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Am Tage nach ihrem Besuch bei Minetten war Frau von Zehren nach Weltsöden zurückgereist. Sie hatte keine neue Auseinandersetzung mit der Schwiegertochter gesucht, sondern sich begnügt, sie aus tückischen Äuglein siegessicher anzublinzeln. Aber bei diesen Blicken und Theophils strafendem Schweigen hatte Ilse das Gefühl, von schleichendem Unheil umgeben zu sein. Ein Frieren der Seele war in ihr, eine Angst vor Unabwendbarem. Nicht Angst aber für sich, sondern für Wolf. Sie fühlte mit völliger Gewißheit, daß ihm etwas Schlimmes nahe, aber sie wußte nicht was, noch wie sie es von ihm abwenden solle. Nur das wußte sie, daß es nichts gab, was sie dafür nicht getan hätte. Immer mehr wuchs ihre ahnungsvolle Ruhelosigkeit.

Und plötzlich ward ihr ein Brief gebracht. »Der Bote wartet auf Antwort,« sagte das Mädchen.

Sie las die wenigen Zeilen.

Das also hatte die ahnende Angst gekündet? Trennung? – Und bei dem plötzlichen Gedanken an all den Schmerz und die Einsamkeit, die dies eine Wort enthielt, wuchs das Frieren der Seele in ihr zu physischem Frostschauer.

Noch einmal las sie den Brief.

Sie hatte zuerst nur diesen einen Sinn erfaßt, Trennung, neben dem alles Übrige gleichgültig erschien. Aber nun prägten sich auch die anderen Worte ihrem Bewußtsein ein: Zur Vertretung eines in Zanzibar schwer erkrankten Beamten sollte Wolf umgehend abreisen? – Daß das nichts Gutes für ihn bedeuten konnte, im Vergleich zu den Aussichten, die ihm bisher gemacht worden waren, sagte sich Ilse trotz all ihrer Unerfahrenheit, und sie wurde von jener Entrüstung ergriffen, die junge impulsive Menschen empfinden, wenn sie zum erstenmal erkennen, daß die Vergeltung oft auf Gebieten geübt wird, wo die Vergehen nicht lagen. Und ihretwegen wurde ihm das angetan! –

Unmittelbar sollte er reisen – und bat, sie sehen zu dürfen. Sie schaute sich unwillkürlich im Zimmer um – nein, nicht hier – dies war ja Theophils Wohnung, draußen über der Türklingel stand sein Name, und alles hier sprach von ihm und nun auch von seiner Mutter – sie kam sich plötzlich so fremd und entrechtet vor, daß es sie dünkte, als könne sie in diesen Räumen nicht mal einen Besuch mehr empfangen. Und gleichzeitig war eine subtilere Empfindung in ihr: als müsse Wolf, wenn er hier einträte, das Echo jener Worte vernehmen, die ihr die Schwiegermutter da, an dieser Stelle, entgegengeschleudert hatte. – Brennendes Rot stieg ihr bei dieser Erinnerung bis zu den Schläfen. Sie trat an ihren Schreibtisch, schrieb ein paar eilige Worte und gab selbst den Brief dem wartenden Boten.

Hastig zog sie dann Hut und Mantel an, ohne einen Blick noch um sich zu werfen, schlüpfte aus der Wohnung und lief die Treppe hinunter.

In den schmalen stillen Anlagen längs des Kanals in der Königin Augustastraße trafen sie sich. Gerade dorthin hatte Ilse ihn zu kommen gebeten, weil sie beim Schreiben nur den einen Wunsch empfunden, möglichst viel Raum zwischen sich und ihre gewohnte Umgebung zu legen – und dann – sie liebte jenen Platz, dort waren sie ja schon einmal einen Nachmittag zusammen auf und ab gegangen.

Sie wollte ihm so viel sagen, ihre Empörung, ihren Schmerz, das bittere Gefühl, ihm ahnungslos geschadet zu haben – als sie ihn dann aber wirklich vor sich gesehen, hatte sie ihm nur wortlos die Hände hingestreckt, denn sie fühlte, daß jedes Wort ein Schluchzen sein müßte. So hatten sie sich bloß angeschaut – und wußten nun doch alles.

Endlich brach er das Schweigen. »Ich sollte schon morgen früh fort,« sagte er, »um das Schiff in Genua noch zu erreichen – aber nun – werde ich überhaupt nicht reisen.«

»Können Sie denn das?« fragte sie.

»Was sollte man nicht können, wenn man wirklich will,« antwortete er, »ich werde um den Abschied bitten.«

Aber sie unterbrach ihn: »Das dürfen Sie nicht.« Denn mit einer Art Hellsicht kannte sie ihn in diesem Augenblick besser als er sich selbst, sah ihn, wie in einer Vision, ein Lebenlang dem nachtrauern, was er in einer Minute von sich geworfen. – Und sie wäre schuld daran. – »Nein, nein,« wiederholte sie, »das werde ich nie zugeben.«

»Ilse,« sagte er sehr weich, »Sie müssen doch fühlen, daß ich jetzt nicht mehr von Ihnen kann.«

Sie getraute sich nicht gleich zu antworten und machte nur eine leise abwehrende Bewegung. Beim Klange seiner Stimme waren ihr die Arme so seltsam schlaff geworden. Ihre Kniee zitterten, und es war in ihr ein Gefühl, als ob sie versänke und aufhörte, sie selbst zu sein.

Unwillkürlich setzte sie sich auf die Bank neben dem Rondel, wo Taxusbüsche standen. Sie fühlte sich plötzlich sehr müde. Und vor ihr stehend, fuhr er fort: »Aber ich kann den Gedanken doch nicht ertragen, daß Sie bei ...«

»Daran sollen Sie auch nie zu denken brauchen,« unterbrach sie ihn mit einem schwachen Lächeln, »ich werde dort nicht mehr bleiben.«

»Ilse,« sagte er, nun neben ihr sitzend, und ein verhaltener Jubel lag in seiner Stimme, »ist das wirklich wahr?«

»Ich könnte ja gar nicht,« antwortete sie.

»Und Sie werden sich für mich frei machen?«

Sie nickte nur.

»Und wenn ich dann wiederkomme?«

»Ja, Wolf.«

Dann schwiegen sie beide. Als gehörten ihnen noch viele Stunden. Aber die Minuten verrannen unaufhaltsam. Erst als sie fühlten, daß sie nun scheiden mußten, fiel ihnen ein, daß sie sich noch so sehr viel zu sagen hatten, und sie flüsterten sich all die lieben kleinen Worte zu, die solch großen Abschiedsschmerz lindern sollen. Aber das Weh in ihren Herzen wurde nur noch größer.

»Mir ist so angst, dich allein zu lassen, inmitten von all dem, was nun kommen muß,« sagte er.

»Was soll mir geschehen,« antwortete sie, »ich will ja doch nur offen und ehrlich sein.«

»Und das lange, bange Warten,« hub er von neuem an.

»Ach Wolf,« sagte sie, »jetzt muß ja alles schön sein ... selbst das Warten.«

Ein Hauch von blaßrosa und violettem Dunst färbte den westlichen Himmel. Nebel lag jetzt über dem Kanal, das jenseitige Ufer verwischend. Und in dem Nebel tauchte ein kleiner Dampfer auf, der schrill pfeifend einen schweren Lastkahn nach sich schleppte. – Dieser winzige Dampfer aber rief in Ilses Phantasie plötzlich das Bild eines der fauchenden stampfenden Ungeheuer hervor, die die Ozeane befahren. Und sie sah Wolf oben auf dem Verdeck stehen, durch unerbittliche Macht weiter, immer weiter von ihr fortgetragen. – Und in zwei Tagen schon würde dies Wirklichkeit sein – da würde er so von Genua abfahren.

Wie in physischem Schmerz zog sich ihr das Herz bei dieser Vorstellung zusammen, sie glaubte den Augenblick nicht überleben zu können. Zu seinen letzten Abschiedsworten vermochte sie nur leise zu nicken – keine Silbe mehr entrang sich ihren Lippen – sie hätte ja nur das eine Wort schreien können: »Bleib, bleib!« –

Als er sich dann endlich losgerissen hatte und von ihr gegangen war, blieb sie wie zermalmt da sitzen. Sie starrte auf den Boden, der noch seine Fußtapfen wies, und ihre Hand strich mit einer ihr ganz neuen liebkosenden Bewegung über die Bank, wo er eben noch neben ihr gelehnt. Er aber war fort – verschlungen vom Nebel – als trennten sie schon die weiten Meere. –

Endlich erhob sie sich. Ganz zerschlagen, wankend, wie im Traume, ging sie durch die Straßen. Was sie nun zunächst tun solle, lag noch unklar verschwommen vor ihr. Unwillkürlich hatte sie die Richtung nach den Zelten eingeschlagen. Beim Gehen besann sie sich allmählich wieder auf des bisherigen Lebens Einzelheiten. Es fiel ihr ein, daß Theophil heute gleich vom Reichstag aus zu einem parlamentarischen Bierabend gehen wollte. Er würde also gar nicht zu Hause sein. Als sie aber vor dem Hause stand, ergriff es sie plötzlich mit fröstelndem Schauer, und sie fühlte, daß sie über diese Schwelle nie mehr treten könne. – Nein, sofort mußte sie zu Greinchen fahren. Dort würde sie Aufnahme finden. – Was sie brauchte, konnte ihr ja morgen hinausgeschickt werden. – Aber wenn Theophil bei seiner Rückkehr am Abend spät sie nun nicht zu Hause fand? – Warum sollte dieser ihr plötzlich so weltenfern Erscheinende vielleicht unnütze Sorge um sie hegen? Sie beschloß, ihm gleich zu schreiben.

Im Wartesaal des Bahnhofs, von dem aus sie den Vorortzug zu Greinchen benutzen wollte, ließ sie sich Papier und Tinte geben. Und da auf dieser Wegstation, inmitten hastender fremder Menschen, schrieb sie den Brief, der ein Leben abschließen sollte.

Und wußte nicht, daß, was einmal gelebt worden, stets weiter wirken muß.

*

Lieber Theophil!

Es ist sehr schwer, diesen Brief zu schreiben, aber doch hoffe ich, daß, wenn ich ihn erst geschrieben haben werde und du ihn gelesen hast, uns beiden leichter sein wird. –

Wir sind in den paar Jahren unserer Ehe dem Glück so fremd geblieben. Ich habe zwar in dieser Zeit vor allem gefühlt, daß ich selbst unglücklich war, aber jetzt, wo ich Dir schreibe, sag ich mir, daß auch Du unmöglich glücklich gewesen sein kannst. – Und wir beide tun mir heute leid. – Warum das so war? Wir wollen heute nicht wägen und richten. – Es fehlte wohl von Anfang an zwischen uns beiden die Liebe. Du sagtest einst, die fände sich in der Ehe von selbst. Heut weiß ich es anders, Liebe, die sich erst einfinden soll, die kommt wohl nie. –

Ich möchte Dir gern so manches sagen und erklären, und zugleich möchte ich Dir doch nicht weh tun, lieber Theophil. Denn es ist etwas Neues, Großes und Schönes in mein Leben getreten, und das macht mich so weich und dankbar. Drum möcht ich niemand wehe tun.

Siehst Du, ich habe bei Euch in Weltsöden gesessen, wie hinter Gittern und Stäben, und dabei war mein Herz voll von einer unendlichen Sehnsucht. Es war oft, als locke es mich wie mit Nachtigallensang. Und ich wußte doch nicht, was es war, das mich so rief und lockte. Ich hatte auch niemand, den ich fragen konnte. Vor Dir, Theophil, fürchtete ich mich viel zu sehr. Ich glaube, Männer können ja gar nicht ahnen, wie oft ihre Frauen sich vor ihnen fürchten. –

Heut nun aber weiß ich, was mich so rief und lockte. Es war das Glück. Aus weiter Ferne nur, wie eine Ahnung, tönte damals seine Stimme: komm mit, komm mit.

Aber jetzt hab ich sie ganz nahe vernommen, hab dem Glück ins Antlitz geschaut.

Und nun muß ich mit dem gehen, den ich liebe, und der für mich das Glück ist. Ich kann nicht anders. Keine Gitter, keine Ketten hielten mich von ihm zurück.

Wirst Du mir sehr böse sein, Theophil? – Es ist eigentlich eine so kindische Frage, aber wenn ich an Dich denke, fühl ich mich eben immer als kleines Mädchen, das gescholten wird. – Und gerade das möchte ich nicht mehr sein, möchte einem Anderen etwas anderes werden. –

Sei mir nicht böse, lieber Theophil. War unsere Ehe für mich ein Irrtum, so war sie es doch ebenso für Dich. Und denk ich heut an Dich als an einen, den blinder Zufall eine Strecke Weges mit mir führte, so weiß ich, daß auch ich Dir niemals die Eine war, die Vorbestimmte. was Du für mich empfandest, das hätte wohl jede Frau in Dir zu erwecken vermocht.

Es war erniedrigend für uns beide.

Ich glaube, so etwas sollte man gar nicht Ehe nennen dürfen. –

Drum laß uns in Frieden voneinander scheiden.

Ich gehe zu Greinchen. Die wird mich wohl aufnehmen, bis Du alles zwischen uns geregelt hast, wie Du es willst. Ich überlaß Dir das.

Ich kann nicht wägen noch richten, weil in meinem Herzen nur noch demütige Seligkeit wohnt – doch ist es Dein Urteil, daß ich am schwersten fehlte, so sei meine letzte Bitte: vergib es mir.

Ilse

Greinchens gutmütiges Doggengesicht zeigte kein sonderliches Erstaunen bei Ilses plötzlichem Erscheinen und ihrer Bitte um Aufnahme.

»Ich sagte Dir ja schon vor Monaten, daß es so kommen würde,« sagte sie. Doch darüber war sie schwer enttäuscht, daß Ilse nicht fortan ihr Lebensziel in dem Kampf für die Frauenrechte erblicken wollte. »Dich nachher wieder verheiraten willst du, liebes Kind? Welch Fehler! Wo du bei uns ein so voll befriedigendes Dasein finden könntest!«

Aber in dem modern gesonnenen Greinchen steckte doch noch ein gut Stück ganz altmodischer Freude an Liebesgeschichten, etwas von jenen komplizierten Gefühlen, die gerade alternde Fräulein in die Theater treiben und zu eifrigsten Abonnentinnen der Leihbibliotheken machen. Ilse, die auf dem mit Roßhaargewebe bezogenen Sofa saß, gerade unter Papas durch eine Kreppdraperie gezierten Photographie, mußte bis tief in die Nacht hinein erzählen. Sie sprach so tapfer, meinte es so ehrlich! – Und die meisten würden es doch Betrug und Treulosigkeit nennen, das fühlte Greinchen wohl, obschon auch sie ja nicht zu den Weltweisen gehörte. – Arme kleine Ilse! dachte sie, wär sie doch damals schon gekommen, als ich es ihr riet, wo noch nicht der Schein gegen sie sprach! – Dann quartierte sie den unerwarteten Gast in ihrem Fremdenstübchen ein, und als Ilse mit ihrem schimmernden Haar und großen Augen, fein und zart und wie verloren in einem von Greinchens weiten, derben Nachthemden, schließlich zu Bette lag, beugte sie sich über sie und sagte: »Ich werde zu dir stehen, Kindchen, so viel ich kann.«

Als Greinchen am nächsten Tage aus der Stadt zurückkehrte, wohin sie gefahren, um einige von Ilses Sachen zu holen, erzählte sie: »Herr von Zehren soll heute, gerade ehe ich in den Zelten ankam, plötzlich nach Weltsöden abgereist sein. Er wird sich also wohl vor allen weiteren Schritten mit seiner Mutter beraten wollen.«

Ilse lebte nun völlig in der fortwährenden Erwartung der Post- und Telegraphenboten. Diese wackeren und ahnungslosen Überbringer von Leid und Freude waren fortan die wichtigsten Erscheinungen ihres Daseins. Sie brachten ihr Telegramme, Karten, Briefe, besonders einen lieben, ganz dicken Brief, den Wolf im Eisenbahnzuge geschrieben und in Genua aufgegeben hatte. Im ersten Augenblick schien es jedesmal so viel des Glücks – und dann war es doch immer zu wenig für die Sehnsucht, die nach so viel mehr verlangte.

Zu seinen Briefen kam dann noch ein anderer. Auch Gräfin Helmstedt schrieb ihr aus Genua.

Meine kleine Ilse!

Wolf Walden hatte uns von Berlin aus die Nachricht seiner plötzlichen Entsendung nach Zanzibar telegraphiert. Da wir sofort fühlten, daß dieser unerwarteten Versetzung eine besondere Ursache zugrunde liegen müsse, und wir daher doppelt wünschten, Wolf vor seiner Einschiffung noch zu sehen, sind Ludwig und ich von meiner Besitzung aus sofort hierher gereist.

Nun haben wir ihn eben auf seinen Dampfer gebracht. Vorher hatte er uns alles erzählt. Und seine letzten Worte an mich waren, ich möge Sie lieb haben.

Das war nicht nötig. Sie wissen ja, wie lieb ich Sie habe, kleine Ilse. Aber etwas Neues ist dem hinzugekommen: Angstvoll vorausschauende Sorge um Sie und ein tief wehmütiges Mitgefühl.

Dieses Wort von mir wird Sie wundern, liebe Ilse, denn Sie erkennen sicher die scheinbare Ähnlichkeit zwischen meinem Lebensgang und dem Weg, den Sie nun eingeschlagen haben – und Sie haben ja selbst gesehen, wie glücklich Ludwig und ich dabei geworden sind. Ich hoffe und wünsche ja nun von ganzem Herzen, daß Sie und Wolf das ebenso werden mögen – aber – es wird Ihnen beiden bitterlich schwer gemacht werden.

Jedes Glück trachten ja die Menschen, sich einander zu verkümmern, als gäbe es dessen zu viel auf Erden, und jeder scheint immer vom anderen zu denken: dem geht's zu gut! Besonders aber gilt dies von all solchem Glück, das erst nach schwerem Irrweg schmerzlich erkämpft wurde, und dem in den Augen der Welt stets der Charakter widerrechtlich erworbenen Gutes anhaftet.

Über Ludwig und mich dachte man so und auch gegen uns wurde Allmögliches versucht. Daß es weder gelang, uns innerlich zu verbittern und auseinander zu bringen, noch uns äußerlich dauernd zu schaden, ist aber unsere glückliche Ausnahme.

Sie und Wolf werden viel härter noch kämpfen müssen als wir, um sich behaupten zu können.

Denn ich ließ ja meinen ersten Mann, seine Familie und ihren ganzen Anhang in seinem Lande zurück und folgte Ludwig nach Deutschland, wo er seine angestammte Stellung, seinen Besitz und Freunde hatte, wo jene ihm also kaum viel anhaben konnten. Trotzdem sind auch mir Bitterkeiten nicht erspart geblieben.

Wolf aber, liebe Ilse, ist in Deutschland ein Eingewanderter, ein Fremder!

Das ganze in seinen Gefühlen verletzte Zehrentum – und es ist hier ein Gattungsbegriff – wird sich gegen Wolf erheben, und er wird dem gegenüberstehen in seiner Fremdlingseinsamkeit. Was bei einem Eingeborenen, für den sein persönlicher Verwandten- und Freundesanhang einträte, vielleicht allmählich überwunden und vergessen würde, wird ihm nie verziehen werden. Ihnen aber, liebe Ilse, werden all die Frauen, die aus irgendeinem Grunde die Leiden einer dem Herzen nach getrennten Ehe weitertragen, es neiden, daß Sie den Flug zu neuem Glücke wagten. Jede von ihnen wird Ihre Feindin sein, und auch all die Männer, die sich für berufene Vertreter der gewohnten Ordnung halten, können gar nicht anders als Ihre Gegner zu werden. – Wenn Sie beide alt geworden sind, und Ihnen selbst Ihr jetziges Tun nur wie ein blasser, wehmütig schöner Frühlingstraum erscheint, wird es noch gegen Sie angeführt und verwendet werden. –

Ich weiß, daß ich Ihnen Angst gemacht habe und grausam scheine. Aber, liebe kleine Ilse, Sie sind so unerfahren und gehen dahin in der doppelten Blindheit der Jugend und Liebe. Drum hielt ich es für freundschaftlicher, Ihnen zu sagen, welche Felsen und Abgründe meine schmerzlich geübten Augen auf Ihrem Wege voraussehen. Denn Gewarnte sind doch etwas geschützt.

Sie werden jetzt zu viel mit Geschäften zu tun haben, mein armes Kind, als daß Sie von dort leicht fortkönnten – wenn Sie aber mal fühlen sollten, daß sie der Erholung bedürfen und die Härte der Menschen in der Schönheit der Natur vergessen möchten, so kommen Sie zu uns. Wir wollen dies Jahr recht lange in meiner Heimat bleiben. Eine baldige Rückkehr nach Frohhausen, in all das hinein, was jetzt dort über Sie gesagt werden mag, vertrüge meine Freundschaft für Sie und Wolf auch gar nicht.

Und nun lassen Sie mich als Schluß und Ihnen zum Troste sagen: Kein Geschick war je so, daß es sich bedingungslos preisen ließe, denn auch das größte Glück enthält stets ein Stück Entsagung. So bleibt das Höchste, was sich von einem Leben sagen läßt: Es war schön ... trotz allem.

Möchten Sie und Wolf auch einst so sprechen können.

In Liebe und Verständnis
Ihre Gisi Helmstedt.

*

Dieser Brief traf Ilse in einem Augenblick, wo sie so schwer unter Wolfs Abwesenheit litt, daß ihr daneben die unbekannten Leiden, die es vielleicht gelten würde, mit ihm zusammen zu ertragen, gering erscheinen mußten. Da würde man eben vereint sein! Und neben dem Gedanken an dies Glück versank alles andere. Bei den Warnungen Gräfin Helmstedts, die aus einer Ilsen noch ganz fremden Welt- und Menschenkenntnis stammten, war sie freilich einen Moment erschauert, als höre sie von einer tückischen Krankheit, der man auch mal verfallen könnte; wirklichen Widerhall aber weckten in ihr nur die Worte, die sagten, daß das Leben schön sein würde, trotz allem. – Das erschien ihr von unzweifelhafter Wahrheit.

Bald nachher trat die Hauswirtin ein, die das gespannteste Interesse für den von Greinchens übrigen Besuchern so verschiedenen Logiergast empfand, und flüsterte geheimnisvoll: »Zwei Damen möchten die gnädige Frau gern sprechen, aber sie wollten keinesfalls eintreten oder auch nur ihren Namen angeben – da draußen warten sie, die gnädige Frau kann sie von hier aus sehen.«

Und Ilse, die ans Fenster getreten war, erkannte die beiden Tanten, Askania und Lidwine. Jenseits des umgitterten Vorgärtchens, in der erst abgesteckten Straße, wo weit auseinander besenartige Bäumchen gepflanzt waren, die eine schattenspendende Allee werden sollten, da standen, von Frühlingslicht umflossen, die beiden alten Stiftsdamen in ihrer ganzen schwarzen Kümmerlichkeit!

Ilse lief hinaus. »Ihr kommt mich zu besuchen!« rief sie mit einer erstaunten Freude, denn vom ganzen Zehrentum waren ihr diese beiden stets die Liebsten gewesen.

Zögernd legten die Tanten ihre in sorgfältig gestopften schwarzen Zwirnhandschuhen steckenden Finger in Ilses dargebotene Rechte, und Tante Askania begann: »Ja, mein armes Kind, wir wollten gerade nach dem Heiligen Dornenkranze zurückreisen, als der arme Theophil mit dieser schrecklichen Nachricht in Weltsöden eintraf. Da beschlossen wir beide, hierher zu fahren – denn wir können nicht glauben, daß dies deinerseits etwas Unabänderliches bedeutet.«

»Nein, Ilschen,« fiel nun Lidwine ein, »wir können nicht glauben, daß du dein Leben in Auflehnung gegen Gottes und der Menschen Gesetz verbringen willst!«

»Ach, liebe Tanten,« antwortete Ilse leise, »daß ich mein Lebenlang unglücklich bleibe, kann doch nicht Gottes Gesetz sein?«

»Wer seine Pflicht getreulich zu tun trachtet, der bleibt nicht sein Lebenlang unglücklich,« entgegnete Askania, und Lidwine fuhr fort: »Der findet im Gegenteil den inneren Frieden, der höher ist als alle Wonnen der Erde.«

Ilse schaute zu ihnen auf, wie sie da standen, so verschrumpft unter ihren rostig schwarzen Wollpelerinen, das silberne Kreuz mit dem Dornenkranze gleich einem Symbol der Entsagung auf den flachen Busen. – Was konnten sie von den Wonnen der Erde wissen? – Sie wollte ihnen nicht wehe tun, ihnen nicht die Armut vorhalten, in der ihr Leben verronnen. So sagte sie: »Ihr seht das alles von eurer Höhe – aber in meinen Jahren, da kann man nicht so denken – da kann man nicht aufgeben, was allein das Leben schön und wert macht.«

»Wir sind auch einmal jung gewesen,« antworteten die Tanten leise.

Wie lange mußte das her sein! Sie sahen so welk und verkümmert aus. Ein tiefes Mitleid regte sich in Ilse, und sie sagte weich: »Liebe Tanten, Ihr seid sicher recht müde, wollt ihr wirklich nicht eintreten und euch drinnen ausruhen?«

Doch abwehrend zog Askania ihre Pelerine fester um sich und sagte mit einer Schärfe, die sie bisher vermieden: »Nein, Ilschen, in das Haus treten wir nicht – und neben allem anderen tut es mir besonders leid, dich da zu wissen, bei so einer neumodischen Person, die sicher auch für freie Liebe und uneheliche Kinder schwärmt, und das Frauenrecht nennt!«

»Ja bei solchem Umgang,« seufzte Lidwine, »ist es freilich nicht verwunderlich, daß du deinem Mann davonläufst und« – sie flüsterte nun – »zum öffentlichen Ärgernis wirst.«

»Aber das ist doch kein öffentliches Ärgernis,« entgegnete Ilse, »daß ich den großen Irrtum aufheben möchte, den Theophil und ich begangen haben, als wir uns heirateten. Er selbst hat ja auch darunter gelitten, wie ich, und es wird ihm eine Erlösung sein, wie mir.«

»Wenn Theophil auch wirklich nicht ganz glücklich gewesen sein sollte,« sagte Lidwine, »so ist er doch in der Ehrfurcht vor der Heiligkeit der Ehe erzogen, und ich glaube dir versprechen zu können, daß wenn du heute mit uns zurückkehrst, er dir verzeihen und dich wieder aufnehmen würde.«

»Und es brauchte nichts von alledem in die Öffentlichkeit zu dringen, der Skandal wäre vermieden,« flüsterte Askania und schaute sich ängstlich um in der leeren, sandigen Straße.

»Zurückkehren!« rief Ilse. »Aber das ist ja ganz unmöglich! Theophil weiß doch, daß ich einen anderen liebe!«

»Still, still, Kind,« sagte Askania, »das müßtet ihr beide eben zu vergessen trachten.«

»Ich könnte das erst vergessen, wenn ich tot wäre,« entgegnete Ilse, »und auch dann nicht – ich glaube, noch im Grabe dächte ich an ihn

»Wir würden zu Gott beten, daß er euch hilfe, liebe Ilse,« sagte Lidwine, »wie er es in mancher Ehe schon getan.«

»Aber so sucht doch, mich etwas zu begreifen!« flehte Ilse. »Wie ein dummes, unwissendes Kind bin ich in diese Ehe geraten. – Ihr nennt sie heilig – aber ich versichere euch, alles andere war sie eher. Und jetzt handelt es sich um das wirkliche Glück meines Lebens – um meine Liebe, ohne die ich zugrunde gehen müßte! – Schaut, liebste Tanten, ihr betet doch den ganzen Sommer, daß die Saatenkörner gedeihen und reichlich tragen mögen, damit ihr beim Erntefest danken könnt – bin ich denn weniger als solch Körnchen? Soll ich allein verkümmern?«

Doch Askania antwortete herbe: »Du sagtest richtig, daß wir für das Gedeihen der Saaten beten, aber in deinem Sinn wuchern Unkraut und Nesseln – und die können dir nie anderes wie schlimme Ernten tragen.«

Ilse schwieg. Doch Tante Lidwine hub noch einmal an: »Ilse, dies ist die Entscheidungsstunde deines Lebens – schlag meinen Rat nicht in den Wind – komm mit uns.«

Erschöpft und so leise, daß es nur wie ein Hauch war, aber doch mit einem Tone der Unabänderlichkeit, antwortete Ilse: »Das kann ich nicht.«

»Du wirst es bereuen,« sagte Askania. »Bisher haben wir beide dich zu entschuldigen versucht – aber Gottliebe sagte gleich, wenn es zu einem Scheidungsprozeß käme, so würden deine Rendezvous mit diesem Herrn doch ein sehr übles Aussehen haben.«

»So etwas könnt ihr doch nicht von mir glauben?« sagte Ilse, »ich habe doch nichts wirklich Schlechtes getan!«

»Darüber wollen wir nicht streiten,« antwortete Askania und sagte dann scharf und abschließend: »Komm Lidwine, hier ist unser Platz nicht mehr.«

Sie schickten sich zum Gehen an.

»Wollt ihr mir nicht die Hand geben,« sagte Ilse, »wir waren doch stets gut Freund.«

Lidwine machte schon eine schüchterne Gebärde, aber Askania schob entschlossen ihren Arm unter den der Schwester und antwortete: »Das können wir nicht mehr – wer einem der unseren etwas tut, ist auch unser Feind.«

Also hatte das Zehrentum um Ilse zum letztenmal geworben. An dem Gitter des Vorgärtchens lehnend, starrte sie den beiden alten Stiftsdamen nach. Unscheinbar und kümmerlich schritten sie dahin, und doch war es Ilse plötzlich, als ginge von diesen beiden dürftigen schwarzen Gestalten ein großer Schatten aus, der des Frühlings ganzes Licht mit seiner Dunkelheit bedeckte.

*

In der darauf folgenden Nacht schreckte Ilse plötzlich auf und starrte entsetzt in die Dunkelheit. Wo war das Gebilde geblieben? Sie hatte es ja so greifbar deutlich gesehen – oder sollte es doch nur ein Traum gewesen sein? –

Eine glühend kahle Felsenwand. Ein schmaler Pfad wand sich hinan. Und auf diesem steilen Wege schritten zwei zusammen. Gebeugt unter schwerer Last und an den Knöcheln Sträflingsketten mit Kugeln dran, die sie keuchend nach sich schleiften. – Ein Mann und eine Frau. – Erschöpft, verlassen. In Steineseinsamkeit. Und doch, mit Trotz auf der Stirn und manchmal einem huschenden verzückten Aufleuchten in den brennenden Augen. – So klommen sie empor. Und mußten schon viele vor ihnen den steinig steilen Weg gegangen sein, denn er wies Blutspuren wunder Füße. – Ein Ziel war nicht zu schauen.

Ja, da in Greinchens Fremdenstübchen, in dem Berliner Vorort, wo die todgeweihten Kiefern im Nachtwind klagten, da hatte Ilse zum erstenmal diese Traumesvision erblickt. Doch wieder und wieder sollte sie ihr noch erscheinen. Bei nächtlichen Meerfahrten tauchte das Bild vor ihr auf, in der Einsamkeit mondbeschienener Andenpässe, wo nur die Kondore hausen, und auch in fernen östlichen Riesenstädten, hinter deren hohen düsteren Umfassungsmauern Millionen fremdartiger Wesen schlummern.

Ja, später da kannte Ilse jene beiden Bürdenträger gar wohl, wußte, wie müde die Schultern unter der Last wurden, wie schmerzhaft die Füße zuckten auf dem glühenden Felsenpfad.


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