreihen stehen bleiben.

Jutta stand neben Frau von Druhsen, bemerkte es zuerst aber nicht, denn sie hielt sich von ihr abgewandt. Als sie die Dame aber erkannte und, so harmlos ihr möglich war, ansprach, geschah etwas Seltsames: Frau von Druhsen musterte sie strafend von oben bis unten, ohne eine Silbe zu erwidern, und wandte sich darauf ostentativ von ihr ab.

In diesem Augenblick passierte das Nilboot die vizekönigliche Zuckerfabrik.

Auf der kleinen Terrasse vor der moscheeartigen Halle stand Fritz von Succo und blickte dem Dampfer nach. Jutta erkannte nur seine Umrisse, aber sie bemerkte, daß fast alle Mitglieder der Hotelgesellschaft mit Ferngläsern nach dem Ufer Ausschau hielten.

Und wieder flüsterten sie miteinander – und warfen neugierig forschende Blicke auf die isoliert in ihrer Mitte weilende Landsmännin.

*

Als Jutta am Morgen nach der Nilfahrt erwachte, hob sie rasch den Kopf und sah sich durch das Moskitonetz im Halbdämmer um.

Gustavs Bett war leer.

Nur ganz allmählich entsann sie sich der Vorgänge vom Tage vorher.

Ihr Erlebnis wollte ihr jetzt fast wie ein Traum vorkommen.

Woher hatte sie nur den Mut genommen? Und woher sollte sie den Mut nehmen, ihrem Manne alles zu sagen?

Sie hatten sich des Vetters wegen im Streit getrennt. Gustav würde also voraussetzen, daß sie den Besuch in Bedracheïn nur ausgeführt hatte, um ihn noch mehr zu reizen.

Ziemlich niedergedrückt, von den Strapazen der großen Tour zudem körperlich zerschlagen, zog sie sich an. Dabei fiel ihr wieder das verletzende Benehmen der Frau von Druhsen ein, die sie auf der Heimfahrt ›geschnitten‹ hatte. Eine gewisse Unstimmigkeit hatte zwischen ihnen ja schon an Bord bestanden. Jutta konnte diese Sorte Frauen nicht leiden – und sie besaß nicht die kühle Routine, es zu verschleiern. Jedes Wort, das Frau von Druhsen sagte, reizte Jutta zu einer Erwiderung, denn alles, was sie vorbrachte, war so unglaublich rückständig. Sie hatte die Dame bisher stets mit leiser Ironie behandelt – einer Ironie, die so fein war, daß nicht einmal Gustav sie jedesmal merkte. Immerhin hatte sie vor sich selber kleine Triumphe der Redekunst gehabt.

Aber dem eisigen Schweigen gegenüber fühlte sich Jutta machtlos.

Auch für die übrigen Teilnehmer des Ausfluges war sie auf der Heimfahrt ›Luft‹ gewesen.

Nur Herr Schneider, der Kohlenbaron, hatte Anschluß an sie gesucht. Und den hatte sie – wie immer – abfallen lassen.

Gestern war ihr Herz so voll gewesen, war so unendlich viel Neues, Großes, Schönes, Wunderbares auf ihre Sinne eingestürmt, gestern hatte sie sich noch gar nicht recht klar gemacht, was dieser Umschwung bedeuten sollte. Aber jetzt in der nüchternen Morgenstimmung, in der Einsamkeit des Hotelzimmers, jetzt wuchs ihr Unbehagen darüber.

Der erste Schritt unter die Leute brachte ihr neue Ueberraschungen. Als sie die Halle durchmaß, um sich zum Frühstückssalon zu begeben, begegnete ihr die Gesellschafterin der Freifrau von Druhsen. Bisher hatte sie sich vor dem Redeschwall, den überflüssigen Fragen, den wichtig vorgetragenen meteorologischen Vermutungen der jungen Dame nie schützen können: diesmal ging Fräulein von Wehl mit einem kaum merklichen Kopfneigen stumm an ihr vorüber. Frau von Druhsen selbst, die noch an ihrem gewohnten Platz saß, als Jutta den Teesalon betrat, stand rasch auf und begab sich in den Garten, auffällig interessiert nach einem Boskett ausschauend, obwohl dort gar nichts zu sehen war. Trotzdem Jutta sich ärgerte, entging ihr doch die gewisse Komik der Situation nicht: einer der Kellner sprang diensteifrig herzu und riß die Gartentür auf – und Frau von Druhsen spazierte richtig hinaus und richtete an den Kellner, nur um beschäftigt zu sein, eine botanische Frage.

Es blieb also dabei: das Tischtuch zwischen ihnen sollte zerschnitten sein.

Daß der Grund dafür in ihrer Haltung Fritz von Succo gegenüber zu suchen war, das schien ihr zweifellos. Unklar blieb ihr nur, was gerade Frau von Druhsen veranlassen konnte, in einer Angelegenheit der Familie Succo so ohne weiteres Partei zu ergreifen.

Jutta suchte sich über die gesellschaftliche Maßregelung hinwegzusetzen, aber ein Unbehagen blieb doch zurück.

Und bildete sie sich's nur ein, weil sie jetzt etwas argwöhnisch geworden war, oder hatte der Klatsch der Landsleute wirklich schon insgeheim seine Schuldigkeit getan: auch aus ein paar Damengruppen der amerikanischen Gäste streiften sie eigentümlich forschende Blicke.

Das erste Gespräch an diesem Morgen hatte sie mit dem Hotelmanager, der sie fragte, ob sie sich an dem Ritt nach dem Dorfe Abu-Roasch beteiligen würde. Dort lag, wie sie gestern gehört hatte, eine Abteilung des Kamelreiter-Regiments; die Besichtigung der Kaserne war schon vor mehreren Tagen verabredet worden. Jutta hatte keine Aufforderung erhalten, mitzukommen; sie lehnte also das Anerbieten des Managers, noch rasch Pferd, Sandschneider oder Reitesel für sie zu bestellen, mit kurzem Dank ab. Uebrigens setzte sich die Karawane, die sich draußen an der zu den Pyramiden emporführenden Straße zusammengefunden hatte, soeben schon in Bewegung.

Im Begriff, die Hauptstraße zu verlassen und auf den nach Abu-Roasch nördlich ins Niltal führenden Weg abzubiegen, gab's plötzlich eine Stockung in der Kolonne. Man hörte ein paar bewundernde Ausrufe – die hohe Stimme des Gesellschaftsfräuleins – gleich darauf huschte ein schlanker, junger Araber im weißen Burnus raschen Schrittes in den Hotelgarten.

Und nun entrang sich auch den Lippen all derer, die auf der Terrasse und in der Halle saßen und standen, ein überraschtes »Ah!« Der junge Araber hielt nämlich einen Riesenstrauß von wunderbaren La-France-Rosen in der Hand.

Jutta erkannte den Boten sofort. Es war Achmed.

Schnurstracks hielt er auf sie zu.

Wieder hatte sie eine gewisse Unfreiheit zu überwinden – ebenso wie gestern, als Achmeds Herr sich ihr genähert hatte. Und inzwischen war die Lage ja noch kritischer für sie geworden: man beobachtete sie von allen Seiten – Fräulein von Wehl war sogar eigens unter irgendeinem Vorwand nach der Gartenpforte zurückgekehrt, um den Verbleib des jungen Arabers und des Rosenstraußes festzustellen. Aber gerade das neugierige Köpfewenden, das Tuscheln und Sichverwundern der Hotelgäste forderten Juttas Trotz heraus.

Als Achmed vor ihr hielt und mit seinen großen schwarzen Augen sie fragend ansah, nickte sie ihm freundlich zu. Sie nahm den Strauß, den sein Herr ihr schickte, entgegen und vergrub für ein paar Sekunden ihr Antlitz in den Rosen, deren Duft einer breiten Welle gleich über die Halle flutete.

Achmed überbrachte ihr auch einen Brief.

Sie zwang sich zur vollen äußeren Sicherheit, zum Selbstbewußtsein, sie wollte mit keinem Blick von den mehr oder minder erstaunt ihr zugewandten Mienen Notiz nehmen. Mitten in der Halle ließ sie sich an einem der leeren Tische nieder, legte die Rosen darauf und begann zu lesen.

Der Brief enthielt eine Einlage: das Schreiben, das Fritz von Succo an seine Mutter richtete und das er nicht verschlossen hatte, weil sie es lesen sollte.

Je weiter sie in der Lektüre kam, desto mehr versank die Umgebung für sie: – aus diesen Blättern sprach in trotzigen, bitteren und doch stolzen Worten ein ganzes Menschenschicksal.

»… Daß ich in all dem Elend nicht untergegangen bin, Mutter, das ist weder Dein noch Onkel Bodos Verdienst. Ich hab mir ganz allein aus dem Hafenschlamm der Antwerpener Dockarbeitergesellschaft wieder herausgeholfen. Ja, wenn ich die Haltung der Verwandtschaft überlege, so komme ich sogar zu der Ueberzeugung: sie hat gar kein Interesse daran gehabt, daß ich mir heraushalf. Im Gegenteil, sie hat mir's damals schwer verübelt, daß ich mir nicht durch eine wohlgezielte Revolverkugel einen kavaliermäßigen Abgang aus meinem selbstverschuldeten Unglück verschafft habe. Vielleicht hast Du's damals selbst nicht anders erwartet – und hattest Dich in das Unvermeidliche schon gefügt. Nun, ich bereue es aber heute trotzdem nicht, daß ich dem ungeschriebenen Sitten- und Ehrenkodex der Familie Succo getrotzt habe. Denn hernach – draußen in der Welt – hab' ich gelernt, derlei Sittengesetze zu belächeln. Der Kampf ums Dasein hat mich gezwungen, über die chinesische Mauer, mit der Ihr Succos Euer Denken, Euer Empfinden umgebt, hinüberzuklettern. Und ich bin auf dieser Klettertour allmählich zu ein paar Aussichtspunkten gelangt, die mich für all die Strapazen entschädigt haben. Ich sehe darum das Leben Eures Kreises heute von einer ganz anderen Warte, als Ihr es damals gesehen habt – und vielleicht noch immer seht. Das ist auch der Grund, weshalb ich so lange geschwiegen habe: ich mußte ja fürchten, daß wir einander nicht mehr verstehen würden. Das klingt überheblich, nicht wahr? Ist's aber nicht. Denn wenn Du das, was ich in diesen sieben mageren Jahren erreicht habe, mit dem Succoschen Maßstab missest, so kann es Dir nicht sonderlich imponieren. Ja, vielleicht gibst Du ohne weiteres Onkel Bodo recht, der gewiß spöttisch lächelnd ausrufen wird: mein Gott, einer aus dem Heer der Beamten des Khediven ist er nun glücklich geworden, wo er's bei seinem hübschen Talent und seinen glänzenden Beziehungen mit Leichtigkeit zum Ersten Geschäftsträger des Deutschen Reiches dort hätte bringen können! Aber vielleicht hast Du in stillen Stunden in dieser langen Spanne Zeit Dich von dem Groll gegen Deinen aus der Art geschlagenen Sohn freigemacht. Und dann genügt Dir's vielleicht doch, daß er immerhin den Mut gehabt hat, kein Lump zu werden. Wozu ihm im Lauf dieser sieben langen Jahre so reichliche Gelegenheit geboten worden ist. In diesem Falle würde ich meinen nächsten Urlaub dazu benutzen, wieder einmal nach Deutschland zu kommen und Dir Guten Tag zu sagen. Schreibe also dem vizeköniglichen Zuckerfabrikdirektor, was der Antwerpener Dockarbeiter damals trotz Bittens und Bettelns nicht hat in Erfahrung bringen können: ob ihn auch seine Mutter für alle Zeiten aus der Liste der Lebenden gestrichen hat …«

Achmed stand noch immer auf Antwort wartend draußen in der Sonne.

Jutta hatte das Schreiben zweimal gelesen – aber sie blieb unschlüssig in der Halle sitzen und sann und sann.

Sie suchte sich das Charakterbild von Tante Eveline zu vergegenwärtigen. So unscheinbar war ihr die alte Dame erschienen. Ja, entsann sie sich recht, so war sie ihr damals geradezu altjüngferlich in all ihrer Prüderie und Unselbständigkeit vorgekommen.

Mit raschem Entschluß erhob sie sich und trat ins Portal. Sofort stand Achmed ihr gegenüber.

»Ich will Deinen Herrn sprechen, Achmed. Wo ist er?«

Achmed erwiderte: der Effendi weilte in Nezlet el-Akta, zwei Kilometer weiter südlich im Niltal, auf einer der Plantagen.

Am liebsten wäre Jutta, wie sie ging und stand, mit Achmed mitgelaufen.

Aber sie fühlte jetzt ordentlich körperlich die neugierigen, gespannt auf sie gerichteten Blicke der Hotelgäste. Sie wußte: sie würde jeden Schritt, den sie tat, hernach verantworten müssen. Sie war ihrem Manne Rechenschaft schuldig.

Ein trotziges Lächeln zuckte da plötzlich in ihrer Miene auf.

»Laufe zurück, Achmed, und sage Deinem Herrn: es würde mich freuen, ihn hier begrüßen zu dürfen.«

Achmed war gleich darauf jenseits der Sykomorenallee entschwunden. Jutta kehrte zum Tisch zurück, überlas noch einmal den Brief und senkte dann, die Augen schließend, ihr Antlitz wieder auf die La-France-Rosen, die das Schreiben des ›Aegypters‹ begleitet hatten.

Nein, nein und tausendmal nein, sie bereute ihren Auftrag doch nicht! … Wenn sie Fritz von Succo in der Abwesenheit ihres Mannes hier im Hotel empfing, dann mußte Gustav ihn hernach ebenfalls empfangen. Er scheute das Gerede und den Klatsch der lieben Nächsten – sie nicht. Und so zwang sie ihn, dem unhaltbaren Zustand ein Ende zu machen. Wenigstens kam auf diese Weise endlich einmal eine Aussprache der beiden Vettern zustande. Fritz sollte so offen und ehrlich zu ihrem Mann sprechen, wie er zu ihr gesprochen hatte. Gustav mußte ihn anhören – und danach mochte er anklagen, verteidigen oder richten. Aber dieses Schweigen hatte dann ein Ende – dieses Ausweichen gab es dann nicht mehr für ihn. Denn er konnte doch unmöglich in den Augen seiner Frau für feige gelten wollen.

Jutta wußte, daß es ein gefährliches Spiel war, auf das sie sich da einließ. Aber der trotzige Stolz, der sie nun erfüllte, ließ keine Furcht und keine Unsicherheit mehr zu.

Als sie hernach von ihrem Zimmer aus in die kleine Veranda trat und die Rosen dort in der großen irdenen Vase unterbrachte, die auf dem Rohrtisch stand, schweifte ihr Blick über das Niltal – und schon in beträchtlicher Ferne gewahrte sie die schlanke Knabengestalt im weißen Burnus, die dem wie eine Insel aus den grünen Plantagen ragenden Dorf Nezlet el-Akta zustrebte.

Jetzt bewegte sie aber eine neue Sorge: – ob der ›Aegypter‹ ihrem Ruf überhaupt folgen würde?

Eine unruhevolle halbe Stunde verging. Sie setzte ihre gestrickte weiße Sportmütze auf und wanderte im Gärtchen vor dem Hotel auf und nieder. Die Sonne stach gewaltig. Schließlich kehrte Jutta heiß und nervös wieder in die Halle zurück.

Im offenen Portal stand sie dann lange und wartete – von allen Seiten begafft, das fühlte sie.

Equipagen und Fiaker, Automobile und die elektrische Straßenbahn brachten jetzt, in den Hauptbesuchsstunden der Pyramiden, Hunderte von Fremden nach Gizeh. Schon frühzeitig setzte sich der bunte Zug der Hotelgäste auf den Boulevards von Kairo in Bewegung, überschritt auf der langen Gitterbrücke den Nil und begann auf der breiten Sykomorenallee eine tolle Wettfahrt. Dicke, weiße Staubwolken hüllten auch jetzt die Straße ein.

Juttas Blick heftete sich immer gespannter an den schmalen Grenzstrich zwischen dem fruchtbaren, saatgrünen Niltalland und der braungelben Wüste mit ihren ins Unendliche zerfließenden Wellenlinien.

Lange Karawanen zogen da am Wüstenrand entlang. Hintereinander, in feierlicher Prozession, schritten die Kamele. Vornehme Araber in weißen Gewändern hockten darauf. Sie saßen auf stuhlartigen Sätteln, das Schiff der Wüste an einem einzigen Strick steuernd. Bei jedem Schritt, den das Tier ausführte, machten die Reiter eine nickende Bewegung. Eines der Kamele trug statt des Sattels hüben und drüben je einen langgestreckten Korb, die beide durch ein Hängegerüst miteinander verbunden waren. In den Körben befand sich ein halbes Dutzend eng beisammen hockender Weiber. Sie waren in ihren schwarzen Tüchern und dicken, schwarzen Schleiern unansehnlich wie Plaidbündel. Aber malerisch wirkte doch das ganze Bild. Klar und zum Greifen deutlich, trotz der weiten Entfernung, waren vor allem die eigenartigen Silhouetten, die sich jetzt, wo die Karawane auf den Rücken eines der kleinen Höhenzüge gelangte, gegen den blauen Himmel absetzten.

Plötzlich tauchte über dem grünen Fruchtland des Niltales ein weißer Punkt auf, der rasch und stetig wuchs.

Ein Schimmel – ein Reiter.

Im schlanken englischen Trab hielt der Reiter auf die Sykomorenallee zu. Ein paarmal wechselte er die Gangart – setzte mit kurzen Galoppsprüngen über die kleinen Kanalgräben hinweg, die von der winterlichen Nilüberschwemmung her noch voll Wasser standen.

Immer deutlicher erkannte Jutta die Gestalt. Nun erkannte sie auch schon die Gesichtszüge.

Aus dem sonnegebräunten Antlitz blitzten helle, trotzige Augen.

Es lag etwas wie Siegesbewußtsein in diesem Ausdruck.

Wenige Minuten später saß Fritz von Succo drüben im Hof des Stallgebäudes vom Menahouse ab und kam durch den Vorgarten auf die Halle zu, in deren offenem Tor Jutta seiner harrte.

»Da bin ich, gnädige Frau.«

Jutta hatte ihm die Hand gereicht. Sie fühlte dabei ein innerliches Zittern.

»Ich mußte Sie noch einmal sehen. Ich habe eine Bitte an Sie. Sie sollen mit meinem Mann sprechen, sobald er aus dem Fajum zurück ist. Hinter seinem Rücken kann ich den Auftrag nicht übernehmen. Ich darf es nicht – will es auch nicht. Aber ich werde ihn bestimmen – und Sie müssen mir's möglich machen – zwischen Ihnen und Ihrer Mutter zu vermitteln.«

Er bemerkte ihre Erregung – er sah auch die neugierigen Blicke, mit denen man sie und ihn von allen Seiten maß. Ein Lächeln trat in seine Züge.

»Also – ein neues Programm, gnädige Frau?«

»Sie dürfen's nicht mißverstehen. Es ist bloß die allernotwendigste Rücksicht. Und die schädigt die Sache selbst nicht, im Gegenteil, sie fördert sie.«

»Oh, ich verstehe wohl. Aber es ist gegen die Verabredung. – Sie überrumpeln mich. Wissen Sie das?«

Sie atmete tief auf. »So geht es doch nicht weiter.«

»Sie glauben also: der Weg zum Herzen der alten Dame in Königsberg führt auch heute noch durch die Succosche Torwache. Einen direkteren gibt es nicht?«

»Vorläufig nicht. Das ist traurig, ich gebe es zu. Aber Ihr Brief allein – würde daran auch noch nichts ändern.«

»Er hat Ihnen nicht gefallen?«

»Ich fürchte, daß die Adressatin ihn nicht versteht.«

Sie hielt den Brief unschlüssig in der Hand, und er griff danach.

»Dann geben Sie mir ihn zurück.«

»Nein. Was wollen Sie damit?«

»Ihn zerreißen.«

»So. Und alle guten Vorsätze sind wieder in den Wind geschlagen?«

»Sind sie denn wirklich gut gewesen, diese Vorsätze?«

Sie sah ihm ernst ins Auge. »Jetzt, wo ich Ihren Brief gelesen habe, könnte ich's fast bezweifeln.«

»Ich sagte es Ihnen ja im voraus: ich nahe meiner Mutter nicht im Büßergewand des verlorenen Sohnes. Für die Rolle hab ich kein Talent. Und hab auch keinen Anlaß, sie zu übernehmen. Bitten und betteln kann ich nicht mehr. Das war damals. Heute kann ich nur fordern.«

»Drum eben brauchen Sie einen Beistand. Einen guten und ehrlichen Anwalt Ihrer Sache. Der im anderen Lager Gewicht und Stimme hat. Jedenfalls mehr als ich.«

»Wer soll das sein?«

»Mein Mann.«

»Vetter Gustav. So, so.«

»Es wird einen Kampf kosten. Das weiß ich. Einen schweren Kampf. Aber der Sieg ist Ihnen gewiß. Denn Ihre Sache ist die gerechte. Und so viel steht für mich felsenfest: ehrlich und gerecht ist mein Mann.«

»Er war es gegen mich nicht, gnädige Frau. Damals nicht. Nehmen Sie mein Wort darauf.«

»Er wußte doch nicht alles. Er übersah nicht alles. Er sah es nicht im rechten Lichte. Aber jetzt werden Sie beide – Mann zu Mann – miteinander reden, auch die letzte Unklarheit beseitigen. Und dann stehe ich dafür: Sie werden Frieden miteinander schließen.«

Er blickte mißmutig und trotzig drein und vergrub seine Fäuste in den Jackentaschen. »Das ist ganz gegen unsere Verabredung, gnädige Frau.«

»Ja, es ist ungehorsam von mir, ich sollte ja keinen Frieden zwischen Ihnen stiften. Aber wenn mich's doch so drängt … Ich kann mir's eben gar nicht mehr vorstellen, daß jetzt noch eine Feindschaft zwischen Ihnen beiden bestehen soll.«

»Die besteht ja gar nicht. Es ist ihm nur eine Genugtuung, daß er ein offizielles Recht hat, mich zu verleugnen.«

»Aber verleugnen will ich Sie nicht. Denn unaufrichtig gegen meinen Mann zu sein, auch nur in Gedanken, das bring' ich nicht über mich. Also, bitte, helfen Sie mir.«

»Wem ist damit gedient, gnädige Frau? Ihrem Mann so wenig wie mir.«

»Tun Sie's, weil ich Sie darum bitte. Ist es denn wirklich so viel verlangt?«

»Sehr viel, gnädige Frau. Allen Groll – und auch alle Bosheit – und allen Zorn so mit eins von sich schleudern, bloß weil eine gutherzige, junge Frau mit ein paar freundlichen Worten und einem liebenswürdigen Lächeln darum bittet?«

»Weil – eine Freundin Sie darum bittet.«

»Eine Freundin?«

»Ja. Eine aufrichtige Freundin.«

»Das ist ein schönes Wort, Frau von Succo. Aber auch ein großes und ernstes. Einen Freund hab ich in meinem ganzen langen, wechselvollen Dasein noch nicht besessen.«

»Es soll nicht nur ein Wort sein. Ich will es Ihnen durch die Tat beweisen.«

Sie hatte ihm ihre Hand hingehalten, und er nahm sie und hielt sie fest.

»Was sind Sie doch für eine mutige kleine Frau,« sagte er, in wachsendem Staunen ihr ins Auge blickend.

Und er hörte ihren Vorschlägen zu – schon fast entwaffnet.


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