Wilhelmine Heimburg
Aus dem Leben meiner alten Freundin
Wilhelmine Heimburg

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So reisten wir denn am 1. Dezember ab; ich, nicht ohne die herzlichsten Grüße an Fräulein Siegismund zu senden, nachdem ich ihr schon vorher geschrieben hatte, wie unendlich ich mich freue, die Geschichte ihres Lebens lesen zu können, und daß ich sie bitte, wenn es ihr nicht zu viel Mühe mache, dann und wann einmal an mich zu schreiben.

Wir lebten sehr still in Rom, unsere Briefe flogen häufig hin und her zwischen der ewigen Stadt und der kleinen preußischen Festung, und eines Tages hielt ich ein ziemlich dickes Paket in den Händen: die Geschichte meiner alten Freundin.

Meiner Mutter erzählte ich den Anfang und konnte, da sie sich lebhaft für das Schicksal der alten Dame interessierte, das Manuskript vorlesen. Ein Zettelchen lag darin. Sie schrieb:

»Anbei, meine liebe, junge Freundin, die Fortsetzung meiner Erzählung. Der Schluß soll erst noch kommen – wer weiß, wie bald. Ich fühle mich mitunter gar nicht wohl, ach, und Sie fehlen mir recht. Es ist, als ob der letzte Sonnenstrahl, der meinen einsamen Abend verschönte, mir nicht mehr leuchten sollte. Bleiben Sie nur nicht zu lange mehr! Meine Grüße bekommen Sie wohl durch Ihren Herrn Gemahl? Verzeihen Sie, wenn ich manchmal undeutlich schrieb, und erinnern Sie sich bei Lesung dieser Zeilen freundlichst

Ihrer alten M. Siegismund

Es lag etwas so Trauriges in diesen schlichten Worten, ich bekam ordentlich Sehnsucht nach dem alten, lieben Gesicht, ich hätte wer weiß was gegeben, hätte ich von unserem Hause aus über die kleine, enge Straße huschen und bei ihr anklopfen können, um sie zu trösten. Ich faltete die Bogen auseinander, sie waren eng beschrieben. Auf dem einen bemerkte ich Tränenspuren.

»Soll ich vorlesen, Mama?«

»Ach ja, lies«, bat sie, »aber gib mir erst ihr Bild, ich will das reizende Gesichtchen ansehen, während ich ihre Geschichte höre.« Sie hielt das Bild in der Hand und ich begann:

»Also, vor der Tür des Pfarrhauses stand ich mit einem peinlichen Gefühle im Herzen. Ich strich mir unwillkürlich nochmals über das Haar und zupfte an dem weißen Mulltuche, welches ich über den Schultern trug. »Heut seh' ich nicht so verwildert aus«, sagte ich mir nach einer kurzen Musterung meines Anzuges, dann trat ich ein.

Hinter dem Glasfenster der Stubentür wurde der weiße Vorhang zurückgeschoben. Der alte Frauenkopf sah einen Augenblick hindurch, die Tür wurde geöffnet und ein Paar alte Hände streckten sich mir entgegen, indem eine freundliche Stimme sagte: »Das ist brav, mein Kind, daß Sie mich besuchen, ich habe schon lange darauf gewartet. Nun, treten Sie näher.« Ich faßte die dargebotene Hand und folgte beklommenen Herzens der Einladung.

Himmel, wie gemütlich war es hier. Ein ordentlich anheimelndes Gefühl überkam mich, als ich mich in einen Stuhl am Fenster niederlassen mußte, wo auch der Lehnstuhl der alten Frau stand.

Zuerst richtete ich ihr meinen Auftrag aus. Sie ging durch die Stube, öffnete eine Tür und rief hinein: »Heinrich, du sollst einmal herüberkommen zum Herrn Pastor, aber sofort, er hat mit dir zu sprechen.«

»Gleich, liebe Mutter«, hörte ich die tiefe Stimme des jungen Mannes sagen. Dann kam sie wieder.

»Nun sehen Sie mich mal ordentlich um. Wie lieb sehen Sie aus. Gar nicht so, wie mein Sohn Sie beschrieb.«

»Hat er mich beschrieben?«, rief ich aus, halb peinlich berührt, halb belustigt. »Oh, ich war eben von einem Spazierritt zurückgekommen. Wir hatten einen kleinen Wettritt gemacht und da –«

»Das ist ja ganz gleich. Ich sehe Sie so nett vor mir, daß ich es gar nicht anders wünschen mag. Sie leben auf dem Schlosse, wie Kathrin mir sagt. Wie lange wollen Sie dort noch bleiben?«

Wie lange? Ja, darauf wußte ich nicht zu antworten. »Ich denke, bis – ich weiß wirklich nicht –« stotterte ich.

Der Eintritt des jungen Pfarrers unterbrach meine Antwort. Heute sah er mich nicht so eigentümlich, eher flüchtig an. Er grüßte nur, fragte nach der Dauer der Abwesenheit der Familie Bendeleben, entschuldigte sich sozusagen bei mir, daß er außer einem flüchtigen Besuche noch nicht im Schlosse gewesen sei, er habe jetzt so viele Amtsgeschäfte. Dann empfahl er sich, und gleich darauf sah ich ihn mit elastischen Schritten über die Straße gehen und in unserem Hause verschwinden. Die Mutter blickte ihm mit leuchtenden Augen nach.

»Wie hübsch ist das alte Haus geworden«, sagte ich, mich ganz entzückt in dem sauberen, gemütlichen Stübchen umschauend. »Drüben bei uns ist es so schrecklich verfallen und öde.«

»Oh, hier sah es noch schlimmer aus«, erwiderte die alte Frau. »Da habe ich keine Mühe gescheut, von außen haben's die Maurer und Zimmerleute instand gesetzt und hier drinnen war ich es. Sie glauben nicht, liebes Kind, was ein Paar weibliche Hände für Wunder tun können, wenn sie von einem bißchen Sinn für Ordnung und Nettigkeit regiert werden.

Sehen Sie, ein paar weiße Vorhänge vor den Fenstern, ein paar Blumenstöcke drin, ein paar schlichte Bilder an den Wänden und ein sauberer Fußboden, das macht das ganze Zimmer nett.«

»Ach ja«, sagte ich, »aber Kathrin versteht das nicht.«

»Nein, Kathrin versteht das nicht und kann das nicht verstehen. Sie hat zu wenig Bildung, um Zierlichkeit zu verlangen von ihrer Umgebung. Die Hausfrau oder die Tochter des Hauses soll für diese Dinge sorgen, aber nicht die Magd. Kathrin tut ihre Arbeit, mehr kann man nicht verlangen. Das Haus und der Anzug müssen den Geist einer Frau widerspiegeln. – Doch da komme ich ganz ins Schwatzen und biete Ihnen nicht mal eine kleine Erfrischung«, setzte sie hinzu, als sie merkte, daß ich verlegen wurde.

Sie wollte nach dem Eckschrank gehen, ich erhob mich jedoch und dankte, ich müsse nach Hause und dort nach der Ordnung sehen. Frau v. Bendeleben habe mir die Oberaufsicht anvertraut.

»Wollen Sie schon fort? Oh, das tut mir leid«, sagte sie herzlich; »ich hoffe, Sie kommen bald wieder, so einmal mit dem Strickstrumpf zu einem Täßchen Kaffee. Ich würde mich sehr freuen, und dann holen wir später den Vater herüber und verleben einen gemütlichen Abend zusammen – wollen Sie?«

Ich verspürte eigentlich keine Lust, sagte aber natürlich ja und empfahl mich ziemlich eilig, von der redseligen, kleinen Frau bis zur Gartentür begleitet.

Einen Augenblick überlegte ich, ob ich noch einmal zu meinem Vater hinaufgehen sollte. Doch da ich wußte, der junge Pfarrer war bei ihm, entschied ich mich, direkt nach dem Schlosse zu wandern, und rief nur noch zur Haustür hinein: »Guten Abend, Kathrin, sei auch nicht zu fleißig!« Dann ging ich. Ich war verstimmt, wie immer, wenn ich von dort zurückkehrte, aber gewöhnlich verflog die kleine Wolke bald unter der Anregung, die ich im Schlosse fand. Heute fehlte mir Hannas freundliches Wesen, die mir alles Trübe so leicht hinwegschmeichelte. Ich sehnte mich danach, ihre hübschen, grauen Augen zu sehen und zu hören, wie sie sagte: »Meine schöne Gretel« – so nannte sie mich immer – »hat heute wieder die Schmollfalte zwischen den Augenbrauen«, dann strich sie mit den weichen Fingern über meine Stirn, und ich wurde wieder vergnügt.

Heute saß ich allein und kam mir so einsam vor, so verlassen! »Oh, wer doch eine Mutter hätte!« rief ich, und eine Art Neid überkam mich, als ich an den jungen Pastor dachte. Dann fand ich, daß ich wohl Ursache hätte, zu weinen. Es wäre wohl ganz anders geworden, wenn sie noch lebte, und ich weinte die Beschämung hinweg, die mir die einfachen Worte der alten Frau unten im Dorfe verursacht hatten. Die Nacht träumte ich, in unserem kleinen Hause sähe es ebenso schmuck aus wie drüben, und Frau Renner stand da und lobte die weißen Vorhänge, und ich saß eben mit verwildertem Haar im Reitkleide auf dem Sofa, und der junge Pastor stand vor mir und sagte: »Jetzt sind die Pferde gesattelt, wir wollen zur Kirche reiten.«

Als ich am andern Morgen erwachte, mußte ich lachen über den Unsinn und blieb, da ich mancherlei zu tun hatte, vergnügt und heiter. Die einsamen Tage schwanden schneller dahin, als ich glaubte, und wieder war eine Woche vergangen, in der ich das Dorf nicht besucht hatte. Dies fiel mir schwer aufs Herz, als ich, im Begriff, nach Hause zu reiten, aus dem Walde herauskam und das Dorf im Scheine der untergehenden Sonne vor mir liegen sah. Ich hatte mir die Zeit so angenehm vertändelt mit Lektüre, Gesang und dem wichtigen Amt der Hausfrau, die ich vertrat, daß ich auf einmal ganz erschrocken die Tage nachrechnete und fand, daß beinahe zehn Tage vergangen waren, seit ich meinen Vater zum letztenmal gesehen hatte. Kurz entschlossen, lenkte ich das Pferd auf die Dorfstraße und hielt bald vor unserer Haustür. Ich klopfte mit dem Stiel meiner Reitpeitsche an das Fenster. Da erschien Kathrinens Kopf. Aber mit dem Ausdruck des Entsetzens fuhr sie zurück, als sie mich auf dem Pferde sah, daß ich laut auflachen mußte.

»Komm heraus, Kathrin«, bat ich, noch immer lachend, »und halte mir das Pferd; ich will einmal nachsehen, wie es dem Vater geht.«

»Nun und nimmer!« rief sie. »Das fehlt auch noch, daß du hier vorgeritten kommst. Herr Gott, wie schäme ich mich vor der Frau Gerichtsschreiberin drüben – reite, wo du willst, wenn du das gottlose Treiben nicht lassen kannst, aber komme mir nicht wieder hierher.«

Während dieser Predigt mußte ich immer noch lachen; mein kleiner Rappe wurde ganz unruhig und machte ein paar Sätze. »Jesus!« schrie Kathrin. »Das Tier wird noch mit dir durchgehen und du brichst den Hals – komm herunter!«

»Wenn du meine hübsche Zuleika halten willst – gern«, sagte ich, »sie ist lammfromm und beißt nicht.«

Kathrin erwiderte nichts, sie sah stier nach den gegenüberliegenden Fenstern des Pastors Renner, wurde plötzlich dunkelrot und machte eine Handbewegung, indem sie mit den Schultern zuckte, als wolle sie sagen: »Ich bin unschuldig daran, daß sie so verdreht ist«, dann verschwand sie. Ich wandte mein Pferd – da stand am offenen Fenster die Frau Gerichtsschreiberin mit ängstlichem Gesicht, und der junge Pfarrer trat eben auch hinzu und lächelte sehr ironisch, ganz wie damals. Ich war aber heute zu übermütig, um mich davon einschüchtern zu lassen, winkte ziemlich herablassend mit der Reitpeitsche und sagte: »Kathrin erklärt, sie fürchtet sich vor dem Tier, und ich habe niemand, der es mir halten kann – ich wollte gern zu meinem Vater hinaufgehen«, setzte ich erläuternd hinzu. Es lag eine leise Aufforderung an die Galanterie des jungen Geistlichen darin, aber er rührte sich nicht. Er erwiderte nur meinen Gruß und meinte: »Ich glaube, es ist besser, Sie reiten nach dem Schlosse und kommen zu Fuß hierher zurück. Mir geht es wie Kathrin, ich fürchte mich auch vor – Damenpferden.« Dann machte er eine Verbeugung und verschwand vom Fenster.

Eine unangenehme Zugabe, dachte ich, dieser junge Pastor mit seiner beißenden Ironie. Dann fiel mir etwas ein: ich warf mein Pferd herum, ritt nach dem Schlosse und ließ den kleinen Jockei aufsitzen, der uns sonst immer begleiten mußte, und kam nun, von diesem gefolgt, bald wieder vor meines Vaters Hause an, sprang, von dem Diener unterstützt, leicht vom Pferde, warf ihm die Zügel zu und befahl ihm, die Tiere langsam auf und ab zu führen. Dann ging ich hinauf zu meinem Vater.

»Guten Tag, Gretchen! Kommst du auch einmal, nach mir zu sehen? Wie geht es dir, und was war vorhin unten für ein Wortwechsel? Die Kathrin warf wieder einmal alle Türen zu, daß das Haus dröhnte. Gott weiß, was die Alte wieder hat«, sagte mein Vater. »Du kommst jetzt so selten, Kind; ich habe dir etwas mitzuteilen, und es ist gut, daß du heute endlich da bist. Komm, setze dich.« Er winkte nach dem Sofa, drehte sich halb in seinem Sessel herum, schob die Brille auf die Stirn, und nach ein paar langen Zügen aus der Pfeife, fuhr er fort: »Nicht wahr, Kind, du kannst doch noch einige Zeit auf dem Schlosse bleiben?«

»Ja, lieber Vater, ich denke wohl, man behält mich dort noch gern.«

»So, und wenn das nicht wäre, so hat mir Frau Gerichtsschreiberin Renner drüben angeboten, dich bei sich aufzunehmen, und –«

»Warum?« rief ich hastig. »Wie kommst du darauf?«

»Ich will reisen, mein Kind, ich will, da ich noch so wenig gesehen habe, die Museen der größeren Städte besuchen. Ich werde längere Zeit abwesend sein und möchte dich natürlich unter bestem Schutz wissen.«

»Du kannst ruhig reisen, lieber Vater«, versicherte ich, »ich bleibe selbstverständlich auf Bendeleben. Ich weiß nicht, wie dir der Gedanke kommt, daß ich von dort fort müsse.«

»Du hast recht, Kind, es ist auch ein komischer Gedanke, aber wie so etwas manchmal plötzlich kommt! Man will doch für alle Fälle gesorgt haben, wenn man eine so lange Reise vor sich hat. Es könnte ja sein, die Hanna bliebe nun in Wien bei der Tante, oder die ganze Familie ginge längere Zeit auf Reisen – für diesen Fall findest du drüben jederzeit freundliche Aufnahme.«

»Nie gehe ich dorthin, lieber hause ich hier ganz allein mit Kathrin!« rief ich, und die Tränen schossen mir in die Augen. »Der junge Pastor drüben kann mich nicht leiden und seine Mutter schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, weil ich reite. Ist es denn überhaupt eine Sünde, auf dem Pferde zu sitzen? Kathrin schilt und sagt, ich solle nicht hierherreiten, sie schämt sich meiner. Mein Gott, tue ich denn etwas Böses?« Ich brach in Tränen aus.

Mein Vater wollte mich trösten, war aber dabei so ungeschickt, daß er gar nicht wußte, wie er es anfangen sollte. Er stellte, offenbar peinlich berührt, seine Pfeife in die Ecke und kam zu mir.

»Weine nicht, Kind, die Kathrin ist wunderlich. Etwas Böses ist es ja gerade nicht, sie meint nur, du seiest keine vornehme Dame, und deshalb schicke es sich nicht für dich. Du darfst ihr das nicht übelnehmen, sie meint es schließlich doch nur gut. Sieh, verbittere mir den Abschied nicht, ich möchte dich gern heiter hier zurücklassen.« Er streichelte mir dabei liebkosend die Wangen, so daß ich, von dieser ungewohnten Zärtlichkeit gerührt, meinen Arm um seinen Hals schlang und unter Schluchzen fragte: »Willst du denn schon so bald fort? Warum sagst du mir es heute erst?«

»Weil ich nicht gern lange vorher von etwas spreche. Übermorgen denke ich zu reisen, mein Kind. Nicht wahr, du kommst morgen noch einmal zu mir, es gibt doch mancherlei zu besprechen! Wenn so ein alter Mann auf Reisen geht, kann man nie wissen, ob er wiederkommt. Nun weine nicht so, mein Kind, ich bringe dir auch etwas Schönes mit.«

So hatte mein Vater noch nie zu mir gesprochen. Ein unsäglich wohltuendes Gefühl überkam mich. War es der Abschied, der ihn so weich machte? Er hielt mich noch immer umfaßt, als ich bat: »O geh nicht fort, bleibe hier. Ich will ja auch zu dir kommen und dir alles so behaglich machen, wie nur möglich. Ach, bleibe jetzt hier.«

»Nein, mein Kind, wenn ich wiederkomme, sollst du bei mir bleiben. Sieh, ich muß reisen meiner wissenschaftlichen Werke halber. Für jetzt lebe bei Bendelebens weiter und sei vergnügt, wie es deinen Jahren zukommt. Ich will dir auch schreiben. Zu oft wird's freilich nicht werden, und du antwortest dann, nicht wahr? Und komm morgen nachmittag noch einmal her, ich habe jetzt noch so viel zu schreiben. Willst du?«

Er schloß mich noch einmal in seine Arme, und ich ging. Als ich auf der Treppe war, kam er mir nach. »Du bist ja wohl hergeritten, Gretchen? Da muß ich dich doch auch einmal zu Pferde sehen. Ich komme mit.«

»Du guter, lieber Vater!« rief ich, und allen Kathrinen zum Trotz stieg ich glückstrahlend auf mein Pferd, während mein Vater in der Haustür stand.

Da hörte ich Kathrinens Stimme: »Na, wenn der Herr Pastor es selbst bewundern, dann kann unsereins natürlich nichts mehr dazu sagen. Ach, mein Gott, da wird nichts Gutes, ich hab's ja gleich gewußt.« Jetzt rührten mich die Worte gar nicht, ich ritt von dem kleinen Hause fort nach dem Schlosse, so selig wie noch nie. Hatte ich doch zum ersten Male das Glück empfunden, mich von meinem Vater geliebt zu wissen. Dort fand ich einen Brief von Hanna. Sie würde in acht Tagen wieder bei ihrem Gretchen sein, schrieb sie. Von dem wunderschönen Wien und wie prachtvoll die Braut ausgesehen, werde sie dann erzählen.

Es war ein glücklicher Abend, den ich verlebte. Ich malte mir aus, wie hübsch ich das kleine Haus einrichten werde, ehe mein Vater zurückkehrte, wie gut ich mit Kathrin sein wollte. Mein Pferd müßte ich natürlich mitnehmen, ohne dieses dachte ich mir eine Existenz gar nicht möglich. Die Vorhänge vor den Fenstern sollten noch weißer sein als bei dem jungen Pastor. Ich würde dann morgens mit dem Schlüsselkörbchen im Hause umhergehen, mittags zierlich den Tisch decken, nachmittags einen Spazierritt machen und abends mit meiner Arbeit oben im Studierstübchen sitzen, trotz des blauen Tabakdampfes – oh, wenn's doch erst so weit wäre! Ich konnte die Nacht kaum schlafen, so viele Pläne kreuzten sich in meinem wunderlichen, kleinen Kopfe. – Ach, es kam alles anders!

Mein Vater reiste ab, ich nahm Abschied von ihm mit heißen Tränen. Bendelebens kamen wieder. Jubelnd flogen Hanna und ich uns in die Arme. Da gab es zu erzählen, zu fragen – und wie reich wurde ich beschenkt!

Die erste Nacht war vom Schlafen kaum die Rede. Hanna berichtete von Ruth. Die junge Gräfin war so schön gewesen, daß man es gar nicht sagen konnte; hatte so reizend ausgesehen in dem langen, weißen Brautkleide neben dem hohen, schlanken Gemahl. Das Palais der Satewskis war so prächtig. »Ach, weißt du, Gretel, da ist unser Schloß wie ein Bauernhaus dagegen, unmenschlich reich muß der Graf sein. Ruth tut aber noch, als erweist sie ihm eine große Gnade, daß sie ihn geheiratet hat. Du glaubst nicht, wie kalt sie all dieser Glanz läßt. Vielleicht tut sie auch nur so, den Blick von oben herab hat sie immer noch. Tante sagt, sie hätte einen Fürsten bekommen können, wenn sie gewollt hätte. Sie ist aber auch wunderschön.«

Ich erzählte nun meine Erlebnisse. Als Hanna hörte, daß mein Vater fort sei, sagte sie: »Und wenn er nimmer wiederkommt, du bleibst bei mir.« Ich lächelte, ich hatte ja andere Pläne.


Der Sommer neigte sich seinem Ende zu. Das Getreide war von den Feldern geholt, die Manöverzeit begann, und in unserem Schlosse wurde Einquartierung angesagt: ein Oberst, dessen Adjutant, ein Hauptmann und zwei Leutnants. Die Fremdenzimmer standen offen, Frau v. Bendeleben ging noch einmal durch sie, um sich von der Ordnung der Dinge zu überzeugen. Aus der Küche im Souterrain stiegen die verführerischen Düfte eines guten Diners. Die Tafel im Speisesaal blitzte in allem Glanz des alten Familiensilbers, Diener liefen geschäftig hin und her, und oben in unserem Turmstübchen waren wir mit der Toilette beschäftigt.

»Es ist halb vier Uhr«, sagte Hanna, »nun müssen sie kommen. Was das wohl für Menschen sind, Gretel!« Sie steckte sich eben noch eine hellblaue Schleife an ihre blonden Locken. Reizend sah sie aus in dem weißen Kleide.

Ich hatte wieder einmal einen meiner übermütigen Tage und stand vor dem Spiegel, um eine weiße späte Rose in meinen dunklen Haaren zu befestigen, die gar hübsch zu dem hellblauen Kleide aussah, welches die Schattierung meiner Augen hatte – ein bißchen eitel ist eben ein jedes Mädchen.

»Bitte, nun höre nächstens auf, dich zu putzen«, sagte Hanna ärgerlich. »Du willst mich um jeden Preis ausstechen, und das gelingt dir so schon leicht genug. Laß mich auch einmal hin.« Sie trat vor den Spiegel. »Weiß Gott, Gretchen, du bist einen ganzen Kopf größer«, rief sie verwundert. »Ach, die armen Leutnants – Gretel, Gretel.«

»Komm einmal her, Kleine«, sagte ich. »Du warst schon öfter mit jungen Herren zusammen; wie tief ist denn ein Knicks, den man so einem Leutnant machen muß?«

»Sieh mich an«, lachte Hanna. »Den vor dem Obersten so tief, den vor dem Hauptmann so, vor dem Adjutanten so, und die Leutnants – nun, die sieht man schon gar nicht mehr. Laß uns einmal üben«; und nun knicksten wir Oberst- und Leutnants-Knickse, so daß wir schließlich herzhaft lachen mußten.

Auf einmal hörte ich Musik. »Hanna, sie kommen!« Im Nu standen wir draußen auf dem Balkon. Von der Chaussee her war eine große Staubwolke sichtbar, aus welcher hin und wieder das Blitzen der Gewehre leuchtete; die Klänge der Musik hallten deutlich herüber.

»Nun rasch, Gretchen, komm hinunter, von der Terrasse können wir sie am besten sehen.« Dort standen schon der Baron nebst seiner Frau, und am Fuße der Treppe einige Diener. Frau v. Bendeleben schickte uns wieder hinauf. »Es ist noch früh genug, wenn ihr euch zum Diner zeigt, ich bleibe auch nicht hier. Es geniert die Herren, von Damen empfangen zu werden, und ist überhaupt nicht passend.« So gingen wir denn.

Eine Viertelstunde verfloß unter Plaudern und Mutmaßungen über die fremden Gäste. Dann trat ein Diener ein und rief uns zur Frau Baronin in den kleinen Salon. Eben wollten wir, nachdem wir noch einmal vor dem Spiegel gestanden hatten, hinuntergehen, da kam das Stubenmädchen mir entgegen. »Fräulein Gretchen, ein Brief für Sie«, rief sie von weitem und hielt ein ziemlich großes Schreiben empor. Ganz glücklich griff ich mit beiden Händen danach, und da ich wußte, daß ich unten keine Zeit zum Lesen finden würde, bat ich Hanna, allein zu gehen und ihrer Mutter zu sagen, weshalb ich zurückbliebe, und daß ich mich sehr beeilen würde.

Ich setzte mich an das Fenster und las. Mein Vater schrieb mir, daß er augenblicklich in München sei, daß er aber wahrscheinlich noch nach Italien gehen werde, und daß ich daher noch ein ganzes Weilchen ohne ihn bleiben müsse. Im ganzen fühle er sich recht kräftig, obgleich er manchmal bis in die Nacht hinein arbeite. Seinen bequemen Lehnstuhl zu Hause vermisse er sehr. Der Brief schloß mit einer Versicherung, daß er sich freuen werde, wenn ich ihm schreiben könne, ich sei heiter und vergnügt, und mit vielen Grüßen an Bendelebens, an Pastor Renner und dessen Mutter und an Kathrin.

Enttäuscht ließ ich das Blatt sinken, da waren alle meine schönen Träume wieder so weit in die Ferne gerückt. Ich hatte gehofft, schon im Spätherbst meinen Vater empfangen zu können, und nun sollten noch Monate vergehen – er mußte doch gar keine Sehnsucht nach mir haben. Ich begriff das nicht. Und den Pastor sollte ich grüßen? Nimmermehr! Ich war nie wieder zu seiner Mutter gegangen, hatte, wenn er einen Besuch auf dem Schlosse machte, stets gewußt, ihm auszuweichen. Nur ein einziges Mal war er mir entgegengetreten, als ich der jungen Frau des Schloßgärtners das schwerkranke Kind pflegen half. Die arme Frau wachte die ganzen Nächte, da hatte ich sie öfters am Tage abgelöst, damit sie ein Stündchen schlafen könne. Nun war er plötzlich in das Krankenzimmer getreten, hatte mich freundlich gegrüßt, ohne scheinbar verwundert zu sein, mich dort zu treffen, und sich dann über das kleine Bettchen gebeugt und die Hand auf das heiße Köpfchen des Kindes gelegt. Ich war verlegen geworden, und mir fiel ein, wie dieser Mann, der jetzt so liebreich schmeichelnde Worte zu dem kleinen Kerl sprach, mir damals einen so harten Verweis in ironischem Tone erteilt hatte. Das Blut war mir wieder in das Gesicht gestiegen, und als die Mutter des Kindes gleich darauf eintrat, erhob ich mich und sagte: »Jetzt, Anne Marie, kannst du wohl deinen Posten wieder übernehmen, es ist gleich vier Uhr, die Stunde, wo wir immer unseren Spazierritt machen, und der Baron wartet.« Da richtete er sich rasch hoch auf, kein ironischer Zug lag um den Mund wie sonst, er sah ganz traurig aus, als er sagte: »Warum verwischen Sie mit so rauher Hand das schöne Bild wieder, das ich soeben sah?«

Ich blickte ihn einen Moment groß an, ich wußte nicht, was ich hierauf erwidern sollte. Dann ging ich, ohne mich von ihm zu verabschieden – ich war ganz verwirrt gewesen von den einfachen Worten, und hatte ihn dann nur noch mehr zu meiden gesucht.

Nein, wie gesagt, die Grüße bestelle ich nimmermehr. Zur Kathrin wollte ich einmal wieder gehen, wenn ich Zeit hätte, in den nächsten Tagen, und damit fiel mir ein, daß ich schon viel zu lange meinen Brief gelesen habe und nun rasch hinunter müsse.

Als ich die Hand auf das Türschloß des kleinen Salons legte, hörte ich drinnen die tiefe Stimme des Barons, welcher sagte: »Nein, mein lieber Junge, das ist eine kapitale Überraschung.«

»Junge«, dachte ich, »mein Gott, wer kann das sein?« und trat ein.

Ich sehe sie noch alle deutlich vor mir stehen: der Baron, wie es seine Gewohnheit auch im heißesten Sommer war, vor dem Ofen, die Hände auf dem Rücken, Hanna neben ihm. Auf dem Sofa saß Frau v. Bendeleben, sie hatte ein grauseidenes Kleid und ein Häubchen mit rosa Bändern an. Vor ihr stand ein schlanker, junger Offizier, der hielt lachend ihre beiden Hände in den seinen – Wilhelm v. Eberhardt.

Bei meinem Eintritt wandte er sich um: wir standen uns gegenüber und sahen uns an. Später, nach langen Jahren, noch jetzt frage ich mich manchmal, warum Menschen, die verhängnisvoll füreinander werden sollen, dies nicht beim ersten Begegnen empfinden? Oh, hätte ich eine Ahnung davon gehabt, welch einen Einfluß er auf mein Leben bekommen sollte, ich wäre in mein ödes Vaterhaus geflohen und wäre dann vielleicht glücklicher geworden.

»Sieh da, unser Wildfang!« rief der Baron. »Liebes Gretchen, sehen Sie sich einmal diesen jungen Mann an. Er gibt vor, Wilhelm v. Eberhardt zu heißen, und macht infolgedessen Vetterrechte hier geltend. Ich glaube es aber nicht eher, bis ich eine Bescheinigung vom Regimentskommandeur habe. In ein paar Jahren kann aus einem kleinen, exemplarisch mageren, ewig hungrigen Kadetten nicht ein so strammer Leutnant geworden sein.«

Er schien nicht recht zu wissen, was er zu dieser Vorstellung sagen sollte, da er keine Ahnung hatte, wer ich sei. Aber Frau v. Bendeleben kam ihm zu Hilfe: »Die junge Dame, lieber Wilhelm, ist Fräulein Margaret Siegismund und Hannas Freundin.«

Der Eintritt der anderen Offiziere machte dieser Szene ein Ende. Ich trat zu Hanna. Es erfolgten nun die langweiligen Vorstellungen und Entschuldigungen bei der Hausfrau über die unfreiwillige Störung im Hause.

Leutnant v. Eberhardt lehnte am Flügel und sah zu mir herüber. Ein kleiner blonder Offizier, der Adjutant, stand vor uns und versicherte Hanna, daß er in seinem ganzen Leben noch kein solch reizendes Quartier gehabt habe. Er sprach sehr viel und sehr lebhaft und beneidete den Leutnant v. Eberhardt, daß er hier gleich Onkel, Tante und Cousinen vorgefunden hätte.

Der Hauptmann und Premierleutnant waren ältere Herren. Der Hauptmann, dick wie eine Kugel, sah aus, als liebte er sehr die geistigen Getränke, den Premierleutnant habe ich während der ganzen Zeit seines Aufenthaltes keine drei heiteren Worte sprechen hören. Er sah finster und mürrisch aus und schimpfte auf das schlechte Avancement. »Ich sage Ihnen, mit einer Garnitur Knochen kommt man heutzutage nicht mehr aus«, das war seine stete Redeweise. Die Namen der beiden Herren weiß ich nicht mehr. Der Oberst, ein feiner, liebenswürdiger Mann mit vollendet hofmännischen Manieren, war ein Baron Rosenberg.

Unsere Tafel war sehr heiter und amüsant. Der kleine blonde Adjutant, ein Herr v. Bergen, Leutnant v. Eberhardt, Hanna und ich bildeten die untere Ecke, und wir waren bald im lebhaftesten Geplauder. Wir stießen auf vergnügte Stunden an, sprachen von Partien, Tanzen und von allem möglichen. Dann ertönte plötzlich die Regimentsmusik: der aufmerksame Oberst ließ den Damen ein Ständchen bringen. Ach, solche Kapelle hatte ich noch nie gehört, sie elektrisierte mich vollständig – Musik und Blumen sind das Schönste, was es auf der Erde gibt, solange man jung ist!

»Gretchen«, erklang die Stimme des Barons, »geh, sing uns ein Lied, aber ein Volkslied, bitte.«

Es war Dämmerung geworden, und die Diener wollten eben die Kerzen auf den silbernen Leuchtern anzünden, da sagte der Oberst: »Oh, nicht doch! Volkslieder hören sich am schönsten im Dämmern an.«

Leutnant v. Eberhardt war aufgestanden und hatte mir den Arm geboten: »Darf ich Sie zum Flügel führen?« Wir gingen in das Nebenzimmer. Hanna war uns gefolgt und schickte sich an, meinen Gesang zu begleiten. Ich fühlte, daß ich zitterte. Vergebens besann ich mich auf ein Lied. Ich weiß nicht, wie gerade dieses Lied mir in den Sinn kam. Ich sang:

Mondschein am Himmel,
Unter Bäumen ein Platz,
Dort suchte mich abends
Mein schwarzäugiger Schatz.

So schwarz seine Augen,
So rot sein Mund,
So golden der Mondschein,
O selige Stund'!

So selig, so wonnig,
So wunderbar lieb,
Oh, ihr Steine am Himmel,
Wenn's immer so blieb'!

Mond ist gegangen,
Erloschen die Stern'.
So blaß meine Wangen
Und er, ach so fern! –

Ich hatte anders gesungen als sonst. Machten es die schwarzen Augen, die mich während des Singens unverwandt anschauten?

»Bravo, Gretchen!« rief der Baron, zu dessen Lieblingen die einfachen, schwermütigen Melodien gehörten. »Aber wie kommst du auf dies traurige Lied? Bitte, verwandle dich in den Pagen und singe mir Cherubins Klage.«

»Neue Freuden, neue Schmerzen«, hob ich an, meine ganze Sicherheit war wiedergekommen. Ich sang mit wahrer Begeisterung und fühlte, daß ich ganz besonders gut sang. Ein stürmisches Bravo belohnte mich, die Herren traten alle an mich heran, der Oberst versicherte einmal über das andere, ich müsse zur Bühne gehen, ich würde Furore machen. Der dicke Hauptmann kam mit dem gefüllten Glase: »Das trinke ich auf Ihre wunderschöne Stimme!« rief er. Der blonde Adjutant begeisterte sich zu einer längeren Rede, die damit schloß, daß er Hanna ein Kompliment über ihr ausgezeichnetes Klavierspiel machte; »denn«, setzte er hinzu, »wenn Gesang nicht gut begleitet wird, so kommt er natürlich nicht zur Geltung.« Aber wo war der Leutnant v. Eberhardt? Dort stand er noch immer am Kamin und sah zu mir herüber. Es tat mir beinahe weh, daß er mir kein Wort sagte. Es hatte ihm gewiß nicht gefallen.

Im Speisesaal waren indes die Lichter angezündet, wir kehrten an die Tafel zurück, und das Gespräch kam auf die Musik. Eberhardt saß mir schweigend gegenüber. Später, als wir in dem warmen Augustabend auf der Terrasse auf und ab gingen, und die Bäume im Park nur leise rauschten, trat er an meine Seite. Eine Weile ging er schweigend neben mir, dann summte er leise vor sich hin:

Der Mond ist gegangen.
Erloschen die Stern',
So blaß meine –

»Lieben Sie die Volkslieder, Herr v. Eberhardt?« fragte ich.

»Wenn sie so gesungen werden, wie ich es vorhin gehört, über alles«, entgegnete er warm.

Ich schwieg. Es war gut, daß es dunkelte, so konnte er nicht bemerken, wie mir das Blut heiß in die Wangen stieg.

Nach einer Weile fing er an, mir von den Volksliedern am Rhein zu erzählen. Manchmal sang er mit heller Stimme eine Melodie. »Wenn Sie einige der Lieder singen wollen, werde ich sie Ihnen gern aufschreiben«, fügte er hinzu.

Ich dankte ihm und sagte, daß ich mich sehr darauf freue, diese Lieder kennenzulernen.

Hanna ging vor uns her, der blonde Adjutant sprach lebhaft auf sie ein. Wenn wir an der geöffneten Tür des Gartensaales vorbeikamen, sah ich in dem hellen Schein ihr gesenktes Köpfchen. Sie schien eifrig zuzuhören, und nur dann und wann vernahm ich ihre klare Stimme, die ein paar Worte sagte. Die älteren Herren saßen drinnen und spielten Whist, Frau v. Bendeleben sah ich nicht. Sie hatte wahrscheinlich noch Hausfrauenpflichten zu erfüllen.

Wie im Traume schritt ich neben ihm, wie im Traume sah ich empor zum Himmel mit seinen unzähligen Sternen. Endlich blieb ich stehen und lehnte mich über das zierliche Bronzegitter. Keiner von uns sprach ein Wort. Da hörte ich auf einmal die Stimme des kleinen Leutnants. »Eberhardt«, rief er, »das ist ja famos! Da sagt mir eben das gnädige Fräulein, daß die Damen passionierte Reiterinnen sind. Nun können wir ja zusammen die ganze Umgegend durchstreifen.«

»O ja«, rief ich, ganz hingerissen von der Aussicht, möglichst viel auf dem Pferde zu sitzen, »hier gibt es die herrlichsten Waldwege, nicht, Hanna? Zuerst reiten wir in den Eichenwald. Oh, das wird reizend!« Wir verabredeten für den nächsten Nachmittag einen Spazierritt, und Hanna sprang auf Frau v. Bendeleben zu, die eben in die geöffnete Tür trat.

»Mama, wir reiten morgen nach dem Eichwald, das wird wundervoll. Du kommst zu Wagen nach und wir kochen dort Kaffee. Nicht wahr?«

»Gewiß, das ist eine hübsche Idee. Wann soll diese Partie stattfinden? Hoffentlich wird es morgen nicht wieder so spät werden mit unserem Diner? Doch, Gretel, ich wollte dir etwas sagen. Denk dir, die alte Kathrin ist da und will dich absolut sprechen. Ich suchte zu erfahren, was sie eigentlich hat. Sie erklärt aber, sie müsse es dir selbst sagen, sie wartet draußen in der Halle.«

Ich war ganz bestürzt. Kathrin im Schlosse! Da mußte Unerhörtes passiert sein. Eilig ging ich hinaus. Vor einem der breiten Eichentische saß sie, den Kopf in die Hand gestützt. Sie hörte mein Kommen nicht, sondern sah düster vor sich hin.

»Kathrin, ist ein Unglück passiert?« fragte ich.

»Nein, aber ich will eins verhüten«, entgegnete sie, »deshalb bin ich hier. Du mußt mit nach Hause kommen, Gretchen – du kannst jetzt nicht hier bleiben. Deine Nachtkleider habe ich schon und ein Bett habe ich auch zurechtgemacht zu Hause. Komm!«

Dann verstummte sie, ein Blick auf mein erstauntes Gesicht mochte ihr doch ihr willkürliches Benehmen deutlich machen.

»Was fällt dir ein, Kathrin?« rief ich heftig. »Denkst du, du hast noch das fünfjährige Kind vor dir, das du zu Bett bringen kannst, wo und wann du Lust hast. Was sind es für Gründe, um dein törichtes Verlangen zu rechtfertigen?«

Ich bebte vor Zorn, auch Kathrins Augen blitzten.

»Du gehst doch mit mir!« rief sie. »Lange genug habe ich es mit angesehen, wie du hier als Prinzessin im Schlosse wohnst und doch nichts weiter bist als die Gesellschafterin des adligen Fräuleins. Jetzt lasse ich dich nimmer hier. Denkst du, ich weiß nicht, daß das ganze Schloß voll von Offizieren steckt? Und was das für leichtsinniges Gesindel ist, das erzählen sich ja die Sperlinge auf dem Dache! Laß sie immerhin der gnädigen Baronesse ihre Schmeicheleien ins Ohr sagen, für die paßt es, dir könnte es nur den Kopf noch mehr verdrehen. Komm, ich –«

Das war mir zu arg, ich wurde heftig, sehr heftig, und befahl ihr, augenblicklich das Schloß zu verlassen. »Ich werde an den Vater schreiben«, setzte ich hinzu, »welch eigenmächtiges Wesen du gegen mich annimmst. Jetzt sage ich dir: geh, augenblicklich! Und wenn du nicht willst, daß ich nie wieder das Haus im Dorfe betrete, so hüte deine Zunge und spare deine Ratschläge.«

Die Alte war kreideweiß geworden während meiner Rede. Auf einmal sank sie auf den Stuhl, schlug ihre Schürze vor das Gesicht, und das Beben ihrer ganzen Gestalt verriet, daß sie heftig weinte.

»Kathrin«, sagte ich voll Reue über meine Heftigkeit, »weine nicht, du hast mich erst zur Heftigkeit getrieben; ich bin ja fest überzeugt, daß du es nur gut mit mir meinst, aber du kannst wirklich die Verhältnisse nicht beurteilen.«

»Gretchen«, schluchzte sie, »ich sorge mich Tag und Nacht um dich und sehe alles voraus, wie es kommen muß. Ich habe dich ja auf den Armen getragen, als du noch klein und hilflos warst, und habe deiner Mutter die Augen zugedrückt – erfülle mir nur die einzige Bitte, die ich je an dich gerichtet habe, und komme zu mir, solange die Offiziere hier im Schlosse find.« Sie sah auf, und die alten Augen blickten mich bittend und verweint an.

»Sieh«, fuhr sie fort, »in den Tod legte ich mich, wenn du unglücklich würdest. Ich bin auch einmal jung gewesen und weiß, wie leicht es kommen kann, daß einer das Herz eines jungen Mädchens gewinnt – und heiraten, Kind, tut dich keiner von ihnen! Komm mit, Gretchen, erspare dir und mir viel Kummer. Du hast ja niemand auf der ganzen Welt, der es so gut mit dir meint als die alte, mürrische Kathrin. Folge mir, nur für kurze Zeit, nur so lange, bis –«

»Kathrin«, rief ich, halb gerührt, halb peinlich gestimmt, »ich danke dir wirklich. Du meinst es gut mit mir, das weiß ich, aber du ängstigst dich unnütz. Wer sollte sich wohl in mich verlieben und – nein, ich kann nicht fort von hier, jetzt wäre es lächerlich. Du weißt, sowie der Vater zurückkehrt, komme ich für immer – jetzt kann ich nicht. Sei vernünftig, Kathrin«, bat ich, als sie, ohne sich zu rühren, mich starr ansah, »geh nach Hause, ich komme bald.«

»Gute Nacht«, sagte sie und schritt, ohne mich noch einmal anzusehen, an mir vorüber. »Ich habe alles versucht, nun komme, was –«

Das Weitere verstand ich nicht mehr. Dröhnend fiel die schwere Eichentür ins Schloß – sie war gegangen.

Ich nahm meine Kleider, die die Alte sich aus unserer Stube zu verschaffen gewußt hatte, und ging hinauf. In mir wogten die widersprechendsten Gefühle. Kathrinens schroffes Auftreten hatte einen schwarzen Schatten auf meine sonnige Stimmung geworfen. Wie war ich eben so selig gewesen, und nun stand auf einmal die nüchternste Prosa vor mir! Ich trat hinaus auf den kleinen Balkon, da funkelten die Millionen Sterne droben am Himmel. Oh, sollte denn der allmächtige Gott, der diese Welten alle in ihren Bahnen lenkt, nicht auch ein klein wenig Glück für so ein junges, einsames Menschenherz haben? Aber weg mit allen trüben Gedanken, ich war ja noch so jung und der ganze ahnungsvolle Zauber einer ersten beginnenden Liebe stieg in mir auf. Ich sah seine dunklen Augen auf mich gerichtet und hätte aufjauchzen mögen vor Wonne und Glück. Lange stand ich so und sah in die schweigende Nacht hinaus, wie lange – ich weiß es nicht mehr.

»Gretchen«, flüsterte Hannas Stimme, und ihre Arme schlangen sich um meinen Hals. »Du schwärmst hier oben und Vetter Wilhelm schwärmt unten. Weshalb kamst du nicht wieder?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, fügte sie hinzu: »Wie wird es morgen schön werden – du hast doch nicht vergessen, daß wir nach dem Eichwald reiten wollen?«

»Nein, bewahre, ich habe gar nichts vergessen, nicht das geringste«, erwiderte ich, »und freue mich sehr auf den Spazierritt.« Wir plauderten noch lange, ehe der Schlaf seine Rechte geltend machte. Am andern Morgen – die Herren waren zum Exerzieren – ging ich gleich nach dem Frühstück noch im Morgenkleide zu Kathrin. Es trieb mich, ihr ein gutes Wort zu sagen. Als ich in den Hausflur trat, kam sie mir nicht wie sonst entgegen. Ich ging in die Küche – sie war nicht da. Nun trat ich in die Wohnstube, und überrascht blieb ich stehen. Vor die Fenster waren duftige weiße Vorhänge gesteckt, der alte Nähtisch meiner Mutter stand an dem einen Fenster, darauf ein Blumenstrauß, vor dem anderen ein paar blühende Topfgewächse, und auf dem Tische vor dem Sofa ein Kaffeebrett mit einer kleinen weißen Kanne und einer Tasse und auf ihr mit blauen Buchstaben »Margarete«.

Die Tränen traten mir in die Augen. Ich preßte die Hände gegen mein klopfendes Herz. »Alte, gute Kathrin, das alles hast du getan, um es mir im Vaterhause heimisch und traut zu machen, und ich lohnte es dir mit harten Worten!«

»Kathrin!« rief ich mit vor Tränen halberstickter Stimme. »Kathrin!« Niemand antwortete. Da sah ich sie aus dem Hause des jungen Pastors treten. Ich ging ihr bis in den Hausflur entgegen und fiel ihr um den Hals und weinte: »Verzeih mir, Kathrin, ich war recht häßlich mit dir, und du hast alles getan, um mir eine Freude zu machen. Sei mir nicht mehr böse.«

»Nein, Gretel, gewiß nicht«, sagte sie, »ich habe es auch nicht recht gemacht. Du bist immerhin das Kind meines Herrn, und ich habe dir nichts zu befehlen, das vergaß ich bisher. Ich werd' es nie wieder tun. Ich hab' dich gewarnt, mehr kommt mir nicht zu. Wenn dir aber das Herz einmal recht weh tun sollte, dann komm zu mir, dann sollst du sehen, daß die alte Kathrin dich so liebhat, wie eine Mutter.«

»Ach, Kathrin, sprich nicht so, das tut mir weh«, klagte ich, »sage, was du willst, ich tue alles.«

Einen Augenblick schwieg sie. »Nein«, sagte sie dann, »du bist kein Kind mehr und hast ein gutes Herz. Du mußt jetzt allein wissen, was du zu tun hast, nie mehr will ich dir Vorschriften machen.«

»Und womit soll ich dir danken für alle deine Freundlichkeit?« fragte ich, indem ich mir ein paar rasch niederrollende Tränen abwischte.

»Ach, Kind, das ist ja gar nicht der Rede wert. Ich wollte dir eine kleine Überraschung machen, es bleibt nun für später. Und kommst du heute oder nach langer Zeit, die Blumen sollen immer frisch sein und die Tasse hebe ich dir auf.«

Ich gab ihr den Brief meines Vaters. Ich tat es sonst nie, sondern teilte ihr nur mit, was sie zu wissen brauchte. »Behalte ihn und lies ihn, Kathrin«, sagte ich, »ich komme morgen wieder, dann will ich ihn von hier aus beantworten, und du kannst mir dann auch sagen, was ich ihm von dir schreiben soll.«

Sie nickte und legte den Brief bedächtig in ihr Gesangbuch im Fenster und die große Hornbrille darauf, damit er nicht herunterfliegen sollte. »Warte noch einen Augenblick, ehe du gehst«, sagte sie und schritt aus der Stube. Nach einem Weilchen trat sie wieder ein, in der Hand ein paar schöne weiße Rosen. »Da, nimm sie mit, ich habe sie erst gestern morgen entdeckt, und nun geh mit Gott und fasse dein Herz fest, damit keine törichten Gedanken hineinkommen. Du stehst auf einem glatten Fußboden und kannst leicht ausgleiten, – sieh manchmal nach unserem Dache herüber, du weißt schon, was ich meine.«

Dann drängte sie mich zur Tür: »Adieu, du wirst Eile haben.«

Ja, ich wußte, was sie meinte, und dachte darüber nach auf dem Rückwege. Es war im Grunde recht sonderbar von Kathrin, derartige Gedanken zu hegen, und ich war auch gestern abend durch die Musik und das Sprechen erregt gewesen. Heute begriff ich kaum, wie ich gestern so schwärmerisch in die Sterne hatte schauen können, und doch, wenn ich an die schwarzen Augen dachte, fing mein Herz rascher an zu klopfen. Oh, Kathrin, sei unbesorgt, ich werde auf meiner Hut sein, mein Herz halte ich fest. Sprechen und plaudern mit ihm – davon wird man ja nicht gleich unglücklich werden. Nein, gewiß, Kathrin war übertrieben ängstlich, und sie sah es auch schon halb ein.

Freilich, als ich ihn bei Tische wiedersah, und als er später neben mir zu Pferde saß, da dachte ich kaum mehr daran, daß es eine Kathrin in der Welt gab, und ihre guten Lehren hatte ich längst vergessen. Es war so köstlich, in dem grünen Walde langsam dahinzureiten. Und wenn ich aufblickte, sah ich seine Augen auf mich gerichtet, daß ich die meinigen verwirrt senken mußte. Was wir sprachen, das weiß ich nicht mehr, gewiß gleichgültige Dinge, und doch, ich glaube, ich habe mich niemals so gut unterhalten. Ach, Kathrin, Kathrin, wenn du uns so gesehen hättest, und eine deiner weißen Rosen an seiner Uniform – deine Sanftmut wäre dahin gewesen.

Ich erzählte auch von meinem Vater, und wie einsam ich sein würde, hätte ich nicht die Zufluchtsstätte im Schlosse gefunden.

»Ich habe auch keine Eltern mehr, schon seit vielen Jahren«, sagte er, und ein trauriger Zug legte sich um seinen Mund. »Aber ein Mann empfindet es nicht in der herben Weise, wie ein Mädchen, deren Platz doch eigentlich das Vaterhaus ist, bis sie ihrem Gatten folgt.«

»Ich will auch zu meinem Vater«, bemerkte ich leise, »sobald er wieder von seiner Reise zurückgekehrt ist. Ich freue mich schon jetzt darauf, aber sagen Sie es Hanna nicht, sie hat noch keine Ahnung davon.«

»Wer weiß, wie lange Hanna noch im Vaterhause weilt«, lächelte er. »Sehen Sie einmal den kleinen Bergen an, wie gefällt er Ihnen?«

Ich war ganz erschrocken über den Zusammenhang dieser beiden Fragen, die eigentlich ganz zufällig sein konnten.

»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht«, erwiderte ich und blickte dem Paar mit großen Augen nach, das angelegentlich miteinander plauderte. Dann sah ich zu Leutnant v. Eberhardt hinüber, doch er mochte längst vergessen haben, was er eben gesagt hatte, seine Augen schweiften über die Lichtung, in der wir uns befanden. In vollen Zügen sog er den harzigen Duft der Tannen ein. ``Wollen wir ein wenig rascher reiten?« fragte er. Ich war gleich dabei, und so flogen wir bald an Hanna und ihrem Begleiter vorüber.

Ach ja, es waren schöne, himmlische Tage, wie sie wohl einem jeden einmal beschieden sind auf dieser Welt, und diese Zeit taucht aus dem sonst so trüben Meere meines Lebens wie eine grüne, sonnenklare Insel auf. Ich will sie nicht beschreiben, diese schöne Zeit der erwachenden Liebe, beruht doch der ganze Zauber manchmal nur in einem Blick aus jenen lieben Augen – ein paar kurze, für andere bedeutungslose Worte lassen unser Herz höher schlagen, man vergißt Zeit und Umgebung und sieht nur allein die teure Gestalt, und Lächeln und Tränen wechseln miteinander ab.

Aber ich war es nicht allein, deren Herz in dem Aprilwetter der Liebe bebte, auch Hannas Wesen war verändert. Der kleine, blonde Herr v. Bergen wich kaum von ihrer Seite, und ihre zuzeiten ungewöhnliche Heiterkeit, der bald in unserem stillen Zimmer ein Tränenerguß folgte, zeigte mir nur zu deutlich, daß auch sie im Begriff war, ihr Herz zu verlieren, oder es bereits verloren hatte. Gleichwohl sprachen wir uns gegenseitig nie aus. Jede wußte wohl der anderen Geheimnis, hütete sich aber, daran zu rühren.

Ob Frau v. Bendeleben nichts merkte oder nichts merken wollte, ist mir stets rätselhaft geblieben. Da wir auf alle in Aussicht gestellten größeren Festlichkeiten einer entfernten Trauer wegen verzichten mußten, und die Herren, um in unserer Gesellschaft zu weilen, ebenfalls vorzogen, auf Schloß Bendeleben zu bleiben, und auf die Manöverbälle zu verzichten, so hatte sie beständig Gelegenheit, uns zu beobachten, was ihr in größerer Gesellschaft schwer geworden wäre. Anscheinend war sie aber stets in die Unterhaltung mit dem Obersten oder Hauptmann so vertieft, daß sie für uns junge Leute kaum ein Auge zu haben schien, nur dann und wann streifte ein Blick unsere Gruppe. Im übrigen konnten wir plaudern, musizieren und in Begleitung des Barons in dem Park reiten, soviel wir wollten.

Vierzehn Tage gehen rasch vorüber, und wenn man von dem nun so nahen Abschied sprach, sah ich Hannas rosiges Gesichtchen erbleichen. Ob es mir besser erging? Ich weiß es nicht.

Am Tage vor dem Abmarsch, es war am 2. September, hatten wir ungewöhnlich lange bei Tische gesessen, und die Sonne senkte sich bereits, als wir uns erhoben. Unsere Pferde standen schon, ungeduldig scharrend, vor der großen Freitreppe, wir wollten zum letztenmal einen Spazierritt machen. Hanna und ich stiegen zu unseren Stübchen hinauf, um die Reitkleider anzuziehen. »Wie einsam wird es morgen hier wieder sein, Gretel«, sagte sie leise und sah mich an. Sie wollte lächeln, und doch standen Tränen in den großen Augen.

Ich konnte nichts erwidern. Die letzte Nacht war mir schon schlaflos vergangen, und Kathrinens Worte: »In den Tod legte ich mich, Gretchen, wenn du unglücklich würdest«, klangen mir immer vor den Ohren. Ich hatte beinahe gar nicht, höchstens flüchtig an sie gedacht in diesen seeligen Tagen, und erst bei der Mahnung an den bevorstehenden Abschied war es mir zentnerschwer auf die Seele gefallen: Wenn Kathrin recht behalten sollte! Wenn er nur sein Spiel mit mir getrieben hätte, wenn jene halb geflüsterten und doch so vielsagenden Worte, jene glänzenden Blicke mich getäuscht hätten, wenn er mich nicht liebte?

Heftig strich ich meine Locken zurück und drückte den Hut mit dem blauen Schleier darauf, während ich hoch aufatmete, als müßte ich vor Angst ersticken, aber nein – es war ja nicht möglich, sein ganzes Wesen bürgte mir für seine Ehrenhaftigkeit. Wie teilnehmend hatte er sich nach meinem Vater erkundigt, wie bedauert, daß mir keine liebende Mutter zur Seite stand. Alles, was er sagte, hatte so wahr, so echt geklungen. Nein, und tausendmal nein, er liebte mich, das hatte ich in seinen Augen gelesen, und wenn sein Mund es auch nicht aussprach, ich wußte es doch – und war glücklich.

Als wir in unseren Reitanzügen hinunter kamen, und er mir beim Aufsteigen die Hand bot, traf mich ein so glücklicher Strahl der dunklen Augen, daß ich erschrak. Nebeneinander ritten wir in den würzigen Herbstabend hinein. Die scheidende Sonne warf purpurrote Strahlen auf die Wipfel der Eichen und Buchen am Waldwege, die Luft war klar und mild, und klar und mild klang seine Stimme zu mir herüber. Hinter uns kam Hanna mit Herrn v. Bergen, und ihnen folgte der Baron mit dem Obersten, der sich zum Abschied der kleinen Kavalkade angeschlossen hatte. »Wir reiten nach dem Forsthause!« rief der Baron uns zu, und bald befanden wir uns in der grünen Dämmerung. Die Vögel hatten schon ihre Nester aufgesucht, es war eine heilige Abendstille in der Natur. Nur von fern klang die Glocke der kleinen Kirche von Weltzendorf und läutete den Feierabend ein. Und die Stunde war gekommen, wo mir das Leben den vollen Rosenkranz in die Locken drückte, wo mir der geliebte Mann sagte, daß er mich liebe, wo er mich fragte, ob ich sein werden wolle für alle Zeit.

Die Dunkelheit war hereingebrochen, aber in meinem Herzen war eine strahlende Sonne aufgegangen. Zitternd lag meine Hand in der seinen, und eine namenlose Seligkeit stieg in meinem Herzen auf. Oh, die Welt, das Leben, wie lag es rosig vor mir, und wie schön war es?

Längst befanden wir uns auf dem Rückwege. Ich hatte kaum bemerkt, daß wir umkehrten, ich konnte es nicht fassen, daß er mich liebte, und meinte, ich müsse erwachen aus einem schönen Traum zur traurigen Wirklichkeit. Als wir aus dem Walde kamen, stieg hinter den Wipfeln der alten Linden im Park der Mond empor und warf sein weißes Licht auf die Wege und Felder. Es kam mir vor, als hätte er noch nie so schön geleuchtet. Da rief der Baron: »Gretel, singe uns ein Volkslied, das ist die richtige Stunde dazu: ein Dorf unter Lindenbäumen und Mondschein darüber ausgegossen. Bitte, singe.«

»Gretchen, mein Gretchen, sing mir das Lied noch einmal, das ich zuerst von dir hörte«, flüsterte er mir zu, und ich sang, und der ganze Jubel meines Herzens tönte aus mir heraus:

Mondschein am Himmel.
Unter Bäumen ein Platz.
Dort suchte mich abends
Mein schwarzäugiger Schatz.

So schwarz seine Augen.
So rot sein Mund,
So golden der Sonnenschein,
O selige Stund'!

So selig, so wonnig.
So wunderbar lieb,
Oh, ihr Sterne am Himmel,
Wenn's immer so blieb'.

Mond ist gegangen –

»Oh, nicht den letzten Vers«, sagte er rasch, »nie den letzten, er ist so traurig und paßt nicht für uns.«

Erschrocken hielt ich inne. Ja, morgen war er schon fern, aber nur für eine Zeit, es kam ja ein Tag, an dem ich ihm für immer gehören sollte.

»Gretchen, unsere Liebe muß vorläufig ein Geheimnis bleiben«, flüsterte er, indem er meine Hand ergriff und sich zu mir herüber beugte.

»Niemand darf etwas ahnen, mein Lieb, selbst gegen Hanna schweige. Die Gründe kann und will ich dir jetzt nicht sagen, die schöne Stunde soll nicht getrübt werden. Ich werde oft nach Bendeleben kommen, sehr oft, und es wird und muß sich Gelegenheit finden, dich zu sehen! Und nun laß mich noch einmal in dein liebes Auge schauen; wir sind gleich am Schloß.«

Da hielten wir an der Treppe. Er hob mich aus dem Sattel und drückte mich an seine Brust. »Oh, ihr Sterne am Himmel, wenn's immer so blieb'«, jubelte er mir leise zu, dann drückte er mir noch einmal die Hand und sagte: »Sei vorsichtig, mein Lieb, und verbirg unser Glück.«

»Darf auch mein Vater nichts wissen?« fragte ich leise.

»Nein, Gretchen, sobald es geht, sage ich es ihm selbst.«

Hannas Herantreten machte unserem Gespräch ein Ende, und ich fand mich erst wieder, als ich oben in unserem Stübchen war, vor meinem Bette niederkniete und den Kopf in die Kissen gedrückt, dem lieben Gott für das große, unverdiente Glück gedankt hatte. Ich kam mir so stolz vor, so sicher; oh, was würde mein Vater sagen und Kathrin! Kathrin, wie schlecht hast du von den Menschen gedacht, wie unrecht hattest du. Oh, über dieses namenlose Glück!

Dann lief ich vor den Spiegel und lachte mich an. Es kam mir so wunderbar vor, daß er in meine Augen gesehen, meinen Mund geküßt hatte. Wer doch diese Zärtlichkeit erzählen dürfte! Was würde Kathrin für Augen machen, wenn ich ihr sagen könnte: »Kathrin, hast du schon einmal eine Braut gesehen? Sieh mich an, ich bin eine, und die glücklichste auf der ganzen Welt!«

Wer es war auch schön, daß es niemand wußte! Ich wollte ganz fremd tun, nur hin und wieder einen Blick. – Und nun mußte ich hinunter – wo blieb nur Hanna?

Ich bemühte mich, ein gleichgültiges Gesicht zu machen. Ob es mir gelungen ist, ich weiß es nicht. Es achtete aber auch niemand auf mich, denn als ich in den kleinen Salon trat, fand ich alles in größter Aufregung. Einen Augenblick herrschte Schweigen, als ich erschien. Der Baron ging mit heftigen Schlitten auf und ab, Frau v. Bendeleben saß am Kamin und sah bleich aus und zupfte in nervöser Hast an den Fransen ihres Kleides, und dort auf dem niedrigen Sessel saß Hanna, das Gesicht in ihr Taschentuch verborgen, die ganze Gestalt wie gebrochen. Er war nicht da.

»Sei vernünftig, Hanna«, ertönte des Barons Stimme wieder, »und überlege. Wie kannst du von mir verlangen, daß ich sofort zu allem ja und Amen sage? Es ist ein törichtes Ansinnen, daß ich es nur deiner Jugend anrechnen mag. Du kennst ihn kaum vierzehn Tage. Wie kann ich dein Geschick in die Hand eines Mannes legen, der uns allen noch so fremd ist? Was habe ich für eine Bürgschaft für dein Glück?«

»Ach, Bernhard«, unterbrach ihn Frau v. Bendeleben, »verschwende deine Worte nicht weiter. Hanna muß und wird sich zusammennehmen und diese eigentümlichen Ideen fallen lassen. Ich begreife nicht, daß ich nichts bemerkt habe von dieser angehenden Schwärmerei. Mir machte über Herr v. Bergen einen so durch und durch vernünftigen Eindruck –«

»Oh, Mama«, schluchzte Hanna, »rede nicht so, wir haben uns wirklich lieb.«

»Kind, bitte, verschone uns mit deinen Beteuerungen. Du solltest etwas mehr Stolz zeigen, und nicht um den ersten besten Leutnant, der vorgibt, dich zu lieben, so viel Tränen vergießen, daß man meinen kann, es sei ein Unglück passiert.«

Ich war indessen zu Hanna getreten und wollte schützend meinen Arm um sie legen. Da richtete sie sich auf, und mit einer Energie, die ich diesem zarten, schmiegsamen Wesen nie zugetraut hätte, sagte sie, so daß selbst Wilhelm v. Eberhardt, der jetzt eintrat, erstaunt an der Tür stehenblieb: »Ja, Mama, ich werde dich verschonen mit meinen Klagen. Aber das sage ich dir, und auch dir, Papa: nie werde ich von meiner Liebe zu Bergen lassen, nie, und ich habe jetzt nicht nur den Schmerz einer unglücklichen Liebe im Herzen, sondern sehe wieder aufs neue, wie Ruth stets bevorzugt wurde. Dem Grafen Satewski gab man das Jawort, als er, kaum eine Stunde in unserem Hause, seine Bewerbung angebracht hatte. Da war es nicht nötig, ihn erst zu prüfen. Er ist ja Graf, das bürgte für ihn. Leutnant v. Bergen wurde abgewiesen, weil er eben ein armer Leutnant ist. Aber ich schwöre es euch, niemals lasse ich von ihm, nie!« Sie schritt mit erhobenem Haupte und blitzenden Augen aus der Tür.

Sprachlos sahen sich Herr und Frau v. Bendeleben an. War das wirklich Hanna, die zarte, fügsame Hanna gewesen, die diese leidenschaftlichen Worte gesprochen?

Mein Blick lenkte sich auf Eberhardt. Er sah mich an, als wollte er sagen: Siehst du, wie gut es ist, daß man unser Geheimnis nicht kennt?

Dann sagte er: »Verzeih mein Eindringen, lieber Onkel. Ich kam, um ein gutes Wort für Bergen einzulegen, sehe aber, daß es wohl jetzt nicht die richtige Zeit ist. Aber bitte, liebe Tante, verwirf ihn nicht ganz. Überlegt es! Ich kenne ihn zwar noch nicht lange, bin aber überzeugt, daß er ein ehrenfester Charakter ist – fragt den Obersten, er wird ihm das günstigste Zeugnis geben.«

»O bitte, liebste gnädige Frau!« bat ich. »Hanna wird am Ende krank. Sagen Sie ja, sie lieben sich doch so sehr.«

»Es ist unrecht von dir, Gretchen«, sagte die Baronin schroff, indem sie aufstand, »sehr unrecht, mir nichts von dieser plötzlichen Leidenschaft Hannas mitgeteilt zu haben. Wieviel Unangenehmes hätte sich verhüten lassen.«

»Ich habe nichts gewußt«, erklärte ich fest. »Soeben erfahre ich erst von der unglücklichen Geschichte, und wenn mich Hanna wirklich zur Vertrauten ihres Geheimnisses gemacht hätte, so würde ich nimmermehr etwas verraten haben. Sie, Frau Baronin, sind stets zugegen gewesen, wenn wir beisammen waren, und haben dasselbe gesehen wie ich.«

»Eine fatale Geschichte, eine ganz fatale Geschichte«, murmelte der Baron vor sich hin. »Was soll man nun eigentlich tun? – « Wo ist Bergen hingegangen, und was sagt er zu den Gründen meiner Weigerung?« fragte er Eberhardt.

»Er war sehr blaß, Onkel, als er zu mir aufs Zimmer kam und fragte, was er tun sollte, und ob hier im Dorfe eine Schenke sei, wo er übernachten könne. Ich redete ihm zu, aber ich fürchte, er ist doch fortgegangen.« »Fatal, fatal«, eiferte der Baron. »Aber so sind die jungen Herren heutzutage: Biegen oder Brechen. Vernünftig und mit Überlegung handeln – das haben sie nicht gelernt. Ich bin auch einmal jung gewesen, aber der Teufel hätte mich holen sollen, wenn ich gleich jedem hübschen Frauenzimmer, mit dem ich ein paarmal zusammen war, einen Heiratsantrag gemacht hätte. Es ist gar kein Anstand mehr in der heutigen Jugend. Sonst fragte man erst den Vater, und dann, wenn er damit einverstanden war, wurde dem Mädchen eine Erklärung gemacht, aber jetzt? Da ist man natürlich zuerst unter sich einig, und wenn der Herr Vater sich nachher weigert, dann gibt's Weibertränen und ein Hallo, daß man vor Ärger den Schlagfluß haben könnte. Hol der Teufel solche verfluchten Geschichten!«

»Ich gehe zu Hanna«, sagte ich und näherte mich der Tür. Der Baron, der sich in die Wut geredet hatte, polterte schon wieder los: »Aber freilich, so ein Herr Leutnant, der nichts hat, dem ist's angenehm, sich von dem Gelde seiner hübschen Frau ein Nest zu bauen, und der glückliche Schwiegervater kann sehen, wie er –«

Weiter vernahm ich nichts mehr; ich stand draußen auf dem Korridor. Oh, allmächtiger Gott, welch ein Rückschlag, ganz wirr war mir zumute. – da hörte ich leise Schritte hinter mir. Ich wandte mich um und stand Herrn v. Bergen gegenüber. Er sah blaß aus, doch leuchtete sein Blick freudig auf, als er mich bemerkte. »Fräulein Gretchen«, bat er, »wollen Sie an Hanna eine kleine Bestellung übernehmen?«

»Oh, herzensgern!« sagte ich. »Dann sagen Sie ihr, sie solle ruhig sein, es müsse sich noch alles zum Guten wenden, und ich bliebe ihr treu.« Er drückte mir die Hand und ging, fest in seinen Mantel gehüllt, leisen Schrittes die Treppe hinunter durch die Halle. Ich hörte die Tür, die ins Freie führte, sich wieder schließen – er war fort.

Hanna lag oben in Tränen aufgelöst auf dem Sofa. Sie wollte von keinem Troste wissen, selbst die Bestellung Bergens nötigte ihr nur ein trauriges Kopfschütteln ab. »Es ist doch alles vergebens«, sagte sie, und die Tränen flossen wieder in großen Tropfen über die bleichen Wangen. »Alles vergebens, oh, könnte ich doch sterben!«

Ganz erschöpft lehnte sie sich endlich in die Kissen zurück und preßte das feuchtgeweinte Tuch an ihre schmerzenden Schläfen. Da pochte es leise an unsere Tür. Hanna hatte es nicht vernommen; ich ging hinaus – Wilhelm v. Eberhardt stand im Dunkel des kleinen Vorzimmers.

»Ich wollte mich erkundigen, wie es Hanna geht?« fragte er halblaut, dann aber zog er mich heftig an sich, und indem er seinen Mund auf meine Lippen preßte, sagte er: »Gretchen, ich fürchte, wir werden viel zu kämpfen haben um unsere Liebe. Verliere nicht den Mut, und vor allen Dingen: sei verschwiegen. In einem Jahre bin ich majorenn, ich kann dann tun und lassen, was ich will. Bis dahin darf niemand etwas ahnen. Dein Aufenthalt hier im Schlosse wäre mit dem Bekanntwerden unseres Geheimnisses ein schrecklicher, oder gar für immer vorüber, und Hanna bedarf deiner noch sehr. Weißt du keine gute, zuverlässige Person, der ich Briefe für dich anvertrauen kann und die deine Antworten vermittelt? Hören muß ich von dir, sonst könnte ich es nicht ertragen.«

Mein erster Gedanke war Kathrin. Aber nein, die hätte nimmer einen heimlichen Briefwechsel vermittelt. »Schicke deine Briefe an die Frau des Schloßgärtners«, flüsterte ich. »Anne Marie ist mir ergeben, ich habe ihr krankes Kind gepflegt. Ach, Wilhelm, wie schrecklich ist diese Heimlichkeit!«

»Willst du, daß man mir hier das Haus verbietet«, fragte er, »und somit die einzige Gelegenheit raubt, dich zu sehen? Habe Geduld, in einem Jahre komme ich, und dann soll die ganze Welt erfahren, daß du meine Braut bist. Und nun sei noch die paar letzten Augenblicke gut und lieb und sage mir, daß du mich liebst. Ich bin morgen früh schon über Berg und Tal und kann nicht mehr dein süßes Gesicht sehen. Adieu, mein liebes, liebes Mädchen!«

Ich schluchzte und weinte, die Aufregung dieser Tage war zu groß gewesen. Ich hatte ihm ja kaum richtig in die Augen gesehen, da ging er schon wieder fort. Ach, doppelt einsam kam ich mir vor, als ich wieder neben der leise weinenden Hanna in unserem Stübchen saß. Ich hatte vorher die Sonne nicht gekannt, die mir so strahlend aufgegangen war, nun war sie verschwunden, und es war erst recht dunkel geworden.

Am andern Tage war es still im Schlosse und eine gedrückte Stimmung lag auf allen Bewohnern. Hanna blieb im Bett, sie fieberte etwas. Der Baron war verdrießlich, nur Frau v. Bendeleben merkte man nicht an, daß etwas vorgefallen war. Sie saß liebevoll eine Weile an Hannas Bett und tat überhaupt, als ob nie eine Einquartierung bei uns gewesen wäre, nie eine heftige Szene stattgefunden hätte.

Ich ging nach Tische zu Anne Marie. Mir fiel es schwer, ihr mein Vertrauen zu schenken und um ihre Verschwiegenheit zu bitten. Aber ich überwand es aus Liebe zu ihm, und Anne Marie versprach mit Freuden alles, was ich verlangte. Von dort ging ich zu Kathrin, die mich freundlich empfing und mir Kaffee aus meiner blauen Tasse aufnötigte. Ich bedurfte meiner ganzen Beherrschung, ihr nicht um den Hals zu fallen und meine Seligkeit zu verkünden, aber ich unterdrückte das Gefühl. Nur einmal sagte sie: »Gretel, was ist dir denn passiert? Du siehst aus, als hättest du geweint, und doch machst du so glückliche Augen? Ist die Einquartierung fort?« fragte sie rasch hinterher. Eine dunkle Röte stieg mir ins Gesicht. »Ja, heute früh sind sie abgerückt«, sagte ich möglichst unbefangen.

»Na, Gott sei Dank!« rief sie aus vollem Herzen.

Es folgten nun stille Wochen. Hanna war leidend; zwar konnte man nicht sagen, daß sie eigentlich krank sei, aber sie magerte auffallend ab, das kleine Gesichtchen war fast durchsichtig weiß geworden, die Hände waren immer heiß und um ihren Mund lag ein schmerzlicher Zug. Trotzdem bemühte sie sich, an allem Anteil zu nehmen, und es war ihr beinahe anzusehen, wie sie sich Muhe gab, in Gegenwart ihrer Eltern ihr Unwohlsein zu verbergen. Mir tat sie leid, die arme, süße Hanna. Wie glücklich war ich dagegen. Wie zitterte ich vor Freude, wenn mir Anne Mariens grobe Hand einen zierlichen Brief übergab! »Da muß etwas Schönes drin stehen«, lächelte sie, »Fräulein Gretchen sind ja ganz voll Freude.« Ich nickte nur und eilte weg, um an einer einsamen Stelle des Parkes all das zu lesen, was die sehnsüchtige und zärtlichste Liebe schrieb. Ich merkte kaum, daß schon ein kalter Herbstwind wehte. Mir glühten die Wangen vor Freude und Glück, und nur ungern, und nachdem ich beinahe alles, was drin stand, auswendig wußte, ging ich ins Schloß, um meinen Schatz zu verbergen.

Die Antworten machten soviel Schwierigkeiten. Wie oft, wenn ich eben angefangen hatte zu schreiben und mich unbemerkt glaubte, hörte ich Hannas jetzt so müden, schwachen Tritt im Vorzimmer, und schnell verschwand Feder und Papier in meiner Kommode. Einmal hätte mich sogar Frau v. Bendeleben beinahe überrascht. Mein Gott, wie erschrak ich. Zum Glück war es kurz vor ihrem Geburtstage, und sie tat, als ob sie nichts bemerkte, daß ich so eilig etwas vor ihr verbarg. Doch trotz aller Störungen und Hindernisse war ich imstande, ziemlich regelmäßig meine Briefe der Anne Marie zu bringen. Zweimal in der Woche kam Wilhelms Bursche, der treueste Mensch auf der Welt, und wie ein Bauer gekleidet holte und brachte er Briefe.

Mein Vater schrieb aus Italien ganz begeistert über alles Schöne, was er dort sah. Von seinem Zurückkommen war poch keine Rede. Die Briefe kamen auch nicht oft, aber sie machten mir doch allemal eine große Freude, und ich brachte sie immer gleich der Kathrin. Die gute Seele schmiedete Pläne, wie schön es sein würde, wenn der Herr Pastor erst wieder da wäre und Gretchen hier unten in der Wohnstube am Fenster säße. Ich stand dabei und lächelte. Es war mir beinahe wehmütig, aber ich wollte ja mit ihm ziehen! Armer Vater! Dein Gretchen kommt nun doch nicht wieder in dein Haus, oder nur für kurze Zeit, um dann für immer zu gehen. Aber ich wußte, es machte ihn sehr glücklich, daß er sein Kind so wohl geborgen sah. Oh, wenn doch die Zeit Flügel hätte!


Der Oktober war herangekommen und hatte das Laub in Park und Wald bunt gefärbt. Die Ranken des wilden Weines hingen dunkelrot von dem Gitter der Veranda herunter, ein feiner Nebel hüllte die ganze Gegend ein. Welke Blätter bedeckten die große Allee, und die Dorfkinder suchten sich verstohlen die braunen, blanken Kastanien auf. Hanna und ich waren spazieren gewesen am Nachmittage, nur im Park, denn sie fühlte sich immer so müde und hatte sich heute ganz besonders fest auf mich gestützt. Das arme Ding hatte Tränen in den Augen.

»Mich macht der Herbst diesmal so traurig, Gretel«, sagte sie, als ich, um ihr eine Freude zu machen, einen Ebereschenzweig mit purpurroten Beeren abpflückte. »Es ist in mir ebenso trübe, wie hier in der Natur.«

»Mein liebes Herz«, bat ich, »hoffe doch! Auf Regen folgt Sonnenschein. Du wirst ganz gewiß noch einmal wieder lachen und froh sein.«

Sie schüttelte traurig das Köpfchen. »Ach, Gretchen, wenn ich noch daran denke, wie ich diesen Weg zuletzt an seiner Seite heraufritt, wie malte ich mir die kommende Zeit aus, und –«

Dann verstummte sie und blickte mit immer größer werdenden Augen den Weg entlang. Ich folgte ihrem Blicke und sah einen Reiter rasch herankommen. Ach, er war es; ich erkannte den dunkelroten Kragen. Beinahe hätte ich vor Entzücken alle seine Warnungen vergessen und wäre ihm entgegengelaufen – da gab mir Hannas schmerzlicher Ausruf: »Es ist nur Vetter Wilhelm!« meine Besinnung zurück. Er hatte uns schon erblickt, und im nächsten Moment hielt er neben uns, sprang vom Pferde und bot seiner Cousine die Hand, wahrend mich ein leuchtender Blick streifte.

»Komme ich auch nicht ungelegen, Hanna? Es ist mitunter so langweilig bei uns und überhaupt wohl Zeit, einmal zu sehen, wie es euch ergeht.«

Hanna antwortete nicht. Sie hätte, glaube ich, nichts sagen können, ohne in Tränen auszubrechen.

Traurig sah Wilhelm seine Cousine an, schweigend schritten wir dem Schlosse zu, weder er noch ich wagten durch ein verstohlenes Zeichen unsere Freude des Wiedersehens auszudrücken. Wir ehrten den Schmerz des lieben Mädchens.

Der Baron freute sich augenscheinlich, den Neffen zu sehen. Frau v. Bendeleben begrüßte ihn mit ihrem verbindlichsten Lächeln, das sie für alle mit ihr auf einer Stufe stehenden Menschen bereit hielt. Hanna hatte sich bei der Begrüßungsszene, die in der Halle stattfand, gar nicht aufgehalten, sondern war die Treppe hinauf geschritten. Ich folgte ihr und hörte nur noch, wie Wilhelm sagte: »Aber um Gottes willen, Onkel, was ist aus Hanna geworden?«

Oben in unserem Zimmer legte das arme Kind ihren Kopf an meine Schulter und schluchzte, als ob ihr das Herz brechen wollte. »Ach, ich habe mich so erschrocken, als ich die Uniform sah«, sagte sie. »An Wilhelm dachte ich gar nicht.«

Ich blieb den Rest des Nachmittags oben bei ihr, wie alle Tage. Es wurde mir schwer, aber erstens wollte ich sie nicht allein lassen, und dann wäre es doch aufgefallen, wenn ich heute hinunterging. Mit kaum zu bemeisternder Ungeduld wartete ich auf den Diener, der uns zum Abendessen rufen sollte. Hanna hatte endlich aufgehört zu weinen, meinem Zureden und tausend kleinen Aufmerksamkeiten war es gelungen, sie zu überreden mit hinunterzukommen. Sie kühlte sich die roten Augen mit kaltem Wasser, und endlich, endlich tönte die Stimme Johanns: »Es ist serviert!«

Man befand sich schon im Speisesaal, als wir eintraten. Meine Augen suchten ihn. Da stand er im eifrigen Gespräch mit dem Hausherrn, das Lampenlicht glänzte auf seinem braunen, krausen Haar und spiegelte sich in den Knöpfen seiner Uniform. Ein Aufleuchten der geliebten dunklen Augen sagte mir, daß auch ihm die Zeit lang geworden sei, als mir plötzlich eine andere bekannte Stimme ins Ohr klang. Überrascht wendete ich mich, da lehnte die hohe Gestalt des jungen Pastors am Kamin, in dem ein leichtes Feuer loderte. Frau v. Bendeleben saß ihm gegenüber im Sessel und schien ihm gespannt zuzuhören.

Mein Gott, wie kam er und gerade heute hierher? Ich erwiderte seinen Gruß, als die Stimme des Barons: »Nun denke ich aber, wir nehmen Platz am Tische«, meine Bewunderung unterbrach, mit der ich den seltenen Besuch betrachtete.

Frau v. Bendeleben schritt an ihren Platz. »Lieber Wilhelm, bitte, hier«, sagte sie und wies mit einer Handbewegung auf einen Stuhl zwischen sich und Hanna. »Gretchen, du dort unten. Herr Pastor, wollen Sie sich zu Fräulein Siegismund setzen? Du, lieber Bernhard«, bemerkte sie scherzend zu ihrem Manne, »läßt dir doch wohl den Platz neben Gretchen nicht rauben.«

Ich gestehe, ich war ganz niedergeschlagen, als ich dieses Arrangement vernahm und gar entdeckte, daß ich ihn nicht einmal sehen konnte, denn er saß auf einer Seite mit mir. Meine herabgestimmte Laune war, glaube ich, ziemlich deutlich auf meinem Gesichte zu lesen, und Mühe gab ich mir gar nicht, meinen Nachbarn dies zu verbergen.

»Nun, Gretchen, du läßt dein Lieblingsgericht so ganz unbeachtet vorübergehen?« fragte der Baron, als ich dem Diener eine abwehrende Handbewegung machte, der mir die große Schussel mit den Krammetsvögeln präsentierte.

»Ich danke, ich bin nicht imstande zu essen«, erklärte ich. Dann betrachtete ich die Decke des Zimmers, die ich schon hundertmal gesehen, und die mir anfänglich große Bewunderung eingeflößt hatte. Die Malerei stellte eine Menge Götter und Göttinnen, à la Watteau gekleidet, dar. Sie feierten nun schon seit undenklichen Zeiten eine Art Weinlese, wenigstens fehlte es nicht an Trauben und Ranken sowie an Gläsern, gefüllt mit schäumendem Wein. Der Baron hatte dieses Kunstwerk immer sorgfältig zu konservieren gesucht, das irgendein leichtsinniger Bendeleben der Rokokozeit einst verfertigen ließ. An jeder Ecke des Plafonds war eine Art Wappenschild angebracht, und darauf stand, jene frivole Zeit charakterisierend: »Vive la joie!« Ich dachte, auf was alles wohl die gepuderten alten Götter dort oben herabgeschaut haben mögen – gewiß aber noch nicht auf ein so unpassendes Arrangement der Tafel. Vor ein paar Wochen war es noch anders, da sahen sie noch blitzende Augen und lächelnde Mienen, und heute? – verweinte Gesichter und verdrießliche Falten auf der Stirn. Mein Gott, wie mache ich es nur möglich, ihn zu sprechen?

»Der Kleine des Schloßgärtners ist doch nicht wieder krank, Fräulein?« sagte auf einmal der junge Pastor neben mir. »Ich sah Sie vorgestern in das Haus treten, hatte aber leider keine Zeit, um mich zu erkundigen.«

Erschrocken fuhr ich zusammen und fühlte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg, aber unfähig, eine Lüge zu erfinden, stammelte ich irgend etwas von: »Einmal nachsehen, wie es dem Kinde jetzt ergehe«, oder dergleichen.

Oh, Wilhelm, Wilhelm, wäre doch das Jahr erst vorüber! dachte ich. Mit großer Mühe bezwang ich mich, noch einige Fragen, die der Herr Pastor an mich richtete, freundlich und verständlich zu beantworten. Dann wurde allgemein über Jagd und Ernte gesprochen, als plötzlich Hanna aufstand. Sie sah leichenblaß aus, und nachdem sie ein paar Schritte nach der Tür getan hatte, brach sie besinnungslos zusammen. Mit einem Ausruf des Schreckens war ich bei ihr, wir trugen sie aufs Sofa. Eine lange Ohnmacht hielt sie umfangen, und als sie endlich, nachdem wir alles mögliche angewandt hatten, was gerade bei der Hand war, die Augen öffnete, war sie offenbar nicht bei sich und sprach allerlei unzusammenhängende Worte.

»Siehst du, Gretchen?« rief sie. »Da durch die große Allee kommt er, mitten im Nebel ist er jetzt; ich sehe den roten Streifen an der Mütze!« Dann schluchzte sie wieder herzzerreißend: »Mama, Papa! nehmt ihn mir doch nicht. Zieh nicht fort, Heinrich, so im Dunkeln!«

Frau v. Bendeleben sah blaß, sehr blaß aus, und in des Barons Gesicht zuckte es seltsam, als er Wilhelm bat, einen reitenden Boten nach dem Arzt zu schicken.

Die Kranke wurde zu Bett gebracht – ein paar bange Stunden vergingen. Frau v. Bendeleben saß am Lager Hannas und hielt die Händchen des unaufhörlich plaudernden Mädchens, das ihr unbewußt in ihren Phantasien die bittersten Vorwürfe machte.

Endlich kam der Arzt und erklärte die Krankheit für ein heftiges Nervenfieber. Ich nahm nun meinen Platz am Bette ein, und nur flüchtig konnte ich an jenem Abend Eberhard sprechen, als ich hinuntergeschickt wurde, um irgend etwas zu holen. Ich versprach ihm, fleißig zu schreiben. Bald nachher hörte ich die Tritte seines Pferdes auf dem Schloßhofe – er ritt fort. Was sollte er auch hier unter diesen Verhältnissen?

Beinahe zwei Wochen schwebte Hanna in Lebensgefahr. Es war eine schreckliche Zeit. Frau v. Bendeleben wich keinen Augenblick von dem Bette ihres Kindes, und sooft ich sie auch bat, sich Ruhe zu gönnen, sie tat es nicht. Es war, als fühlte sie, daß sie einen Teil der Schuld an diesem Leiden trage, und wollte es hundertfältig wieder gutmachen. Sie war vor Erschöpfung mitunter kaum imstande zu essen, und doch hielt sie aus. »Ich kann ja nicht ruhen, Gretchen! Denke doch, wenn Hanna stürbe, und ihr letzter Blick hätte mich gesucht und nicht gefunden.«

Der Baron, der von Natur schon weichmütig war, wandelte wie ein Schatten umher. Hundertmal am Tage kam er in das kleine Vorzimmer und suchte aus unseren Mienen Hoffnung und Trost zu lesen, und wenn er statt dessen Angst und Sorge fand, so konnte er in Tränen ausbrechen wie ein Kind.

»Mein Gott, mein Gott«, murmelte er, »laß sie mir, ich will ja alles tun, damit sie wieder froh und heiter wird.« Und Gott erhörte die Gebete der verzweifelten Eltern: Hanna überwand die Krankheit. Sie genas, aber langsam. Sehr matt und schwach blieb sie noch lange und war kaum noch ein Schatten von dem, was sie einst gewesen.

Rührend erschien die Freude des Barons. Ich sehe ihn noch, wie seine riesige Gestalt sich vorsichtig auf den Zehen nach dem Bett bewegte und in die kleinen, mageren Händchen einen Blumenstrauß aus dem Gewächshause oder eine Orange legte. So behutsam nahm er mit den großen Händen die Vorhänge zur Seite, um seinem Kinde einen Kuß auf die Stirn zu drücken, so leise war die Stimme, wenn er nach ihrem Befinden fragte.

Bei ihr war jeder kleine Groll geschwunden. Die Angst, die Sorge der Eltern rührten das zarte, feinfühlende Wesen, und sie vergaß, daß man sie eigentlich krank gemacht hatte. ,Wie hab' ich euch doch alle so lieb«, sagte sie, wenn man ihr eine kleine Freude bereitete, und strich mit den schwachen Händchen liebkosend über die Wangen ihrer Mutter und nickte mir freundlich zu: »Habt tausend Dank für alle Liebe!«

Von Bergen sprach sie gar nicht – desto öfter der Baron. Schon ein paarmal hatte er geheimnisvoll den Doktor gefragt, ob Hanna wohl stark genug wäre, eine große Freude zu ertragen. Ein paarmal war ihm gesagt: »Noch nicht!« Als aber dann Hanna schon den ganzen Tag außer Bett sein konnte und einige Male mit uns diniert hatte, da hieß es endlich: »Freude schadet nichts mehr, im Gegenteil. Aber nicht zu stürmisch.«

Da ließ der Baron eines Tages zu Ende des Novembers, als die ersten Schneeflocken in der Luft wirbelten, seine zwei besten Renner, die Schwarzen, anspannen und fuhr zur Stadt, und Frau v. Bendeleben sagte zu mir: »Nicht wahr, Gretchen, du bist auch der Meinung, daß Hanna Bergen noch immer liebt?«

»Ja, das glaube ich ganz bestimmt«, entgegnete ich. Unruhig und mit einem schmerzlichen Zug um den Mund ging sie im Zimmer hin und her.

»Du ahnst gewiß, um was es sich handelt, Gretchen«, sagte sie dann. »Mein Mann ist zu Bergen, und wir werden wahrscheinlich heut noch eine Braut im Hause haben. Hanna hat sich um ihre Liebe krank gegrämt und soll für allen Kummer entschädigt werden. Gott gebe seinen Segen.« Sie seufzte.

Mir klopfte das Herz vor Freude. »Aber Hanna, weiß sie schon?«

»Nichts; sie hat keine Ahnung. Du weißt, der Baron liebt nun einmal Überraschungen. Wenn es ihr nur nicht schadet! Wollte Gott, dieser Tag wäre erst vorbei!«

Man sah es dem feinen Gesicht unter dem Spitzenhäubchen an, daß sie sich in ungemütlicher Stimmung befand. Die Augen blickten verschleiert, und um die Lippen zuckte es nervös. Ich merkte, wie es stand, sie hatte nachgeben müssen in dieser Angelegenheit, der Baron hatte keinem »sanften, klugen Worte« Gehör geschenkt. Die Freude, das Leben des geliebten Kindes gerettet zu sehen, überwog alle anderen Bedenken bei ihm, nur glücklich wollte er sie wissen, während die Mutter, alle Angst und Sorge der jüngsten Zeit bereits vergessend, in dem zukünftigen Schwiegersohn nur den armen Edelmann sah mit dem untersten militärischen Range. Es war ihr schrecklich, die blonde Hanna nicht auch als Gräfin präsentieren zu können, und dies hätte nach ihrer Ansicht keinem Zweifel unterlegen, wenn Hanna nur vernünftig gewesen wäre. Indessen, es ging nun nicht anders. Sie fuhr mit dem Taschentuch über die Augen, seufzte noch einmal und schickte mich dann mit der Weisung hinauf, wenn Hanna nach dem Baron frage, sollte ich sagen, er sei nach Wiesenau, einem benachbarten Gute, gefahren.

Mir klopfte das Herz vor Aufregung, als ich die zarte Gestalt im Sessel am Fenster sah, wie sie teilnahmslos in das Treiben der Schneeflocken schaute. Auf dem Schoße hielt sie ein geöffnetes Kästchen, sie legte einen vertrockneten Eichenzweig hinein, den sie in der Hand gehalten hatte, und gleichsam um meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, sagte sie: »Der erste Schnee! Weißt du, Gretchen, als wir noch Kinder waren, prasselten immer die ersten Bratäpfel in der Röhre an diesem Tage?«

»Ja, Hanna, und nicht wahr, wir wollen heute wieder Kinder werden. Ich hole Äpfel und lege sie auf den Rost.«

Bald zischten und schmorten die rotbäckigen Früchte im heißen Ofen. Hanna und ich rückten uns die Sessel hinzu, ich nahm eine Arbeit und zog Stich um Stich mit der bunten Wolle. Das Feuer warf gelbe und rote Lichter auf den Teppich, die Hanna träumerisch mit den Augen verfolgte.

»Ich wollte, wir wären noch Kinder, Gretchen«, sagte sie. »Es ist ja alles so wie sonst, und doch so anders.«

»Ja, anders ist es, und viel schöner«, erklärte ich und strich heimlich mit der Hand über meine Kleidertasche, daß der letzte Brief Wilhelms leise knisterte; »viel schöner, Hanna, du kannst es glauben.«

Sie schüttelte das Köpfchen und sah mich an, als könne sie nicht recht begreifen, was jetzt so viel schöner sei. Dann meinte sie: »Ja, du hast keinen Kummer –. Aber das wohlbekannte Trappeln der Pferde und das Rollen des Wagens unterbrach sie. Ich sprang auf und wollte hinauseilen.

»Wo willst du hin, Gretchen? Es wird Besuch sein, oder war Papa ausgefahren?«

Ich besann mich. »Ja, er war in Wiesenau, es ist richtig, und er wird zurückgekommen sein.« Nähen konnte ich nicht. Mich regte es gewaltig auf, Hanna so am Vorabende der Erfüllung ihrer Wünsche zu wissen. Meine Hände zitterten und waren nicht imstande, die Nadel zu halten. Eine Weile blieb alles still, dann hörte ich die Schritte des Barons auf der Treppe. »Guter Vater«, sagte Hanna, »sein erster Gang ist zu mir herauf.«

»Guten Tag, mein Herz!« tönte bald darauf seine sonore Stimme. »Wie geht es dir heute?« Er küßte sie auf die Stirn. »Schaust ordentlich frisch aus, das ist schön. Nun mußt du aber mal hinunterkommen, ich habe dir etwas mitgebracht, und dieses ›Etwas‹ hat große Sehnsucht nach dir. Komm, gib mir deinen Arm und rate unterwegs, was es wohl sein könnte.«

Hanna sah mit den großen Augen verwundert auf ihren Vater und schickte sich eben an, mit ihm zu gehen; da flüsterte ich ihr zu: »Denk an deinen höchsten, größten Wunsch, du gehst seiner Erfüllung entgegen.«

Sie zuckte zusammen und wurde dunkelrot, dann warf sie mir einen flehenden, vorwurfsvollen Blick zu, als wollte sie sagen: warum regst du solche Gedanken in meiner Seele an? Der Baron aber hob sie wie ein Kind empor und trug sie hinunter. Sie hatte die Arme um seinen Hals geschlungen und den blonden Kopf an den seinen geschmiegt, die Augen halb geschlossen, als träumte sie.


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