Gerhart Hauptmann
Wanda
Gerhart Hauptmann

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Sechstes Kapitel

Ende März war herangekommen, als Haake zum erstenmal um die Mittagszeit vergeblich auf Carola gewartet hatte und ebenso im Café Aragno auf alle drei Damen Ingeström um die übliche Abendstunde. Beim Portier des Hotels erfuhr er, die Damen seien in großer Toilette gewesen, und der Wagen irgendeiner Botschaft habe sie abgeholt.

Irgend etwas an diesem Vorfall machte Haake ruhelos. Es stand eine milde Mondnacht über Rom, und ohne nach der Uhr zu sehen bewegte er sich den Korso hinab bis zum Spanischen Platz, dann wieder zurück bis zum Kapitol, die Treppe zum Kapitol hinauf, die Trümmer des Forum Romanum im Mondschein unter sich, große Gedanken, große Gefühle im Innern, verloren im lebendigen Gräberpuls der Ewigkeit – und doch mit einem peinlichen Nagen im Herzen, dieser drei Damen wegen, von denen zwei seine Freundinnen, eine beinahe seine Geliebte war und die ihn so schnöde versetzt hatten, wenn nicht etwa die Nachlässigkeit eines Hotelbediensteten dazwischenlag und dem Erlebnis den Stachel nahm.

Man sprach in Rom von den schönen Schwedinnen. Die Schwestern gehörten zu jenen Erscheinungen, bei denen die Harmonie des Aufbaus, der Reiz und Adel des Ganzen wie des Einzelnen, gleichsam keinen Protest duldet. Jede von ihnen war, was man eine Beauté, eine Schönheit, nannte. Dazu kam eine gewisse Pikanterie und Selbständigkeit der Schwedinnen. Man konnte nicht glauben, leere Hüllen, bemalte Wachsfiguren vor sich zu haben. Sie waren innig beseelt und näherten sich, wie selten Frauen, was sich auch Haake oft gesagt hatte, dem durch die Plastik auf uns gekommenen griechischen Schönheitsideal. Seiner Art gemäß hatte sich Haake den Stolz nicht anmerken lassen, den er empfand, sooft er mit ihnen gesehen wurde. In solchen Augenblicken glaubte er, ein begnadeter Grieche zu sein. Liebte er Carola Ingeström? – Oft konnte sein Auge im Staunen nicht satt werden. Er bewunderte Carolas Güte und Vornehmheit. Ihr freier Charakter und überhaupt der Charakter dieser Frauen schien ihm verehrungswürdig. Aber erst diese Nacht empfand er, wie Staunen, Bewunderung und Verehrung zu leidenschaftlicher Liebe geworden war. Wieder und wieder schlug er sich an die Stirn und fragte sich, wie es möglich sei, dies nicht erkannt und dieses schöne Mädchen so oft durch Lauheit verletzt und im ganzen hingehalten zu haben.

Was hat sich denn da für eine Verblendung, für ein Wahnsinn eingenistet? fragte er. Stets hatte er sich im Zusammensein mit diesen Frauen aus hohem Stande frei und unbedrückt gefühlt, wie ihm denn überhaupt ein natürlicher Anstand, eine Sicherheit des Betragens angeboren war, sofern ihn nicht eine andere Erbschaft in den Zustand der Unzurechnungsfähigkeit hinunterstieß.

Also: was hat sich denn da für ein Wahnsinn, für eine Verblendung eingenistet? Wußte ich denn nicht, was mir widerfuhr? Wo komme ich her: von zwölf Kindern das jüngste, großgefüttert mit einem Stück verschimmelten Hungerbrots, welche Aussichten hatte ich? Und nun: diese Stufen des märchenhaften Aufstieges! Fürstinnen, Göttinnen neigen sich mir! Und ich nehme das hin mit dem Stumpfsinn eines Steinklopfers? Mit einem Beest, einem Katzenluder ärgere ich sie, das mir vollkommen gleichgültig ist und dem ich, wenn ich diesmal nach Hause komme, den Hals umdrehe! Ich weiß recht wohl, daß es ein Dämon ist und wer diesen Dämon zu meiner Bewachung abgeordnet! Kein Gedanke, daß er mich jemals wieder in die verschlammten und verschlampten Gebiete dieser versunkenen Dreckhöllen hinablocken wird! Lebe wohl, Wanda Schiebelhut! Brich dir den Hals! oder kriege die Kränke! Ich wüßte nicht, was mir mehr schnuppe wäre . . .! So und ähnlich meditierte der Bildhauer Haake fort.

Nach Hause gehen mochte er nicht aus Furcht vor den schrecklichen Bildern seiner Eifersucht, und weil er die Katze nicht morden wollte. Mehrmals trat er in kleine Wirtsstuben, wurde aber, ohne viel getrunken zu haben, von seiner Rastlosigkeit immer wieder aufgescheucht. Er irrte noch in den Straßen umher, als hie und da ein Kampanile zu läuten begann, trat schließlich mit anderen, die vermummt und frierend einherkamen, in irgendeine Kirche ein und fand sich plötzlich mit ihnen kniend und, obgleich er ein Protestant war, dem Neigen und Beugen, Schellen und wieder Schellen am matt erleuchteten Altar mit frommer Spannung zuschauend.

Was war es eigentlich, was diesen im Grunde recht einsamen Menschen überkam, als er dem Zuge nachgab, sich niederzuwerfen und das jedem Menschen eigentümliche immerwährende Selbstgespräch in Gegenwart des Mysteriums, in Gegenwart Gottes fortzusetzen? Es war vielleicht der seit Jahrzehnten tiefste Augenblick seiner Innerlichkeit. Hatte der Schubiack, der seinen Glauben gewechselt, nicht am Ende doch recht? Was tat er jetzt anderes, als von einer stärkeren Macht Hilfe zu erflehen, wo die seine nicht ausreichte? Haake, der gar nicht kirchliche, gänzlich unfromme Haake – betete! Er flehte um Hilfe, endliche Hilfe wider seine Besessenheit, gegen den Dämon, der in Gestalt der Katze Waschi während der Arbeit auf seiner Schulter hockte, jeden Abend auf seine Bettdecke sprang und sich zu seinen Füßen hinkuschte, dieser Katze, die selbst von einer anderen Seele besessen war, die sich jederzeit durch die feuerspeienden Augen des Wirtskörpers gleichsam mit einem Raubtiersprunge in seine Brust begeben und sein Herz mit Krallen und Zähnen zerfleischen konnte. Das aber war nur das eine, wozu dieser böse Hausgeist des Bildhauers fähig war. Sein Spuk war leider immer im Gange. Er bediente sich im Innern des Opfers bald eines Spiegels, in dem er aber und aber tausend Male eine kleine Drahtseiltänzerin in schwarzem Trikot und roter Schleife erscheinen ließ. Er bediente sich eines Altars und vieler brennender Kerzen, um dieselbe kleine Teufelin Lilith als Mutter Maria auf ihm zu verherrlichen. Das war es, wogegen er diesmal aus tiefstem Grunde der Seele zu Gott um Beistand schrie: Mache mich frei! Mache mich rein! Rotte sie aus aus meinem Herzen!

Er wollte nun endlich reinen Tisch machen. Der unverdienten, unerhörten Begnadung, die ihm durch die Neigung der schönen Carola zuteil geworden war, hatte er nur darum seine zögernde Lauheit entgegengestellt, weil der Dämon in ihm noch lebendig war. Nie aber hatte er sich so erneut, frei, verjüngt und freudig gefühlt wie jetzt, als er aus der Kirche trat. Natürlich war das Ausbleiben der Damen am gestrigen Abend auf irgendeinen unvorhergesehenen Umstand zurückzuführen, wie sie ja immer wieder vorkamen. Die Aufklärung fand sich wahrscheinlich bereits im Briefkasten seines Ateliers. Er selbst, wie er sich nun deutlich erinnerte, hatte ja auch einmal vor Wochen die Damen im Café Aragno vergeblich warten lassen, als er die Nacht mit dem Konvertiten vergeuden mußte.

Der Bildhauer fand, nach Hause gekommen, allerdings keine Nachricht von Carola vor, was ihn aber nun kaum noch beunruhigte. Er legte sich angekleidet aufs Bett und schlief mit dem Gedanken ein, die Zeit bis zur Besuchsstunde Carolas werde so am schnellsten vorübergehen. Als er die Augen wieder öffnete, war es bereits finstere Nacht um ihn. Er stand auf, nachdem er Waschi, die er zu seinen Füßen fühlte, mit einem Fußtritt von sich gestoßen. Es war die Zeit, wie er feststellte, da er sonst im Café Aragno saß. In aller Eile machte er sich salonfähig und sann währenddessen darüber nach, ob denn Carola heute mittag wieder ausgeblieben sei. Aber nein: sie hatte wahrscheinlich vergeblich geklopft und geklingelt; er wußte ja, daß man, wenn er einmal schlief, neben ihm eine Kanone, ohne ihn zu erwecken, abfeuern konnte.

Er traf rechtzeitig im Café ein. Es war noch gut eine halbe Stunde hin bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Damen Ingeström zu erscheinen pflegten. Diese halbe Stunde aber verging, es verging eine weitere halbe Stunde, und als sie immer noch nicht erschienen waren und die Tortur des Wartens keine weitere Aussicht bot, tat Haake, was er gestern getan hatte: er ging ins Hotel, um sich nach den Damen zu erkundigen.

Frau Ingeström mit zwei Töchtern war am Morgen, mit Fahrkarten bis Stockholm, abgereist.

 


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