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IV.
Im Lichte des Blitzes.


Er hätte sich gegenwärtig ganz glücklich gefühlt und hätte vom Dasein nicht mehr begehrt, als es ihm gewährte: nämlich die Gelegenheit ganze Tage lang mit ihr zusammen zu sein, mit ihr zu reden und sie zu sehen, ihre Stimme zu hören und sich mit ihr über ihre materiellen Bedürfnisse zu berathen – wenn nicht zwei nagende Gedanken ihn ständig gepeinigt hätten. Der eine war der Gedanke daran, wie sie sich aus diesem Gefängniß hinaussehnte, wie ihre ganze Seele an der Hoffnung auf Erlösung festhielt, daß doch endlich andere Menschen sie entdecken würden. Der andere war die Angst darüber, was sie an dem Tage anfangen sollten, da ihr Vorrath von Lebensmitteln auszugehen begann.

Er träumte wache Träume von der plötzlich in diesem paradiesischen Gefängniß vernommenen Stimme eines dritten Menschen. Das Wort würde vielleicht ein französisches, englisches oder aus einer andern fremden Sprache sein, falls jetzt ganz Skandinavien wirklich, mit Ausnahme von Agnesruh, eine einzige Grabkammer war, und muthige Entdeckungsreisende nach vielen Monaten hierher vordrangen. Aber sie, sie würde dann sogleich bereit sein, sich jubelnd dem Retter um den Hals zu werfen und ihrer glühenden Dankbarkeit in seiner eigenen Sprache Ausdruck zu verleihen. Und wäre es ein feingebildeter Mann, einer aus ihrer Gesellschaftsklasse, dann würde er in demselben Augenblick ihr weit mehr sein, als ihr armer Gefährte aus dieser furchtbaren Zeit.

Oder es kam niemals jemand hierher und fand sie. Dann kam, statt dessen, der kalte und schreckliche Winter. Das Scheibenbrod in den Tonnen, mit dem sie überaus sparsam umgingen, mangelte, das Mehl im Sack oben in der Vorrathskammer ging zu Ende, die Kühe gaben nicht länger Milch, ihre Kleider waren abgenutzt, und sie mußten Tücher und Decken, Polstersachen und das Sonnensegel über dem Thurmbalkon zerschneiden und daraus Kleider zusammen nähen, um ihre Blöße zu decken. Bei diesem Gedanken wurde er von Angst ergriffen, mußte aber doch den Mund zu einem Lächeln verziehen, wenn er sich selbst in einen großkarrirten, sackartigen Mantel gehüllt dachte, der aus der schönen, rothen Decke der Frau Brink hergestellt war, und sie in einem Domino vor sich sah, aus zerschnittenen, karrirten, blauweißen Decken.

Es war mitten in einer erstickend schwülen Nacht; seine Gedanken hatten ihn mehr als jemals geängstigt, er lag in Schweiß gebadet in seinem Thurmzimmer, dessen Dach während des Tages so heiß geworden war, daß eine erstickende Wärme innen herrschte. Sein Kopf schmerzte und seine Pulse brannten.

Plötzlich erhellte ein scharfes, fürchterliches Licht jeden kleinsten Winkel und jede Ecke des Gemaches, beleuchtete etwa eine halbe Sekunde den Raum, und dann folgte ein so starker Donnerschlag, als wenn das Himmelsgewölbe plötzlich geborsten und auf die Erde herabgestürzt wäre.

Blitz und Donner folgten so schnell auf einander und mit einer so fürchterlichen Intensität, daß er, wie von Schreck gelähmt, die Augen schloß und nur noch auf eine entsetzliche Katastrophe wartete.

Aber dann wurde er von einem Gedanken erfaßt, der ihm augenblicklich Kraft, Muth und Besinnung wiedergab. Was mochte sie wohl in diesen Augenblicken des Schreckens empfinden? Er mußte in ihrer Nähe sein!

Eilig zog er seine Kleider an, flog die Treppe hinunter und blieb lauschend draußen vor ihrer Thüre stehen.

Sie schluchzte drinnen vor Angst, sie wand sich in Folterqualen auf ihrem Bett; er hörte, wie sie zusammenfuhr und für ein paar Sekunden verstummte, so oft die Blitze die Luft durchzuckten.

Noch auf der Treppe hatte er vor Angst über das furchtbare Naturschauspiel die Augen momentan geschlossen; das war kein Gewitter mehr, das war sicher der jüngste Tag, und er war davon überzeugt, daß der Herr der Erde nun an's Werk ging, völlig die Schöpfung zu vernichten, die er schon kürzlich so gräßlich verheert hatte.

Aber die angstvollen Seufzer der Geliebten verjagten alle Furcht für sich selbst. Er hatte nur für sie, die Arme, Sinn und Gedanken, er wollte rufen, sagen, sie wäre nicht ganz allein, denn er wäre in ihrer Nähe, obgleich er ihr nicht helfen und sie nicht trösten könnte. Aber er brachte kein Wort heraus. Und wenn es sein Leben gegolten hätte, er hätte nicht ihren Namen zu rufen vermocht.

Das Toben der Naturkräfte nahm ständig zu. Seine Kehle wurde immer fester zugeschnürt, in seinem Kopf hatte er ein Gefühl, als wenn er in einer Presse zusammengeschraubt würde, der Boden wankte unter seinen Füßen, und er fürchtete, ohnmächtig zu werden.

Ein furchtbarer Blitz und ein gräßlicherer Donnerschlag, als alle vorhergehenden, ein Schrei der Verzweiflung von innen und die Thüre flog auf ...

Mit fliegenden Haaren und schreckensstarren Augen stürzte sie heraus. Als sie ihn erblickte, fuhr ein Zucken über ihr entstelltes Antlitz hin, und mit einem Weheschrei fiel sie in seine Arme und drückte ihn fest an sich ...

Er begriff, daß es wahnsinnige Angst war, die sie in seinen Arm jagte, daß sie nicht zu ihm, zu dem Manne, sondern nur zu dem zweiten Menschen in dieser Stunde der Todesangst hinflüchtete.

Aber war das für ihn nicht dasselbe? Sie würden ja doch im nächsten Augenblick sterben. Kein anderer Mann auf Erden würde ihren Leib umfassen, keiner mehr ein Wort von diesen Lippen vernehmen – diesen Lippen! Wenn er es wagte? Jetzt! Jetzt ging gewiß die Erde in Trümmer, und in der vollen Ueberzeugung, daß sie beide im nächsten Augenblick vernichtet sein würden, drückte er seinen Mund convulsivisch auf den ihrigen und preßte sie fest an sein Herz. –

Wie wunderbar! Nun wurde es so still und ruhig und dunkel! Der Donner rollte in weiter, weiter Ferne davon, kein Blitz erschreckte sie mehr, so müde und schwer sank sie an seine Brust! Wußte sie es oder wußte sie es nicht? Das konnte er nicht begreifen; ihre Augen waren geschlossen und ihr Mund war stumm, aber weich und liebkosend schlossen sich ihre Arme um seinen Hals, und glühend, berauschend umfächelten ihre Athemzüge seine Wange.

Er riß die Augen auf und fragte sich verwundert, ob es bereits vorüber wäre, ob die Erde vernichtet und das Leben entflohen sei, und sie beide, Seite an Seite, durch den Weltenraum zu den Gefilden der Seligen emporeilten? – Nein, so konnte es nicht sein – war das nicht ein Wesen von Fleisch und Blut, das er in seinen Armen hielt?

Oho – nein, er fühlte sie kaum mehr ... War das sie oder er? – oder zwei andere Wesen – lebte er oder war er todt?

Wie dem auch sein mochte, dies war eine Seligkeit ohne Ende, ohne Maß und Ziel, eine Seligkeit, nach deren Aufhören – ob sie nun im nächsten Augenblick oder erst in tausend Jahrhunderten ein Ende nahm – der Untergang eine Wohlthat sein würde. – O, Geliebte – Geliebte – Geliebte! –



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