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XX
Die Folgen seines zweiten moralischen Sturzes. Seine Genialität

»Non dispetto, ma doglia«.

Dante

 

Oscar Wilde blieb nicht lange in Neapel: nur wenige schnell enteilende Monate; die verbotene Frucht wandelte sich bald zu Staub und Asche in seinem Munde.

Ich gebe im folgenden einige Stellen aus einem Briefe wieder, den er im Dezember 1897, kurz nach seiner Abreise aus Neapel, an Robert Roß richtete, weil er von der zweiten großen Krisis seines Lebens handelt. Überdies sind es die bittersten Worte, die er jemals geschrieben hat, und deshalb besonders bedeutsam:

»Was in Neapel geschah, ist sehr einfach. Vier Monate bot mir Bosie mit unablässigen falschen Vorspiegelungen ein Heim an. Er trug mir seine Liebe, seine Zuneigung und seine Fürsorge an und versprach mir, daß es mir nie an etwas fehlen sollte. Nach vier Monaten nahm ich sein Anerbieten an, aber als wir uns auf unserer Fahrt nach Neapel trafen, bemerkte ich, daß er weder Geld, noch bestimmte Absichten hatte und daß er von all seinen Versprechungen nichts wissen wollte. Er hatte nur den einen Gedanken, daß ich Geld für uns beide aufbringen sollte, und ich beschaffte eine Summe in Höhe von 120 Pfund. Davon lebte Bosie ganz sorglos. Als er dann schließlich sein Teil selbst bezahlen sollte, wurde er, wenn es nicht gerade sein eigenes Vergnügen galt, furchtbar lieblos und knauserig, und als meine Rente nicht mehr gezahlt wurde, reiste er ab.

Hinsichtlich der 500 Pfund Das war die Summe, die von der ganzen Familie Queensberry, und insbesondere von Lord Alfred Douglas, Oscar zugesagt worden war, um die Kosten für die erste Verleumdungsklage zu bestreiten, die er auf ihr Zureden gegen Lord Queensberry einreichte. Roß hat später vor Gericht ausgesagt, daß sie niemals bezahlt worden ist. Die Chronik der Gelder, die Oscar damals zugesagt und gegeben wurden, ist so eigenartig und so charakteristisch für die Zeit, daß sie wohl ein Kapitel für sich bilden könnte. Hier genügt es eben, zu erwähnen, daß sich die Leute, die ihn mit Geld versorgen mußten, der Verpflichtung entzogen, während ihn andere, an die er keine Ansprüche zu stellen hatte, freigebig unterstützten; aber selbst große Summen glitten wie Wasser aus seinen unachtsamen Händen., die er für eine Ehrenschuld erklärte, hat er mir geschrieben, daß er die Ehrenschuld zwar anerkennt, da aber unzählige Gentlemen ihre Ehrenschulden nicht bezahlen, ist das etwas ganz Alltägliches und niemand denkt deshalb schlechter über sie.

Ich weiß nicht, was du zu Constance gesagt hast, aber die einfache Wahrheit ist die, daß ich das angebotene Heim annahm und dann bemerkte, daß ich das Geld aufbringen sollte. Und als ich dazu nicht mehr in der Lage war, wurde ich meinem Schicksal überlassen.

Es ist die traurigste Erfahrung eines traurigen Lebens. Es ist ein ganz entsetzlicher Schlag. Er konnte nicht ausbleiben, aber ich weiß, daß es besser ist, wenn ich ihn niemals wiedersehe, ich will es nicht, – es graut mir!«

Ein erläuterndes Wort wird die Bemerkung über seine Frau Constance in diesem Briefe begreiflich machen: In einer am Schluß seiner Haft ausgefertigten Trennungsurkunde verbürgte sich Mrs. Wilde, Oscar eine jährliche Rente von 150 Pfund auf Lebenszeit auszusetzen, mit der Bedingung, daß Oscar der Rente verlustig gehen sollte, wenn er jemals unter einem Dach mit Lord Alfred Douglas wohnte. Als Oscar der Rente verlustig ging, veranlaßte er Robert Roß, seine Frau um Weiterzahlung zu ersuchen, und trotzdem sie verwirkt war, erhielt Oscar durch Robert Roß' Vermittlung andauernd Geld von Mrs. Wilde, die sich nur ausbedungen hatte, daß ihr Gatte über die Herkunft des Geldes nichts erfahren sollte. Auch Roß, der ihm ebenfalls jährlich 150 Pfund geschickt hatte, nahm seine monatlichen Zahlungen wieder auf, sobald er sich von Douglas getrennt hatte.

Meine Freundschaft mit Oscar Wilde, die nach seiner Entlassung aus dem Zuchthause durch eine törichte Stichelei getrübt worden war, welche weniger seiner Person als dem Mittelsmann galt, den er zu mir geschickt hatte, wurde zu Beginn des Jahres 1898 in Paris wieder angeknüpft. Ich hatte stets nur die herzlichste Zuneigung für Oscar empfunden, und sobald ich mich nach Paris begab und mit Oscar zusammenkam, sprach ich mich mit ihm über das aus, was er als Lieblosigkeit betrachtet hatte. Als ich ihn fragte, wie sich sein Leben seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis gestaltet hatte, erzählte er mir nur, daß er sich mit Bosie Douglas entzweit habe.

Ich legte kein großes Gewicht auf diese Tatsache, aber die außerordentliche Veränderung, die seit seinem Aufenthalt in Neapel mit ihm vorgegangen war, konnte mir nicht entgehen. Sein Gesundheitszustand war fast ebensogut wie je zuvor; in der Tat war ihm die Gefängniszucht mit der zweijährigen kargen Lebensform so gut bekommen, daß seine Gesundheit fast bis zum Schluß vortrefflich blieb.

Aber sein ganzes Wesen und seine Stellungnahme dem Leben gegenüber hatte sich wiederum gewandelt: er glich jetzt dem gefeierten Oscar in den ersten neunziger Jahren, und ich hörte auch aus seiner Sprache heraus, daß sein Charakter härter und kleinlicher geworden war; – »das Gerede von einer Besserung, Frank, ist reiner Unsinn; in Wirklichkeit bessert oder ändert sich kein Mensch. Ich bin derselbe, der ich immer gewesen bin.«

Er irrte sich: er kam von neuem auf seinen alten heidnischen Standpunkt zurück; aber er war nicht derselbe, er war jetzt nicht unbesonnen, sondern achtlos und, sobald man ein wenig unter der Oberfläche schürfte, fast bis zur Verzweiflung niedergeschlagen. Er hatte gelernt, was Leiden und Mitleiden bedeutet, und ihren Wert empfunden; gewiß hatte er das alles hinter sich gelassen, aber er konnte die heidnische Sorglosigkeit und die leichtherzige Genußfähigkeit nicht wiederfinden. Er tat sein möglichstes und wäre beinahe zum Ziel gekommen, aber es war nicht mühelos. Sein jetziges Glaubensbekenntnis war dasselbe wie um das Jahr 1892: »Lasset uns in den schnell enteilenden Tagen so viel Lust als möglich genießen, denn die Nacht kommet und die Stille, die niemals gestöret werden kann.«

Wir nennen die alte Lehre von der Erbsünde jetzt Rückschlag zur Urform: die entzückendste Edelrose wird, wenn man sie ohne Züchtung und sachverständige Behandlung wachsen läßt, nach wenigen Generationswechseln wieder zur gewöhnlichen, duftlosen wilden Heckenrose werden. Ein solcher Rückschlag zur Urform hatte sich bei Oscar Wilde vollzogen. Man muß vielleicht die Schlußfolgerung ziehen, daß das alte heidnische Griechentum in ihm stärker war als die christlichen Tugenden, die durch die Zucht und die Leiden der Gefangenschaft erzeugt worden waren. Und als er nun seine alte Lebensweise wieder aufnahm, schienen ihm die Lehren, die er im Gefängnis gelernt hatte, nach und nach zu entfallen und in Vergessenheit zu geraten. Aber in Wirklichkeit waren die edlen Gedanken, die ihn erfüllt hatten, nicht verloren; das göttliche Feuer hatte seine Lippen gestreift, seine Augen hatten in die Wunderwelt des Mitfühlens, des Mitleidens und der Liebe geblickt. Und ganz sonderbarerweise trug diese idealere Einsicht, wie wir bald sehen werden, dazu bei, seine Persönlichkeit in ihrem Gleichgewicht zu erschüttern, – sie vernichtete auf diese Weise seine Arbeitskraft und vollendete seine seelische Zerrüttung. Oscars zweiter moralischer Sturz, diesmal ein Sturz aus höheren Sphären, war verhängnisvoll und machte es ihm unmöglich, literarisch zu arbeiten. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, erscheint mir das alles ganz verständlich, obwohl ich es damals nicht begreifen konnte.

Als er zu Bosie Douglas ging, um sein Leben mit ihm zu teilen, schüttelte er die christlichen Formen ab, mußte aber später einsehen, daß »De Profundis« und »Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading« tiefer empfunden und wertvoller waren als alle seine früheren Schriften. Er kehrte zur heidnischen Weltanschauung zurück; äußerlich und unter den damaligen Umständen war er wieder der alte Oscar mit der Liebe des Griechen zur Schönheit und dem Widerwillen gegen körperliche Gebrechen, Mißgestaltung und Häßlichkeit. Und so oft er einen Gleichgesinnten fand, schwelgte er geradezu in heiteren Paradoxen und sprühenden Geistesblitzen. Aber er war mit sich selbst im Kampfe; wie Miltons Satan blieb er sich stets seines Sündenfalls bewußt, stets trauerte er um seine verlorene Würde, und durch diesen geistigen Zwiespalt war es ihm unmöglich, literarisch zu arbeiten. Vielleicht betäubte er sich aus diesem Grunde mehr denn je mit dem mündlichen Wort.

Er war ohne Frage der interessanteste Gefährte, den ich je kennen gelernt habe: meines Erachtens unzweifelhaft der geistreichste Plauderer, der je gelebt hat. Sicherlich erschloß sich kein anderer so restlos im Gespräche wie er. Zu wiederholten Malen hat er behauptet, daß er für seine Bücher und Theaterstücke nur sein Talent, aber für sein Leben seinen Genius hingegeben hat. Hätte er gesagt: für seinen mündlichen Ausdruck, so wäre es die unbedingte Wahrheit gewesen.

Als er aus dem Zuchthause kam, waren die Leute recht verschiedener Meinung über seine geistige und körperliche Verfassung. Wir alle, die ihn genau kannten, Roß, Turner, More Adey, Lord Alfred Douglas und ich selbst, – wir sind einstimmig der Meinung, daß sein Gesundheitszustand trotz seiner geringfügigen Schwerhörigkeit niemals besser und tatsächlich nie so gut gewesen ist. Aber ein paar französische Freunde wollten ihn absichtlich zum Märtyrer stempeln.

Gide, der uns Wildes letzte Lebensjahre geschildert hat, erzählt uns, daß er »zu schwer durch seine Gefangenschaft gelitten hatte … Sein Wille war gebrochen … sein zerrüttetes Leben zeigte nur noch eine verfallende Ruine seiner einstigen Persönlichkeit, deren Anblick schmerzlich wirkte. Bisweilen wollte er anscheinend gern beweisen, daß sein Hirn noch rege war. Der Humor fehlte nicht, aber er war gesucht, erzwungen und verbraucht.«

Diese Schattierungen sind vielleicht notwendig, um ein französisches Bild des von der Gesellschaft Geächteten zu vervollständigen. In bezug auf Oscar Wilde sind sie nicht nur unwahr, sondern eine vollkommene Verdrehung der Wahrheit; er hat nie so gut gesprochen, nie war er ein so bezaubernd liebenswürdiger Gefährte wie in seinen letzten Lebensjahren.

Im allerletzten Jahre sprach er geistreicher, witziger, lebendiger denn je, sein Ideenkreis war umfangreicher, seine Spannkraft stärker als zuvor. Er war der geborene Improvisator. Momentan wirkte er stets betörend auf die Überzeugung seiner Zuhörer. Ein Phonograph hätte die Wahrheit entschleiern können, denn seine Zauberkraft war zum großen Teil untrennbar mit seiner Person verknüpft; seine Worte waren häufig Purzelbaum-Paradoxe; der nichtige Gedankenschaum trug durch die leuchtenden, irrlichternden Augen, die heiter lächelnden Lippen und durch ein wohllautendes Organ den Preis davon.

Zumeist begann die Unterhaltung mit einem witzigen Wortspiel. Ein Mitglied der Gesellschaft machte wohl irgendeine selbstverständliche oder alltägliche Bemerkung, wiederholte ein Sprichwort oder ein abgedroschenes Schlagwort, wie z. B. »Genialität ist angeboren, nicht einstudiert« (Genius is born, not made). Dann sprühte es lächelnd aus Oscars Munde: »Nicht finanziert, mein lieber Junge, nicht finanziert (not ›paid‹, my dear fellow, not ›paid‹).«

Oder er gab eine interessante Bemerkung über irgendein Tagesereignis zum besten, ein ironisches Wort über eine beglaubigte Überzeugung, eine Parodie auf irgendeine bombastische Förmlichkeit, ein geflügeltes Wort über ein neues Buch oder einen neuen Verfasser. Und wenn alle in belustigter Stimmung lächelten, dann wurden die klaren Augen ganz versonnen, die wohllautende Stimme klang ganz ernst, und Oscar fing zu erzählen an, – eine Geschichte mit symbolischem Hintergrund, oder mit dem flüchtigen Schimmer eines neuen Gedankens. Und wenn alle wie gebannt lauschten, dann irrlichterten die Augen urplötzlich, wie Sonnenschein kam sein Lächeln wieder zum Vorschein und ein sprühender Witz rief allgemeines Gelächter hervor.

Der Zauber war gebrochen, aber nur einen kurzen Augenblick. Bald wurde ein neues Stichwort gegeben, und sogleich stürmte Oscar wieder mit erneutem Feuereifer zu glänzenderen Wirkungen.

Die eigenen Worte erwärmten und beflügelten ihn ungemein: es gefiel ihm, zu paradieren und seine Zuhörer zu verblüffen, und meistens sprach er nach ein bis zwei Stunden besser als zu Anfang. Unerschöpflich war seine Verve. Aber der Reiz lag stets zum großen Teil in dem raschen Umschwung vom Ernst zur Heiterkeit, vom Pathos zur Ironie, von der Philosophie zum Scherz.

Er besaß nur wenig Hang zum Schauspielerischen. Wenn er eine Geschichte vortrug, ahmte er die einzelnen Figuren niemals mimisch nach; sein Drama wurzelte weniger im Widerstreit der Temperamente als im Gedanklichen. Lediglich die Schönheit der Worte, die Harmonie der modulierten Stimme, die leuchtenden Augen bezauberten die Menschen und allezeit und vor allem der sprühende, blitzende Humor, der seine Monologe zu Kunstwerken steigerte.

Merkwürdigerweise sprach er selten von sich und den Geschehnissen seiner Vergangenheit. Nach seiner Haft hielt er sich stets für eine Art Prometheus und sein Leben für ein Symbol; aber seine früheren Erlebnisse wirkten nie als besonders bedeutsam auf ihn; die Ereignisse seines Lebens nach seinem moralischen Sturz dünkten ihn vorausbestimmt und schicksalhaft zu sein; und doch erwähnte er sie selten. Und wenn er sich selbst von der eigenen Beredsamkeit fortreißen ließ, wahrte er den Ton der guten Gesellschaft.

Wenn man später an einen dieser herrlichen Abende zurückdachte, an dem er fast ununterbrochen stundenlang gesprochen hatte, brachte man kaum mehr zusammen als ein Epigramm, einen flüchtigen Funken kritischen Scharfblicks, ein Gleichnis oder eine entzückend vorgetragene hübsche Geschichte. Und über alles hatte er die glitzernde, funkelnde Hülle seines keltischen Frohsinns, seines beredsamen Humors und seiner triebhaften Lebensfreude gebreitet. Alles wirkte wie Champagner, der gleich getrunken werden muß; wenn man ihn abstehen ließ, bemerkte man gar bald, daß mancher Wein, der nicht schäumte, auserlesenere Vorzüge besitzt. Aber stets umschwebte ihn der Zauber einer reichen und machtvollen Persönlichkeit; wie ein bedeutender Schauspieler eine schwache Rolle übernehmen und sie mit der Leidenschaftlichkeit und Lebendigkeit seines eigenen Wesens durchtränken kann, bis sie zum lebendigen, unvergeßlichen Kunstwerk wird.

Man hatte den Eindruck eines weiten geistigen Horizonts, – in Wirklichkeit war er nicht vielseitig; das Leben bildete nicht sein Studienfeld und das Weltgeschehen nicht sein Gebiet. Er sprach ausschließlich von Literatur und Kunst und von Nichtigkeiten; das leichte, fast possenartige Salonlustspiel war sein Königreich; dort herrschte er als unumschränkter Gebieter.

Jeder, der Oscar Wildes Theaterstücke, insbesondere »The Importance of being Earnest« (Bunbury), überhaupt aufmerksam gelesen hat, muß meines Erachtens erkennen, daß sein liebenswürdiger, lachender Humor in der Literatur ohnegleichen ist. Wie könnte man jemals den Auftritt zwischen dem Stadtfräulein und dem Landmädchen in dieser köstlichen lustigen Posse vergessen? Als die Londonerin gewahr wird, daß das Landmädchen kaum Gelegenheit hat, neue Freundschaften zu schließen oder fremde Männer kennen zu lernen, ruft sie:

»Ach! nun weiß ich, was gemeint ist, wenn von der agrarischen Depression die Rede ist.«

Dieser sonnige Humor ist Wildes Sonderbeitrag zur Literatur: er zaubert ein Lächeln hervor, während die anderen sich mühen, zum Lachen zu reizen. Und doch nahm er es an Witz mit jedem auf, soweit unsere Erinnerung reicht, und einige der besten Epigramme in englischer Sprache sind sein Werk. Das Wort »The cynic knows the price of everything and the value of nothing« (Der Zyniker kennt immer nur den Preis und nie den Wert) ist treffender als La Rochefoucaulds beste Sentenzen und kann den Vergleich mit Vauvenargues oder Jouberts besten Einfällen aushalten. Er besaß ebensoviel Kultur des Witzes wie Congreve. Aber so viel witzige Bemerkungen jemand auch machen kann, sie lassen sich doch immer an den Fingern abzählen. Durch seinen Humor war Wilde Alleinherrscher. Sein Humor verlieh seinen Worten ihre unvergleichliche Anziehungskraft. Er war unter allen, die ich je gekannt oder von denen ich je gehört habe, der einzige, der das heitere Lächeln seiner Zuhörer stundenlang fesseln konnte. Gewiß kam sein Humor zum großen Teil nur durch das gesprochene Wort zum Ausdruck, aber stets war er fröhlich und geistreich. Ich pflegte ihn mit einem Wetterleuchten zu vergleichen: überraschend, blendend, farbensatt und dennoch harmlos.

Ein paar flüchtige, schillernde Lichter dieses strahlenden Geistes möchte ich hier festzuhalten versuchen. Vor einigen Jahren hatte ich Mlle. Marie Anne de Bovet durch Sir Charles Dilke kennen gelernt. Mlle. de Bovet war eine begabte Schriftstellerin und beherrschte die englische Sprache außerordentlich gut. Aber trotz ihres reichen blonden Haares und ihrer lebensvollen Augen war sie unbedingt sehr unansehnlich. Sobald sie erfuhr, daß ich mich in Paris befand, bat sie mich, ihr Oscar Wilde vorzustellen. Er hatte nichts dagegen einzuwenden, und so veranlaßte ich eine Zusammenkunft. Als er sie zu Gesicht bekam, stutzte er, und da sie sein Staunen bemerkte, rief sie ihm in ihrer raschen, sprunghaften Art zu:

»N'est-ce pas, Mr. Wilde, que je suis la femme la plus laide de France?« (Nicht wahr, Mr. Wilde, ich bin die häßlichste Frau in ganz Frankreich?)

Oscar machte eine tiefe Verbeugung und erwiderte mit lächelnder Höflichkeit:

»Du monde, Madame, du monde!« (In der ganzen Welt, Madame, in der ganzen Welt!)

Keiner konnte sich des Lachens enthalten; die Antwort war unwiderstehlich. Er hätte »Au monde, madame, au monde« sagen müssen, aber der Sinn war nicht mißzuverstehen.

Zuweilen mußte seine gedankliche Schlagfertigkeit und Treffsicherheit als Selbstverteidigungsmittel angewendet werden. Jean Lorrain war der witzigste »causeur«, den ich jemals in Frankreich gehört habe, und ein ganz glänzender Journalist. Aber seine Lebensweise war so verworfen, als es irgend denkbar ist; und er brüstete sich sogar mit seinen sonderbaren Lastern. Als Oscar auf der Höhe des Erfolges stand, gab er sich stets für seinen Freund und Verehrer aus. Damals wünschte Oscar, daß ich Stephane Mallarmé kennen lernte, und nahm mich eines Nachmittags in seine Wohnung mit, wo ein Empfang stattfand und sehr viele Leute anwesend waren. Als wir eintraten, stand Mallarmé am anderen Ende des Zimmers an den Kamin gelehnt. Lorrain befand sich neben der Tür, und wir gingen beide auf ihn zu. Oscar streckte ihm die Hände entgegen:

»Ich freue mich sehr, dich zu sehen, Jean.«

Aus diesem oder jenem Grunde, höchstwahrscheinlich aus eitler Prahlerei, verschränkte Lorrain die Arme in theatralischer Gebärde und antwortete:

»Ich bedaure, das gleiche nicht von mir sagen zu können. Ich kann mich nicht mehr zu Ihren Freunden rechnen, Mr. Wilde.«

Die Beleidigung war albern und grob, dennoch waren alle gespannt, wie Oscar sie erwidern würde.

»Sehr wahr«, sagte er in voller Ruhe, so hurtig, als hätte er den Pfeil aus dem Hinterhalt erwartet; »sehr wahr und sehr traurig. Einmal im Leben müssen wir alle, die so etwas getan haben wie du, Lorrain, und ich, uns überzeugen, daß wir keine Freunde mehr, sondern nur noch Liebhaber auf dieser Welt besitzen.« (Plus d'amis, seulement des amants.)

Ein Lächeln des Beifalls zeigte sich auf allen Gesichtern,

»Gut bemerkt, gut bemerkt«, riefen alle. Sein Humor war fast unwandelbar vornehm und liebenswürdig.

Eines Tages bildete Marats Charakter das Gesprächsthema in einem Pariser Atelier: ein Franzose wollte ihn zum Teufel stempeln, der zweite erblickte die Verkörperung der Revolution in ihm, ein dritter behauptete, daß er nichts anderes als ein ausgewachsener Pariser Gassenjunge war. Plötzlich wandte sich jemand an den schweigsam dasitzenden Oscar und fragte ihn nach seiner Ansicht; er nahm sofort den Augenblick wahr und sprach mit ernster Miene: »Ce malheureux! Il n'avait pas de veine – pour une fois qu'il a pris un bain.« (Der Ärmste hatte Pech – wenn er schon mal ein Bad genommen hat!)

Eine kurze Zeit lang interessierte sich Oscar für die Dreyfusaffäre und besonders für den Major Esterházy, der durch das berüchtigte Bordereau, das Dreyfus' Schuldspruch bewirkte, eine so bedeutende Rolle in dieser Angelegenheit spielte. Jetzt wissen die meisten Franzosen, daß das Bordereau eine Fälschung, ohne jeden positiven Wert, gewesen ist.

Es war interessant, Esterházy kennen zu lernen, und Oscar brachte ihn eines Tages zu Durand zur Mittagstafel mit. Er war fast mittelgroß, außerordentlich schmächtig und so brünett wie ein Italiener, mit riesiger Hakennase und stark ausgeprägten Kiefern. Mir kam er wie ein ekelhafter Raubvogel vor. Habgier und List in den dicht zusammenstehenden, unsteten braunen Augen; kühne Entschlossenheit in den ausladenden knochigen Kinnbacken und dem scharfen Kinn; aber offenbar ohne Begabung, ohne Verstand, dürftig in jeder Beziehung. Er langweilte uns ausgiebig mit seiner Behauptung, daß Dreyfus ein Verräter, ein Jude und ein Deutscher wäre, – seines Erachtens eine dreifache Sünde, während er – Esterházy – vollkommen unschuldig und sehr schlecht behandelt worden war. Schließlich neigte sich Oscar über den Tisch und sagte zu ihm in französischer Sprache, die merkwürdigerweise einen leichten irischen Anklang hatte, der nicht auffiel, wenn er sich englisch ausdrückte: »Der Unschuldige muß immer leiden, M. le Commandant, das ist sein ›Metier‹. Übrigens sind wir alle unschuldig, bis wir ertappt werden; es ist eine klägliche, alltägliche Rolle, sie liegt im Bereich des Allermittelmäßigsten. Es ist sicherlich etwas Interessantes, schuldig zu sein und dadurch den Reiz der Sünde als Heiligenschein zu tragen.«

Esterházy schien einen Augenblick die Fassung zu verlieren, dann begriff er die geistreiche Scherzhaftigkeit des Verweises und die versteckte Anspielung. Aber seine Eitelkeit duldete nicht, daß er längere Zeit eine untergeordnete Rolle spielte, und so platzte er zu unserer Verwunderung heraus:

»Weshalb soll ich es Ihnen nicht beichten? Ja, ich werde es tun. Ich, Esterházy, bin der einzig Schuldige. Ich habe das Bordereau verfaßt. Ich habe Dreyfus ins Gefängnis gebracht, und ganz Frankreich kann ihn nicht befreien. Ich bin der Schöpfer des Komplotts und habe den Hauptanteil daran.«

Zu seiner Verwunderung brachen wir beide in schallendes Gelächter aus. Die Macht des großzügigeren Charakters über den kleinlicheren wirkte mit diesem ungewöhnlichen Ergebnis unwiderstehlich komisch. Denn damals hatte man noch nicht einmal den Verdacht, daß Esterházy mit dem Bordereau etwas zu tun habe.

Ein anderes Beispiel, diesmal eine Probe von Oscars Witz, soll hier vermerkt werden. Sir Lewis Morris war ein produktiver Verseschmied von recht alltäglicher Mentalität. Eines Tages langweilte er Oscar mit seinen Klagen, daß seine Bücher von der Presse boykottiert würden. Nachdem er mehrere Beweise dieser böswilligen Behandlung vorgebracht hatte, machte er sich mit den Worten Luft: »Das ist eine Verschwörung gegen mich, eine Verschwörung, um mich totzuschweigen; aber was kann man machen? Was soll ich machen?«

»Beteiligen Sie sich daran«, erwiderte Oscar lächelnd.

Oscars Humor war größtenteils intellektueller Art – und auch bei anderen läßt sich etwas Ähnliches finden –, wenn auch der lachende Reichtum und der helle Frohsinn dem persönlichen Temperament eigen war und mit ihm unterging. Ich entsinne mich, daß ich einmal den Versuch machte, die Vielseitigkeit seines Humors wiederzugeben, lediglich um zu sehen, wie weit er sich nachahmen ließ.

Ich fingierte also, daß ich ihn nach seiner Entlassung aus Reading in Paddington empfangen hätte, obwohl er am 18. Mai von einem Wärter in seinen Zivilkleidern nach Pentonville gebracht und frühmorgens am nächsten Tage, genau zwei Jahre nach dem Beginn der Gerichtsverhandlungen, entlassen wurde, in deren Verlauf er am 25. Mai schuldiggesprochen worden war. Das Gesetz bestimmt, daß man aus dem Gefängnis entlassen werden muß, in das man zuerst überwiesen wird. Ich wollte ihn jedoch angeblich empfangen haben und erzählte, daß der Zug frühmorgens in die Paddington Station eingelaufen und ich ihm entgegengegangen war, als er aus dem Abteil stieg. Graue Dämmerung lag über dem großen hallenden Raum, ein paar Gepäckträger waren hier und da zu sehen; alles war frostig und bedrückend.

»Willkommen, Oscar, willkommen!« rief ich und streckte ihm die Hände entgegen. »Es tut mir leid, daß du mit mir fürlieb nehmen mußt. Du solltest von blumenbekränzten Knaben und Mädchen in ganzen Scharen empfangen werden, aber leider wirst du dich mit einem Verehrer mittleren Alters begnügen müssen.«

»Ja, es ist wirklich furchtbar, Frank«, erwiderte er mit ernster Miene. »Wenn England seine Verbrecher weiter so behandelt, verdient es überhaupt nicht, welche zu haben …«

»Ach«, sagte eine alte Dame eines Tages beim Mittagessen zu ihm, »ich kenne solche Leute, wie Sie, die sich immer sehr viel schlechter machen, als sie sind, ich kenne Euch. Ich fürchte mich nicht vor Euch!«

»Natürlich machen wir uns schlecht, verehrte Frau«, erwiderte er, »das ist die einzige Möglichkeit, Ihr Interesse zu erwecken. Jeder hält einen Menschen, der sich für gut ausgibt, für einen recht langweiligen Kauz, aber keiner glaubt einem Menschen, der selbst sagt, daß er schlecht ist. Das macht ihn interessant.«

»Ach! Sie sind mir zu klug«, erwiderte die alte Dame und nickte mit dem Kopfe. »Wissen Sie, zu meiner Zeit ging keine von uns nach Girton und Newnham. Es gab damals noch keine Schulen für die bessere Frauenbildung.«

»Wie widersinnig solche Schulen sind, nicht wahr?« rief Oscar. »Wenn ich Selbstherrscher wäre, würde ich sofort Schulen für die primitivere Frauenbildung einrichten. Das ist's, was ihnen nottut. Gewöhnlich braucht's ein zehnjähriges Zusammenleben mit dem Manne, um die Bildung der Frau zu vollenden.«

»Was würden Sie denn für die primitivere Bildung des Mannes tun?« fragte jemand.

»Dafür ist bereits gesorgt, mein lieber Junge, ausreichend gesorgt; zu diesem Zweck haben wir unsere höheren Schulen und Universitäten. Wir brauchen Schulen zur besseren Bildung des Mannes und zur elementaren Bildung der Frauen.«

Diese Form des feinen Spottes war seine besondere Stärke, gleichviel, ob meine Nachahmung mir gelungen ist oder nicht.

Sein gütiges Wesen war tief verwurzelt. Ich habe aus seinem Munde niemals ein rohes oder gar ein gemeines Wort und wohl kaum eine scharfe oder unfreundliche Bemerkung gehört. Ob er in größerer Gesellschaft war oder nur zu zweit, er hatte stets nur anregende, gütige und liebenswürdige Gedanken im Sinne. Er verabscheute Grobheiten, Auseinandersetzungen oder Eindringlichkeiten ebenso, wie er Häßlichkeit oder Mißgestaltung verabscheute.

In demselben Sommer belehrte mich eines Abends ein unbedeutendes Vorkommnis, daß er im honigsüßen Pfuhl des Lebens tiefer sank.

Im Théâtre Français war eine Erstaufführung in Vorbereitung, und da er den Wunsch geäußert hatte, das Stück zu sehen, besorgte ich zwei Eintrittskarten. Wir betraten den Zuschauerraum, und er bat mich, meinen Platz mit ihm zu tauschen, damit er mit mir plaudern konnte, denn sein krankes Ohr ertaubte immer mehr. Nach dem ersten Akt gingen wir hinaus, um eine Zigarette zu rauchen.

»Ist das dumm«, nahm Oscar das Wort, »stell' dir vor, daß wir beide hierher gekommen sind, um das mitanzuhören, was dieser alberne Franzose über die Liebe sagt; er hat ja keine Ahnung; wir beide wären viel eher befugt, über dieses Thema zu schreiben. Komm, wir wollen hier in der Halle auf und ab gehen und plaudern.«

Das Publikum begab sich schon wieder in den Zuschauerraum zurück, und als es allmählich verschwand, sagte ich:

»Es ist doch eigentlich schade, unsere Billette verfallen zu lassen; wie viele Leute würden sich das Stück gern ansehen!«

»Es wird sich schon jemand finden, dem wir sie geben können«, sagte er gleichgültig und blieb an einem Pfeiler stehen.

In demselben Augenblick tauchte, wie herbeigezaubert, ein etwa fünfzehn- oder sechzehnjähriger junger Mensch, einer von den Pariser Sumpfvögeln, auf. Zu meiner Verwunderung sagte er:

»Bon soir, Monsieur Wilde.«

Lächelnd wandte sich Oscar zu ihm mit der Frage:

»Vous êtes Jules, n'est-ce-pas?«

»Oui, M. Wilde!«

»Hier hast du deinen Mann«, rief Oscar, »wir wollen ihm die Billette geben, er wird sie verkaufen und dabei sein Geschäft machen.« Und Oscar drehte sich um und begann dem Jungen auseinanderzusetzen, daß ich 200 Francs für die Billette bezahlt hatte, und daß sie selbst jetzt noch einen oder zwei Louis wert waren.

»Des jaunets« (Goldfüchse), rief der Jüngling, sein schmales Gesicht verklärte sich plötzlich, und wie der Blitz war er mit den Billetten verschwunden.

»Er kennt mich nämlich, Frank«, sagte Oscar in der kindlichen Freude befriedigter Eitelkeit.

»Nun«, erwiderte ich kühl, »ich sollte meinen, das ist keine Bekanntschaft, auf die man stolz sein kann.«

»Ich bin nicht deiner Meinung, Frank«, sagte er etwas empfindlich über meine Tonart, »hast du auf seine Augen geachtet? Er ist einer der schönsten Knaben, die ich je gesehen habe, das richtige Gegenstück zu Émilienne d'Alençon Damals eine der hübschesten Liebespriesterinnen in Paris.. Ich nenne ihn Jules d'Alençon, und ich sage ihr immer, daß er ihr Bruder sein muß. Sie haben einmal beide zusammen mit mir gespeist; der Junge ist hübscher als das Mädchen, er hat einen viel schöneren Teint.

»Übrigens«, fuhr er fort, als wir die Avenue de l'Opéra hinaufgingen, »wir sollten uns doch Émilienne ansehen, sie könnte doch mit uns Abendbrot essen, dann kannst du die beiden vergleichen, Sie tritt im Olympia-Theater, dicht neben dem Grand-Hôtel, auf. Wir wollen hingehen und Aspasia mit Agathon vergleichen, diesmal werde ich Alcibiades sein und du der Moralphilosoph Sokrates.«

»Ich möchte lieber mit dir plaudern«, erwiderte ich.

»Wir können später plaudern, Frank, wenn alle Sterne zum Vorschein kommen, um zuzuhören; um diese Zeit soll man leben und genießen.«

»Wie du willst«, sagte ich. Wir gingen ins Spezialitätentheater und nahmen eine Loge, und er schrieb ein paar Zeilen an Émilienne d'Alençon, die uns später zum Nachtessen begleitete. Trotz ihres hübschen Gesichts war sie höchst stumpfsinnig und uninteressant und hatte kaum einen eigenen Gedanken in ihrem Spatzengehirn. Sie war aus Habgier und Eitelkeit zusammengesetzt und sprach von nichts anderem als von der Aussicht, in London ein Engagement zu finden: ob er ihr behilflich sein, oder ob Monsieur – das galt mir in meiner Eigenschaft als Journalist – im voraus ein bißchen Reklame für sie machen wollte? Oscar versprach alles mit ernster Miene.

Während wir im Zimmer speisten, sah Oscar plötzlich den jungen Mann den Boulevard entlang gehen. Sofort klopfte er an die Fensterscheibe, und zwar so laut, daß er aufmerksam wurde. Der Junge war durchaus nicht abgeneigt, hereinzukommen, und so nahmen wir alle vier – als eigenartiges Quartett – das Nachtessen zusammen ein.

»Nun, Frank«, sagte Oscar, »vergleiche die beiden Gesichter, und du wirst die Ähnlichkeit bemerken.« Und in der Tat besaßen beide die gleiche griechische Schönheit, – die gleiche Regelmäßigkeit der Gesichtszüge, die gleiche niedrige Stirn, dieselben großen Augen und dasselbe reine Oval.

»Ich mache meinen Freund darauf aufmerksam«, sagte Oscar auf Französisch zu Émilienne, »wie ähnlich Ihr Euch beide seht, echte Geschwister in der Schönheit und in der feinsten aller Künste, der Lebenskunst.« Da lachten die beiden.

»Der Junge ist hübscher«, wandte er sich dann auf Englisch zu mir. »Sie hat einen gewöhnlichen, derben Mund und plumpe Hände, während der Junge vollendet schön ist.«

»Findest du nicht, daß er ziemlich schmutzig aussieht?« konnte ich nicht umhin zu bemerken.

»Natürlich ist er schmutzig, aber darauf kommt es nicht an; nichts ist so unwesentlich wie die Farbe; Form ist alles, und seine Formen sind vollendet schön, so auserlesen wie beim David von Donatello. Dem sieht er ähnlich, Frank, dem David von Donatello«, und er zupfte sich am Unterkinn, hocherfreut, daß er den plastischen Ausdruck gefunden hatte.

Sobald Émilienne bemerkte, daß wir über den Jungen sprachen, verging ihr Interesse an der Unterhaltung noch schneller als ihr Appetit. Sie erklärte plötzlich, nicht länger bleiben zu können; es täte ihr sehr leid, – und die unbefriedigte Neugierde ihres Gesichtsausdruckes wich wieder dem Lächeln der gekünstelten Höflichkeit.

»Au revoir, n'est-ce-pas? à Charing-Cross, n'est-ce-pas, Monsieur? Vous ne m'oublierez pas? …« (Auf Wiedersehen in Charing Cross, nicht wahr, Monsieur? Sie werden an mich denken, nicht wahr?)

Als wir uns anschickten, den Boulevard entlang zu gehen, entdeckte ich, daß der Knabe ebenfalls verschwunden war. Das Mondlicht trieb sein Spiel mit den Blättern und Zweigen der Platanen und zeichnete ihre Silhouetten als japanische Schattenbilder auf das Pflaster: ich war in meine Gedanken vertieft. Augenscheinlich glaubte Oscar, daß ich böse wäre, denn er stimmte plötzlich ein Loblied auf Paris an.

»Die herrlichste Stadt der Welt, die einzige zivilisierte Großstadt, der einzige Ort auf der ganzen Erde, wo eine unbedingte Nachsicht gegen alle menschlichen Schwächen, vereint mit leidenschaftlicher Bewunderung für alle menschlichen Tugenden und Fähigkeiten, zu Hause ist.

»Kannst du dich noch auf Verlaine besinnen, Frank? Er führte ein unbeschreibliches, ein fürchterliches Leben. Alles tat er im Übermaß, er trank, er war schmutzig und ausschweifend. Und doch saß er da in einem Café auf dem Boulevard Michel, und jeder, der hereinkam, grüßte ihn und nannte ihn ›maître‹ und war stolz auf das kleinste Zeichen der Anerkennung von seiner Seite, weil er ein großer Dichter war.

»In England hätte man Verlaine umgebracht, und Männer, die sich ›Gentlemen‹ nennen, hätten sich besondere Mühe gegeben, ihn öffentlich zu beleidigen. England ist noch immer nur halb zivilisiert; die Engländer kommen mit dem Leben an einer oder der anderen Stelle in Berührung, ohne seine Vielseitigkeit zu ahnen. Sie sind roh und plump.«

Die ganze Zeit über mußte ich an Dante denken, an seine Verurteilung von Florenz und dessen »hartherzige, böswillige Bevölkerung«, die noch etwas von »dem gebirgigen und steinigen Boden« ihrer Heimat an sich hatte. »E tiene ancor del monte e del macigno.«

»Nicht wahr, Frank, du bist mir doch nicht böse, daß ich dich mit zwei Karyatiden aus dem Pariser Freudentempel zusammengebracht habe?«

»Ganz gewiß nicht«, rief ich, »ich habe nur daran gedacht, wie Dante Florenz und seine Bevölkerung, seine undankbare, böswillige Bevölkerung verurteilt hat, und wie er, als sein Lehrer Brunetto Latini und seine Gefährten zu ihm in die Unterwelt kamen, das Gefühl hatte, daß auch er sich mit ihnen in den Höllenschlund stürzen müßte. Nur die Furcht, selbst ebenso geröstet und gebraten zu werden wie sie, verhinderte ihn, seine gute Absicht (buona voglia) auszuführen. Ich habe gerade daran gedacht, daß seine große Liebe zu Latini ihm die unsterblichen Worte eingab:

›… Non dispetto, ma doglia
La vostra condizion dentro mi fisse.‹

»Nicht Verachtung, sondern Schmerz.«

»Ach, Frank«, rief Oscar, »was für ein reizender Zufall. Ich entsinne mich ganz genau. Das habe ich diesen Winter in Neapel gelesen … Natürlich war Dante sehr mitfühlend wie alle großen Dichter, denn sie kennen die Schwäche des menschlichen Charakters.«

Aber selbst der »Schmerz«, von dem Dante sprach, schien einen leisen Tadel zu enthalten, denn nach einer Pause fuhr Oscar fort:

»Du darfst mich nicht richten, Frank; du weißt nicht, was ich gelitten habe. Kein Wunder, daß ich jetzt mit beiden Händen nach der Freude hasche. Man hat mir Furchtbares angetan. Wußtest du, daß die Polizei nach meiner Verhaftung die Zeitungsberichterstatter in meine Zelle kommen ließ, um mich anzuglotzen? Bedenke nur, welche Erniedrigung und welche Schande, – als wäre ich ein zur Schau gestelltes Ungeheuer gewesen. Ach, du hast es gewußt! Dann weißt du auch, daß ich in Wirklichkeit verurteilt worden bin, ehe ich verhört wurde, und was für eine Komödie mein Verhör war. Dieser schreckliche Richter, der die Leute beschimpfte, die er zu seinem Bedauern nicht aufs Schafott schicken konnte.

»Ich habe dir das Schlimmste, was mir widerfahren ist, nie erzählt. Als ich von Wandsworth nach Reading überführt wurde, hatten wir in Clapham Junction Aufenthalt und mußten fast eine Stunde auf den Zug warten. Da saßen wir auf dem Bahnsteig; ich in den abscheulichen Sträflingskleidern mit Handschellen zwischen zwei Wärtern. Wie du weißt, laufen ununterbrochen Züge ein. Ich wurde fast auf den ersten Blick erkannt; die Männer und Knaben gingen in endlosen Scharen an mir vorüber, und einer nach dem andern beehrte mich mit einer gemeinen Stichelei oder mit Spott und Hohn. Sie stellten sich vor mich hin, Frank, sie beschimpften mich und spuckten auf die Erde – es war eine Qual ohne Ende.«

Sein Schicksal griff mir ans Herz.

»Ich möchte wohl wissen, ob man diesen Leuten etwas Menschlichkeit oder das Bewußtsein ihrer eigenen Niederträchtigkeit beibringen könnte, wenn sie selbst bestraft würden.«

Nachdem wir ein paar Schritte gegangen waren, wandte er sich wieder an mich:

»Du darfst mich nicht schelten, Frank, und auch nicht schlecht von mir denken. Du hast kein Recht dazu. Du kennst mich noch nicht. Eines Tages wirst du mehr erfahren, und dann wird es dir leid tun, so leid, daß kein Grund mehr zum Tadel übrigbleibt. Wenn ich dir erzählen könnte, was ich in diesem Winter gelitten habe!«

»In diesem Winter!« rief ich aus. »In Neapel?«

»Ja, im lustigen, lachenden Neapel. Im vorigen Herbst bin ich wirklich zusammengebrochen. Mit guten Absichten, mit lauter guten Vorsätzen war ich aus dem Gefängnis gekommen. Meine Frau hatte mir versprochen, zu mir zurückzukehren, und ich hoffte, daß das sehr bald sein würde. Wenn sie gleich gekommen wäre, ach! hätte sie es nur getan, dann wäre alles vielleicht anders geworden. Aber sie kam nicht. Ich zweifle nicht, daß sie von ihrem Gesichtspunkt aus im Recht war. Sie war immer im Recht.

»Aber ich war da drüben in Berneval allein, und Bosie verlangte immer wieder nach mir, und wie du weißt, ging ich zu ihm. Zuerst war alles ganz herrlich. Die zerdrückten Blätter entfalteten sich allmählich im Licht und in der Wärme der Liebe; das schmerzhafte Gefühl erlosch allmählich in meinem Innern.

»Aber plötzlich wurde die Zahlung der mir von meiner Frau ausgesetzten Rente eingestellt. Ja, Frank«, sagte er mit einem Schimmer seines alten Humors; »anstatt sie zu verdoppeln, haben sie sie mir entzogen. Ich habe mir nichts daraus gemacht. Wenn ich Geld hatte, gab ich es ihm ungezählt, und als ich nicht mehr zahlen konnte, glaubte ich, daß Bosie es tun würde, und war zufrieden. Aber plötzlich bemerkte ich, daß er darauf rechnete, ich würde Geld beschaffen. Ich tat mein möglichstes; aber als meine Mittel erschöpft waren, da fing die schlimme Zeit an. Er rechnete darauf, daß ich Theaterstücke schreiben und Geld für uns beide verdienen sollte, wie in früheren Tagen, aber es war mir unmöglich, es war mir ganz unmöglich. Und als die Gläubiger uns drängten, kam er ganz aus der Fassung. Er hat ja niemals wirkliche Entbehrungen kennen gelernt. Du hast keine Ahnung von diesem ganzen Elend. Er hat ein schreckliches, herrschsüchtiges, reizbares Temperament.«

»Er ist der Sohn seines Vaters«, warf ich ein.

»Ja«, sagte Oscar. »Ich glaube wohl, daß es sich so verhält, Frank, er ist der Sohn seines Vaters, gewalttätig und reizbar; seine Worte sind wie Peitschenhiebe. Sobald die Mittel zum Lebensunterhalt knapp wurden, fing er an, verdrießlich zu werden und mir Vorwürfe zu machen, weshalb ich nicht arbeitete. Weshalb ich kein Geld verdiente? Wozu ich denn zu gebrauchen wäre? Als ob ich unter diesen Verhältnissen imstande gewesen wäre, zu arbeiten! Frank, kein Mensch hatte jemals eine größere Schmach und Demütigung zu ertragen.

»Schließlich war eines Tages eine Wäscherechnung fällig, Bosie wurde zur Zahlung gedrängt, und als ich dazukam, tobte er und überfiel mich mit Schimpfworten. Er war entsetzlich; ich hatte alles für ihn getan, ich hatte ihm alles gegeben und alles verloren, und nun blieb mir nichts anderes übrig als stillzuhalten und zuzusehen, wie die Liebe sich in Haß verwandelte. Je stärker der Wein der Liebe ist, desto giftiger der Bodensatz. Dann verließ er mich, Frank, und nun bleibt mir keine Hoffnung mehr. Ich bin gebrochen, erledigt, ein Wrack, das ziel- und planlos der Strömung preisgegeben ist … Und was das schlimmste ist, weiß ich – wenn die Menschen schlimm mit mir umgegangen sind, so bin ich noch schlimmer mit mir umgegangen: die Sünden, die wir gegen uns selbst begangen haben, die können wir nie verzeihen. Wunderst du dich, daß ich nach jedem Vergnügen hasche?«

Er wandte sich um und blickte mich ganz zermürbt an. Ich sah Tränen über seine Wangen strömen.

»Ich kann nicht mehr sprechen, Frank«, sagte er mit versagender Stimme. »Ich muß fort.«

Da rief ich eine Droschke herbei. Mein Herz war so schwer, so wund, daß ich keinen Versuch machte, ihn zurückzuhalten. Er hob die Hand zum Abschiedsgruß, und ich machte mich wieder allein auf den Heimweg und begriff zum erstenmal in meinem Leben die ganze Bedeutung jener wunderbaren Worte, mit denen Shakespeare seine Anklage gegen die Welt und seine eigene Rechtfertigung zusammenfaßt: die einzige Rechtfertigung für uns alle, die wir sterblich sind:

»Ein Mann, an dem man mehr gesündigt,
Als er sündigte.«


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