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15

Der alte Generalstabsarzt hatte kein Wort gesprochen, als ihm der schwerverwundete Oberst ins Haus getragen wurde. Er ging auf der Treppe voran und gab seinem Diener Anweisungen, wie er das Lager für den Verwundeten bequemer herzurichten habe. Dem Sohn reichte er nur gelassen die Hand, den Enkel im blutigen Kopfwickel streifte er mit einem einzigen Blick.

»Die jungen Herren haben sich auf ihre Zimmer zurückzuziehen, bis ich selber zu ihnen komme.«

Wie der dienstälteste Vorgesetzte übernahm der Weißhaarige den Befehl.

Friedrich Thorsberg unterrichtete den Vater mit knappen Worten. Die Geschehnisse waren in Starnberg schon bekannt geworden. Der Fernsprecher hatte sie in selber Stunde gemeldet.

Und der Alte, der in jungen Jahren auf den Schlachtfeldern und in den Kriegslazaretten seine Ausbildung erfahren hatte, winkte dem Sohn stumm, sich mit ihm an die Arbeit zu machen.

Mit Händen, feinfühlig wie Frauenhände, entkleideten die Männer den Freund und Hausgenossen, der mit zusammengebissenen Zähnen gegen die Ohnmacht rang und alles andere mit sich geschehen ließ. Der Diener stellte das ärztliche Werkzeug seines Herrn auf den freigemachten Tisch, dazu Verbandstoffe und große Schalen mit erwärmtem Wasser.

Der greise Arzt prüfte die Notmaßnahmen des grauen Arztes. Er schien mit der Arbeit zufrieden. Er legte die Wunde bloß und senkte die Sonde hinein. Leise schloß der Oberst die Augen.

»Chloroformmaske her. Nimm den Puls.«

»Du willst doch nicht selber, Vater –?«

Der Alte hatte den Rock ausgezogen und bürstete in einer Wasserschale die Hände.

»Nicht selber?« fragte er zurück und streckte den nackten Arm. »Hab' ich das Zittern? Regt sich am Arm und an der Hand der kleinste Muskel? Damit packe ich noch den Teufel bei den Hörnern. Und nun vorwärts.«

Friedrich Thorsberg war zum Hilfsarzt geworden. Sein Auge hing fest an dem Auge des Vaters, seine Hand folgte jedem Wink der väterlichen Hand. Wie das Radwerk einer Uhr griff ihr Tun ineinander.

Der Oberst schlummerte in der Betäubung. Er wurde nichts mehr gewahr von Messer, Sonde und federnder Zange. Das Messer schnitt in stählerner Hand, die Sonde suchte zwischen feinnervig gebliebenen Fingern, die Zange holte die Kugel hervor.

»Die Rippe ist durchschlagen, die Lunge gestreift. Der Mann hat übrigens einen bewunderungswürdigen Brustkasten.«

Und der Alte arbeitete weiter und winkte mit den Blicken oder einer Handbewegung dem Sohn, und es wurde kein Wort mehr gesprochen, bis der tiefe Wundschacht ausgeräumt und ausgewaschen, mit Verbandzeug zugestopft und frisch umwickelt war.

Der Weißhaarige blickte auf das Werk seiner Hände. Und dann blickte er mit einem Blinzeln zu dem Grauhaarigen auf.

»Alte Schule, Friedrich. Und ausgebaut und durchgearbeitet von mir selber bis auf den heutigen Tag. Dafür bin ich Exzellenz geworden.«

»Ja, Vater. Und die alte Schule muß für jede Entwicklung die Grundlage bleiben.«

»Jedenfalls haben wir mit der alten Schule das Deutsche Reich geschaffen und mit der neuen Schule ein Sammelsurium.«

Der Oberst kam zu sich. Er regte sich. Noch flüsterten seine Lippen Traumworte.

»Gib acht, Friedrich. Ich werde mir inzwischen mal den Gert herüberholen. Ich sah's schon seinem Kopfwickel an, daß das Blut zum Stehen gekommen ist.«

Friedrich Thorsberg beugte sich über den Schwererwachenden. Er erhorchte die hastigen Flüsterworte.

»Meineidige!« knirschte der Oberst durch die Zähne. »Wortbrüchige Machtjäger! Deutsche Brüder das! – deutsche Brüder ...«

»Ja,« sprach Friedrich Thorsberg vor sich hin. »Deutsche Brüder seit alters her. Und Karl und Friedrich Thorsberg bilden das Gleichnis. Wenn dies Gleichnis schon sein mußte, so mög' es uns in seiner Scheußlichkeit von der schwersten Heimsuchung freimachen und uns durch seine Schrecken zu einem einigen Volkstum führen.«

»Meineidige! – Nachtjäger – deutsche Brüder –« murmelte der Oberst und lag mit großstarrenden Augen.

Der greise Generalstabsarzt kehrte mit dem Enkel zurück und drückte ihn ohne Weiterungen auf einen Stuhl nieder.

Wiederum bürstete er umständlich in einer Wasserschale seine Hände, legte die eingefädelten Nadeln zurecht und nahm vorsichtig den Stirnverband ab.

»Ein hübscher Striemen, mein Junge. Eine gröbere Terz hättest du dir auf keinem Fechtboden hineinhauen lassen können.«

Und er tupfte die Säbelwunde fürsorglich aus und legte die Nadeln ein.

»Jetzt wickle ich dir noch einen bildschönen Turban, und dann kannst du dich in die Frauengemächer zurückziehen. Fertig.«

»Danke schön, Großvater.«

Gert Thorsberg stand am Lager des Obersten. Er blickte in die großstarrenden Augen und hörte die letzten Flüsterworte.

Leise öffnete sich die Tür, und Walter Lenbach trat ein. Die Lippen zusammengepreßt, streichelten die beiden Jünglinge die auf der Bettspreize zuckenden Hände des Obersten.

Langsam kam Licht in die Starrheit der Augen. Die Flüsterworte erstarben. Er lag und lächelte seine jungen Kameraden an. Und der Sohn beugte sich über die Sand des Vaters und küßte sie. Auch Gert Thorsberg beugte sich tief und küßte die Hand des Obersten.

Auf den Fußspitzen gingen sie hinaus. Der Oberst war in einen Schlummer gefallen.

Der weißhaarige und der grauhaarige Arzt saßen an feinem Bett und beobachteten ihn.

»Erzähle jetzt die Einzelheiten,« gebot der Greis. Und Friedrich Thorsberg berichtete, was er vernommen, was er gesehen und was er erlebt hatte.

»Du denkst an deinen Bruder Karl, Friedrich. Ich denke auch an ihn. Es paßt alles zu ihm und zu seiner Umwelt.«

»Er glaubte sich auf die oberste Sprosse geschwungen zu haben und die Leiter zertreten zu können. Der verblendete Narr wird schneller zerschmettert am Boden liegen als die Leiter, die ihm hinaufgeholfen hat.«

Der Alte seufzte gelassen.

»Das ganze Menschenleben spielt sich in einem Narrenhaus ab. Beweis: daß wir es nicht ahnen. Aber wenn schon, dann sind mir die heldischen Narren um ein Bedeutendes lieber als die heimtückischen. Ich stehe nicht an, die heldische Geste für die bei weitem schönere und zuweilen auch ehrfurchtgebietendere zu erklären.«

»Vater, du spaßest ja nur, um dein wahres Gesicht zu verschleiern. Du und ich, wir meinen im Grunde dasselbe.«

»Also spaße ich,« schloß der Alte, wie er vor Tagen die Unterhaltung mit dem Enkel geschlossen hatte. »Und spaßen ist besser, als in die Knie knicken und heulen.«

Da empfand Friedrich Thorsberg, daß ein Erbe vom Vater her auf ihn gekommen sei.

Wieder öffnete sich die Zimmertür leise, und der alte Diener steckte verwirrt den Kopf herein und machte seinem Herrn ein Zeichen.

»Sieh mir einer den tattrig gewordenen Kerl. Jetzt winkt er wahrhaftig mir, statt daß ich ihm winke.« Aber die Exzellenz erhob sich auf der Stelle und schritt zum Diener auf den Flur.

»Was ist denn los?«

»Polizeibeamte, Exzellenz.«

» Sehr hübsch. Nichts anderes hat mir mehr gefehlt. Wo sind diese Herren?«

»Ich habe sie ins Empfangszimmer geführt, damit Exzellenz ungestört mit ihnen sind.«

»Wirklich sehr hübsch. Also muß auch der Empfang dementsprechend ausfallen.«

Er schritt die Treppe hinab und trat steif ins Zimmer.

»Was wünschen Sie?«

Die beiden Geheimbeamten nahmen straffe, grüßende Haltung an.

»Entschuldigen Euer Exzellenz. Der Diener hat uns hier hineingewiesen. Wir haben einen Haftbefehl gegen den im Haufe wohnenden Oberst Lenbach auszuführen.«

»So, so. Da haben Sie sich leider umsonst bemüht. Der Oberst Lenbach liegt als Schwerverwundeter in meiner Behandlung.«

»Dürfen wir uns durch den Augenschein überzeugen?«

»Nee, meine Herren, das dürfen Sie nicht. Weder durch den Augenschein noch sonstwie, wenn der Generalstabsarzt Thorsberg es nicht wünscht. Und er wünscht es nicht und überhaupt weiter keinerlei Besuche in dieser Hinsicht.«

»Euer Exzellenz haben als behandelnder Arzt die Verantwortung zu übernehmen.«

»Verbindlichsten Dank für die Belehrung. Es war so ungefähr die erste Weisheit, die ich als grasgrüner Unterarzt in mich hineinsog.«

Die beiden Geheimbeamten bissen sich auf die Lippen.

»Entschuldigen Euer Exzellenz. Wir entledigen uns nur unseres Auftrages. Freude macht er uns wahrhaftig nicht.«

»Ah, das ist eine andere Sache. Da bin ich Ihnen eine Genugtuung schuldig. Da möchte ich Ihnen einen Auftrag mit auf den Weg geben, der Ihnen hoffentlich Freude macht. Sagen Sie Ihrem Auftraggeber, dem großen Regierungsmann Karl Thorsberg – denn in seinem Auftrage sind Sie hier – sagen Sie ihm: Sein Vater ließe ihm durch Ihren Mund mitteilen, er möge sich in diesem Leben nicht mehr in das hochanständige väterliche Haus wagen, oder der eigene Vater würde diese Mißgeburt von Sohn wie ein Ungeziefer hinausfegen. Und machen Sie die Meldung, wenn recht viele Leute anwesend sind. Gott befohlen.«

Die Beamten grüßten straff und entfernten sich. Der Alte rief den zitterigen Diener.

»Ich habe wohl wenigen Menschen im Leben eine ganz reine Freude bereitet. Diesen beiden habe ich es. Gieß mir mal zur Belohnung einen ganz großen Schnaps ein.«

Am Abend fuhr Friedrich Thorsberg nach München zurück. Es drängte ihn, sich über die Sachlage ein klares Bild zu verschaffen.

Die Stadt schien äußerlich ruhig. Starke Trupps von Polizeisoldaten sorgten in allen Straßen, daß keine Menschenansammlungen stattfinden konnten. Die Menschen aber murmelten ein Fluchwort auf Karl Thorsberg und seine Helfer, die ihm Schergendienste leisteten, spuckten über die Straße und gingen drohend ihrer Wege.

Wohin sich auch Friedrich Thorsberg wandte, es war keiner, der nicht erwacht zu sein schien und sich nicht mit offenem Bekenntnis auf die Seite der Vaterlandsfreunde geschlagen hätte.

Und Friedrich Thorsberg saß bis spät in die Nacht bei vertrauten Freunden.

Am Morgen fuhr er wieder nach Starnberg hinaus. Der Generalstabsarzt hatte den ersten Teil der Nachtwache den Jünglingen überlassen und den zweiten sich selber vorbehalten. »Das vernünftig gewordene Alter ist mit ein paar Augen voll Schlaf hinreichend zufriedengestellt. In Kürze hat es mehr Zeit zum Schlafen, als ihm lieb ist. Übrigens werden die Kranken nach Mitternacht meist unruhiger. Da bin ich dann am Platze.«

Als Friedrich Thorsberg das Haus betrat, flog ihm Gertrude um den Hals und preßte sich an ihn.

»Muß ich dir auflauern, Vater, um dich begrüßen zu können? Hören denn die Schrecken niemals für dich auf?«

»Mein liebes Kind. Mein geliebtes Mädchen.«

»Warum bist du gestern abend ohne Gruß gegangen? Und hattest mich nicht einmal gesehen?«

»Weil ich Sehnsucht nach euch hatte und nach dem Ausruhen bei euch. Das fürchtete ich, weil noch Arbeit wartete.«

»Lieber, lieber Vater, wann wirst du zum Ausruhen kommen?«

»Wenn das ganze Volk erwacht ist, Kind. Du weißt es.«

»Wann wird das sein? Soviel Jahre wartest du schon schlaflos darauf.«

Er strich ihr das blonde Haar aus der klaren Stirn. Wie frauenhaft sorgend sein großes Mädchen geworden war.

»Denke an das biblische Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen. Immer wieder müssen wir Öl auf unsere Lampen füllen, um die Stunde nicht zu verpassen. Die Stunde kommt nur zu dem, der sie unermüdlich sucht. Sonst huscht sie vorüber.«

Er spürte, daß sie ihn wärmer umfing.

»Ich komme nachher noch zu dir und Gert. Ich freue mich darauf. Wie geht es dem Oberst Lenbach?«

»Großvater hat Gert und Walter schon um Mitternacht abgelöst und wacht immer noch bei ihm. Ein paarmal habe ich gehorcht. Es war alles ruhig.«

»Dann wird es Zeit, daß ich den Großvater ablöse. Auf Wiedersehen, meine große Gertrude.«

»Du hast dich für später bei mir angesagt, Vater. Vergiß es nicht.«

Der Generalstabsarzt kam dem Sohn bis zur Zimmertür entgegen.

»Er hat eine gute Nacht gehabt,« sagte er und deutete über die Schulter. »Einmal wurde er wach und sprach ganz vernünftig. Nur daß er das Ende vom Lied nicht weiß, macht ihn erregt. Da könntest du ihm vielleicht helfen.«

»Ich werde ihm Beruhigung verschaffen, Vater. Erfreuliche Nachrichten beleben mehr als die besten Arzneien.«

»Wenigstens bei Menschen von einer so mächtigen körperlichen und seelischen Beschaffenheit. Ich räume dir jetzt das Feld.«

Friedrich Thorsberg saß am Lager des Freundes. Er hielt den Puls und freute sich des starken Schlages. Und es war ihm wie ein Sinnbild, daß dieser deutsche Kämpfer wohl niedergeworfen, aber nicht um seine Kraft gebracht werden konnte.

Sinnend gedachte er der Gespräche, die er mit dem Freunde einst über die uralte deutsche Wielandsage gepflogen hatte. Mit zerschnittenen Sehnen erst wuchs Wieland über sich selbst hinaus und schuf sich das Flügelpaar, über die Feinde hoch emporzusteigen. Auch dieser Mann war eine Wielandnatur.

Sein aufleuchtender Blick sammelte sich auf dem Antlitz des Obersten. Der lag mit geöffneten Augen und sah ihn eine Weile schon ruhig an.

»Alles in Ordnung, Thorsberg?«

»Der Puls läßt nichts zu wünschen übrig. Sie werden in Kürze genesen.«

»Und der Puls in München? Und draußen im Reich? Wird das Vaterland auch in Kürze genesen?«

»Lenbach,« sagte Friedrich Thorsberg, »Sie sind eine Kraftnatur, aber augenblicklich ein bresthaft geschossener Mann. Ihr körperliches Teil muß unbedingte Ruhe haben. Dafür wird mein gestrenger Vater schon Sorge tragen. Und daß Ihr seelisches Teil ebenfalls die notwendige Ruhe erhält, dafür denke ich zu sorgen. Nur müssen Sie mir versprechen, mir still und stumm zuzuhören wie das Kind dem Kalendermann.«

»Thorsberg, uns beide pflegen die Tatsachen, denen wir ins Gesicht sehen können, kalt zu finden. Nach diesen Tatsachen verlange ich. Erzählen Sie also, was Sie zu erzählen haben und ich werde mich nicht regen.«

»So hören Sie geduldig zu ... Die Verbände der Vaterlandsfreunde marschierten im feierlichen Massenzuge durch die Stadt, weil sie Karl Thorsbergs und der Spitzen der Behörden sicher zu sein glaubten, weil sie den Regierungsmännern die Befehlsübernahme der Volksbewegung erleichtern wollten. Karl Thorsberg und seine Helfershelfer aber gedachten nicht der Stärkung des Reiches, sondern nur der Stärkung ihrer eigenen Machtfülle, lenkten die Vertrauensfreudigen auf den Dohnensteig und würgten sie kaltblütig ab, um weiterhin ohne Wettbewerb die Alleinherrscher spielen zu können. Die Geschichte kennt kein schlimmeres Verbrechen als diesen schmählichen Vertrauensbruch von Brüdern einer Notgemeinschaft. Keine schwerere Heimsuchung hat unser Volk betroffen. Und wenn die Nacht nicht mehr schwärzer werden kann, so muß sie – heller werden. Es ist eingetroffen, Lenbach. Diese Freudenbotschaft bringe ich Ihnen als Genesungstrank. Die Gaukler haben sich in ihren eigenen Schlingen gefangen. Das Volk vom Geringsten bis zum Größten verflucht ihre Namen. Das Volk hat staunend die Augen aufgerissen über die gewaltige Zahl der todesmutig marschierenden Männer und beim Anblick dieser ungeahnten vaterländischen Kraftquelle den Mut in der eigenen Brust wieder entdeckt. Für jeden der frevelhaft Gemeuchelten stolzen Hunderte in München, stoßen Tausende im Reich zu unseren Fahnen, und die Reihen schwellen an und werden das ganze Volk umfassen, soweit es deutsch ist.«

Der Oberst regte sich nicht. Aber in seinen Augen glühte das große Licht des Verständnisses.

»So trägt diese letzte und schwerste Heimsuchung die Saat der Freiheit in sich. Ein innerlich einiges Volk vermag die Last des Atlas zu tragen, es vermag aber auch – Berge zu versetzen. Mit einem solchen in sich gesammelten Volke wird keine Macht der Welt wagen, auf die Dauer Fangball zu spielen. Es wird in seiner stetig zuströmenden Kraft den Gewalthabern unheimlich werden, und sie werden in Kürze beginnen, ohne allzu großen Schaden ihres Ansehens die Segel einzuziehen. Nun erst wittre ich Morgenluft.«

Die Augen der Kampfgefährten trafen sich und ruhten ineinander.

»Und die Brudermörder, Thorsberg? Nur dies eine Wort.«

»Sie haben sich in die Kasernen geflüchtet und sich mit einer doppelten Leibwache von Soldaten und Stacheldraht umgeben. Vor der Wut und Verachtung des eigenen Volkes. Bei guter Gelegenheit werden sie sich mit ihrer Schande ins Ausland flüchten. Kein Heldenbuch wird je ihren Namen melden. Nun wissen Sie des Liedes Ende.«

Der Oberst schloß die Augen. Ein seltsames Lächeln umspielte seine Lippen, als ob er träumte. –

Es wurde, wie Friedrich Thorsberg es vorausgesagt hatte. Die Blutzeugen des Brudermordes waren zu Erweckern der Brudergemeinsamkeit geworden. Durch alle Glieder des Volkes, durch alle Stämme und Gaue rauschte die entfesselte Woge der Begeisterung und riß die Lauen und Laschen mit sich empor zum Bekenntnis: »Wer nicht mit uns ist, der ist gegen uns. Fort mit dem jämmerlichen Parteigeklüngel. Laßt Deutschlands Glocken tönen. Männer zu Tag!«

Und die deutsche Glocke tönte den Männern der deutschen Regierung hallend und schallend in den Ohren und fegte das Zaudern aus ihrem Gehirn und ließ sie selber zu Luftreinigern werden im deutschen Volk und Vaterland. Sie griffen zu und fegten die Staatsställe von den faulen Fressern, die Werkstätten von den großmäuligen Tagedieben rein, und wenn sie ein größeres Maß an Arbeit forderten, so lohnten sie dafür mit veredeltem Geld. Die Besten des Volkes eilten ihnen zu Hilfe, bürgten mit ihrem eigenen Besitz und erzwangen in der Welt eine festgefügte deutsche Geldwährung, die den Wucherern jählings den Atem benahm, dem blutleeren Volkskörper aber die ersten tiefen Atemzüge der Gesundung brachte.

Täglich, wenn Friedrich Thorsberg mit Hilfe des Generalstabsarztes dem Freund einen frischen Verband anlegte, vermochte er dem Obersten neue Arzneien für die Seele zu verabreichen. Täglich aber auch sparte er sich jetzt eine Stunde ab für die Kinder, eine Erholungsstunde für sich selbst.

Daß er in ihnen las, wie er in ihrer Mutter, wie er in Frau Minne gelesen hatte, war seine höchste Vaterfreude. Schon bei ihrem ersten Beisammensein hatten sie ihm ihren Bericht erstattet über alles, was sich zwischen ihnen und Waldheim Vater und Kindern zugetragen hatte.

Einmal war Walter Lenbach ins Zimmer getreten und hatte sich zu ihnen gesellt.

»Was machen die Arbeiten, Walter? Wollen Sie Ihr Wissen bald in der Wirklichkeit erproben?«

»Ich habe eine Anstellung in einem großen Elektrizitätsunternehmen in Aussicht.«

»Und dann?« fragte Friedrich Thorsberg und unterdrückte ein Lächeln.

»Dann, Herr Professor? Ja, dann hoffe ich mich in Jahr und Tag als heiratsfähig melden zu können.«

»Als heiratsfähig? Da müssen Sie doch schon mit irgend jemand verlobt sein? Dürfen wir wissen?«

Walter Lenbach schaute zu Gertrude hinüber. Sie hob den Kopf, sah ihn an und errötete. Wie zwei verlegene Kinder waren die beiden groß und schlank gewachsenen Menschen.

»Verlobt?« wiederholte Walter Lenbach und wandte den hilflos gewordenen Blick auf Friedrich Thorsberg zurück. »Um bei der Wahrheit zu bleiben, Herr Professor – an eine Verlobung haben wir gar nicht gedacht. Uns noch besonders zu verloben, ist uns gar nicht erst in den Sinn gekommen, so füreinander bestimmt haben wir uns vom ersten Tage an gefühlt, so zusammengewachsen im Lauf der Jahre.«

»Wer: Wir?«

Und in ehrerbietiger Haltung sagte der Jüngling, und seine Augen suchten sein Mädchen: »Die Gertrude und ich.«

»Die Gertrude und Sie? Und Ihr beide habt niemals ein Verlöbniswort gewechselt? Nie euch förmlich einander angelobt?«

»Herr Professor, ich glaube, das wäre uns wie eine Beleidigung gewesen.«

»Und du, Gertrude? Hast du es auch so und nicht anders geglaubt?«

»Vater, der Walter und ich, wir sehen alle Dinge aus denselben Augen.«

Ein Schweigen herrschte. Und das Schweigen zog das Mädchen von seinem Sitz und an des Vaters Schulter.

»Bist du traurig, Vater? Habe ich dich traurig gemacht? Oder der Walter?«

»Es wäre Selbstsucht von mir,« sagte Friedrich Thorsberg leise, »und deine Mutter, Gertrude, hat mir schon das Herrentum der Selbstsucht verwiesen und das Weibtum der Liebe für ebenbürtig erklärt. In diesem Weibtum der Liebe stehst du jetzt, Gertrude, und es wird auch für mich noch reich genug bleiben, wenn ich mich auch nach Frau Minnes Wort bescheiden muß.«

Er wandte sich Walter Lenbach zu. Das Sprechen wurde ihm schwer.

»Ihnen aber – nein, dir, Walter, habe ich ein anderes Gebot von Gertrudes Mutter zu verkünden. Sie gebot mir, dies an Leib und Seele urgesunde Mädchen nur einem Manne zu geben, der ein Geschlecht von deutschen Adelsmenschen verbürge.«

»Nicht ich, Vater – die Gertrude und ich, wir verbürgen es.«

»Ihr habt mich gläubig gemacht,« sagte Friedrich Thorsberg, zog sie beide fest an sich, drückte Gert die Hand und ging. –

Der Abend dieses Tages und die Nacht, die ihm folgte, wollten für Friedrich Thorsberg kein Ende nehmen. Ein Schmerz war in ihm, und er versuchte vergebens, sich Rechenschaft darüber abzulegen. Er versuchte es, bis ihn fröstelte. –

Weihnachten nahte, und Arnold Wilde meldete seine Hochzeit auf den Sonntag vor dem Fest.

In Friedrich Thorsberg aber war immer noch das Frösteln, als ob ihm eine heimliche Krankheit durch das Blut schliche, und er zerriß den Glückwunschbrief, den er begonnen hatte, und drahtete dem jungen Freunde ein paar herzenswarme Worte. Gleichzeitig erging eine Drahtung an den Ortsvorsteher Gotthold, einen Korb edlen Weines und einen Strauß Blumen auf die Hochzeitstafel zu stellen.–

Das kleine Licht, das am deutschen Himmel erschienen war, hielt an im neuen Jahre. So genügsam waren die Menschen der Notzeit geworden, daß sie das kleine Licht schon wie warme Sonne deuchte.

»Wir haben den Anfang des Fadens in die Hand bekommen,« sagte Friedrich Thorsberg, als er am Lehnstuhl des genesenden Freundes saß. »Jetzt wird sich das Knäuel langsam entwirren.«

»Tritt der deutsche Wieland in den zweiten Teil der Handlung ein, Thorsberg?«

»Merken Sie denn nicht, daß wir schon seit langem im zweiten Teile stehen? Daß der zweite schon begonnen hatte, während der erste noch spielte. Der deutsche Wieland, dem der Feind die Sehnen an den Füßen zerschnitten und die niedrigsten Knechtdienste auferlegt hatte, hat längst sein Flügelpaar fertiggestellt und schon manchen stillen Probeflug unternommen. Ich gehe jetzt öfter und öfter durch die Versuchsräume der Wissenschaft und staune, was ihr Erfindungsgeist unter dem Druck der Not hervorgebracht hat, wie sie die brache Industrie auf ein Menschenalter zu befruchten vermag. Und die Welt würde mit angehaltenem Atem staunen, was der Geist des Krüppels jetzt erst alles vermag. Ihre Erfindung, Lenbach, wird nicht die geringste sein, wenn sie ans Tageslicht tritt.«

»Und die Ihre, Thorsberg?«

»Die meine, Lenbach, trägt, wie der Römer Krieg und Frieden in seiner Toga trug, das Zeil oder das Unheil in sich. Das hängt davon ab, ob letzten Endes eine Menschenseuche nützlicher für unsere Welt ist oder eine Viehseuche schädlicher.«

»Und wann wird es sich erweisen?«

»Wenn es sich trotz unserem heißen Mühen zeigen sollte, daß der Mensch unter das Tier hinabgesunken ist.«

Friedrich Thorsberg glättete mit der Hand die Runen der Stirn.

»Der Wieland». Alle im deutschen Vaterland, die sich in der Marter nicht unterkriegen ließen und höher denn je nach den Sternen langten, sind in ihrer Gesamtheit zum Wieland geworden. An den Feindmächten wird es liegen, ob er mit seinen gewaltigen Gaben zum Vernichter des Lebens oder zum Wohltäter der Menschheit werden soll.«

»Erlassen Sie eine Mahnung ›an alle‹, Thorsberg.«– –

Ende Februar bestimmte der Generalstabsarzt, daß der Oberst Lenbach zur letzten Ausheilung seiner Lunge einen längeren Aufenthalt im Süden zu nehmen habe. Nach heftigem Sträuben mußte sich der Oberst dem Willen des gewalttätigen Mannes unterwerfen. Gertrude Thorsberg wurde ihm als Pflegerin zugeteilt. Sie reisten nach einem stillen Nestchen der italienischen Küste. Die Pässe waren widerstandslos bewilligt worden.

Auch der junge Lenbach hatte den Freundeskreis am Starnberger See verlassen, um Lebenstüchtigkeit und wissenschaftliche Fähigkeit in einem weitausgreifenden norddeutschen Elektrizitätsunternehmen zu erproben. Gert Thorsberg aber sollte auf ein Jahr die Hochschule in Wien beziehen und sich von dort aus weiter umsehen auf den Hochschulen des deutschen Vaterlandes. Friedrich Thorsberg wünschte es.

»Ich will auch dir gegenüber nicht selbstsüchtig sein, Gert. Ihr seid das werdende Geschlecht, und viel wird von euch verlangt werden. Aber du hast auch eine Sendung zu erfüllen. Unter den Jungmannschaften, wohin du kommst. Sorg für festen Zusammenschluß. Seid auf der Wacht!«

Es war am letzten Abend vor Gert Thorsbergs Ausreise, als Großvater, Vater und Sohn im Herrenzimmer des Ältesten der Thorsbergs beieinandersaßen.

»Da sitzen wir nun in drei Geschlechterfolgen,« bemerkte der Ahn, »und jede hat ihre ›neue Zeit‹ erlebt. Die neue Zeit ... Morgen setzest du dir die Brille auf und gewahrst, daß es doch wieder die alte ist. Ich kenne da eine lehrreiche Geschichte von einem Mann, der billig seinen Schimmel verkaufte, um einen glänzenden Rappen zu erstehen. Als er den Rappen für teures Geld nach Tagen gefunden hatte und stolz durch den Regen nach Hause ritt, troff die schwarze Farbe ab, und er saß doch wieder auf seinem Schimmel. Nur daß sein Schimmel schmieriger geworden war und er sich die Hosen bekleckert hatte. Abgesehen vom Lehrgeld.«

»Es ist eine wirklich schöne und lehrreiche Geschichte, Vater,« sagte Friedrich Thorsberg. »Aber wenn es nicht geregnet hätte, wäre der Mann eine Zeitspanne sehr glücklich gewesen. Aus den Spannen aber setzt sich das Glück zusammen.«

»Weshalb soll sich ein Schimmel nicht genau so feurig zureiten lassen wie ein Rappe, Großvater? Auf die Farbe kommt es doch nicht an, sondern aufs Blut.«

»Da sitzen wir nun in drei Geschlechterfolgen,« wiederholte der Älteste der Thorsbergs, »und keiner will von den Erfahrungen der Vorangegangenen lernen. In Gottes Namen denn, mein Enkelsohn Gert, erlebe deine Dummheiten und deine Klugheiten selber. Ich habe es, unter uns gesagt, im Lebenstanz nicht anders gemacht, und während ich von den Klugheiten nicht viel mehr weiß, sind mir die Dummheiten mit Glanz und Gloria im Gedächtnis hängen geblieben.«

»Das ist der Frühling, Vater,« sagte Friedrich Thorsberg. »Und seine jährliche Wiederkehr ist es allein, die uns ans Leben fesselt.«

»Ja, Vater,« fügte der Jüngste hinzu, »und so hast du unser Leben mit dem festen Glauben an den schönsten, den deutschen Frühling angefüllt. Er ist auf dem Wege.«

Und sie sprachen von Deutschlands großer Vergangenheit und riefen die Bilder der Jahrtausende und spürten, als sie sich trennten, das Wehen des deutschen Frühlings im Blut, der unvergänglich ist, solange es Gläubige gibt, die Männer sind.

Am nächsten Abend saßen sie nur zu zweit.

»Unser Kreis ist eng geworden, Friedrich, und du wirst wieder an die Arbeit wollen und ins Leben. Aber ich möchte dich in meinen hohen Jahren doch in der Nähe angesiedelt wissen und habe dir daher das kleine Landhaus am See gekauft, das du kürzlich lobtest. Denn unter einem Dach soll Alt und Jung nicht wohnen, und du bist mir noch zu jung für meine abgeklärte Weltanschauung.«

In tiefer Überraschung ergriff Friedrich Thorsberg des Gebers Hand.

»Es ergeht dir wie mir, Vater. Wenn du spottest, bist du am weichsten. Aber ich habe keinen Anspruch mehr auf ein Erbe. Als ich in Afrika das große Unternehmen ausrüstete, habe ich mit deiner Einwilligung das Erbe an meinen Bruder Karl verpfändet.«

»Er erhält es, Fritz. Ich betrüge selbst einen Betrüger nicht. Aber was ich mir seit dazumal neu erworben und erspart habe, gehört mir allein zu meiner freien Verfügung. Das Häuschen schenke ich dir mit seiner einfachen Einrichtung. Aus Selbstsucht. Weil ich dich in der Nähe halten will. Das übrige habe ich Gert und Gertrude verschrieben.«

Friedrich Thorsberg widerstand nicht länger. In selber Woche noch siedelte er über. Unter seinem Gepäck befand sich auch Gustav Adolf Brandts letztes Bild. »Bald wird es sein Denkmal werden,« sprach Friedlich Thorsberg vor sich hin, »und sein Grab ein deutscher Wallfahrtsort.«

Er saß am Schreibtisch nieder und wog alle Worte, die er schrieb. Und er schrieb das Letzte und Tiefste seines deutschen Bekenntnisses, damit es den Völkern der Welt zum Erkenntnis würde.

Wieland hatte sein Flügelkleid angelegt. Er flog.

Deutscher Mannesgeist flog über die Welt.

Und die fremden Gewalthaber in ihren fernen Städten lasen das seltsame Schreiben und forschten bei ihren Gelehrten nach Wert und Bedeutung des Urhebers. Und als sie die Berichte verglichen und ersahen, daß es sich um einen Forscher von Weltruf und staunenswerten Leistungen und Erfindungen auf dem dunkelsten Seuchengebiet handelte, dazu um einen Mann kühlsten und unerschrockensten Wesens und großer persönlicher Tapferkeit, nahmen sie das Schreiben noch ein zweites und ein drittes Mal hervor, lasen Wort für Wort und manches noch zwischen den Zeilen.

»Fünf endlos lange Jahre«, so stand es in Friedrich Thorsbergs Schreiben, »hat das deutsche Volk, ein Volk von mehr als sechzig Millionen Menschen, alle Heimsuchungen mannhaft ertragen. Es hat sich dem Schicksalsbeschluß, der es im Ringen der Völker für erlegen erklärte, unterworfen in der heiligen Zuversicht auf gerechtes Gericht. Das Gericht aber legte ihm Prüfungen auf, die Tausende in die schwarze Nacht des Grabes, Tausende in die noch schwärzere Nacht der Verzweiflung führten. Kein Ehrlicher, und sei es ein Feind, wird zu bezweifeln vermögen, daß das deutsche Volk die Prüfungen bestanden hat.

»So ist es an der Zeit, dem Begehren des deutschen Volkes gerecht zu werden. Es begehrt nicht mehr, als in den angestammten Grenzen ein würdiges Dasein führen zu dürfen. Ein Dasein ist aber nur ein würdiges in der Arbeit, in der Pflichterfüllung und in der Freiheit. Darum begehren wir nicht mehr als die Achtung unserer Freiheit, die Befreiung unserer Grenzländer von fremden Truppen, die Befreiung unserer Seelen von der Erniedrigung. Nur ein Volk von Würde wird auf die Dauer stolz die Lasten des Geschickes tragen.

»Wir haben die Prüfung bestanden. Jede neue Heimsuchung würde eine Grausamkeit bedeuten. Grausamkeiten aber fordern Grausamkeiten heraus. Ich mahne Sie.

»Sie haben das deutsche Volk zum Krüppel gemacht, und einen Krüppel halten Sie für ungefährlich und lächerlich. Lassen Sie sich warnen. Im verkrüppelten Menschen, der an den Krückstock gefesselt ist, pflegen sich die geistigen Entwicklungen mit einer wundertätigen Schnelle und Schärfe zu vollziehen. Dann sprengt der Geist sein armes Gefäß. Dann schwingt er sich sieghaft empor über die Marter des Körpers und alle seine Peiniger.

»Hören Sie mich. Der Geist des so grausam verkrüppelten deutschen Volkes hat längst das Gefäß zersprengt. Er ist freier und gewaltiger geworden als je vorher. Er hat nach Hilfe Ausschau gehalten und nach Rettungsmitteln. Sehen Sie von jeder neuen Heimsuchung ab und lenken Sie ein in die Bahn des gesitteten Friedens. Unsere entwaffneten Leiber vermögen keinen Krieg mehr zu führen. Aber unser bis an die Zähne bewaffneter Geist vermag Grausamkeiten zu vergelten. Und wollten es die Geister der Finsternis, daß Deutschland zur Hölle führe, so würde es nicht anders zur Hölle fahren als mit dem Vorspann seiner Peinigervölker.

»Hören Sie mich an und wählen Sie. Der deutsche Geist im verkrüppelten Körper hat Erfindungen gezeitigt, die das Leben der Welt verbürgen oder vernichten. Sie aufzuzählen, erübrigt sich. Denen, die die Sorge um ihre Völker tragen, ist ihr Vorhandensein kein Geheimnis geblieben. Für die Wirklichkeit ausgebaut vermögen sie der Menschheit Reichtum und Lebensblüte zu schenken im Schutze der Gegenseitigkeit. Doch vermögen sie durch eine einzige Umschaltung diesen Erdenstern für immer in einen Friedhof zu verwandeln.

»Wir stehen bereit. Ihrer ist die Wahl. Teilen Sie die Würde mit uns, und wir teilen mit Ihnen den Segen unserer Erfindungen. Denn die sehnsüchtig gewordene Erde verlangt nach dem Segen und hat des Fluches genug erfahren.

»Handeln Sie. Und handeln Sie bald. Ich weiß, daß Sie das Ansehen Ihrer Völker ins Treffen führen werden, und ich vermag es zu würdigen. Ich erwarte daher nicht mehr, als daß Sie mit der Befreiung beginnen und Sie ohne große Stockungen zu Ende führen. Die Geste des Edelmuts soll vor der Welt auf Ihrer Seite sein. Aber es gibt nur die eine Antwort: die Tat.«

Als Friedrich Thorsberg seine Arbeit vollendet hatte, blickte er um sich, und er sah, das; er allein war und ohne Weib und Kind. Er stand am Fenster und drückte die Stirn gegen das kalte Glas, und ein Hungern und Dürsten kam über ihn nach dem Frühling, der draußen am Seegestade seinen Einzug hielt.

›Ich brauche eine Schaffnerin für mein einsames Haus. Eine Schaffnerin, die auch mir ein wenig Wärme schafft.‹

Und er dachte in der Einsamkeit, die sich lastend auf sein tatenfreudiges Wesen senkte: Ich will an Martha Wilde schreiben. Sie ist die Gesundheit.

Da war es ihm, als ob der Gedanke allein schon den belebenden Frühlingshauch in sein sehnsüchtiges Blut getragen hätte, und er ging und drahtete an den Rhein: »Komm zu mir. Ich brauche dich.«

Keine Antwort lief ein. Aber nach zwei Tagen öffnete sich das Tor seiner Einsamkeit, und das Mädchen stand vor ihm in der frauenhaften Schöne ihrer schwellenden Gesundheit und dem geliebten goldroten Germaninnen-Haar.

»Ich bin auf deinen Ruf gekommen, Friedrich, wie ich ging und stand.«

»Ich habe mich nicht in dir getäuscht.«

»Wie lange soll ich bei dir bleiben? Du hast es zu bestimmen.«

»Bleib, solange du magst.«

»Ich mag, solange du mich brauchen kannst ...«

»Ich brauche deine starken Flügel. Denn ich muß noch einen langen und hohen Flug tun.«

»Dann, Friedrich, fürchte ich: es wird nur ein kurzes Bleiben sein. Denn du suchst den starken Geist, und ich bringe dir nicht mehr als eine starke Seele.«

Friedrich Thorsberg trat vor sie hin und nahm sie in seine Arme.

»Ich habe Geist genug für mich und andere. Laß mich deine beseelte Nähe spüren. Ah, du bist wie eine Wohltat.«

Sie lag ganz still ...

Der Frühling rang sich ins Land. Wie in Fieberschauern. Und wie der Arzt es weiß, daß erst die Fieber vertoben müssen, bevor die Stille der Genesung folgt, so mußte es Friedrich Thorsberg, daß die Welt nicht mitten im Fieber gesunden könne, und er wartete als Deutschlands Wächter und deutete die Zeichen.

Die Zeichen mehrten sich. Immer sichtbarer traten sie aus dem Nebel hervor. Die Zeichen, die den Fluch in Segen wandeln wollten.

Friedrich Thorsberg aber hielt auf starkem Flügelpaar Ausschau über das Land der Väter und Mütter, das jetzt das Deutschland der Kinder werden sollte. Und die deutsche Seele stärkte seinen Geist.

 

Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart

 

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