Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Krieg

Der Krieg und die Führer des Geistes

Wenn der Kontext sinnlos geworden ist, helfen große Übersichten nichts mehr; es ist das beste, man nimmt jedes einzelne Wort vor.

Sören Kierkegaard, Kritik der Gegenwart.

Mai 1915

Herr Professor Oscar Bie, der Herausgeber der Neuen Rundschau, der »führenden geistigen Monatsschrift Deutschlands«, wie sie bescheiden selber sich nennt, hat uns sofort zu Beginn des Krieges eine Verheißung geschenkt, die durch ihre Bedeutsamkeit und ihre prägnante, inhaltsreiche und zugleich die geistige Verfassung des Herausgebers der führenden geistigen Monatsschrift Deutschlands schlicht offenbarende Kürze wohl verdient, an der Spitze der Aufsätze zu stehen, die vom Krieg und den Führern des Geistes handeln sollen. Herr Professor Oscar Bie, ein universaler Geist, Renaissance, ja mehr noch, sogar: Rinascimento, schreibt, wir werden erkennen: »daß man sich vielleicht nicht ändern, aber doch bessern kann«. Das muß er mir vormachen. Nach dem Krieg werde ich nach Berlin ziehen, um immer in der Nähe des Herrn Bie und ähnlicher Phänomene, wie etwa des Herrn Sänger, zu sein; ich habe sie ja auch so sehr lieb. Alles, was ich kann, werde ich zahlen, um zusehen zu dürfen, wie Herr Professor Bie und die Neue Rundschau sich bessern, ohne sich zu ändern. Aber er gebe wohl acht, der Herr Professor, er mogle ja nicht! Nicht, daß er sich etwa ändert, aber nicht bessert. Aufpassen werde ich wie ein Hechelmacher. – Manche sagen, die Begeisterung dieser großen Zeit entschuldige doch zur Genüge solchen Lapsus. Die so sagen, gehören mit zu denen, die gemeint sind. Denn ich bin der Meinung, daß eine Begeisterung, die vollends gar nicht die eigene ist, und eine große Zeit überhaupt gar nichts entschuldigen, sondern im Gegenteil. Ich glaube, daß draußen im Feld ein Heerführer seine Fehler nicht mit der Begeisterung der großen Zeit entschuldigen kann, sondern im Gegenteil, und sehe deshalb um so weniger ein, warum auf dem Gebiete des Geistes selber, aus dem doch eigentlich alle Begeisterung erst Namen und Sinn und Wert und Recht beziehen müßte, die Größe der Zeit zur Entschuldigung dienen soll, daß die Dummköpfe noch dümmer daherreden als sonst. Im Ernst: ich behaupte, daß die geistige Verfassung des Herausgebers der führenden geistigen Monatsschrift Deutschlands ungefähr die geistige Verfassung aller der Führer des Geistes war, die von der Begeisterung des Volkes, an der sie so makellos unschuldig waren, wie nie noch im Lauf der Weltgeschichte Führer des Geistes unschuldig waren, auf der Stelle profitierten und schrieben, daß man jetzt nicht schreiben müsse usw., aber dennoch schrieben, schrieben ... Es ist eine geistige Verfassung, in der man schwätzt und schwätzt und schwätzt und niemals denkt. Ich werde diese Behauptung beweisen müssen, wiewohl ihre Wahrheit doch klar und greifbar zutage liegt für jeden, der Augen hat. Aber die Augen sind nicht da, oder sie sind verschlossen. Für geistige Dinge sind die Menschen Europas durch die verfluchte Arbeit der Presse blind und blöde geworden. Man müßte vorgehen, wie in einer Kleinkinderschule, alles von vorn anfangen, nichts voraussetzen ..., jedoch das wäre auch falsch; nein: man müßte erst den wirren Weg aller Fäden des wüsten Knäuels von Phrasen und Unsinn durch alle Verschlingungen und Knoten hindurch zurücklaufen, ehe man auch nur einen einzigen menschlichen, ursprünglichen Gedanken anbringen, ehe man mit einigem Recht annehmen könnte, daß irgendein simpler logischer Satz, etwa der vom Widerspruch, auch verstanden und richtig angewendet wird. Ich will also meine Behauptung beweisen, und noch eindringlicher: ich werde die Führer des Geistes selbst sie beweisen lassen. Das will sagen, um nicht gleich von Anfang selber der Vermessenheit geziehen zu werden: einige. Denn es gibt ihrer viele. Ließe ich auch hundert reden oder tausend, sie wären doch nur Führer u. a. Es wird im geistigen Deutschland bald mehr Führer geben, als Nasen, an denen sie führen können. Es ist freilich dann immer noch eine Frage, ob es für ein Land gut ist, mehr Narren zu haben als Genarrte.

 

Die Gewalt der Phrase hat sich über alle andere Gewalt gesetzt. Die Einigkeit in der Kraft, oh, ich verstehe sie, aber die Einigkeit in der Phrase, in der Dummheit, in der Gedankenlosigkeit, im Unsinn! Wird durch sie, draußen im Feld, ein einziger Soldat tapferer, wird ein Hungriger gesättigt, funktioniert ein Maschinengewehr exakter, nützt sie auch nur denen, die jenseits der Weltmarktinteressen keine anderen Zusammenhänge mehr kennen? Nicht einmal einen politischen, nicht einmal einen wirtschaftlichen Nutzen sieht man hier. Dagegen weiß ich, daß diese Einigkeit im Unsinn den Quell des Geistes versiegen läßt und alles wüst macht. Fällt erst die Spannung der Völker im äußeren, die einen Augenblick lang eine innere vortäuschte, wieder fort, dann wehe uns! Was werden wir alles noch erleben! Wenn das Genie redet, wie der geistige Pöbel, dann hat der Pöbel den Profit davon; er braucht sich nicht einmal mehr selbst um die Nivellierung zu bemühen. Nicht schwieg der Journalist, um Gerhart Hauptmann reden zu lassen, aber auch Gerhart Hauptmann schwieg nicht, als er merkte, daß ihm seine Seele nichts als das Klischee des letzten Journalisten gab, sondern Gerhart Hauptmann redete wie der letzte Journalist und zog sich selbst herunter. Was um Gottes willen brauchte er sich denn mit Romain Rolland herumzuschlagen! Ich habe die unerschütterliche Überzeugung, daß die dicken Serienromane Romain Rollands, die ich nicht gelesen habe, identisch sind mit den dicken Romanen des Herrn Bahr, die ich noch besser kenne, wiewohl ich sie auch nicht gelesen habe; ich bin überzeugt, daß kein Mensch, der es nicht vorher schon weiß, sie auseinanderkennen kann. Es ist ja wie mit den modernen Suppen. Wer will denn da, wenn er es nicht vorher auf der Packung der Suppenwürfel gelesen hat, wer will denn da noch sagen können, was das für Suppen sind!? Schmecken kann er es doch nicht, denn schmecken tun sie eben alle nach Suppenwürfel, so wie die Romane nach Bahr schmecken, diesem europäischen Kulturwurstbrat, der nach Suppenwürfel schmeckt. Aber warum lernt Gerhart Hauptmann nie etwas dazu und immer nur etwas davon weg? Sieht er nicht, daß ganz Europa trotz des Krieges, trotz der Opfer, die man bald nicht mehr zählen kann, unbedingt einig ist in einem: im Panidiotismus? Nicht der Pantatarismus wird siegen, auch nicht der Pangermanismus, sondern der Panidiotismus hat gesiegt! Wie sagt doch das Zweiglein, das so viele Papierblüten treibt? »Lebt wohl ihr Freunde im Fremdland, lebt wohl, lebt wohl!« Und freut sich doch bereits darauf, daß sie sich bald wieder umhalsen und denselben Brei vom selben Löffel schlecken werden. Und Gerhart Hauptmann redete weiter wie der letzte Journalist und meinte, wie es scheint, er sage etwas gegen Bergson und nicht vielmehr gegen sich selber, wenn er ihn mit Simmel verwechselt und ihn einen Salonphilosophaster und oberflächlichen Feuilletonisten nennt. So nennt ihn ja jetzt jeden Tag jeder dümmste Zeitungsschreiber, der von der Philosophie gewiß weniger versteht, als ich von der Strategie und den neuen Mörsern. Auch wußte man bis jetzt noch nicht, daß Gerhart Hauptmann in der Philosophie bewandert sei. Das ist eine Überraschung. Und man muß doch annehmen, daß er Philosophie durchaus studiert habe, da er solche Urteile fällt. Mir wenigstens, so glaube ich, würde die Hand verdorren, die geschrieben hat, und ich käme um, so quälten in der Nacht mich rächende Träume und bei Tag die brennende Scham, wenn ich leichtfertig »vor Europa« ein falsches Urteil über einen Großen im Reiche des Geistes fällte. Ich wußte aus einem einzigen Satze des Herrn Mauthner mit Evidenz, was für einer er sei, aber mein Gewissen zwang mich, viele hundert Sätze von ihm zu lesen, ehe ich sagen durfte, daß seine Philosophie der Einbruch der Affen in das Menschenreich ist. Ich wußte lange Jahre, ehe ich es sagte, daß Herr Simmel ein oberflächlicher Feuilletonist ist, und ich mußte in den Gedankengängen Bergsons ganz zu Hause sein, ehe ich ihn für die Ethik aufgeben zu müssen glaubte, so daß ich seine Meinung über die Bedeutung dieses Krieges für so überflüssig und irrelevant halte, wie die der Herren Wundt oder Eucken und irgendeines anderen Professors hüben und drüben. Also muß man doch annehmen, daß Gerhart Hauptmann Philosophie durchaus studiert habe!? Oder hat er alles Gefühl für geistige Verantwortung und zugleich alle Selbstkritik verloren, kostet es ihn nichts mehr, sich im Urteilen auf die niederste Stufe zusammen mit einem Mauthner oder irgendeinem Journalisten zu stellen? Er hätte entweder schweigen oder uns eben die schwache Stelle in Bergsons Philosophie zeigen müssen, die es uns erklärlich macht, warum Bergson über diesen Krieg genau so törichte Dinge sagt wie alle, alle die anderen Führer auch, hüben und drüben. Mit dem Worte Modephilosophaster erledigt man nicht die Metaphysik Bergsons, das Wort Feuilletonist trifft genau so wenig den Autor der Evolution Créatrice, wie Bergsons brutaler Barbar den Dichter des Emanuel Quint und des Hannele trifft. Aber das sind so die Mißverständnisse, das sind die Niederlagen, die hüben und drüben die geistigen Führer erleiden – sie fügen sie sich selber zu, denn anders erleidet man im Geist keine Niederlage. Sie fügen sie sich selber zu, indem sie ihre Freiheit aufgeben und nicht mehr selber führen, sondern unter das Kommando der Phrase sich begeben.

Und welchen Orgien, welchen Exzessen in Phrasen gab sich die Impotenz doch hin! Da zitierten sie Fichte, immerzu, geradezu und meinten wohl auch, Fichte selber zu sein, wenn sie 1914 so schrieben, wie Fichte 1813 schrieb, nicht ahnend, daß sie, um Fichte zu sein, heute anders schreiben müßten. Der Vielzuvielwisser Wundt, der in seinem ganzen Leben vor lauter Zuständen nie die Seele des Menschen sah, fand vor lauter Begeisterung nicht einmal einen eigenen Titel für seinen Aufsatz, er mußte ihn »Über den wahrhaften Krieg« nennen, und er zerrte so dieses Wort, das Wert und Klang aus der Fülle der Sprache nur das eine Mal bei Fichte hatte, in die eigene trostlose Banalität hinab. Alle diese Geheimräte und Universitätsprofessoren, die, erfinderisch im Unsinn, phantastisch ausschweifend im Trivialen, ihren Phrasenfilm immer von neuem idiotisch herunterkurbelnd, nie müde der Mechanik dieser sinnlosen Wiederholungen, delirierende Automaten der Langeweile, uns aus der Welt hetzen und zu Menschenfeinden machen – sie alle hatten nicht einmal so viel Seh- und Denkkraft, um des radikalsten Unterschiedes zwischen 1813 und 1914 inne zu werden: daß dieser Krieg nicht aus Not und Armut, sondern aus Luxus und Reichtum, nicht aus der Knechtschaft, sondern aus der Herrschaft heraus, nicht aus Mut, sondern aus Übermut entstand. Ihre Schriften sind an Blindheit und Eitelkeit gleichwertig mit dem Gebaren einer Kommerzienrätin, die mit der Losung von 1813 »Gold für Eisen« anno 1914 [dessen wahre Losung: »Gold für ein Kinobillett« ja erst später gefunden wurde] ihren Ehering hergab, der vielleicht 40 Mark wert ist, und die Brillantringe, die vielleicht 40 000 wert sind, an den Fingern behielt. Sie verschulden eine Komik, die für den Betrachter jeden Augenblick in Irrsinn umzuschlagen droht, weil ihr Aberwitz der Witz ist, wenn er bedenkt, daß draußen die Kugeln und Granaten, die Wunden und der Tod nicht Phrasen, sondern Ernst sind. Ernst?! Lastet hier auf uns vielleicht die drückendste Angst?! Daß selbst der Tod, nachdem er einmal durchs Mauthnermaul hindurchgegangen und von Ganghofer, Lissauer und allerlei anderen Krampflyrikern und Trotteln besungen war, zur Phrase ward. – Es ist ja ihre Gewalt über alle andere Gewalt gesetzt. Hat es sich vielleicht nicht gezeigt, daß vom guten Europäer, dessen Idee in Friedenszeiten im Trog des unausstehlichen europäischen Waschweibes Geo. Morris Cohen Brandes ein wüstes Dasein gehabt hat, jetzt im Krieg nur die Freidenkerphrase übriggeblieben ist, weil anderes nämlich als sie überhaupt nicht existiert hat?! Zwar hätte von Geistes wegen diese Freidenkerphrase noch vor der ersten Granate krepieren müssen, aber sie tat das nicht, sondern, ihr Unwesen unaufhaltsam offenbarend, die ihr adäquate Materie spontan erkennend, und sie mit erstickender Selbstverständlichkeit sich zuordnend, füllte sie die Granaten mit Stinkgasen und brachte immer »gut europäisch« mit Hilfe eines millionenfachen Lügenechos: der Zeitung, und auf Grund einer voraussetzungslosen, strengwissenschaftlichen Weltanschauung im Westen eine Kriegsführung zustande, an der eine künftige, auf Frauen und Kinder Bomben werfende Apachenanarchie ein legales Beispiel sich wird nehmen können. Es ist wirklich nicht notwendig, daß der Krieg an sich der Feind der Menschlichkeit und des Geistes sei, das ist nicht nötig. Auch diesmal war der Feind jene Verkäsung aller Vorstellungen, Gedanken und Gefühle, ein Zustand, in dem Weltblätter gedeihen und die Mauthner und die Gase – die ersten sogar behaglich – stinken, ein Zustand der psychischen Sepsis, der diesen Krieg trotz der Asepsis der Wundbehandlung zum entsetzlichsten macht, den die Weltgeschichte je verzeichnet hat. Denn was wären auch die ärgsten Untaten, begangen von einem naturwilden, unmittelbaren Volk gegenüber den behaglich überlegten Scheußlichkeiten, die eine verrohte Pressekanaille, unterstützt von einem korrumpierten Publikum, geduldet von einer ehrvergessenen Regierung, als Vergeltung verlangt! Und man sehe sich einmal die durchaus internationalen Gesichter seiner Zeitgenossen, der Bourgeois, an, diese Metzgergesichter, in dem Augenblick, da sie von Repressalien träumen und schwatzen. Das alte Kriegertum muß ja auch notwendig zugrunde gehen an der allgemeinen Wehrpflicht, die übrigens – man vergißt das allzu häufig – eine Errungenschaft der Französischen Revolution ist, nicht eine Erfindung der Fürsten. Die Hunderttausende und Millionen zum Kriegsberuf nicht Geschaffenen, die dennoch mit müssen, geben dem modernen Krieg das vollkommen Unritterliche, und werden andererseits den Krieg abzuschaffen suchen, nicht aus einer höheren heroischen Geisteshaltung heraus, sondern aus einer niedereren, als die des berufenen Kriegers ist.

Gewiß, gewiß! Es wurzelt das Unheil selbst, das hereinbrach, tief in nie getilgter Grundschuld der Menschheit, aber des Unheils Umfang hat doch empirisch bestimmte Ursachen; wir verdanken ihn jenen harfenspielenden, von den »gut europäischen«, aber geistig heimatlosen Dichtern und Denkern, die in Berlin und London, in Wien und Paris immer dieselben Shaw-Kerrle sind, umworbenen, für die Literatenkarriere ihrer in Feuilletons dilettierenden Frauen eher als für das Wohl ihres Staates besorgten, verbrecherisch-idiotischen Diplomaten, welche die zufälligen Machtinhaber waren. Die zufälligen Machtinhaber sind nun heute über ganz Europa entweder identisch mit den wesentlichen Machtinhabern [wie in Frankreich] und reden also die Sprache der Presse und der Börse, oder sie sind, wiewohl etwas besser, indem sie wenigstens die Sprache der Kaserne und der Unteroffiziere reden, dumm wie das taube Salz, das seine Schärfe verloren hat, und geistig feige bis in die innerste Herzkammer, die leer ist. Nur der absolute Mangel an geistigem Verantwortungsgefühl bei allen Führern Europas macht ja Art und Umfang dieses Krieges überhaupt erst möglich. Zu diesem Mangel kommt noch die Gefühllosigkeit dafür, daß es ein Mangel ist. Nicht einmal das mindeste, das man fordern könnte, geschah: daß man die verfluchte Arbeit schweigend tue. Sie treiben einen schändlichen Mißbrauch mit allen heiligen wie edlen Erinnerungswerten einstiger europäischer Größe, an denen sie sich viehisch überfressen – man denke nur an das Gekotz des Herrn Ganghofer und den ganzen unaufhörlich kreischenden und spuckenden chorus imbecillus dieser Tragödie. Und das absolute Nichtmehrverstehenkönnen, um was es sich eigentlich handelt, macht es auch möglich, daß ich für verrückt gelte, wenn ich die folgende Rede halte, die doch im Mittelalter von jedem, der in Betracht kommt, ohne weiteres verstanden worden wäre:

Der Papst, o ja, der Papst! Er hatte wenigstens den Mut, diesen Krieg nicht mehr einen Krieg, sondern ein Gemetzel zu nennen. Aber dann! Warum steht er nicht auf und schleudert auf alle die, welche noch an ihn glauben, und noch mehr auf die, welche nicht glauben, den Bannstrahl, weil sie nicht ablassen von dem »Gemetzel«, das doch nur um des internationalen Koofmichs willen inszeniert wurde?! Warum tut er das nicht? Was kann ihm geschehen, wenn er, der doch nur »Geist« sein will, das Gute tut? Oh, ich weiß es! Es würde sich offenbaren, ob er die Macht hat, oder ob er sie nicht hat. Aber wann wäre der Augenblick, wenn nicht in diesem Augenblick, wo ein Papst, der sagt und von dem sie sagen, daß er wache und bete, einmal wieder nach Jahrhunderten die Probe machen müßte! Und was hat er zu verlieren, was nicht schon verloren wäre: also hat er alles zu gewinnen. Absolut schwach ist er nur, wenn er nichts wagt, stark aber, wenn er wagt, ob er nun dabei weltlich – aber er ist ja geistlich – gewinnt oder verliert. Nicht das Leben würde es ihn kosten, wiewohl es gewiß auch Männer gegeben hat, die für Christus das Leben geopfert haben, ohne daß hysterischer Selbstbetrug dahinter war, wie es der bornierteste und darum gefeierteste »gut europäische« Schriftsteller, der witzloseste und darum belachteste Witzmacher dem Pöbel aller europäischen Großstädte vormachte und dadurch Millionär wurde. Das einzige, was ihm geschehen könnte, wäre, als verrückter Phantast verhöhnt zu werden. Aber, bei Gott, welche Ehre dann, welche unerhörte, namenlose Ehre: verhöhnt zu werden vom geistigen Pöbel dieser Zeiten und seinen Führern, etwa vom Shaw oder Brandes oder Harden oder Chefredakteur des Berliner Tageblatts! Aber ich habe den geheimen Verdacht, daß auch heute noch ein Papst, wenn er nur mit entschlossener Seele, mit vor Gott abgeschlossenem Leben, unerschütterlich, unverwirrbar, ob nach seiner Tat nun der Stab Petri neu grüne in seiner Hand oder zum Bettelstab werde – daß ein Papst, wenn er also aufträte, noch Macht wäre, weil die europäischen Regierungen trotz allem innerlich so hohl und einem Blitzstrahl zugänglich sind, wie nur je ein hohler Baumstamm. Aber »protestieren« kann ein Professor auch. Protest! Das Wort hatte einmal guten Klang, die Päpste müssen's wissen, als einer ihn einlegte mit Gefahr für Leib und Leben und nur – nur! – salva anima. Ein Papst könnte lernen. Fluch und Schande über die Lutheraner, die als erste dem Wort den Lebensnerv der Bedeutung nahmen und es zum Wisch Papier machten. Protestieren kann auch der Jakob Dalkes aus Wien. Wie ist es denkbar, daß ein starker Papst im Land, das er bewohnt, das Evangelium verhöhnen läßt von Herrn D'Annunzio! Die europäische Idee hat sich von neuem manifestiert. Ein tönender Hohlkopf [mit ihm verglichen war Herr v. Hofmannsthal immer nur eine kleine Spieldose] läßt aus seinem Mund übelriechende, aber gewiß wie das Leben selbst so buntfarbige Confetti träufeln und endlos schmutzige, aber gewiß wie das Leben selbst so figurenreiche Papierschlangen sich winden, worauf – die Wirkung ist so karnevalistisch, daß man der ganzen Welt ein Pereat zuruft – worauf Cäsars und Brutus' Enkel, Maroniverkäufer, Hoteldiener, Fremdenführer, Banditen nach Bomben und Granaten schreien. Ein Papst, als Statthalter Christi auf Erden, soll die Menschen lieben, gewiß, aber soll er vielleicht das Gesindel im Menschen lieben?! – Auch ich lese zuzeiten das Evangelium, aber nie las ich davon ein Wort, eher noch, daß man aus Liebe zum Menschen dem Gesindel fluchen kann. Doch das alles liegt in Gottes Hand, und ich selber bin, abgesehen davon, daß ich nicht einmal ein Päpstlicher, sondern ein Ketzer und unter den Ketzern wieder ein Ketzer, also doppelt suspekt bin, ich selber bin nur ein Privatstudiosus, der es nicht einmal bis zum Privatdozenten gebracht hat, was doch, nicht wahr, das mindeste ist, das man von einem verlangen kann, der in diesen gebildeten Zeiten mitreden will.

 

Alles geistige Unwesen war prompt zur Stelle. In der Neuen Rundschau, der »führenden geistigen Monatsschrift Deutschlands«, fand man im »Kriegsbuch eines Hirnwesens« – so definiert sich durchaus mit Unrecht Herr Kerr – diese Sätze: »Ein lateinischer Mime, der mal einen Empfang beim Papst [aus Religiosität] erreicht hat, benutzt einen Weltkrieg [aus Patriotismus], dem Kronprinzen zu telegraphieren.« Das ist an sich ganz richtig, nur daß Herr Kerr darauf aufmerksam macht, ist nicht in Ordnung und ist komisch. Denn wenn nun Herr Moissi, der nicht ein lateinischer, sondern ein mauschelnder Mime ist und der Berühmtheit nur in einem Zeitalter teilhaftig werden konnte, in dem Hirnwesen, wie Herr Kerr, Kritiker sind, wenn nun Herr Moissi sich revanchierte und schriebe: »Ein gallischer Literat [das müßte ich freilich auch korrigieren], der mal eine Polemik gegen den Polizeipräsidenten [aus Ethik] führte, benutzt einen Weltkrieg, um in der Neuen Rundschau [aus Selbstverleugnung, aus Bescheidenheit, aus Heroismus] den folgenden Brief an das Bezirkskommando zu veröffentlichen: ›Der Unterzeichnete meldet sich hiermit freiwillig zum Eintritt in das Heer. Er ist Landsturm mit Waffe, von Beruf Schriftsteller. Körperlich gewandt ... Kann Französisch wie ein Franzose schreiben und sprechen.‹« Was dann? Eine Menschenhand kann ja einen Floh zerdrücken, aber ein Floh den andern, das geht ja nicht. Wozu denn diese sinnlose, immer wieder irreführende Polemik, wo man doch so gut zusammenpaßt! »Furchtbare Schäden des Inneren. Es hört jeder Versuch zur Gerechtigkeit auf. Wodurch allerdings etwa sechstausendjähriges Mühen, ja millionenjähriges Mühen seit Entwicklung des Beuteldachses zu der Gruppe Moses, Christus, Marx niedergetiert werden soll.« Man ist ja gerüstet jeden Tag, man weiß sich ja umringt vom Chaos nach der Kultur, ich meine die Suhle, den Brei, nicht jene lebendigen Gewalten und Elemente, die vor und hinter einer Kultur stehen. Man ist gerüstet, man hat den Glauben an eine Ordnung des Geistes und ist dessen gewiß. Dennoch lebt man nicht ganz ohne Angst, daß hinter dem lächerlichsten Unsinn auch der gefährlichere Wahnsinn lauere, und ich glaube, je stärker einer ist, um so größer kann zuweilen die Angst sein. Sollte der Krieg den Zweck haben, den Menschen wieder zu sich zu verhelfen und zum Grauen vor dem Ungeist und Widergeist, so hat er ihn ganz gewiß bei denen verfehlt, die zu Hause blieben und schrieben. Alles geistige Unwesen war prompt zur Stelle. Der Affe, der in das Menschenreich eingebrochen war, fährt fort, die Wissenschaften nach dem Alphabet zu ordnen, und jetzt kommt ein Papagei und gibt kreischend und gaxend die Ordnung menschlicher Größe an. – Flora! Eine deutsche Gruppe! – Fichte, Bismarck, U-U-Ullstein! Gut, gu–gut, Flora, gu–gut, gut! – Flora! Eine Musikergruppe! – Mozart, Beethoven, Le-Le-Lehar. Gut, gu–gut, Flora, gu–gut, gut! Aber ich gestehe: das ist nur eine lächerliche Stümperei. Wer wäre auch imstande, diese Klimax zu erfinden: Moses, Christus, Marx. Wer glaubt mir denn noch nach hundert Jahren, daß sie in der »führenden geistigen Monatsschrift Deutschlands« stand und nicht in einem Krankenbericht aus einem Irrenhaus oder einer Idiotenanstalt? Progressive Paralyse oder dementia praecox. »Seelen beklopfen. Über die Umwälzung aller Dinge sind manche froh, weil sie die Schularbeit nicht zu machen brauchen.« In wie vielen Familien mit schulpflichtigen Kindern wird wohl während dieser Tage von den Müttern, Dienstmädchen oder Waschfrauen diese psychologische Entdeckung gemacht worden sein, nur gewiß viel lustiger und lebendiger. Er aber nennt das großartig nietzscheisch: Seelen beklopfen. Vlà. Ecco. Kikeriki, Rrrrr ...

 

B. T. Briefe aus Kriegszeiten von Gottfried Traub. »Verehrte Frau Rat! Jetzt möchte ich bei Ihnen sein und Ihnen so warm die Hand drücken, wie noch nie. Ich weiß, wie stark Sie sind; ich weiß, daß Sie vier Söhne hinausgeschickt haben. Sie haben nicht mit der Wimper gezuckt.« Warum nicht geklimpert?! Mir aber zucken beide Fäuste. Armseligster aller Schwätzer, der jetzt noch Briefe fingieren zu müssen glaubt. Als ob in diesen Zeiten in Deutschland nicht doch echte Briefe geschrieben würden, die an Wahrhaftigkeit und Kraft des Ausdrucks alles Gedruckte weit überragten, als ob es nötig wäre und nicht eine Schande und Beleidigung, daß der leerste Kopf uns im unreinsten Topf Deutschlands seine Literatenbrühe aus schlechtem Deutsch und verlogenem Pathos auftische! Ehre sei denen, deren Leid nicht in dem B. T. steht.

 

Unbegreiflich ist Gott und Welt. Ströme Blutes fließen an allen Grenzen, und in den Zeitungen wälzt sich Tag für Tag unaufhörlich weiter solcher Brei:

 

An die Freunde im Fremdland von Stefan Zweig.

»Lebt wohl ihr Lieben, ihr Gefährten vieler brüderlicher Stunden in Frankreich, Belgien und England drüben ...

Die letzte Faser deutscher Erde in Ostpreußen ist mir wichtiger als eure Städte.«

Es ist etwas weit von Wien nach Ostpreußen! Aber auch das Herz ist weit!

»Aber glaubt nicht darum, ihr Lieben, es sei mir leicht, dieses Schweigen! Ich muß die Zähne zusammenbeißen, wenn ich lese, daß diese Bomben niedersausen auf Lüttich – und daß Löwen zum Teil zerstört ist, scheint mir wie ein Verlust in meinem Leben.«

Man nehme ihm auf der Stelle 100 000 Mark, damit ein Geselle, der mit Wort und Gedanken solche Unzucht treibt, wieder zur Vernunft kommt und weiß, was für ihn ein Verlust ist oder bloß scheint.

»Zur Zeit der Taten ziemt uns das Schweigen ...«

nämlich vier Spalten lang.

»Lebt darum wohl, ihr Lieben, ihr Gefährten vieler brüderlicher Stunden in Frankreich, Belgien und England! Lebt wohl, ihr Lieben, lebt wohl, ihr Gefährten im Fremdland, lebt wohl, lebt wohl!«

Leb wohl, leb wohl! Himmel und Hölle! – leb wohl!

 

Siehe, nun dichtet auch Gerhart Hauptmann ein »Reiterlied«: »Nimmermehr«, in dem es so zugeht:

»Sein Nimmermehr ist mehr als Schall,
's ist Donnerrollen und Blitzesknall,
's ist Wetterstrahl –
Nimmermehr, Nimmermehr.«

's ist ein Gelegenheitsgedicht, 's ist wohlgemeint, gewiß, 's ist schade, aber da ein Reiter so vieles brechen kann, soll man ihm nicht auch noch zumuten, daß er sich freiwillig die Zunge abbreche:

»Herr Hauptmann, ach, Herr Hauptmann, Er
Irrt, das singt kein Reiter nimmermehr,
Nicht Ulan und nicht Dragonä – är,
Nicht Husar noch schwerer Reitä – är,
Kürassier nicht und nicht Schwalanschär –
Nimmermehr, Nimmermehr!«

Übrigens so wenig wie das Reiterlied des Herrn Binding, das so anfängt:

»Ich zieh in einen heiligen Krieg,
Frag nicht nach Lohn, frag nicht nach Sieg ...«

weil nämlich Soldatenlieder zwar nicht gerade geistreich, aber auch nicht so hirnverbrannt sind, daß sie nicht nach Lohn und Sieg fragten, und weil also auch ein moderner Reiter wohl den Sieg nicht bloß als billigen Reim auf den Krieg, sondern ihn selber wirklich haben will und lieber einen Reim opfert, und weil schließlich ein Reiter sogar immer noch eher nach Lohn, und wenn's nur eine Wurst wäre, fragen wird, als nach so faustdick blöden Versen, in denen ihm ebenso faustdick verlogene Gefühle angedichtet werden.

Als nun aber Thomas Mann erfuhr, daß Gerhart Hauptmann ein Reiterlied verfaßt hatte, wollte er auch eins machen, zog, nicht wie früher ein Priestergewand, sondern eine Offizierstellvertreterlitewka an, zündete, um in Stimmung zu kommen, nicht wie früher die Kerzen des siebenarmigen Leuchters an, sondern zog ein Kanönchen auf und ab und blies den Zapfenstreich in ein Trompetchen, denn der Künstler ist mehr als dem Priester dem Soldaten verwandt, und setzte sich hin und dichtete. Aber siehe, es ging nicht, es ging nicht, es ging einfach nicht. Doch er tröstete sich bald mit der Gewißheit, daß er der größte Prosaiker der Berliner Tageblatt-Bourgeoisie sei und der zweite Moralist – der erste war Kant – des deutschen Heeres Ich darf um der Gerechtigkeit willen nicht verschweigen, daß es sich inzwischen gezeigt hat, daß Thomas Mann auch Verse machen kann. Ein ganzes Schock auf einmal hat er ausgeschüttet, alle bedeutend.
Der Thomas Mann, Autor, Ehrendoktor obendrein, macht schöne Verse. –
Sie sind inhaltlich bedeutend und formal bedeutend wie diese!
Im Ernst: ich glaube nicht, daß in irgendeinem andern Land auf eine solche Exhibition der Impotenz hin nicht ein Gelächter oder ein peinliches Schweigen gefolgt wäre. Aber die ästhetische Harthörigkeit und Urteilsschwäche hat der nervenruinierende Radau des Expressionismus nur noch gesteigert. – So sagt er denn hundert- und sagt es hundertfünfzigmal, er sei bedeutend und seine Gedanken und Verse seien bedeutend, und sie sagen es nach, er sei bedeutend und seine Verse und Gedanken seien bedeutend. Und doch: solch mediokrer Gesell vergewaltigt infamer die Sprache, als der letzte Primaner es dürfte, aber er sagt, es sei bedeutend, und sie sagen, es sei bedeutend. Aber solch ein Kastrierter am Geist gibt schamlos tötende Langweile, aber er sagt, es sei bedeutend, und sie sagen, es sei bedeutend. Hab' ich's nun satt, für solchen Mann ein bedeutend –
»Ist er nicht peinlich und dumm?!« Ja! aber er ist es bedeutend
.

Einer der forschesten Versemacher und Sprachbetaster vor dem Krieg, nun während des Krieges, und warum auch nicht nach dem Krieg? – die bleiben uns! – zeichnet verantwortlich und ruhmgekrönt für den Haßgesang gegen England. Ich hätte, wäre ich ein Mann von Einfluß, vorgeschlagen, daß man ihm auf Staatskosten ein gepanzertes Motorboot gebe, damit er gegen die englische Flotte ziehe, die an dummen und schlechten Versen nicht kaputt gehen wird. Oder wenn das nicht anginge, würde ich doch unbedingt darauf dringen, daß der Mann auch wirklich bis an sein Lebensende England haßt, und zu diesem Zweck ihn wöchentlich von einem Psychoanalytiker untersuchen lassen, ob das auch wahr ist, was er sagt:

Dich werden wir hassen mit langem Haß,
Wir werden nicht lassen von unserm Haß.

Wer kann übrigens erraten, wo dieses Gedicht zuerst erschienen ist, ehe es das Literarische Echo, treu dem Lissauer, wiedergegeben hat? Daß es an der rechten Stelle erscheine, dafür sorgt ja eine heute überall waltende kosmische Ironie; so sicher wie sie trifft, ist menschliches Erraten und Erfinden nimmermehr. Wer käme darauf, daß es zuerst im Berliner Börsencourier Nr. 409 erschienen ist? Wenn nun eines Tages die Londoner Börse für die Berliner wieder offen sein wird, wird der Berliner Börsencourier – ja, was wird er denn tun? – natürlich den Haßgesang gegen England wieder abdrucken. Was denn sonst?! Was aber Herrn Lissauer wiederum anlangt, den Lyriker, der soeben an Hodler die Frage richtet:

Schweizer Meister, in diesem August
Bebte dein Herz nicht in Zeitwollust?

worauf wir gespannt die Antwort erwarten, so könnte ja vielleicht einer sagen – denn sie wagen alles –, daß auch Kleist gehaßt und die Hermannsschlacht geschrieben habe. Das wäre zwar eine Schamlosigkeit, aber die deutsche Literatur ist zu allem fähig. Abgesehen nun von der Hauptsache, daß der ästhetische Wert der Hermannsschlacht sich genau so wesentlich und tief unterscheidet von dem des Haßgesanges an England, wie der unheimliche, seelenverbrennende Ernst des Hasses Kleists von dem frechen Literaturschwindel eines Konjunkturhirns, das sich den Haß bloß einbildet, abgesehen davon, sind auch noch einige weitere Unterschiede da, die freilich auch damit zusammenhängen mögen. Die Hermannsschlacht nämlich war überhaupt nicht bekannt, sie erschien unter Ausschluß der Öffentlichkeit, während der Hundsdreck des Herrn Lissauer von Hunderten von Zeitungen gedruckt wird und Millionen Hirne verseucht. Und wer etwa Angst haben sollte, Herr Lissauer könnte sich wie Kleist erschießen, der ist ein ruchloser Optimist. Unser Lissauer würde auch den schmählichsten Frieden mit Albion ruhig überleben. Mein Gott, die Welt des Lyrikers ist geräumig, es gibt noch mehr Stoffe. Und wenn man nicht mehr haßt, dann liebt man halt wieder.

 

Gleich nach Herrn Kerr kam Herr Wilhelm Herzog, der als »Führer des Geistes« eine eigene Zeitschrift hat, und im Forum schreibt: »Wir, Freunde des Friedens und Künder einer neuen Ethik, melden uns als Kriegsfreiwillige. Wir wollen töten, wie die anderen.«

Jetzt, den schaut's an, sagte ich zu meinem Freund. Wild wie ein Cherusker der Hermannsschlacht! Er will töten. Herr Kerr war da viel zahmer, er wollte bloß französisch parlieren, weil er kein Blut sehen kann. Bedenkt man nun, daß beide Führer des Geistes, Herr Kerr und Herr Herzog, nicht auf den Schlachtfeldern ihr Blut, sondern nur im Forum oder im Berliner Tageblatt, oder in der Frankfurter Zeitung, den Pandämonien der geistmordenden Freidenkerphrase, ihre Tinte verspritzen, so muß man urteilen, daß der Herr Kerr doch der Klügere war. Zwar wurde er nicht als Parlamentär nach Paris geschickt, bei welcher Gelegenheit er sicher auch ein Plauderstündchen bei Anatole France, dem »großen Ungläubigen« des Herrn Wolff, herausgeschunden hätte, um endgültig die Richtungslinie der fortschreitenden Menschheit: Moses – Christus – Marx festzulegen – das geschah nicht; aber deshalb könnte doch keiner die Behauptung aufstellen, daß der Kerr nicht trotzdem während des Krieges perfekt französisch gesprochen habe wie ein Franzose: das geht in Berlin W ja auch. Der Herr Herzog dagegen fängt an mir leid zu tun. Wer soll ihm denn glauben, daß er töten gewollt hat, wenn er in München bleibt und nur Abende zu patriotischer Erhebung inszeniert? Wen um Gottes willen will er denn töten in München? Er wird doch keinen Totschlag begehen wollen, er wird doch nicht etwa – –, mir begegnet jeden Abend ein Bauch mit Äuglein, die in Bier schwimmen und die mir die Maximilianstraße vergällen. Herr Herzog wird doch nicht töten wollen, er brächte mich ja in Gewissensängste, zu diesem Totschlag stände ich ja wie der Baumeister Solneß zum Brand seines alten Hauses. Aber Herr Herzog wird nicht töten wollen, denn Bauch und Bieräuglein gehören nicht einem Tataren, nicht »Zarendreck, Barbarendreck«, wie es in der Krampflyrik des Herrn Kerr heißt, sondern einer Koryphäe des geistigen München. Und selbst wenn Herr Herzog töten wollte, es hülfe nichts, es verschwände mit dem Bauch doch nicht der ganze Jammer aus den Straßen Münchens, sondern nur der halbe.

Damit der ganze verschwände, müßte das Kerrlchen sich selber abschaffen und alle die Kinder des Chaos und »Künder einer neuen Ethik«, deren aus Erfahrung der Welt gewonnene Generalmaxime lautet: »Du sollst jenachdem!« Unsere Zeit gehört der Relativität, das sagen sie alle, vom Christen Harnack angefangen, der ins Berliner Tageblatt schreibt, bis zum Freidenker Mauthner, der auch ins Berliner Tageblatt schreibt. Darum kann der Herr Herzog im Juni das Wort Lessings: »Patriotismus ist eine heroische Schwachheit« pathetisch zitieren, als stände auch bei ihm eine geläuterte Weisheit dahinter, als sei auch er einmal der Freundschaft des Majors von Kleist gewürdigt worden – und kann derselbe Herr Herzog eineinhalb Monate später einen Abend zu patriotischer Erhebung veranstalten und den »Triumph des Krieges« feiern. Das ging alles mit der neuen Ethik, welche die Aufgabe zu haben scheint, die schuftige Lebenserfahrung, daß man auch anders kann, zu sanktionieren. Das Wort Lessings kann eines Mannes Meinung sein, aber es muß eines Mannes Meinung sein, wenn es geschrieben und gedruckt werden soll. Als Lessing es schrieb, da lebte er auch so und hätte es nicht nach sechs Wochen verraten und verleugnet. Aber diese Herren, der Nacht und dem Nichts entsprungen, meinen, alle solche durch lange Lebenserfahrungen teuer erkauften und neu und zum erstenmal ausgesprochenen Sätze seien dazu da, daß sie sie in ihre Mäuler und Zeitschriften aufnehmen und sich damit interessant machen, um sie sechs Wochen später, wenn das Geschäft so nicht mehr geht und die Konjunktur anders steht, zu verraten. Sie erfüllen damit freilich ein Wesensgesetz ihrer Existenz: für einen, der nichts ist als Larve, ist auch der Gedanke nur Puppe und das Wort nur Mittel zum Zweck. Die Charakterlosigkeit und Dummheit waren immer da, aber nicht immer hatten sie die Erlaubnis, sich öffentlich zur Schau zu stellen und vor ihr Forum Tote zu zitieren, welche ihr Leben aufgewendet hatten, um sie auszurotten. Diese »neuen Ethiker« müßten weg, schon wegen des blödsinnigen Einfalls, es könne eine neue Ethik geben, und nicht nur sie, auch die Möglichkeit müßte unmöglich gemacht werden, daß jeder von Natur und Geist klar und deutlich zum Viehhändler oder Börsenmakler oder Commis oder meinetwegen Abgeordneten prädestinierte Schreihals, jeder Analphabet, der das großartige »Anarchist« ausspricht, eine Zeitschrift gründen darf.

Ich weiß sehr wohl, daß Herr Herzog inzwischen, mit der Spürnase begabt, die auch der junge Herr Harden einmal hatte, über »Krieg und Geschäft«, über »die Überschätzung der Kunst«, ausgerechnet über »die Überschätzung der Kunst«, schreibt, daß er »Streifzüge durch Belgien« macht, wo er »fast ausschließlich mit Offizieren« verkehrt, daß er gegen die Beschimpfung der Völker und sogar die der Russen ist – ich weiß das. Und es steigert die Verwirrung in erschrecklichem Maße, doch soll es weder mein Auge noch mein Urteil trüben. Ich sehe, wohin Herr Herzog gehört: ins Berliner Tageblatt, in die »Zukunft« und in die Richtungslinie: Moses – Christus – Marx. Die Polemik solcher Herren gegen die Presse ist eine rein immanente Angelegenheit des sogenannten Fortschritts und Freisinns, wo man nur in der Flachheit fortschreitet und in die Fläche, wo man – o Grauen! – will, daß später in der Politik noch mehr als seither mitreden sollen; ihre Anschauung transzendiert nicht den Kreis des Fluches, innerhalb dessen sich all das Wüste abspielt, sie gehört hinein: aber einer Polemik, die nicht aufs Ganze geht, ziehe ich das Tarockspielen vor. Sie ist auch schwer und zähflüssig und ohne eine Spur von geistiger Freude. Aber Freude soll sein, und wenn sie nicht mehr in der Welt und im Leben ist, dann muß sie im Geiste sein, im Denken und Glauben. Wenn sie nicht mehr im Dargestellten ist, so muß sie in der Darstellung sein. Denn Freude soll sein. Ein Polemiker, der nicht imstande ist, noch in dem Augenblick, da er vernichtet, dem Empfänglichen den Götterfunken reiner geistiger Freude mitzuteilen, er ist selber nur ein Teil der traurigen Welt, des trüben Stoffes, die der schöpferischen aus dem Glauben an ein Reich des Geistes immer neu sich stärkenden Formkraft harren, damit sie ihnen zu einem geistigen Sinn verhelfe. Diese Politiker, die noch zwischen der Welt des Herrn Harden und der des Herrn Kerr schwanken, also im Grunde identisch sind, schreiben über den »Unfug der Moral« und besehen sich die Welt »jenseits von Gut und Böse«. Das ist die neue Ethik oder auch die neue Ethik, die Herr Herzog oder Herr Kerr erst machen müssen. Diese Hanswürste! Sie leben noch in der Phraseologie Nietzsches, wie weiland die Gymnasiasten von 1890 und 1900. Was bei Nietzsche Blindheit und Verblendung war, das wird bei diesen »Führern des Geistes« und »neuen Ethikern« Idiotismus und Frechheit. Als ob Menschen und Völker jemals jenseits von Gut und Böse, also jenseits von geistigem Sein und Nichtsein handeln könnten. Man kann diesseits geistiger Bestimmungen existieren und handeln, weil man noch nicht reif oder abgefallen ist, Völker und Einzelne, aber nicht jenseits. Dieses letzte ist so absurd, wie wenn ein Mann jenseits von Wahr und Falsch denken wollte. Diesseits von Wahr und Falsch können Kinder und Frauen denken und reden und sind dabei oft recht liebenswert, aber ein Mann, der solches tut, dessen Denken nicht in der Distinktion von Wahr und Falsch sein immer neu sich steigerndes Leben hat, der ist wahrlich nicht liebenswert, sondern ein Hanswurst oder noch Schlimmeres und verfällt der Komik oder verdient ausgerottet zu werden.

Als gleich zu Beginn des Krieges die Weißen Blätter ankündigten, daß sie während des Krieges nicht mehr erscheinen werden – sie sind freilich doch wieder erschienen, es war halt nur ein Weiberversprechen –, weil die Redaktion der Ansicht sei, daß man jetzt für das Vaterland handeln und nicht schreiben müsse, da staunte ich. So viel von Staat und Heereswesen wußte ich, daß man mit Bleisoldaten nicht Frankreich niederringen kann; es blieb also nur die Frage, womit denn Herr Blei handeln wolle; der Bilderhandel geht nicht. – Immerhin, man freute sich an der Aussicht, daß die Herren Blei oder Brod in nächster Zukunft nicht mehr schreiben würden. Das wäre ja ein großartiger Zustand, fast wie in meinem platonischen Staat, wo nur alles noch radikaler wäre. Herr Blei würde Zuschneider sein für Damengarderobe und auch Herr Brod würde handeln mit ihr. Geschrieben aber würde von beiden, weder im Krieg noch im Frieden. Sie dürften immer nur handeln, immer nur handeln. – Aber wie bald wurde die Hoffnung getäuscht; es zeigt sich, daß Herr Blei sich einfach wieder unter die Fittiche der alten Mutterhenne, der Neuen Rundschau, die das Gackern zu ihren Windeiern natürlich nicht einmal einen Monat lang einstellen konnte, zurückzog. Dort, in der »führenden geistigen Monatsschrift Deutschlands«, schrieb er über den Krieg: »Was man Frieden nennt, ist nur die Zustandsbenennung antagonal dem äußersten andern Zustand, welcher der Krieg ist.« Und nun wissen wir's, nicht wahr! Und noch eine Menge anderer Dinge, die sich daraus deduzieren lassen. Z. B.: Was man Tod nennt, ist nur die Zustandsbenennung antagonal dem äußersten andern Zustand, welcher das Leben ist ... Was man Wachen nennt, ist nur ... Was man Dummheit nennt, ist nur ... Der geneigte Leser habe nur selber die Güte fortzufahren. Herr Blei weiß auch: »Daß die Deutschen ein Volk von hoher Kultur sind, bestreitet kein Franzose; Bergson verdankt ihm vier Fünftel seines Philosophierens und nur das letzte schlechte Fünftel sich selber.« Das ist nun wieder merkwürdig! Daß ein Buch wie die Evolution créatrice auf diese Weise zustande kommen kann, geht wieder über meine Fassungskraft weit hinaus. Denn Herr Blei ist zwar kein Vampyr vom Ausmaß Strindbergscher Visionen, aber doch eine niedliche Duodezausgabe davon für Bibliophile und Galanteriewarenliebhaber, so ein kleines, ein bißchen verhutzeltes Vampyrchen, das sich bald an einem Buch von Choderlos de Laclos, bald an einem von Kierkegaard für die Produktion der nächsten sechs Wochen vollsaugt, da in ihm selber nur die Leere, die mit dem absoluten Nichts in Verbindung steht, gähnen würde. Herr Blei ist doch im Nehmen gar nicht bequem, geniert sich gar nicht, nimmt lieber gleich fünf Fünftel statt bloß vier, und hat trotzdem keine »Evolution créatrice« geschrieben. Das ist doch merkwürdig. Herr Blei behauptet auch, daß er Hölderlin vielen V. Hugos vorziehe. Daraus ersehe ich von neuem, was ich zu meinem Schrecken schon lange bemerkt habe, daß es jetzt zur neudeutschen Damenmode in Berlin gehört, mit Hölderlin zu flunkern. Das paßt mir nicht, weil sich das nicht paßt. Nicht einmal in der Phantasie ertrage ich irgendwelche Verbindung Hölderlin-Blei, nicht einmal die ganz abstrakte von Leser und Gelesenem, ohne daß ich zugleich die Symptome einer akuten Bleivergiftung mitphantasiere; und ich sollte es in Wirklichkeit ertragen, ohne mich zu wehren? Herr Blei ist zwar keine üppig wuchernde Giftpflanze, aber doch so ein kleines, ein bißchen welkes Giftblümchen im Gewächshaus der Literatur, und ich mag nun einmal solche undefinierbar parfümierten Pflänzchen nicht sehen und nicht riechen neben einem einsam blühenden Holderbusch. Warum liest denn Herr Blei niemals Scheler mit Erfolg? Er fände in dessen Ethik ein Axiom: »Die Nichtexistenz eines negativen Wertes ist selbst ein positiver Wert« und hätte nur den mittleren Teil dieses evidenten Satzes mit seiner Schriftstellerei auszufüllen und sich eben in Zukunft danach einzurichten.

Vor einigen Monaten, zu Beginn des Krieges, bestimmte ich Herrn Blei ganz im stillen für meinen platonischen Staat zum Damenschneider. Inzwischen ist er's geworden:

»Der Manufakturist teilt mit: Vor einigen Wochen konnten wir bereits von einer neuen Modegründung in Berlin berichten, deren Entstehen der Anregung und tatkräftigen Mitarbeit Berliner Gesellschaftsdamen zu danken ist. Der Schriftsteller Dr. Franz Blei ist der Propagandist und künstlerische Berater der neuen Modefirma, die sich bezeichnenderweise ›Kleiderkasten‹ nennt und im neuen Berliner Modeviertel, in der Königgrätzer Straße [jetzt in Budapester Straße umgetauft], ihr Quartier aufgeschlagen hat. Sechs große Berliner Konfektionsfirmen: Gerson, Manheimer, Drecoll, Hammer, Stein und Spitzer werden den Verkauf an das Publikum übernehmen, der ›Kleiderkasten‹ arbeitet nur für die Wiederverkäufer und unter Anregung bekannter Künstler und Zeichner, wie des Malers Stern, der Zeichner Strimpl, Kainer, Spiro usw.; die Seele des ›Kleiderkastens‹ ist die Tochter des bekannten Großindustriellen Friedländer-Fuld, Frau Mitford. Frau von Schwabach, die Gattin des Berliner Bankiers, ist ihre Mitarbeiterin. Mit ihnen ist noch eine Anzahl Damen erster Berliner Kreise im Ausschuß tätig ...«

Nun ist selbst in Berlin nicht alles vollkommen. Denn so war es ja von mir nicht gemeint, daß Herr Blei außer der deutschen Damenmode auch noch den deutschen Geist vertrete, den Tod des Papstes bespreche in der Neuen Rundschau, der »führenden geistigen Monatsschrift Deutschlands«, und dort unaufhörlich mit dem Sänger und Bie Bibi mache. Er sollte nur damenschneidern. Er sollte nicht Wiederverkäufer von Werten der Literatur sein, sondern nur mit Wiederverkäufern von Damenkleidern reellen Handel treiben. Daß der erste Schritt und Schnitt einer neuen Mode, die Herr Blei berät, ein literarischer, also die Gründung einer Zeitschrift, sein werde, war einleuchtend. Und so erscheint denn der »Kleiderkasten« als Zeitschrift, für 10 Mark die Nummer, und der Verleger versichert uns im Stil des Herrn Blei, daß die neue Zeitschrift » aus der Not der Zeit geboren« sei, wiewohl das freilich selbstverständlich ist. Aber ich habe es schon lange herausgebracht: ein Verleger hält uns Leser glatt für Trottel, denn nicht der ärgste Pedant und Schulmeister, der seine Schüler für so dumm hält, wie ich etwa die Münchener Neuesten Nachrichten – was ihm freilich schwerfallen dürfte –, könnte sie so mit Wiederholungen zu plagen und zu beleidigen wagen, wie ein Verleger seine Kunden. Herrgott, wir wissen es doch allmählich, daß seit dem 1. August jeder Buchstabe, der geschrieben, jeder Dreck, der gedruckt wird, »aus der Not der Zeit geboren« ist. Wenn sie es wenigstens abkürzen würden: a. d. N. d. Z. g. Jedes Kind bis in die vierte Generation könnte es noch lesen, und dann jeder Germanist. Jedoch ich will es gleich gestehen: in diesem Fall bin ich einverstanden mit dem a. d. N. d. Z. g., weil ich nämlich fest davon überzeugt bin, daß Herr Blei und seine Genossen mit der Not dieser Zeit im intimsten Zusammenhang stehen, ja selber ein gut Teil davon sind. Also ist der »Kleiderkasten« fürwahr a. d. N. d. Z. g. Wenn ich mir dann noch die Frage stelle, was denn aus dieser Not der Zeit eigentlich geboren werden könne, dann muß ich plötzlich wieder staunen über die Weisheit der Weltzusammenhänge und der Waschzettel. – Was anderes denn, als zunächst einmal ein Kleiderkasten, der dann Kleider gebiert, die dann Menschen geb ... nein, nein, nein!

 

Hören wir über Ausländerei zuerst Herrn Fulda im B. T.:

»Ist es nicht ein wenig beschämend, daß erst die urgewaltige Volkserhebung zum furchtbaren Daseinskampf erforderlich war, um die fremdsprachigen Aushängeschilder ... Bekam doch Deutschland infolge des Umschwungs von 1871 mit einem Male, was ihm zwei Jahrtausende lang gefehlt hatte: einen Mittelpunkt – Berlin ... Noch bevor wir den großen Kehrbesen ansetzen, Besonnenheit. Laßt uns, gerade weil ein heiliger Zorn in uns tobt ... Während die fremden Märkte sich den Hervorbringungen unserer größten Künstler nur ausnahmsweise ... haben wir« [hier stimmt's!] »jedem halbwegs fingerfertigen Macher aus Frankreich, England usw. Triumphpforten gebaut ... während unsere Helden da draußen im Feld für uns bluten, empfindet jeder von uns Zurückgebliebenen, dem Unfreiwilligen Korps der Tatlosigkeit, die niederdrückende Qual des Beiseitestehens.«

Sei still, um Gottes willen, sei still! Vielleicht müssen unsere Helden für diesen Frevel wirklich büßen, wie so oft Unschuldige für die Schuldigen büßen. Immer war ich dankbar, daß ich als Deutscher zur Welt gekommen bin, und als ich ins Alter des Vergleichens und Wählens gekommen war, wollte ich doch immer nur ein Deutscher sein, wie der Grieche nur Grieche sein wollte, und war niemals begierig nach jenem guten Europäertum, das ich mit Herrn Georg Brandes hätte teilen müssen. Aber den Mittelpunkt der Fulda, Lindau, Harden, Kerr, Mosse, Wolff, Ullstein, Holländer, Moissi, Reinhardt, Holitscher, Huldschiner, Sänger, Fischer, Ludwig, diesen Mittelpunkt, ohne den die Deutschen nach Herrn Fuldas Geständnis zwei Jahrtausende ausgekommen sind, vermißte ich auch heute noch recht gern. Dem Erwachenden, der die Augen aufschlug und den Anblick der Schwätzer und Gauner ertragen sollte, die alle deutsche Kultur mit Beschlag belegt zu haben schienen, aller der weitaufgerissenen Mäuler, die zu ihren rotzigen Geschäften zehnmal im Tag Goethe zitierten, dem Erwachenden wurde bei diesem Anblick übel. Wohl sag auch ich mir, daß diese Schweinerei im Weltenplan ihren Sinn haben muß und sich austoben und nicht mehr da sein wird. Das muß ja schließlich so sein, gewiß: das ist so. Anders wäre das Leben ja nicht zu leben. Aber solche Gelassenheit ist seltene Stimmung. Vielleicht ist meine Ungeduld Schuld, aber auch diese Möglichkeit schützt mich nicht vor dem Zorn, der diese neuen, über Nacht erwachsenen, »von der Qual, nicht dabei sein zu dürfen, niedergedrückten« Nationalisten des B. T., die Fulda, Bahr, Lindau, Ludwig, von der Qual, nicht mehr gedruckt zu werden, niedergedrückt sehen möchte.

Sogar mit Bernard Shaw sind unsere geistigen Führer nicht mehr zufrieden. Und die ihn vor kurzem noch als einen Abgott liebten, nennen ihn plötzlich Herrn Shaw und seine Produktion Clownspäße, obgleich weder diese noch er selber im geringsten sich geändert haben. Sogar das komischeste Karnickel in Heldenrüstung, der Kerr, lehnt ihn ab. Warum? Shaw soll geäußert haben, dieser Krieg werde dazu dienen, uns Deutschen »Potsdam« auszutreiben. Was nun stellen sich unsere Führer unter Potsdam vor? Denn was Herr Shaw sich vorstellt, steht in jedem Pennyblättchen und geht in ein englisches Säuglingshirn – was aber stellen unsere Führer sich vor? Nach der Definition des Herrn Sombart das Folgende: Friedrich II., Kant, Fichte, der Reichstagspräsident Kaempf, Friedrich Naumann und andere Demokraten; weiter August Bebel, sämtliche Gewerkschaftsführer, die Leiter der Reichsbank, aber auch wieder Goethe, Nietzsche, Arthur Schnitzler und Herr von Sala aus dem »Einsamen Weg«! Kein Wunder, daß sie darüber erbost sind, daß ihnen dieses Potsdam ausgetrieben werden soll, denn dieses Potsdam ist einfach das Berliner Tageblatt. Aber sie sind allzu nervös geworden und allzu ängstlich. Wenn das Potsdam ist, dann ist Herr Shaw ein Lügenprophet, denn ich behaupte, daß dieses also von Sombart definierte Potsdam kein Krieg, kein Sieg, aber auch keine Niederlage uns austreiben wird.

Ich möchte ein für allemal verhindern, daß das Mißverständnis aufkomme, als ob ich etwa alle die Männer, die hie und da für das B. T. schreiben, mit dem B.T. selber, so wie es wesentlich ist, identifizierte. O nein, unter ihnen sind manche, die nicht wissen, was sie tun, und manche sogar, die im B. T. selber gegen das wesentliche B.T. schreiben. So Professor Neißer:

»Und schließlich noch eine ganz kurze allgemeine Bemerkung: Ist es wirklich eine ›Schmach‹ für Deutschland, wenn aus der ganzen Welt die jungen Wissenschaftler sich nach Deutschland in unsere Institute drängen?«

Das ist die erste vernünftige Äußerung eines Wissenschaftlers, die ich lese; sie wird deshalb auch vom B.T. mit einer Einschränkung wiedergegeben. Und nach Neißer protestiert der greise Astronom Professor Förster gegen die Lächerlichkeit der Wissenschaftler, die das »perfide Albion« dadurch strafen wollen, daß sie die ihnen erwiesenen Ehren »zurückgeben«. Aber was hilft's? Eucken, Professor der Philosophie, entgegnet sofort wieder:

»Friedfertigkeit und Sanftmut sind herrliche Dinge, aber nur an der rechten Stelle; heute, wo alles für uns Deutsche auf dem Spiele steht, sind andere Gesinnungen nötig, heute haben wir uns zum Worte Platons zu bekennen, daß sich ohne einen edlen Zorn nichts Großes verrichten läßt.«

Es ist immer gut, wenn man die passenden Gesinnungen zur Hand hat, aber noch besser, die passende Literatur zur Hand zu haben. Was verrichtet denn Eucken Großes?! Die Worte Försters sind und bezeugen doch, was er hat und ist: Ernst des alten Mannes und Würde des Gelehrten. So Meister der Ironie, wie die Sprache, war selbst Sokrates nicht; sie ist untrüglich und bringt's schon an den Tag. Auch die Worte Euckens bezeugen, was Eucken hat und ist, aber mehr dadurch, daß sie verraten, was er nicht hat und nicht ist. Denn ist vielleicht die Zeitungsschreiberaussage Euckens, daß er sich zum Worte Platons bekenne, daß sich ohne einen edlen Zorn ..., die Sprache Platons, oder gar: edler Zorn? – ach, wenn der schon redet, dann redet er anders. Die deutsche Sprache hat seit alten Tagen bis in die neuesten immer wieder bewiesen, daß sie auch Zorn sein kann, unmittelbar, ohne Umschreibung, und namentlich sogar ohne daß sie es nötig hat, das Wort Zorn überhaupt zu gebrauchen. Es ist ja auch bereits verdächtig und komisch, wenn der Zornige, anstatt zuzuschlagen, nur immer versichert und ermahnt: ich bin sehr zornig, lasset uns zornig sein! Vielleicht ist Professor Eucken wirklich zornig, dann aber hätte er immer noch besser einen alten Hinterlader oder eine Mistgabel genommen, um gen Frankreich zu ziehen, als die Waffen der Sprache abzustumpfen. Was ist sie also, die Aussage des Professors Eucken – ach – sie ist nur ein Löffel von dem Kulturbrei, den eine alte Kochfrau, gekleidet in Langeweile und Schwatzhaftigkeit, seit Jahrzehnten schon in der etwas allzu bürgerlichen Küche der deutschen Philosophie emsig umrührt.

 

Ich halte es für ein hartes Los in dieser Welt, die Kosten einer geistigen Stellung bestreiten zu sollen, zu der die Mittel nicht ausreichen; eine verzweifelte Stellung, in die man gewiß im Anfang nicht so sehr durch eigenen wie durch den ebenso gefährlichen Schwindel der Freunde und deren Lobreden geraten ist. Geistig immer nur auf Kredit leben zu müssen, mag graue Haare wachsen lassen, und insofern, wenn nicht anderes wäre, möchte man fast Mitleid haben mit Thomas Mann, weil er sich seine Leere sehr viel anstrengender macht, als so viele andere, denen der Liberalismus auf dieselbe Weise einen Schwindelposten verschafft hat, denn die, etwas klüger, wissen insgeheim um den Schwindel, nehmen nur den Profit davon, schlafen süß und werden fett, jener aber nimmt den Schein für Wirklichkeit, ihm graut zuweilen, er müsse einen doch nur imaginären Wechsel bar einlösen, er meint wirklich, der deutsche Geist und die deutsche Jugend erwarteten etwas von ihm: in der Tat, das ist anstrengend. Wenn einem jeden und den ganzen Tag mit irritierender Alternation nichts anderes einfällt, als daß ihm jetzt etwas einfallen müßte, und eben doch nichts einfällt: so möchte kein Hund, so kann nur ein Mann weiterleben. Und er darf diesen unglückseligen Zustand nicht einmal so kurz und schlicht ausdrücken wie ich soeben, denn er ist ein Schuldner, der in Novellen und Romanen begleichen muß. Da ist unsereiner mit dem Leben fast wieder versöhnt; weder müssen wir einem B. T.-Korrespondenten, bei dessen Anblick eine Sau, weil es doch einmal vorgekommen ist, daß Exemplare ihrer Gattung für die Sünden einer anderen Spezies büßen mußten, aus Angst schon vorher in die Isar springen würde, zu Hause und an öffentlichen Orten die Hand schütteln, noch lastet auf uns in der sowieso schon gräßlichen Stunde, wo einem nichts einfällt, auch noch die schwere Verantwortung, daß wir das deutsche Volk um die Erfüllung seiner rechtmäßigen Ansprüche betrügen. Wenn nicht anderes wäre, möchte man fast Mitleid haben, habe ich gesagt. Denn aus der Not eine Tugend machen, ist ein Rezept, das in der Ethik seine Geltung haben mag, in der Kunst aber ist das trostlos, hier wird aus Mangel nicht Überfluß, und die Impotenz hat stumm zu klagen und auf keinen Fall schriftlich. Wenn sie so handelte, so wäre es in Wahrheit eine verwerfliche Grausamkeit, darauf hinzuweisen; wie wollte ich das tun. Aber die Sache liegt anders. Weil und wenn dem Thomas Mann für seine Romane nichts mehr einfällt, lügt er sich geschwind aus der Ästhetik zur Ethik empor, denn gegen die Ethik ist es freilich kein Einwand, daß einem nichts einfällt, oder daß einer grenzenlos langweilig ist. Wenn einer, der als schöpferischer Dichter anfangen wollte, endlich vielleicht eingesehen hat, daß er kein schöpferischer Dichter ist, plötzlich sich auf den Erzieher und Moralisten hinausredet, dann ist das eine unappetitliche Verschleierung der Sachlage, ein beständiger Anlaß zu einem üblen Quiproquo und eine Verwirrung des geistigen Lebens, die ich einfach nicht ertrage. Wenn eine phantasievollere Jugend allmählich erschrickt vor der Öde dieses zur Not korrekten Prosaikers und ehrgeizigen Talents, vor der gequälten Konstruktion seiner Sätze, von denen auch nicht einer im Glanz und in der Seligkeit ursprünglicher Anschauung lebendig ist und tönt, auch nicht einer eine Fülle der Gesichte, in der er geborgen war, aus der er auftauchte, ahnen läßt und diese Fülle noch – gleichwie ein Wort aus dem Munde Liebender die ganze Unendlichkeit und Seligkeit ihrer Liebe – geheimnisvoll unsagbar in sich birgt, sondern alles ist nur Mühe und Plage, und am meisten noch dann, wenn nach der Absicht des Autors er Schwung haben sollte, sondern alles ist nur auf geblasenes Pathos oder magerer Witz, zwei Larven und eine leere Seele; – wenn die Dummheit allmählich ihren Stand nicht mehr behaupten kann, nicht mehr so zuversichtlich verkünden darf, daß dieser Mann ein großer Schriftsteller sei und heute das beste Deutsch schreibe – denn was nicht gar! Was soll diese Schamlosigkeit gegen die große deutsche Sprache? Worin besteht denn eingestandenermaßen die künstlerische Arbeit dieses Schriftstellers an der Sprache? Im »Feilen und Schleifen und Ziselieren«, wie sie so erschauernd sagen. Aber diese Begriffe sind vielleicht zur Not adäquat der französischen Sprache, niemals aber der deutschen, außer in einer Travestie, und travestieren freilich läßt sie sich und darf sie jeder unzulängliche Geschmack. Könnte es aber einem einfallen, von »Feilen und Ziselieren« zu reden bei der Lutherübersetzung der Bibel, bei Shakespeare und der deutschen Shakespeareübersetzung, bei Goethe, bei Hölderlin? Ist das nicht lächerlich?! Nach der Intuition, nach der Inspiration, nach dem Einfall, nach dem ersten Sichschenken der Sprache ist die große verantwortungsvolle Arbeit des wirklichen deutschen Sprachschöpfers nicht zu vergleichen mit irgendwelchen Manipulationen an totem, wenn auch noch so kostbarem Material, sondern mit der Pflege der liebenden Mutter oder des berufenen Erziehers für ein lebendiges edles Wesen: daß sie, die Königin, zu ihren vollen Maßen und Gliedern wachsen dürfe, daß sie mit graden Beinen frei ausschreiten, Arme und Hände bewegen möge, daß ihre Augen sehen dürfen, ihre Ohren hören, ihre Nase riechen, daß ihr das Zungenband gelöst werde, daß kein Knebel in ihrem hehren Munde bleibe ... Feilen und Ziselieren ... der hat dieser Sprache Feuertrank immer nur halb zwischen Schlaf geschlürft und Wachen, daß so sein Schreiben schal wie Kaiserrede, die fromme Geduld auspeitschend, alle Laune tötend, wie des Pinsels Bethmann Hollweg Schwatz, wie Blei mißfarben, klanglos ist, ja dessen Stil ist nicht einmal die prachtvoll glänzende Oberfläche, wie zuweilen bei Anatole France, die niemals ein Aufruhr der Tiefe stört, weil gar keine Tiefe da ist, und der Glanz nur Lack ist, solider freilich, soliderer als bei Thomas Mann –, aber nicht das reine Leuchten in Tiefen vergrabenen Goldes – ah, wenn solche Erkenntnis zu dämmern beginnt, dann verwandelt sich plötzlich der Ästhetiker in einen Ethiker, dann wird das dämonische Männchen mit einemmal zum – Moralisten oder verwechselt sich gar mit Friedrich dem Großen.

Nun wohl, sehen wir uns den Moralisten an, der da schreibt: »Und zwar ist der Dienst des Künstlers dem des Soldaten viel näher verwandt als dem des Priesters«, während er ein Jahr vorher, wo freilich noch kein Krieg war, seinen Dienst als am nächsten verwandt dem des Priesters erklärt hatte; aber die Zeiten haben sich geändert, und ganz, wie er wünscht: also Offiziersstellvertreter der deutschen Kunstarmee. Gut. Ich werde ihn jetzt nicht mehr mit einem Priester vergleichen, mit dem ich ihn ja, weiß Gott, nie verglichen haben würde, wenn er sich nicht selber damit verglichen hätte, sondern mit einem Soldaten. Gut. Auf seinem Schreibtisch stehe also hinfort nicht mehr der siebenarmige Leuchter, der ihn an seinen Priesterberuf erinnere, sondern eine kleine Kanone oder Trompete, die ihn den »Dienst«, den des Soldaten, nicht vergessen lasse. Freilich, darauf muß ich bestehen: der Ehrenpräsident der Berliner Tageblatt-Bourgeoisie bleibt er, wiewohl er schreibt, ihm sei eigen »Verachtung dessen, was im bürgerlichen Leben ›Sicherheit‹ heißt«, denn ich habe in meinem Besitz seine Autobiographie im Literarischen Echo, die die bürgerliche Sicherheit sehr wohl zu schätzen weiß, und, da sie nicht, wie er und Schwachköpfe – hinterher – meinen, die bekannte »Selbstironie«, sondern eine rücksichtslose Exhibition ist, sicherlich wahrhafter, aufrichtiger und ehrlicher ist, als alles, was diese eindeutige Seele, die manche Oberlehrer für kompliziert halten, seitdem geschrieben hat und noch schreiben wird. Wer an dieser meiner im Jahre 1915 geschriebenen Behauptung zweifelt, der lese den »Gesang vom Kindchen« und frage sich, ob diesem Mann » Verachtung dessen, was im bürgerlichen Leben Sicherheit heißt«, eigen ist. Hören wir weiter den Moralisten, der jetzt im Krieg, wo alles anders ist oder doch zu sein scheint, sich gegen die charakterlosen Talente so ganz im allgemeinen wendet, während ihm im Frieden doch das Lob des frechsten Schnorrers und des dümmsten Schmocks, von denen er sich interviewen ließ und die die Meinung des Lesepublikums machen, recht war, ja während er sogar jetzt noch in der Gesellschaft derselben Talente mit tierischem Ernst die dümmsten Rundfragen des B. T. beantwortet; hören wir weiter den Moralisten, der sich nicht schämt, von den Opfern bloßer Behaglichkeit zu reden in einer Welt, in der noch Millionen für ihr nacktes Dasein zu sorgen haben, der sich nicht scheut, die Nachtwachen eines Schriftstellers in Anschlag zu bringen, bei denen nichts weiter herauskommt, als daß die Welt eben erfährt, daß der Schriftsteller – leider – nicht geschlafen hat; der sich nicht sagt, daß solche Nachtwachen ästhetisch um nichts wertvoller und ethisch unter allen Umständen wertloser sind, als das Wachen eines Lohnschreibers, der für seine Familie arbeitet – hören wir den Moralisten, der da schreibt und vorträgt: »Diese gräßliche Welt, die nun nicht mehr ist – oder doch nicht mehr sein wird, wenn das große Wetter vorüberzog« – hier hätte ich »gefeilt«: vorübergezogen ist – »wimmelte sie nicht von dem Ungeziefer des Geistes wie von Maden? ... Ist es zu viel gesagt ... daß buchstäblich niemand mehr aus noch ein wußte?«, ohne zu bedenken, daß ich vielleicht sehr wohl aus und ein weiß, daß dies nämlich zu viel gesagt ist, daß dies buchstäblich eine Unwahrheit ist, ja, da Herr Mann es auch weiß und wissen muß, buchstäblich eine Lüge ist, indem 16 Jahre lang der Mann, der Thomas, in dieser gräßlichen Welt sehr wohl aus und ein gewußt hat. Aber freilich: es ist auch von mir zu viel gesagt, wenn ich hier von einer Lüge rede, es ist nur eine Phrase, es hat nicht einmal den Saft und die Kraft einer Lüge. Hören wir weiter den Moralisten und Ethiker: »als ob nicht Luther und Kant die Französische Revolution zum mindesten aufwögen. Als ob nicht die Emanzipation des Individuums vor Gott und die Kritik der reinen Vernunft ein weit radikalerer Umsturz gewesen wäre als die Proklamierung der Menschenrechte«. Ja was will denn der Mann, der sich vor Gott emanzipiert hat und so stolz darauf ist? Will der den Feinden Kriegsgründe geben? Ah, wüßte man nicht schon lange die letzte und endgültige Lösung aller Gedankenrätsel des Herrn Mann, nämlich daß er auf den Tod an jenem Übel krankt, gegen das die Götter selbst vergebens kämpfen – man könnte, ja, man müßte Angst bekommen, man müßte ihn beschwören, wie jener Heide in Schiffsnot einen zweideutigen Mitpassagier, doch ja nicht Gott auf uns noch aufmerksam zu machen, denn er könnte Konsequenzen ziehen. Aber selbst unter diesen Umständen habe ich noch Angst, und ich lasse dieses Thema. Mag er am Tage des Gerichts, wenn kein B.T. mehr da ist, zusehen, wie man »emanzipiert« vor Gott steht. Mag er! Ich halte mich an das Einfachere. Ich hätte also den Wunsch, daß es manchmal etwas sokratisch zuginge bei uns. Nicht das also möchte ich einem raten, zu untersuchen und zu fragen, ob die Leute auch tun und sind, was sie predigen, denn dazu gehört eine andere und höhere Autorität, aber das wenigstens wäre mein bescheidener Wunsch: es sollte einer hie und da die Leute öffentlich fragen, ob sie bloß etwas wissen und verstehen von dem, was sie sagen und schreiben. So stände ich gar zu gerne dabei, wenn ein Sokrates den Thomas Mann fragte, auf der Straße, im Theater oder in erlauchter Gesellschaft: »Mein Lieber, wie schön, daß ich dich endlich treffe. Da gehe ich nun seit Jahren umher und frage die berühmtesten Sophisten, was denn die Kritik der reinen Vernunft eigentlich meine, und keiner wollte es mir doch sagen oder konnte es sagen. Du aber, ὦ φίλε Ἄνερ, du mußt es ja wissen, denn anders würdest du ja so innig und begeistert davon nicht reden. Also, Bester, sei doch so gut, und sage mir, was eigentlich der Schematismus der reinen Verstandesbegriffe ist, und glaube nur ja nicht, daß ich dich loslassen werde, ehe du mir nicht alles erklärt hast.«

Wohl, ich weiß, der Thomas Mann würde den Sokrates aus seiner Unwissenheit nicht erlösen können, würde vielmehr ihn von da an am liebsten »beißen« wollen, wenn auch nur in der Neuen Rundschau, aber eine Wohltat könnte solches Fragen vielleicht doch haben – nämlich, daß ein Männchen über Dinge, von denen er auch nicht einen Hauch versteht, nicht mehr so geschwollen daherredet. Die Ethik gehört nämlich zu jedem Berufe, und so ist es in der Publizistik z. B. unmoralisch, zu tun, als ob man Dinge verstehe, die man doch nicht versteht. Ich fürchte, der Moralist Mann besteht die Probe so wenig wie der Dichter, was aber ungleich gefährlicher ist, denn – noch einmal – dafür daß einem nichts einfällt, kann einer weder in der Zeit noch in der Ewigkeit verantwortlich gemacht werden, wenn er ehrlich es zugibt, dafür aber, daß einer Falschmünzerei in der Ethik treibt, sehr wohl. Ich will den Ramsch der Werte nicht mitmachen, weder im Ästhetischen noch im Ethischen. Es soll das Große groß sein und heißen, und das Kleine klein, und das Hohe hoch und das Niedere nieder, und das Mittelmäßige mittelmäßig. Und die Dinge sollen in der Sphäre des Geistes ihren Ort behalten, die hier und die dort, die man mit Geld kaufen und bezahlen kann und die man mit Geld nicht kaufen und nicht bezahlen kann. Ich mache den Ramsch nicht mit. Elender als echtes Elend ist eine Würde aus Pappe, und peinlicher als echtes Philistertum ist die Vortäuschung und Lüge einer nicht vorhandenen Genialität, und ärmer als der Arme ist der Reiche, dessen Gold als falsch sich erweist. Der unmittelbare Instinkt unmittelbarer Kulturen mag das Gold auf den ersten Blick erkennen, nicht so die Menschen in diesen Zeiten, sie brauchen Prüfstein und Waage. Aber da sind Hände, die auch Waage und Prüfstein noch fälschen wollen, sie aber binde ich fest. Denn ich gehöre nicht zur Visage der Berliner Tageblatt-Bourgeoisie, weder als satirische mouche wie Herr Sternheim, noch als philosophische Schminke wie Herr Rathenau, noch als patrizische Nase, Turm der Langeweile, wie Herr Thomas Mann, noch als Weltanschauungsmaul wie Herr Mauthner, nicht so und nicht so! Weder als Fleischteil noch als Zier noch als Maske. Oder vielleicht doch? Oh, dann nicht anders, als wie die fremde Hand, die sie schlägt.

 

Am Anfang schreibt der eine, daß das Schreiben überflüssig sei; das aber tun sie alle, sie schreiben, daß das Schreiben überflüssig sei, und schreiben mehr denn je. Aber das ist so. Sollte man nicht erwarten, daß man in der »führenden geistigen Monatsschrift Deutschlands« etwas Sachliches über die Ursachen dieses Krieges lesen könne, etwa über die Politik Englands? Sicherlich doch. Die Informationen sehen aber so aus:

»Churchill: In seinem Desperado-Temperament wühlt der unruhige Ehrgeiz seines Vaters, des Tory-Demokraten Lord Randolph Churchill, dessen Laufbahn eine ekle Krankheit früh ein Ziel setzte.«

Oh, das ist ein schöner Satz, zwanglos entströmend einer schönen Seele. Sie könnten beide, Satz und Seele, ein Seelensatz, zu Harden gehören, aber sie gehören zu Sänger, der freilich nicht nur die »führende geistige Monatsschrift Deutschlands« herausgibt, sondern auch zuweilen die Zukunft des ehrlosesten aller deutschen Publizisten, eben des Harden, vertritt. Nun leuchtet ein, daß jene ekle Krankheit kaum den Krieg entfesselt oder die englische Politik beeinflußt hat, und es ist anzunehmen, daß auch Herr Sänger nicht dieser Meinung ist. Was soll also der Satz, was will der Mann? Bloß der Neugierde und Klatschsucht des gebildeten Pöbels frönen? Zum Teil ja, und insofern ist das viel widerlicher, als etwa simple Pornographie. Aber die Analyse dringt tiefer. Ich halte diese Muschel an mein Ohr und höre auf das Geräusch. Ein Ton jahrhundertealter ressentimentgeplagter Ehrfurcht vor dem Lordtitel klingt mit. Lord! Lord Randolph Churchill! Ihr Gehirn gerät in einen leichten Rausch, wenn es sich um einen veritablen Lord handelt. Aber das ist nicht das ganze Geheimnis. Das wichtigste ist: Herr Sänger spricht hier als Ethiker. Ein leiser Unterton demokratischer Entrüstung klingt in dem Satze mit: »Sehet die Tories, so leben sie, ekle Krankheiten ziehen sie sich zu« und ein heller Oberton der Versöhnung: »Sie sterben aber auch daran.«

Wie anders klingt da doch dieses, und wie sind wir zu Hause:

»Macdonald. In diesem weltkundigen Mann, der durch die Ehe mit einer Verwandten Gladstones und des großen Naturforschers Lord Kelvin zu dem besten Europäertum in Beziehung trat.«

Es geht halt nichts über eine gute Heirat. Und vollends durch eine Einheirat gelangt man nicht nur zum guten, sondern zum besten Europäertum. Aber ist nicht Krieg? Sagen diese Herren nicht immer wieder, sie seien ergriffen, erschüttert, zornig, empört – und schreiben so?!

Der vielseitige Historiker begnügt sich natürlich nicht mit den Privatangelegenheiten der Politiker, sondern weiß auch etwas über die der ausländischen Philosophen und Dichter zu sagen, alles natürlich nur, damit wir über die Bedeutung dieses Krieges endlich ins klare kommen.

»Bergson ist ein schwächlicher Rousseauist; das Behagen einer ungestörten Beschaulichkeit, wie er sie, aus Halbasien nach Frankreich verschlagen, in seiner Villa Montmorency genießt ...«

Positive Geister brauchen und geben auch immer positive Informationen. Da kann unsereins nicht mitmachen. Ich habe es versäumt, als ich einen Aufsatz gegen den Sänger schrieb, das Berliner Adreßbuch nachzuschlagen, ob er eine Villa habe oder in Miete wohne, und mich zu erkundigen, ob er aus irgendeiner exotischen Gegend nach Deutschland verschlagen worden sei. Aber freilich, meine Richtungs- und Ursprungsbestimmungen sind nie rein geographischer Natur. »Kennt er«, fragt er weiter, »die aggressive Natur des russischen Panslawismus? Ach nein. Er ahnt nicht, mit welcher Verachtung der cäsaropapistische Dostojewskij diese morsche gottergebene Psychologenseele, das Westlertum abtut, den universalistischen Humanismus als ›moderne Idee‹ von sich stößt und der Zukunft des Slawentums geographische Wege weist: bis nach Konstantinopel und darüber hinaus.« Wie ist das nun? Der Panslawismus ist aggressiv, das ist ein schlichter Satz, den wir alle sehr gut verstehen. Weiter aber: Dostojewskij, ein Apostel des Panslawismus, ist eine morsche, gottergebene Psychologenseele. Sehen wir ab von der wüsten Vorstellung eines betriebsamen universalistischen Humanisten, daß »gottergeben«, eine der höchsten Tugenden des Menschen, die Kraft und der Heroismus der Heiligen und Märtyrer, in innerem Zusammenhang mit Morschheit der Seele stehe, sehen wir davon ab, denn, wie gesagt, das ist allzu wüst, dann bleibt immer noch eine merkwürdige Vereinigung einander widersprechender Dinge. Kann eine in Wahrheit morsche Seele der Zukunft ihres Volkes Ziele, auch nur geographische, weisen? Kann eine in Wahrheit morsche Seele ihrem Volk und dem Einzelnen ein politisches Ziel, ja ein religiöses Ziel geben, das in ihrer aller Köpfen und Herzen lebendig ist? Ist das möglich in einer Welt des Logos? Oder ist es vielleicht so: weil die Möglichkeit, einem ganzen Volk ein Ziel zu weisen, an die Morschheit der Seele gebunden ist, will Herr Sänger mit diesem Satz nur indirekt beweisen, daß seine eigene Seele durchaus nicht morsch ist, sondern ganz gesund, indem er nämlich dem deutschen Volk nie Ziele und Wege weisen wird? Ist es nicht merkwürdig! Ich habe ihn einmal im Brenner wegen desselben Dostojewskij angegriffen. Dieser Angriff, ob ihn Herr Sänger gelesen hat oder nicht, ist vernichtend gewesen. Sobald er an Dostojewskij kommt, denkt er an das Inferno, in dem er einmal in aeternum laues Wasser trinken muß, wird erregt – welch ein Haß spricht doch, für das hörende Ohr, aus seinen Worten! –, verliert vollends ganz den Verstand und macht sich der tollsten Widersprüche im Lauf eines einzigen Satzes schuldig, und treibt eine Logik wie der andere Chefredakteur Bie, der sich bessern, aber nicht ändern will. In derselben Nummer der N. R. steht übrigens am Anfang ein Aufsatz Schelers, in welchem gegen die ganze Weltanschauung der Sänger, gegen den universalistischen Humanismus ein vernichtender Stoß geführt wird. Aber die Fischergewässer sind so trüb und schlammig, daß die Lebewesen, die darin herumschwimmen, einander nicht sehen und erkennen können, der Hecht nicht die Qualle und die Qualle nicht den Hecht.

»H. G. Wells gehört zu den beschränktesten Insulanern der Gegenwart: sein Talent, das niemand bestreiten wird, wurzelt in dieser Beschränktheit. Ich habe sein Buch über Amerika sehr geschätzt, mußte aber Abstriche machen, als ich ihn persönlich kennenlernte ...«

Oh, dieser Schnorrer, gelehriger Schüler des Herrn Brandes! Bei Wells hat er also auch vorgesprochen. Allmählich geht uns ein Licht auf, wenn von Tag zu Tag bekannter wird, was für diplomatische, politische und literarische Vertreter das deutsche Volk in die Fremde geschickt hat. Sein Talent wird niemand bestreiten, meint der Sänger. Nun ja, das ist keine Kunst. Ich bin wenigstens über der »Insel des Dr. Moreau« niemals eingeschlafen, während ich die Königliche Hoheit des Thomas Mann niemals werde zu Ende lesen dürfen, weil mir in diesem kurzen Leben so viel Schlaf einfach nicht verstattet und der Mißbrauch allzu starker Sedativa verboten ist. Da nun zweifellos Herr Thomas Mann einer der beschränktesten Kontinentalen der Gegenwart ist und sein Talent durchaus in dieser Beschränktheit wurzelt, muß ich annehmen, daß diese Beschränktheit zu der des Herrn Wells im geraden und dieses Talent zu dem des Herrn Wells im umgekehrten Verhältnis steht, wie der Kontinent zur »Insel«. Freilich, wenn auch Wells einer der besten Unterhaltungsschriftsteller und einer der nachgemachtesten ist, so würde ich darum doch nie auf den Unsinn verfallen, ihn einen Führer des Geistes zu nennen.

»Aber Shaw kennt doch sehr wesenhafte Seiten des Deutschtums, wozu ich in erster Linie nicht das Kapital von Karl Marx und Auszüge aus Schopenhauer und Nietzsche, sondern die deutsche Musik rechne. Seine Dankesschuld an sie ist unbegrenzt, seine Musikantenseele hat sich aus dieser Quelle gelabt; in der Reihe von Mozart zu Wagner und Richard Strauß entdeckt er den stolzesten Triumphzug des Menschenwesens, das einzige Stück Geistigkeit, in dem die Entwicklung Fortschritt und Befreiung und Siegesgewißheit bedeutet. Nun frage ich Sie, Herr Shaw: Kann die Rasse, der so Köstliches entsprossen ist, barbarisch sein –?«

Kaum, aber vielleicht dumm, wenn von ihr so alberne Fragen gestellt werden! Ich packe die Sache ganz anders an, ich überspringe die Landesgrenzen und fasse sowohl den Herrn Shaw wie den Herrn Sänger als Barbaren des Intellektualismus zusammen. Denn für diese beiden, Sänger und Shaw, gibt es eine Richtung Mozart-Richard Strauß. Es ist nun ein untrügliches Zeichen der Verwirrung dieser Zeit, daß, was kein Gegenstand der Malerei ist, gemalt wird, was kein Gegenstand der Musik ist, in Musik gesetzt wird, was kein Gegenstand der Bildhauerei ist, modelliert und gemeißelt wird, daß also infolgedessen einer der unmusikalischesten Menschen, denen jemals ein großes Talent mit auf den goldgepflasterten Weg gegeben worden ist, ihr berühmtester – Musiker ist. Ich rede hier von jener Musik, die einer schon hat oder nicht hat, ehe er geigt, malt, meißelt oder dichtet, so daß ein solcher musikalischer Mensch vielleicht nicht einmal »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten« richtig pfeifen oder eine Quinte von einer Terz unterscheiden kann, und dennoch mit absoluter Gewißheit weiß und schaut, daß der Komponist des Rosenkavaliers der vollkommen amusische gelehrte Kunstschütze der Musik ist, der er ist. Oder zweifelt einer daran, daß Herr Richard Strauß im Leben und im Tod sowohl vor eines jungen Kierkegaard ewig junger Bewunderung, ja sogar, was freilich viel weniger heißen will, vor eines Nietzsche Beifall und Abfall vollkommen sicher ist?! Und doch sind das Kriterien! Es sind Kriterien! Vielleicht wendet aber einer ein, daß Herr Strauß dafür doch die Mitarbeit des Herrn von Hofmannsthal gefunden habe. Das stimmt, aber ich meine, daß diese zwei sich niemals wegen eines Gegensatzes der Weltanschauungen entzweien werden, denn sie haben beide, wenn jeder allein und für sich ist, überhaupt keine, wenn sie aber beieinander sind, nur die der Auguren, die da lächeln, und innerhalb dieser Weltanschauung gibt es für gebildete Leute, die sie ja sind, wenig Kollisionsmöglichkeiten; solche könnten nämlich hier nur bei der Verteilung der Verehrerinnen oder der Tantièmen eintreten, aber unter gebildeten Leuten ...

 

Ein nationaler germanischer Prophet, Arthur Bonus, einst Pastor – oh, Pastor Bonus, milde Klänge ferner Kindertage, Weihnachtslieder, Osterglocken – jetzt aber Bonus schlechthin, schreibt über die Germanisierung des Christentums. »Die deutsche Frage ist: Wie herrsche ich über die Welt?« Aber das geht die Zukunft an. Da brauche ich nicht weiter zu lesen, denn ich weiß ganz bestimmt, daß man, was man noch nicht hat, auch nicht germanisieren kann. Selbst die Nürnberger mußten den erst haben, den sie hängen wollten.

Es meint aber einer im B. T.:

»Auch der Historiker Guglielmo Ferrero hat sich den öffentlichen Protesten in wenig liebenswürdiger Form angeschlossen.«

So! Das ist überaus staunenswert und war durchaus nicht zu erwarten. Und der Geheimrat Eucken und der Geheimrat Haeckel und die Führer des Geisteslebens M. Dessoir, Georg Simmel u. a. u. a. und alle die Wichtigtuer, die hätten sich wohl im gegebenen Fall den öffentlichen Protesten in wenig liebenswürdiger Form – nicht angeschlossen?! Wie?!

 

Dürfen die deutschen Theater Shakespeare spielen?

Die Direktion des Deutschen Theaters hat folgende Anfrage an eine Reihe hervorragender Männer gerichtet:

»Darf ein Theater, das sich in diesen Tagen der allgemeinen nationalen Erhebung seiner ernsten nationalen Aufgabe im tiefsten Sinne bewußt ist, Shakespeare spielen oder nicht? Sollen wir Shakespeare als Briten und seine Werke als Erzeugnisse des britischen Geistes ansehen, oder soll er uns als die große geistige Provinz gelten, die wir Deutschen einmal erobert haben, festhalten und an niemanden wieder herausgeben wollen?«

Von den auf die Anfrage eingegangenen Antworten, die uns von der Direktion des Deutschen Theaters übermittelt worden, geben wir die folgenden wieder:

Der Reichskanzler Herr v. Bethmann Hollweg schreibt:

» Shakespeare gehört der ganzen Welt.«

Professor Harnack antwortet:

»Wären nur alle Theaterfragen so leicht zu beantworten wie die von Ihnen mir vorgelegte! Selbstverständlich soll Shakespeare weitergespielt und auch jetzt gespielt werden. Wir werden uns doch nicht von den hohen Ahnen unserer deutschen Kultur lossagen.«

Professor Max Liebermann ist folgender Ansicht:

» Shakespeare gehört der Welt – und Sie sollen ihn spielen.«

Bürgermeister Geheimrat Georg Reicke spricht sich dahin aus:

»Erstens, zweitens, drittens, Shakespeare insbesondere ist seit einem Jahrhundert uns Deutschen so in Fleisch und Blut übergegangen, daß wir ihn als einen der Unserigen empfinden. Beweis: jede Aufführung bei Max Reinhardt.«

Auf demselben Standpunkt stehen die Professoren v. Wilamowitz-Möllendorf und Gustav Roethe. Maximilian Harden aber tritt in seiner Antwort auf die Umfrage dafür ein, daß das Deutsche Theater gerade jetzt Shakespeare spielen möge. Nach »Heinrich IV.« »Heinrich V.«. Der heißeste Wunsch deutscher Mannheit klirre dann aus dem Ruf des liebenswürdigen Helden:

»Auf! Nach Calais! Von dort geschwind nach England!
Nie nahten Froh're ihm von Frankreichs Strand.«

Wenn ich den liebenswürdigen Helden Harden ausscheide, dessen heißester Wunsch die deutsche Mannheit ist, ein Wunsch, der noch im Kastratendeutsch der Zukunft scheppert; wenn ich den Maler Liebermann ausscheide, der in meinem platonischen Staat nur malen und verkoofen dürfte; wenn ich den Bürgermeister Reicke ausscheide, der auch im jetzigen Staat nicht für Shakespeare – noch dazu mit solchen uns kompromittierenden, das Gegenteil dessen, was er eigentlich will, beweisenden Argumenten –, sondern für die Arbeitslosen Berlins zu sorgen hat, wofür er nämlich bezahlt wird, dann bleiben noch einige Namen, die Beachtung verdienen:

Da ist der deutsche Reichskanzler. Er dürfte in diesen Tagen viel beschäftigt sein, er dürfte, weil in der Ebene der Politik auch gegen Trottel und ehrsüchtige Theaterdirektoren parlamentarische und konziliante Töne ein Gebot sind, dem lästigen Köter sein »Shakespeare gehört der ganzen Welt« hingeworfen haben. [Ob freilich an Bismarck solche Fragen und Frager sich überhaupt herangetraut hätten?] Aber die Gelehrten: der Christ Harnack und der Grieche Wilamowitz und der Germanist Röthe, sie sind weder für die äußere noch für die innere Politik des Deutschen Reiches verantwortlich, sie müssen auch nicht die Pläne des Generalstabs entwerfen, sie führen auch keine Armeen zur Schlacht, sie führen nur das gegenwärtige deutsche Geistesleben [wohin?], sie sind aber auch hier nur Führer u. a., die sich jeden Augenblick ablösen lassen können von Dessoir, Ostwald, Eucken, Haeckel u. a. – sie hätten also doch Zeit gehabt, sich Frage und Frager etwas näher anzusehen, Zeit zu überlegen, ob eine Antwort ihrer würdig sei, und wenn ja, zu sorgen, daß es eine ihrer würdige Antwort werde.

Wie mag es doch kommen, daß selbst ein großer Gelehrter, wie Wilamowitz, der nebenbei selbst eine Kaisergeburtstagsrede so halten kann, daß sie anzuhören und sogar zu lesen ist, sofort Verstand und Haltung und Würde verliert, wenn er es mit Gegenwart und Zukunft und nicht mehr mit der Vergangenheit zu tun hat! So sagt Wilamowitz in einer Versammlung ganz schlicht, daß dieser Krieg der letzte sein werde. Woher weiß er denn das? Hat's ihm der pythische Apollon verraten, der aber doch auch schon mehr der Kassandra zugetan war, als den Optimisten. Aber ein Gott muß es ja dem großen Philologen gesagt haben, denn als Mensch und von Menschen kann er es ja nicht wissen, und ohne es genau zu wissen, kann er es doch so schlicht nicht sagen. Wie soll ich einen Mann verstehen, der sich der Sprache nicht unterwirft und nicht meint, was sie sagt, oder sie sagen läßt, was er nicht wissen kann. Ein Mann kann die Wahrheit sagen, und er kann auch lügen, gewiß, aber er darf doch nicht faseln!

Wenn einer, so hätte man denken sollen, heute schweigen müßte, dann der Herr Mauthner. Aber wie seine Gesinnungsgenossen, die bei den Berufen, zu denen sie prädestiniert sind, geblieben waren, sich nicht zu besinnen brauchten, was sie zu tun hätten, sondern sofort mit den höchsten Gewinnen begeisterte Kriegslieferanten wurden, so verstand auch Herr Mauthner über Nacht die geänderte Konjunktur und wurde Patriot mit nur ganz winzigen Nebensätzchen, die ihm aber später wieder als Brücke zum »Weltbürgertum«, zur skeptischen Betrachtung des Wertes des Patriotismus dienen würden. Die Fixigkeit dieser Intelligenzen muß irgend etwas zu tun haben mit der mysteriösen Eigenschaft der Katzen, immer auf die Füße zu fallen, nur daß sie hier die naturgegebene Fertigkeit eines edlen Tieres ist, während sie dort einen geistig verworfenen Menschentypus kennzeichnet: den Menschen ohne inneres Gewicht. Im Feuilletonstall des Berliner Tageblattes darf Herr Mauthner die Frage stellen: »Wer ist Henri Bergson?« und die Antwort, im Tone Karlchens, so beginnen:

»Das tapfere Schneiderlein in Paris, Henri Bergson, das Schneiderlein der philosophischen Mode, die bis vor kurzem in Paris getragen wurde, hat uns Deutsche vor seinen gemischten Zuhörern ein Volk von Barbaren genannt ... Und Bergson wäre hoffentlich als ein Aufwärmer von abgestandenem Kohl schließlich erkannt worden, auch wenn er diesen Kohl zufällig in deutschen Töpfen aufgetischt hätte« usw.

Es ist selbstverständlich, daß diese und die übrigen Sätze des Herrn Mauthner weder für die Philosophie noch für die Beurteilung Bergsons wichtig sind – das weiß sogar Herr Simmel –, sondern nur für mich und meine augenblickliche Aufgabe, denn, daß zwar die künftige Kulturgeschichte sich bei mir über Herrn Mauthner erkundigen wird, nicht aber die Geschichte der Philosophie bei Herrn Mauthner, wer Bergson ist, das wird, wenn nicht sofort, so doch in einiger Zeit jedem einigermaßen Berufenen einsichtig sein. Der Aufsatz des Herrn Mauthner ist aber wichtig für die Beurteilung der deutschen Kultur, der deutschen Hauptstadt, des Berliner Tageblatts, das bekanntlich eine Auflage von 230 000 hat. Wie treibt man Sprachkritik?

»Und weil Bergson zu seiner spiritualistischen Metaphysik nur Splitter der neuen deutschen und englischen Erkenntnistheorie hinzufügte, wurde ein Mischmasch daraus, der ja vielen [auch in Deutschland] zu gefallen scheint, der aber mir das Lesen der Bergsonschen Bücher zu einer Qual für mein kritisches Gewissen macht. Auch für mein sprachliches Gewissen. Schon der Titel seines meistverbreiteten Buches [1907] ist verräterisch: ›Die schöpferische Entwicklung‹. Der Begriff der Entwicklung oder der Evolution hat sich besonders seit Darwin eingestellt, um die Vorstellung von einer Schöpfung aus dem Nichts zu überwinden. Schöpfung oder Entwicklung, das ist die Frage. Bergson sagt mit lächelnder Eleganz: ›schöpferische Entwicklung‹ und reitet das Bild von diesem hölzernen Eisen zu Tode.«

Nun, ein Affe ist zuweilen gelehrig, er kann den Menschen vielerlei abgucken, aber was kann nicht alles geschehen, wenn man nicht auf ihn aufpaßt und er in Abwesenheit der Menschen über einen Werkzeugkasten kommt. Er wird mit dem Hammer einen schönen Spiegel zerschlagen und wird mit der Schere ein köstliches Bild zerschneiden. Jedoch das bei weitem grauenvollere Schauspiel wird sein, wenn ein Affe den Menschen das Philosophieren abguckt, und das ist unserer Zeit vorbehalten geblieben. Er findet das Werkzeug der formalen Logik und hantiert damit eben wie ein Affe mit Hammer oder Schere, recht mit Affengeschwindigkeit wirft er die schöpferische Entwicklung, deren Sinn und Inhalt er so unsäglich fremd und häßlich gegenübersteht wie eben ein Affe einem schönen Kind, einfach als »hölzernes Eisen« in die Rumpelkammer der logischen Schnitzer, fertig, erledigt – und grinst. Daß der Mauthner immun ist, hab' ich von Anfang an gesagt, aber es ist doch belehrend zu sehen, wie das im Einzelfall mit Hilfe der Sprachkritik sich offenbart. Ich sage: es gibt philosophierende Affen, er aber meint »behaglich lächelnd«: »Nix ze mache, is ja evident ä contradixio in adjägdo.« Vielleicht redet der empirische Herr Mauthner nicht so, aber dann ist es nur eine diabolische Erfindung oder eine akustische Täuschung, denn der intelligible Herr Mauthner redet ganz gewiß äso.

Als aber Herr Mauthner abermals im Sonntags-Feuilletonstall des Berliner Tageblatts erschien, da waren aus den winzigen Nebensätzchen, die im August das erste Material zu der Brücke sein sollten, die ihn einst wieder zurück zum »guten Europäertum« des Herrn Brandes und zur skeptischen Betrachtung des Wertes des Patriotismus führen würde, schon kleine Hauptsätze geworden.

»Der Krieg hat uns bisher nur reich gemacht, reich an Begeisterung und an opferbereiter Siegeszuversicht. Eine Sorge um den letzten Erfolg lassen wir ebensowenig aufkommen, wie leichtsinnige Lustigkeit über einen Teilerfolg. Die eine Sorge bloß steigt in mancher bangen Nacht vor uns auf: wie werden wir zu dem zurückfinden, was der höchste Stolz des deutschen Namens war, zu dem ganz anders weltwindenden, vorurteilslosen, gerechten deutschen Denken, zu unserer deutschen Friedenskultur? Im Kriege haben wir uns schon 1870 gefreut, wir freuen uns wieder darüber, daß der Feind sich täuschte, als er uns noch immer für das Volk der Dichter und Denker, für das Volk von Weimar und Jena hielt.«

Wie ist das nun? Wie ist das mit dem Satz vom Widerspruch? He! Was ist's mit der Qual des kritischen Gewissens? He! Wer hat jetzt ein hölzernes Eisen in der Hand? He, Sie ...! Das ist nicht so einfach. Dem Mauthner wird in bangen Nächten das behagliche Lächeln von der Sorge verscheucht, daß Deutschland nach dem Krieg nicht zu dem zurückfinden könnte, was es zu Mauthners großer Freude vor dem Krieg – auch nicht hatte: zum Dichten und Denken. Gewiß, das hat der Mauthner nicht so gemeint, er hat gar nicht sagen wollen, was er doch gesagt hat. Er ist ja selber »Dichter und Denker«, wie könnte er also so etwas meinen, und überhaupt: da käm' ihm der Mosse anders als mit Honorar, wenn er vor 238 000 zahlenden Dichtern und Denkern so etwas im Ernst behaupten würde. Herr Mauthner hat also nur aus Versehen die Wahrheit gesagt, die einzige Möglichkeit, wie auch ein Mauthner noch hie und da, zwar nicht als Träger, aber als Objekt der Ironie, die Wahrheit sagen kann. Die Wahrheit: denn nichts ist gewisser, als daß Deutschland nicht mehr das Volk der Dichter und Denker ist, und am allergewissesten ist, daß keiner mehr Grund hat, sich darüber zu freuen, als der Mauthner. Wäre nämlich Deutschland das Volk der Dichter und Denker, er hätte nicht ein Menschenleben lang mit Erfolg schmieren können, er wäre schon beim ersten sprachkritischen Versuch, nicht so höflich wie die echten Dichter im Staate Platons, sondern wie die echten Schwindler im alten Preußen mit einem Fußtritt über die Grenze gejagt worden. Höchstens, daß sich ein neugieriger Naturforscher seiner angenommen hätte, um an ihm eine neue Tierspezies durchaus zu studieren: pithecanthropus scepticus.

Warum sorgt sich denn der Herr Mauthner so um die Zukunft der Philosophie? Fürchtet er etwa, daß die wirkliche Philosophie Schaden nehmen könnte? Aber er stelle sich nicht dümmer, als er ist, und er lüge nicht über das gewohnte Maß! Es ist ja absurd. Selbst ein dreißigjähriger Krieg könnte einen Philosophen nicht hindern, hat Descartes nicht gehindert, Gedanken zu haben, er hat sie halt, weil sie ihn haben. Und was nun gar die Erkenntniskritik anlangt, für die der Mauthner ein Faible hat, wie die Motte für das Licht, das sie verzehrt, so muß ich schon sagen, daß es gerade ihr heute in Deutschland bei Husserl relativ am besten geht, so gut, daß auch vor ihr die Sprachkritik des Herrn Mauthner zum wüsten Dunst wird und als das bare philosophische Unwesen dasteht – so farblos muß man sich eben in der Erkenntniskritik ausdrücken; wenn ich mich in konkreteren Sphären bewege, dann nenne ich die Sprachkritik anders –, er weiß schon. Und daran kann der Krieg nichts ändern; ja das wäre immer noch genau so, auch wenn die Russen nach Göttingen kämen und Husserl erschlügen, den Mauthner aber am Leben ließen, damit er ihnen am Lagerfeuer zur Unterhaltung etwas vorgrinse – das änderte nichts daran. Indessen, die Sorgen des Herrn Mauthner sind ja ganz andere. Ich weiß schon, was soll es bedeuten. In bangen Nächten gefriert ihm zuweilen und all den andern Herren des Berliner Tageblatts das behagliche Lächeln in der eisigen Angst, daß nach dem Krieg der ekle Rotz des Berliner Freisinns, der vor dem Krieg über alle geistigen Gebiete sich hinwälzte, alles Edle schon im Keim und Samen erstickte und nur das Gemeine üppig wuchern ließ, ein wenig eingedämmt werden könnte. Ach, wäre doch meine Hoffnung darauf so groß, wie seine Angst davor! Mir wäre wohl.

Als aber der Mauthner abermals und zum drittenmal im Sonntags-Feuilletonstall des Berliner Tageblatts erschien, da waren aus den kleinen Hauptsätzen, welche die Brücke bilden sollten, auf der Herr Mauthner von der Insel der »Begeisterung« und der »opferbereiten Siegeszuversicht« sich wieder auf das Festland der beschaulichen und behaglichen Skepsis hinüberretten könnte, große Hauptsätze und ganze Abschnitte geworden. Und Herr Mauthner, der bekanntlich davon lebt, daß er sagt, der eine Philosoph hab' äso gesagt und der andere Philosoph hab' äso gesagt, Herr Mauthner, der bekanntlich darüber niemals verzweifelt ist, sondern immer nur behaglich gelächelt hat, Herr Mauthner, der bekanntlich nie merkt, daß ein und derselbe Philosoph nicht einmal äso gekonnt hat, und das andere Mal äso, sondern daß das nur die Charlatans können, die Agrippas von Nettesheim, die wenigstens ehrlich draufgingen, während sie im zwanzigsten Jahrhundert infolge des Fortschritts und des Berliner Tageblatts hochgeehrt als »Lehrer des Volkes« sterben werden, Herr Mauthner, der bekanntlich ein genialer Skeptiker ist, erklärt uns, weil ein Skeptiker bekanntlich dazu der Berufenste ist, was die Moral sei: »Was ist das: die Moral, die Göttin Moral, die durch die menschliche Einrichtung des Krieges höchst anstößig auf den Kopf gestellt worden ist?« Nun muß ich sofort feststellen, daß ich zwischen der Moral des Berliner Tageblatts, des vordern und des hintern, im Frieden und seiner Moral im Kriege keinen Unterschied finden kann, und ich war auch niemals der Meinung, daß diese Moral eine Göttin sei, sondern immer der festen Überzeugung, daß sie dem Herrn Mauthner bis auf die Haarigkeit gleiche. Und wenn man nun den Herrn Mauthner auf den Kopf stellte, so könnte diese Prozedur die apriorische Anstößigkeit seiner Existenz und Person nicht noch mehr steigern, könnte unser Weltbild nicht ändern, weil nämlich Herr Mauthner, auf den Kopf gestellt, einfach mit die Fieß philosophieren, mit die Fieß Feuilletons schreiben, die Fieß statt die Händ an Aristoteles und an Held und Genius abreiben würde. »Zunächst ist die Moral gar keine Göttin, sondern einfach die menschliche Sitte, insofern sie wichtig oder notwendig scheint für den Bestand eines Volkes. Die Moral ist – um einen Darwinischen Ausdruck zu gebrauchen – die arterhaltende Sitte.« Und da sag nun einer, daß das nicht einfach sei! Sehr einfach. Der Dummkopf merkt ja nicht einmal, daß er immer schon im zweiten Satz oder schon im ersten aus der Höhe seiner »genialen Skepsis« hinunterplumpst in sein Element, in die Suhle der Commis-voyageur-Dogmatik, die nicht eine Sekunde lang im Zweifel lebt, sondern immer alles genau weiß, was stinkt, und daß es sehr einfach ist. Sehr einfach! Der Dreck erhält die Art der Wanzen, so wird das Dreckdrucken zur arterhaltenden Sitte, und die Moral ist keine Göttin, sondern einfach eine Zeitung, die zudem den Vorzug hat, daß man sie niemals wird auf den Kopf stellen können, weil sie immer nur liegt [oder lügt, ich überlass' es dem Setzer, und in der Aussprache des Herrn Mauthner ist's sowieso gleich] und weil sie also überall Hinterer ist. »Ich verkehre seit Wochen viel mit unseren Verwundeten. Jeden Tag fällt mir das Wort Bismarcks ein: Unsere Leute sind zum Küssen.« Er wird doch nicht etwa, das Haarwunder! Ich hoffe, daß ihm das, wenn nicht aus anderen, so doch aus sanitären Gründen verboten wird. Es ist wahrlich eine arge Einrichtung des Staates, daß er diese Herren – und es gibt ihrer nur allzu viele – arglose Verwundete belästigen, Eindrücke sammeln und daraus Kriegs-Feuilletons fürs Berliner Tageblatt machen läßt, anstatt daß er sie die ihnen idealiter ganz klar zuerkannte Funktion auch realiter ausüben läßt: die Hafen zu leeren. »Und wäre es nur darum, müßten wir den Tag herbeisehnen, an dem wir zu der Kultur und der Moral des Friedens als Sieger werden zurückkehren können. Wäre es auch nur darum, um wieder auf Goethe schwören zu dürfen.« Aber seit wann ist denn Goethe

der Herr der Ratten und der Mäuse,
der Fliegen, Frösche, Wanzen, Läuse,

daß die auf ihn schwören dürften?!

Als aber der Mauthner abermals und zum viertenmal im Sonntags-Feuilletonstall des Berliner Tageblatts erschien, da war es klar geworden, daß er heimgefunden hatte, aus der gefährlichen Epoche der »Begeisterung« und der »Opferbereitschaft« zurückgekehrt war in die behagliche Beschaulichkeit der sieggekrönten Skepsis. Zum erstenmal wieder seit Monden belauschte er ein »Gespräch im Himmel«, Bismarck und Goethe wurden bemüht, sie mußten den Jargon plaudern des Herrn Mauthner und sein Lächeln grinsen; Held und Genius mußten mauscheln in einem Blatt, über das sie auf dem Abtritt noch ergrimmt wären. Heil dem Sieger! Sind sie auch lang die Winternächte, bang sind sie nicht mehr. In ihnen steigt dem Mauthner keine Sorge mehr auf, daß Deutschland nach dem Krieg nicht wieder zu dem zurückfinden könnte, was es vor dem Krieg so schön schon hatte: den Rotz der Berliner Intelligenz, denn auch im Krieg noch wird er gegrüßt als Sieger. Behaglich und beschaulich war wieder das Dasein geworden, als Herr Mauthner entdeckte, daß die neue Zensur dem Gewerb' so wenig zu Leibe geht wie die alte, daß sie alles, alles, alles durchläßt, nur nicht – wenn er kommen sollte: den Geist.

 

Wie war das Wir so schön am Anfang und hatte Klang und Fülle, niemand brauchte es zu sagen, es stand auf der Stirne aller vom Kind bis zum Greis, es leuchtete in den Augen aller – es war ein kurzer Augenblick der Hoffnung. Als aber in der nächsten Stunde noch das Wir, aus dem Herzen des Volkes geraubt, in die Mäuler der Journalisten kam und den Weg durch die Presse beschmutzt wieder in das Volk nahm, da ward es leer und wüster von Tag zu Tag. Trostlos stand man vor diesem Unabänderlichen und ergrimmte, daß es unabänderlich war. Die geistige Führung der Völker übernahm, nein, setzte fort ihr Auswurf. Hüben und drüben durfte die Presse ungehindert die Lügen der Hysterie verbreiten, aber auch die der gesunden Gemeinheit. Sie predigte einen sinnlosen, blinden, in keiner Anschauung begründeten Haß. Dies aber ist das Verwerflichste und Verworfenste, das geschehen kann. Der Haß hat allein im einzelnen geistige Berechtigung, im einzelnen, der sieht und sagen kann, was er haßt, der vor dem letzten Gericht die Verantwortung übernimmt, daß, was er haßt und – das folgt aus dem Haß – vernichten will, auch des Hasses und der Vernichtung wert ist. Den Literaten Lissauer aber, den Autor des wüsten und dummen Haßgesangs gegen England, hätte eine Staatsgewalt, die sich selber versteht, in ein Arbeitshaus einsperren müssen, wenn er nicht in den Schützengraben taugte, anstatt ihn frei herumlaufen und »dichten« zu lassen. Ehe dieser Herr auftrat, waren sich die geistigen Führer Deutschlands, also die Journalisten, noch nicht recht einig, welches Nachbarvolk man am meisten hassen müsse, das Frankreich der Mordbrenner und Leichenräuber, das perfide Albion, das Land der Krämerseele – diese Bezeichnung fand man am häufigsten in den Mosse- und Ullsteinblättern, die erwiesenermaßen nur von adeligen Seelen geleitet werden und den Krämergeist von jeher verabscheuten – oder die Tataren, die bekanntlich Tag und Nacht keinen andern Gedanken haben, als wie sie die Juden plagen könnten. In dieser schweren Qual der Wahl entschied sich der Herr Emil Ludwig, der ein kriegsfreiwilliger Reporter ist, an Schnelligkeit die deutsche Armee weit übertreffend; gestern war er noch in Amsterdam und berichtete, daß die Königin Wilhelmine eine Frau sei, heute ist er schon in Zürich und beschreibt von dort aus Pariser Zustände:

»Schafherden, die von Hunden bewacht werden, sind im Park Bagatelle zusammengetrieben. Hirten mit großen Peitschen stehen dabei.«

Schön, als ob er's im Kino gesehen hätte. Aber der Setzer ist auch nicht ohne; der hält scheint's alles miteinander, Schafe, Hunde, Hirten, den Park von Battignoles und den ganzen Emil Ludwig für eine Bagatelle – dieser Herr Emil Ludwig also entschied sich im Feuilleton des Berliner Tageblatts gegen die Tataren, aus Gründen, die er nicht nennt – er nennt nur falsche –, die wir aber nach dem Krieg von Herrn Wolff und Genossen deutlich genug zu hören bekommen werden. Sie laufen, glaub' ich, alle in dem einen Urgrund zusammen, daß vor Jahren der Herr Georg Brandes in Petersburg nicht hat reden dürfen. Dieses Verbot war eine halbe Kulturtat, es war keine ganze, weil diejenigen, welche es erließen, seinen Sinn nicht tief genug faßten und auf der Oberfläche der Polizei und Politik blieben. Herr Emil Ludwig nun, vielleicht die üppigste Sumpfblume der neuberliner Literatur, schreibt:

»Nur nach einer Seite hin ist dieser Krieg von innerer Bedeutung, historisch notwendig und mit dem vollen Haß zu führen, den rassige Menschen rassigen Menschen zollen. Die Slawen oder wir, das ist die Frage ... Ich nehme aber die Stunde wahr, um aus dem Herzen laut zu sagen, daß ich sie hasse, jene slawische Seele, und daß ich weiß, wie vielen von den Jüngeren ich aus der Seele spreche. [Um keinen Mißverständnissen ausgesetzt zu sein, möchten wir betonen, daß auch wir jene slawische Seele, die sich in Tolstoj, Lermontow, Turgeniew, Puschkin und anderen Großen des russischen Geisteslebens verkörpert, nicht hassenswert finden. Die Redaktion.] Kaum war die Bewegung für den großen Tolstoj in Deutschland über ihre Höhe, da kam die andere für Dostojewskij, und welcher Künstler wollte sich dieser dämonischen Inbrunst, diesem umschatteten Erzengel entgegenstellen. Aber die Welt, die er liebt und gestaltet, ist nicht unsere Welt, sein Dämon ist nicht unser Dämon ...«

Das sieht ja ganz schrecklich aus, ein Kampf der Geister: der germanische Genius in Herrn Ludwig gegen umschattete Erzengel. Trotzdem: ich hätte der Redaktion des Berliner Tageblatts geraten, den Haß des Herrn Ludwig nicht gar so ernst zu nehmen. Es war wirklich keine Gefahr und keine Notwendigkeit der Berichtigung; kein Abonnent oder Inserent wäre wegen des Hasses des Herrn Emil Ludwig auf Dostojewskij abgesprungen, das ist denen wurscht, und wenn's denen wurscht ist, sollte es füglich auch der Redaktion des Berliner Tageblatts wurscht sein. Bitte, nur keine Bemühung um die Kultur! Es war auch nicht nötig, daß das Berliner Tageblatt, »um keinen Mißverständnissen ausgesetzt zu sein«, mir die eigenen Mißverständnisse verriet. Es ist nämlich komisch, wenn die Redaktion betont, daß sie den Geist Turgenjeffs nicht hasse. Wie wird sie denn! Das ist ja, wie wenn sie beteuerte, daß sie den Geist Heines nicht hasse. Mit Tolstoj freilich ist es eine andere Sache, mit Tolstoj zusammen gibt es keine Textileinheiratinserate, und keine stinkenden Romane von Felix Holländer, auch keine gehirnerweichenden von Felix Salten, und ganz anders ist es mit den andern Großen! Wie niedlich, mit einem unbestimmten Plural den einen Dostojewskij zu umschreiben, dem ich nachsagte, daß er einem Berliner Tageblatt-Literaten die Hand nicht gereicht hätte. Das Berliner Tageblatt hätte ihn nicht so ernst nehmen sollen, den Haß des Herrn Ludwig auf die slawische Seele, die wird sich ja auch nichts daraus machen, weil sie im Ertragen von Wanzenbissen sicher geübter und heroischer ist als wir, die daran sterben können und deren Aufgabe deshalb zunächst ist, das Ungeziefer auszurotten. Der eigentliche Greuel ist ja der, daß ein Emil Ludwig auch jetzt im Krieg noch schreiben darf; von da an ist es ziemlich gleichgültig, was er schreibt, da wir schon lange wissen, wie er schreibt. Ich kann mir denken, daß auch seine literarischen Freunde das Gesicht verziehen, wenn der Ludwig von der germanischen Rasse redet, von der Seele, dem Haß und dem Dämon. Ja, die Germanen; diese Herren leiden jetzt alle an Halluzinationen, sie sehen bloß noch Blond und Blau, sogar wenn sie in den Spiegel sehen. Und die Seele des Herrn Ludwig und die der Jüngeren, aus der ein Ludwig sprechen darf, gehören doch auch in den Lausebereich des Herrn Mauthner und sind nach dessen und des großen Philosophen Mach unwiderleglichen Beweisen nur symbolische Wortbezeichnungen für ein Nichts, eben nichts. Der Haß aber, der Haß, ich wette, ist eine abstrakte Lesefrucht aus der Fackel. Nur der Dämon ist ganz neu, ganz Neuberlin; ich glaube, er stammt aus den Ausstattungsstücken Reinhardts. Kein Berliner Tageblatt-Kavalier geht heute, und nun vollends während des Krieges, ohne Dämon aus; lieber läßt er noch das silberne Zigarettenetui in der Tasche, als daß er seinen Dämon nicht vorzeigt; er greift bei jeder Gelegenheit nach ihm, wie der Oberbayer nach dem griffesten Messer, das mir aber mehr imponiert. Der tanzende Holländer hat den gruseligsten, aber der des Herrn Ludwig wird ihm mit der Zeit auch nicht nachstehen. Wie gesagt, ich kann es mir gar nicht anders vorstellen, als daß die literarischen Freunde das Gesicht verziehen, wenn Herr Emil Ludwig von der germanischen Rasse redet, von seiner Seele, seinem Haß und seinem Dämon [tailor made].

Sein Dämon aber ist es wohl, der den Herrn Ludwig auf die Schlachtfelder treibt und ihn so berichten läßt:

»Im Chausseegraben liegt etwas Dunkles, wir greifen an den Hahn, – dann lachen wir: nein, es ist kein Franzose, nur sein Rock. Hingebreitet wie ein liegender Mensch liegt dort ein langer blauer Infanterierock. Wir heben ihn auf: Der Ärmel ist abgerissen. Das bedeutet einen Menschenarm. Innen ist das Futter rot von klebrigem Blute: das bedeutet einen Menschen. ›Die Taschen?‹ Ich wage nicht, in diesem unheimlichen Mantel zu spionieren, der Geist des Menschen, dem er angehörte, schwebt über ihm. Ich bewundere die schönen Knöpfe: eine feuerspeiende Kugel ist darauf geprägt. Der Chauffeur greift in die tote Tasche. Brief! ›Je ne vois plus rien à te dire pour le moment, si ce n'est pas que l'on t'embrasse tout bien fort‹ ...«

Was ist das für ein Dämon? Sind wir ihm ausgeliefert? Ich fürchte, es gibt kein Entrinnen, diesen Dämon kann man nicht austreiben; wo fände sich denn die Sau, die gestattete, daß er in sie fahre?! Und ruhelos treibt dieser Dämon, der weiß, daß das Berliner Tageblatt gut bezahlt, den Herrn Ludwig von Holland nach Belgien, von Belgien nach dem Elsaß, vom Elsaß nach Polen, von Polen nach Kleinasien, und überall spielt er, wie Meister Kerr, die Harfe zu seinen Reporternachrichten: »In der Mitte der Brücke, in verglastem Kapellchen von Holz, steht eine geschnitzte Madonna, schwärmerisch trauernd. Daneben steht, am Geländer, schweigend ein alter Jude. Das ist das letzte Sinnbild von Polen.« Ehre dem alten Juden, der schweigt. Das letzte Sinnbild von Europa ist ein anderes: da stehen junge Juden, im Smoking, neben der geschnitzten Madonna, und sind Kunsthistoriker und betasten sie und bespeicheln sie und psychoanalysieren sie und plaudern, plaudern für das Berliner Tageblatt. Und wenn's die Madonna nicht ist, dann ist's die Venus oder die Helena. Man höre:

»Ein Seegefecht vor Troja.

Von unserem zum türkischen Kriegsschauplatz entsandten Spezial-Korrespondenten Emil Ludwig.«

»Mich erfüllt das Vorgefühl: mit Augen den Schauplatz zu sehen, auf dem du seit der Kindheit dich bewegtest. Mit ihren gehämmerten Rhythmen stiegen die Namen des Homerischen Gedichtes in mir auf und nieder, mischten sich mit dem Trotte des Wagens, schimmerten auf unter dem Zucken des englischen Scheinwerfers, sanken wieder in die Nacht, in die wir fuhren. Mir ahnte nicht, was kommen sollte.

Als es tagte, fanden wir uns auf einer breiten Ebene. Den Hügel abwärts kam ein Zug von Kamelen, schwarz wölbten ihre Buckel sich vor der Sonne, feldgrüne Soldaten schritten daneben, wiegend, nur zuweilen lenkten sie die phantastischen Tiere an dem großen Strick, der alle zu einer Einheit macht. Lasten von Proviant trug jeder Koloß gegen die Küste hin, Sinnbild des Dienens – wie keins von allen Tieren, und mit schnellen Schritten suchten kleine Esel mitzukommen.

Herden von Kühen und Herden von Schafen ziehen glockenläutend durch das Feld, grasen und laufen, schaffen ein Pastorale an Stelle eines Krieges, und der Hirt, in stechend bunte Tücher gewickelt, sitzt an einem flinken Wasser, hält die Füße hinein und schweigt. Ich pflücke den Mohn, der seit den Jahrtausenden hier seine leuchtenden Gebilde schafft, gefüllt mit dem geheimnisvollen Samen, der Phantasien wirkt wie das Homerische Gedicht.

Ich fühle mit einem Male Zusammenhänge, wie selten, wie nie in diesem Kriege. Auf der Mauer des Priamos, da liege ich, in der Deckung eines blumenreichen Hügels, vor mir ragt am Meer der Grabhügel des Achilleus, westlich der des Ajax, ich sehe einen gewundenen Lauf glänzend verschwinden, das ist der Skamandros; fern im Rücken fühle ich die Gewalt des Götterberges. Der Stein in meiner Hand, den ich mit Sorgfalt löste, um ihn wie ein Kreuzfahrer als Pfand in mein Haus zu tragen, er half die Mauer des Gemaches tragen, in dem Helenas reizende Sünde sich in Hephästos' Netz fing ...«

Gefangen! Man staunt, daß man den Herren eben doch nicht gewachsen ist, indem sie immer wieder schreiben, was man niemals den Mut gehabt hätte, ihnen zuzuschreiben. Aber jetzt ist's aus. Das kommt davon, wenn man nach Dardanos bloß seinen Dämon mitnimmt und nicht auch den Zettelkasten, oder den falschen. Aber was geht das mich an! Et que Diable, que Diable allait-il faire en cette – trière! Jetzt ist's aus. Ein Volltreffer, und bloß lag die stinkende Sünde eines Feuilletonistenhirnes. Zutage traten alle Zusammenhänge zwischen Cohn und Kreuzfahrer, und nimmer zur Ruhe kommt die Flucht der Assoziationen zwischen der Jerusalemer Straße und der Akropolis, zwischen Troja und Paris, dem die Venus entfloh, weil Mars die Stunde regiert und sie ohne Merkur auch nicht mehr leben kann. Ihr Götter, wie soll man sich auch erwehren, wie Herr werden der überwältigenden Fülle der Gesichte in diesen Gegenden, wo, ich bitt' Sie, so viel schon passiert ist! »Sieht das Auge, das schweifende, gen Korinth, wo Agamemnon einst, aus des Labdakos fluchbeladenem Geschlecht ... im Bad mit dem Nessoshemd erwürgt ward, weil sein Ahn einst der Niobe die eigenen Kinder zerstückelt zum grausen Mahl ... wiewohl er im Hofe des Schlosses ... von Teiresias, dem greisen Seher, der vor Wintern in Moissi ..., der auch des Oresteles Pathos zum Sinnbild des Muttermordens verdichtete ... mit Reinhardt, Nestor und Pollux der Mittelmeerkultur, deren kongeniale Fortsetzung und übergreifende Steigerung ... Kriegsziel ... Auf der Mauer des Priamos, wenn man da liegt, in der Deckung eines blumenreichen Hügels, wie fühlt man die Zusammenhänge der Jahrtausende! Auch wir schöpfen ... der Danae ewig rollendem Faß ... Haß gegen die Tataren und wohl auch gegen jenes Volk mit dem insularen Denken, das ... Argonauten in Tauris ... im Garten der Hebriden ... das goldene Kalb ... Wenn man den Mohn pflückt [der ja manchmal die Farbe der Herbstzeitlosen hat], wirkt er Phantasien wie das Homerische Gedicht ... aus weinfarbenem Meer die Insel, auf der Io von der Bremse, in die Zeus sich verwandelte ... gestochen wurde ... hier fiel dem kretischen Ochsen, kaum daß er Europa bestiegen hatte, der Goldregen in den Schoß. Herden von Schafen ziehen glockenläutend durchs Feld und schaffen ein Pastorale ... Schwant euch, ihr Brüder? ... Platane ... Dido mit dem ... Neuere Forscher, denen aber die Phantasie mangelt, verlegen diese Szene gerne an den Lido. Auch Michel Agniolo Buonarotti hat ja die verwegene Symbolik dieses echt heidnischen Stoffes für seine künstlerische Leidenschaft gewählt und ihn in unvergängliche, eherne Rhythmen gehämmert und gegossen, die auch hier noch unter dem Zucken der englischen Scheinwerfer aufschimmern ... und von unserem deutschesten Philosophen, der nicht umsonst in Meister Erwins und des jungen Goethe Stadt lebt, von Meister Georg Simmel, der letzten Endes die hellsten Lichtblicke in das urgermanische Clair-obscur Rembrandts geworfen hat, erwarten wir auch die endgültige Psychologik ...« – Ihr Götter, laßt auch mich ein Bild festhalten von dieser neoromantischen Reise ins klassische Altertum: Seht dort, seht ihn, mit der grazilen Müdigkeit eines anglisierten Ladenschwengels, Endymion, da liegt er, in der Deckung eines blumenreichen Hügels, auf der Mauer des Priamos, der, wiewohl ein König, ihm aber in Wahrheit so egal wie die Königin, also Hekuba ist, weil er eigentlich ein vifer Kellner ist im Adlon [Jovis Vogel] und Ganymed heißt, so aber auch nicht, sondern Emil Ludwig sich schreibt, was aber wiederum ein Pseudonym ist, also kurzum: nichts Genaues liegt da auf der Mauer des Priamos und drängt, wohin? Ach, wohin? Hinauf! Mir! Mir! Aufwärts zum allzahlenden Zeus, wo doch aber in Berlin und der Mosse ist und die nächste Verbindung die Telegraphenstation in Dardanos ist. Was aber tut er jetzt? Auf dem blühenden Mohn mit dem geheimnisvollen Samen? ... Öffentlich? Vor 238 000 Abonnenten? Einen Strick her, ihn zu binden bei solcher Unzucht mit der Allerweltsphrase auf kulturschänderischem Lager, das bedrecktes Zeitungspapier ist und Berliner Tageblatt heißt. Ich binde ihn im unseligsten Augenblick seiner geistverfluchten Lust und unserer Qual, binde ihn, ihm zur Qual und uns zur Lust, mit dem Strick, den er selber mitbringt, der die Kamele zur Einheit macht, welche die Esel nicht stören.

Zum Mythos des Gestanks wird einst die Bildung des Berliner Tageblatts werden und seines Spezialkorrespondenten vor Troja. Und so was also schreibt Bücher über Bismarck, die dann bei S. Fischer herauskommen und in der »führenden geistigen Monatsschrift Deutschlands« angezeigt werden. So was ist zwar durch diesen meinen Aufsatz geistig erledigt, aber beileibe nicht in der deutschen Literatur, wo so was auch weiterhin Karriere machen wird, weil die deutsche Literatur in Berlin mit ihrem politisch-ästhetischen Sängerbund und der führenden Monatsschrift halt genau eben so was ist.

 

»Obgleich man bei Tolstoj sonst manches Wort findet, das gut in die Gegenwart paßt,« sagt Herr Th. Wolff, »›Peter fühlte plötzlich‹, heißt es in ›Krieg und Frieden‹, ›daß Reichtum, Macht, Leben, alles, was der Mensch mit soviel Sorgfalt herrichtet und bewohnt, nur einen Wert durch das Vergnügen gewinnt, mit dem man es von sich wirft.‹ Viele von unseren Besten haben, als sie hinauszogen, bewußt oder unbewußt diese Empfindung gehabt.« Ich habe bewußt und unbewußt das Gefühl, daß hier grauenvoll falsch zitiert wird. Aber das ist nicht so wichtig. Ich meine nur, es dürfte schwer sein, einen Mann, der am Wegwerfen von Macht, Reichtum, Leben und allem bewußt kein Vergnügen findet, davon zu überzeugen, daß aber vielleicht doch eine unbewußte Empfindung von Vergnügen dabei sei. Die bare Unmöglichkeit aber wäre es, im völlig und durch und durch aufgehellten Bewußtsein des Herrn Wolff auch nur eine Spur von Vergnügen am Wegwerfen von Macht, Reichtum, Leben und allem zu entdecken, und für diesen Fall etwas anderes zu finden, als das schamlose und ekelhafte Vergnügen, seine Bildung zu exhibitionieren.

Denn er kennt persönlich Anatole France.

»Aber daß auch Anatole France geglaubt hat, sein Wort gegen die ›Infamie‹ und gegen die ›Barbaren‹ sagen zu müssen, tut uns aufrichtig leid. Denn Anatole France ist nicht nur ein Dichter, der himalayahoch über dem Gewimmel der Literaturfabrikanten steht. Er hat auch immer das grobe Schlagwort und die geölte Phrase skeptisch zurückgewiesen und die gangbare Massenwahrheit ironisch zerpflückt. Dieser große Ungläubige hat mit feinem Lächeln die innere Gebrechlichkeit so vieler geheiligten Grundsätze und geschichtlichen Traditionen gezeigt.«

Ich fürchte nun, es wird sich eines Tages zeigen, daß Anatole France nicht der große Ungläubige war – diese Zusammenstellung ist überhaupt, auch wenn sie nicht bloß von einem subalternen Feuilletonschwätzer gemacht wird, die Lüge eines großen Aberglaubens – sondern nur ein kleiner Gläubiger, ungläubig nur gegen den göttlichen Geist und das Ewige, gläubig aber am Kleinen und Zeitlichen hangend. Ich fürchte, es wird sich zeigen, daß Anatole France niemals die gangbare Massenwahrheit großer Zeitungen – oder ist vielleicht das B. T. nicht gangbar? oder eine Auflage von 238 000 nicht eine ganze Masse? oder will gar Herr Wolff sagen, daß im B. T. keine Wahrheit stehe?! – ich sage, daß Anatole France niemals die gangbare Massenwahrheit – ironisch zerpflückt hat; es wird sich zeigen, daß er nur die schon vor hundert Jahren totgeschlagenen Phrasen skeptisch zurückgewiesen hat, was kein Herzblut und keine Anstrengung erfordert, aber nie die heute lebendige, nicht geölte – Öl ist etwas viel zu Schönes und Geheiligtes –, sondern bis in ihr innerstes Nichts hinein schleimige Phrase vom »ironischen Zerpflücken« skeptisch zurückgewiesen hat. Ich fürchte, es wird sich zeigen, daß Anatole France nie gewußt hat, wo das Maul ist, aus dem die Phrasen kommen, und es deshalb auch nicht stopfen konnte; nicht hat er die Gefahr der Zeit gesehen, daß die Macht, die nur dem Werte gehört, dem Gesindel gegeben ist, den Dummköpfen und den ironischen Zerpflückern unbequemer Wahrheiten, die die gangbaren Massenauflagen haben. Daß Anatole France nicht mit seinen Wiener und Berliner Nachahmern verwechselt werden darf, weiß ich und habe ich gesagt, wenn ich es auch nicht so genau bestimmen könnte, wie Herr Wolff, der weiß, daß Anatole France himalayahoch über dem Gewimmel der Literaturfabrikanten steht. Wäre hier nicht das feine Lächeln des Ungläubigen am Platz? Ich erkenne aber durch jedes Schafskleid den Wolff. Gewiß ist ihm zuerst das Wort himmelhoch – himmelhoch jauchzend – eingefallen und auf der Zunge gelegen, aber dann kamen dem geschätzten Stilschleifer, Sprachfeiler und Wortziselierer schwere Bedenken, ob das Wort auch bildhaft und konkret genug sei – Himmel, Himmel, na ja, und er denkt an das feine skeptische Lächeln eines andern großen Ungläubigen, seines Hausphilosophen Mauthner. – Und da, was ein richtiger Berliner Zeitungsmann ist, sich lieber an Größen und Werte hält, deren Maß in Zahlen auszudrücken ist, so schrieb er erleuchtet hin: himalayahoch [8400 m]. Diese neue Art des exakten Wertemessens – denn wenn einer bloß turmhoch sagte, ohne zu sagen, welchen Turm er meint, so wäre selbst das noch zu ungenau, ja gäbe vielleicht einer echten Phantasie sofort den Schwung, den Turm bis in den Himmel ragen zu lassen – eröffnet neue Perspektiven für die Literaturkritik. So schätze ich z. B., natürlich nur approximativ, was man meinem Anfängertum zugute halten mag, daß sich Schnitzler etwa kreuzberghoch über das Niveau der Jerusalemer Straße erhebt, wo der Wolff, der ja auch ein Dichter ist, schöpferisch tätig ist, während hinwiederum Herr Wolff etwa maulwurfshügelhoch über dem Gewimmel der Leitartikelfabrikanten steht.

Nun aber nahm dieser Wolff, Chefredakteur des Berliner Tageblatts, sich die Mühe, die deutsche Kultur zu verteidigen und zu beteuern, daß der Deutsche alte Kirchen sehr hoch schätze. Aber die deutsche Kultur müßte sich solcher Fürsprache schämen und sie ablehnen; der Herr Wolff soll die Börse unterrichten, was sie jetzt am besten zu tun hat, ich werde ihm nicht dreinreden, im Gegenteil: ich werde jedem, der Papiere hat, empfehlen, sich an den Rat des Berliner Tageblatts zu halten. Der Herr Wolff lasse die alten Kirchen und die Kultur in Ruhe – hands off! Die schamlose Beschäftigung der Kunsthistoriker, Feuilletonisten, Politiker und Liebhaber nach Art des Herrn Wolff mit alten Kirchen ist schon lange eine Schmach Europas, die zum Himmel schreit. Diese B. T.-Kultur, die im Gucken und Tasten und Lesen und Feuilletonschreiben, eigentlich aber im Geschäft besteht, bringt es ja wohl fertig, von einem gotischen Dom und dem Herrn Shaw im selben Atemzug zu reden und beide Kultur zu nennen. Ich war noch nicht 20 Jahre alt, als ich einen der Kulturbreiköche in Krämpfe versetzte, weil ich behauptete, daß es ziemlich gleichgültig sei, ob Amerika alle Werke Michelangelos aufkaufe, daß es gleichgültig sei, solange in Europa noch ein Michelangelo zur Welt kommen kann. Bei dieser Anschauung werde ich bleiben. Ich nehme keinen Anstoß an der Beschießung von Kirchen im Kriege, aber ich bin für die Vernichtung der Parasiten, die an dem Geiste zehren, aus dem einst eine Kathedrale von Reims geschaffen wurde. Und ich sage: Wenn der Herr Wolff im Mosse-Blatt schreibt: »Es gibt – vielleicht von einigen Vertretern der kraftmeierischen Pose abgesehen – keinen gebildeten Deutschen« – verfluchtes Geschwätz! Als ob eine Kathedrale nicht auch für einen ungebildeten Katholiken da wäre! aber ganz und gar nicht für einen gebildeten Wolff, als ob sie von gebildeten Wolffs erbaut worden wäre oder erbaut werden könnte! Verfluchtes Geschwätz! – »der die Nachrichten über das Schicksal der wunderbaren Kathedrale anders als mit aufrichtigem Schmerz lesen könnte«, so stinkt diese Phrase, sie stinkt ärger als die Leichen. Die stummen Steine müssen ja stöhnen nach Feuer und Brand, sie müssen sich ja sehnen nach Vernichtung, sie müssen ja flehen um Erlösung von dem Betasten und Begucken der gebildeten Wolff und Genossen. Ein Mensch kann ja reden, ich habe noch die Sprache, ich bin nicht ohne Wehr, und ich werde mich wehren, aber stumm die Qual tragen zu müssen wie die Steine – sie müssen ja einfallen wollen, die Kirchen frommer Hände.

Nie werde ich leugnen, daß die Wolffs jene Bildung haben, die sie befähigte, in Paris Minister und Präsidenten zu werden. Kennen, lesen tun sie alles, wie jene auch. Nur kein Mißverständnis! Die Wolff und Genossen dürften in meinem Staat auch tun, wonach eigentlich ihr Herz drängt. Sie könnten so reich werden, wie sie geworden sind, aber sie müßten die ihnen nach der Ordnung des Geistes gebührende Stellung einnehmen. Die groteske Perversion, daß sie zugleich die Führer des Geistes spielen, die Probleme des deutschen Volkes lösen helfen, und durch dieses verruchte, aber einträgliche Spiel den Durchbruch des Geistes wirklich verhindern, würde mein Staat nicht dulden. Es käme niemals zu der unsagbaren Schamlosigkeit, daß der Angestellte eines Inseratenagenten öffentlich behaupten darf, das Herz tue ihm weh, weil die Kathedrale von Reims beschossen wird – und weiß doch jeder Abonnent und Inserent, wann diesen Herren das Herz wirklich weh tut. – Wenn man so einfache und klare Dinge sagt, wie ich soeben, hat man es freilich mit zwei Gegnern zu tun: dem Idiotismus, der es nicht versteht, und der Gaunerei, die es nicht verstehen will.

Ich habe gar nichts zu tun mit jenen Rasseethikern und Theoretikern, die in dem sonderbaren Wahn zu leben scheinen, ein Mensch könnte den Adel seiner Rasse anders beweisen als dadurch, daß er eben edel ist oder, weniger edel, aber doch noch edel, das Gemeine nicht erträgt und nicht mitmacht oder – die letzte Stufe des Adels – im Gemeinen lebend wenigstens die schmerzliche, wahrhaftige Sehnsucht nach dem Edlen bewahrt. Auch weiß ich selber sehr genau, daß der empirische Herr Wolff das Pathos dieses Angriffs gar nicht wert ist, daß es Verschwendung der Kraft wäre, ja Augenverblendung, Irrtum im Maß, wenn es sich nur um diesen subalternen Feuilletonisten handelte, der mir bürgerlich und privat vollkommen gleichgültig ist, ja dem ich eine recht gute Verdauung gönne, wenn er nicht, sobald er im B. T. schreibt, der öffentliche Repräsentant einer »Weltanschauung« und eines Menschenschlags wäre, die mir verhaßt sind, die aber herrschen heute in dieser Welt.

 

Weil er den Genfer Protest unterschrieben hat, ist man dahinter gekommen, daß Herr Jacques Dalcroze ein Charlatan ist. Man ist nicht dahinter gekommen auf Grund seiner Tätigkeit, seiner Musik und seines Aussehens, d. h. also, man ist auch jetzt nicht wesentlich dahinter gekommen, daß er ein Charlatan ist, sondern man bildet es sich bloß ein; man würde den Herrn Jacques Dalcroze, wenn er in Berlin anstatt in Genf sich am europäischen Schwachsinn beteiligt und einen »Protest« unterschrieben hätte – er wird es bereut haben – für ein Genie und einen Charakter halten. Bei der Gelegenheit ist man auch dahintergekommen, daß Herr Jacques Dalcroze eigentlich Jakob Dalkes heißt. Selbst wenn es faktisch nicht wahr ist, so ist es doch ewig wahr, daß Herr Jacques Dalcroze eigentlich Jakob Dalkes heißt; das ließe sich sofort dadurch beweisen, freilich nur für die, welche Augen haben, daß ich ihn hier abbildete. Man ist weiter dahinter gekommen, daß Herr Jakob Dalkes aus Wien stammt, was ja freilich, wenn das erste gegeben ist, wirklich nur eine immanente sich selbst vollziehende Folgerung ist. Und wenn es faktisch nicht wahr ist, so ist es doch ewig wahr, daß Herr Jakob Dalkes aus Wien stammt, weil nämlich Wien jene Stadt ist, die dazu ausersehen ward, daß in ihr alles Unwesen des Geistes – auch Herr Blei muß aus Wien stammen – musizierendes Fleisch und literarisches Blut werde und uns heimsuche.

 

Wenn Herr Harden einen Vortrag hält, dann bespricht ihn Herr Emil Ludwig im Feuilleton des Berliner Tageblattes so: »Er mied die Phrasen, die heute überall ausgestreut liegen wie Minen im Kanal, und fuhr mit solcher Vorsicht, daß er keine berührte.« Ja gewiß, so stellen diese Herren sich das vor. Und wenn man's nicht vorher schon gewußt hätte, jetzt wüßte man's, wie sie schreiben und wie sie reden, die Harden und die Ludwig. Da schiffen sie also herum, ängstlich und mit großer Vorsicht. Halt! Obacht! Eine Mine! Sie wird umschifft, aber da ist schon eine neue. Zu spät! Schon ging sie los: »Der letzte Soldat leistet heute mehr, als alle Schreibenden.« Aber die Herren bleiben am Leben, sie schiffen, schreiben und reden weiter, denn die Mine war nur eine Phrase. Sie werden es nicht erjagen, was sie nicht fühlen, aber sie werden auch nicht vermeiden, was sie sind und haben: die Phrase. In alle Ewigkeit nicht werden sie es verstehen, die, welche draußen sind und die Welt und die Form der Phrase mit sich tragen auf die Schlachtfelder als Reporter über Leichen und wieder ins Berliner Tageblatt und in die Zukunft – in alle Ewigkeit nicht werden sie es verstehen, die, welche draußen sind, daß der wahre Schriftsteller, wenn er bei sich ist und in seiner Sprache lebt, sich vor nichts weniger fürchtet und zu fürchten braucht, als vor der Phrase, denn die ist ewig draußen.

Herr Carl Hauptmann, »ein Bruder Gerhart Hauptmanns«, schreibt im Berliner Tageblatt Briefe an seine amerikanischen Freunde.

»Bergsons Philosophie ist eine Unterhaltungsphilosophie, die sich der Esprit aus dem Ärmel schüttelt ... ein sehr elegantes, schillerndes Salonkleid, gut sitzend, um es vor gelangweilten, vornehmen Damen zu tragen. Meinetwegen ein schön drapierter Mantel, den der zeitgenössische Windhauch wie eine lockere Modesache hierhin und dorthin treibt. Bergsons Philosophie ist die Philosophie der ewig Relativen. Um Frankreich wirklich gerecht zu werden, müßten wir an die Blütezeiten seiner Bildung denken. Müßten wir uns an Männer wie Cartesius erinnern. Manch einer von ihnen warf da in die Schöpfung unseres menschheitlichen Weltbildes mit elementarer Wucht einen Eckstein. Selbst der skeptischste aller Zweifler wie Montaigne modellierte mit seinen Zweifeln, als wären sie nur die Spachtel des Bildners, positiv gesehene Wesensgestalten menschlicher seelischer Beschaffenheit

Halt, halt, ehe man speien muß. Es geht doch nirgends so phantastisch zu wie im Feuilleton. In der Wirklichkeit wird ein Eckstein sorgfältig eingemauert, und er steht geduldig an seinem Eck und wartet auf den Karren, der ihn anrempeln soll. Im Feuilleton des Herrn Carl Hauptmann aber fliegen die Ecksteine nur so umeinand, mit Wucht; aber solche Ecksteine, wie Herr Carl Hauptmann, die braucht eben heute das menschliche Weltbild und das modellierende Feuilleton, wo das fünfte Wagenrad auch schon eingeführt ist: die tun sich nichts. Um die Dummheit der andern zu entfesseln genügt oft ein kleines Wort, das klug oder töricht sein kann. Im Falle Bergsons war es gewiß ein törichtes. Aber wo ist hier ein Verhältnis von Ursache und Wirkung? Erst kam Gerhart Hauptmann und fügte sich selbst viel des Leids zu, indem er von Dingen sprach, die er nicht versteht, dann kam, um von den zahllosen anderen zu schweigen, um mich nur an das Berliner Tageblatt zu halten, dessen philosophischer Hausaffe und fragte grinsend: »Wer ist Henri Bergson?« Jetzt kommt einer, von dem noch niemals irgendwo ein Wort erschienen ist, ohne daß einleitend bemerkt war, daß der Verfasser ein Bruder Gerhart Hauptmanns sei. Wie ein Mann so etwas überhaupt aushält, ohne sich umzubringen oder ohne einen echten Eckstein herauszureißen und den Bruder zu erschlagen oder ohne wenigstens von nun an zu schweigen, das habe ich nie verstanden, das war für mich immer ein Rätsel. Aber solche Leute sind jetzt Führer des Geistes, nehmen den Mund voll Brei und der sinnlosesten Phrasen: »Bergsons Philosophie ist die Philosophie der ewig Relativen.« Das ist doch wirklich nur noch trottelhaft, denn selbst der Mauthner hat doch wenigstens einen blassen Schein von Recht, einen leisesten Schimmer von Sachkenntnis für sich, wenn er im Gegenteil behauptet, daß Bergson das dem Menschen allein vergönnte Reich des Relativen verlasse, um mit der Metaphysik zu flunkern. Aber ob relativ oder absolut, beide Behauptungen gehen in das Berliner Tageblatt ein, denn alles ist ja nur Spaß, solange es bloß den Geist angeht und nicht das Geschäft und das Gewerb'; alles ist eins in jenem Freisinn, der ja nur die dem Sinn nach äquivalente Silbenumkehrung ist von: Sinnfrei.

Ich habe einmal von den Gimpeln gesprochen, die von der »müden, gläubigen Skepsis« reden, aber dieser freisinnige Ausdruck war ja nur der eines Stümpers. In Wirklichkeit nämlich heißt es: »ein skeptischer Heiliger des Atheismus«. Weiß man nun nicht, wer das geschrieben hat, so kann es auch die feinste Nase nicht herausriechen, von wem im besonderen diese Perle ist, weil sie ungefähr alle, die heute schreiben, spontan produzieren können. Der Ausdruck kann von einem genialen Rindvieh des Humanismus stammen, aber auch von einem feigen Heros des Kannibalismus, oder von einem dämonischen Commis des Ästhetizismus, oder von einem toleranten Fanatiker des Rationalismus, oder von einem technischen Genius des Lyrismus, oder von einem potenten Ochsen des Feminismus, oder von einem selbstlosen Wucherer des Mystizismus – kurz, von irgendeinem der Führer des deutschen Geistes. Freilich, sobald man es weiß, ist es auch ganz klar, es geht wie immer, man kann es sich gar nicht anders vorstellen: als daß es der Herr von Hatvany im Forum geschrieben hat.

Der Geh. Hofrat Prof. Dr. Karl Lamprecht schreibt im Berliner Tageblatt über den Krieg der Völker:

»Aber neben dieser Bewegung weltbürgerlicher Art ... stand viel älter und steht noch heute bei weitem kräftiger eine andere: es ist die völkische ... Wir haben jetzt das Merkwürdige erlebt, daß im Bereich der germanischen Kultur alles Volk in Zuneigung zur deutschen Sache zu finden ist ... in Luxemburg die germanische Grundlage ... abseits steht nur England, aber man beachte, von welchem nicht mehr rein germanischen, sondern vielmehr keltischen Geist, ... von diesem Standpunkt ergibt sich aber zu den Betrachtungen über das Germanentum in Europa ein höchst wichtiger Zusatz ... Bezeichnen wir die Völker, die in den Grenzen Europas heute mit ihren Sympathien zu uns stehen, kurzweg als Germanen, so macht sich darüber hinaus in dem amerikanischen Gefühl ein neuer Rassebegriff geltend, für den die Amerikaner in dem Wort Teutonismus ...«

Rasse, völkisch, germanisch, keltisch, teutonisch und Berliner Tageblatt, Auflage 238 000. Welcher Rasse gehört nun der Geist des Berliner Tageblatts an? Völkisch war dort vor dem Krieg nur unter Anführungszeichen zu finden und hatte den Geruch verschwitzter Jägerhemden; germanisch, da lächelte der Wolff und dachte an den Ring, an Bayreuth, an Richard Wagner und an Geyer; teutonisch, da grinste der Wolff wie sein Hausphilosoph und dachte an Herrn v. Oldenburg-Januschau. Und wer das Wort Rasse in den Mund nahm, war bereits ein Antisemit und voll gelben Neides auf das Gold des Berliner Tageblatt-Inseratenteils. Jetzt geht's anders, man schwärmt in jeder Nummer für blonde Haare und blaue Augen, und daß es immer auch anders geht, je nachdem, ist eigentlich die klare und eindeutige Definition des Geistes und der Rasse des Berliner Tageblatts. Vielleicht gehört das Berliner Tageblatt, wenn nicht der germanischen – das kann man sogar in dieser großen Zeit nicht gut sagen –, so doch der künftigen teutonischen Rasse der amerikanischen Waffenlieferanten an. Was geht nicht alles in einen Saumagen und was geht nicht alles ins Berliner Tageblatt. Jedoch hört der Vergleich sofort auf, denn der Magen hat schon das schöpferische Prinzip des Scheidens und des Trennens, aber das Berliner Tageblatt ist und bleibt der geistige Komposthaufen, in dem alles verdirbt und nur die Diener der Fäulnis feine Unterschiede zwischen einem Feuilleton von Emil Ludwig und einem von Hermann Bahr oder Lamprecht machen können. Germanisch, keltisch, teutonisch! Ein wirrer Traum sucht mich heim, fast ein Fastnachtstraum: Die Mosse und Wolff und Ullstein tragen die Kleider derer, die auf dem Lechfeld die Hunnen schlugen, die Europa, das germanische Europa, retteten, daß ein Luther, ein Pascal, ein Goethe, ein Kierkegaard auftreten konnten; sie pflegen gerade der Siegesberatungen, sie beraten, wie man doch auch den Berliner Lokalanzeiger aufkaufen könne und in absehbarer Zeit auch das Kreuz der Kreuzzeitung. Und der Neffe, der Wolff, der Gebieter eines Millionenheeres von Lesern, als Teutone, blonde Perücke, blauäugig – nein, das ging nicht, der Wolff, er trägt – ach, brennen mir die Augen im salzigen Wasser – er trägt auf seidenen Mantel gestickt das stolzeste Wahrzeichen des ältesten Turmes meiner Vaterstadt – banges, scheues, ehrfürchtiges Herzklopfen des Knaben, Glorie der Spiele und verwegener Träume –: den Löwen der Hohenstaufen. Da wird dem Heros eine Botschaft gebracht. Und er zieht sich zurück, Furchen in der erhabenen Herrscherstirne. Er korrigiert einen Artikel des Helden und Teutonen Sombart, er streicht daraus einen Satz, in dem behauptet wird, daß die russischen Bauern mehr Kultur besäßen als die städtischen Inserenten des Berliner Tageblatts. Der Heros streicht diesen Satz mit der Leidenschaft, welche den Hohenstaufen eigen ist und die auch vor Selbstvernichtung nicht zurückschreckt, er streicht den Satz, damit das teure Heer der Abonnenten – Leidenschaft der Selbstvernichtung – nicht von 238 000 auf 237 889 sinke, weil ein Gran Wahrheit in die Zeitung kam. Und die drinnen mauscheln – ach, wirrer Traum! –, jubeln ihm Beifall zu, dem Sieger, die drinnen, die Mosse, Ullstein in den Kleidern der Hunnenbesieger und Christentumsretter und Kreuzfahrer. »Germanisch, keltisch, teutonisch.« Ein Traum suchte mich heim, führte mich heim, Glorie verwegener Knabenträume.

 

Wie oft werde ich noch lesen müssen, daß Professor Eucken eine deutsche Rede hält, in der er sagt: »Dem deutschen Wesen eignet der Zug zur Innerlichkeit, die in Meister Eckart nach dem Ansichsein der Seele sucht, in der Reformation Luthers den Menschen auf die eigene Seele stellt, auch, – [an ihren Partikeln und Konjunktionen soll man sie erkennen; in diesem auch liegt die ganze tief versteckte, schwer ans Licht zu ziehende, ihnen selbst nicht bewußte objektive Verlogenheit unserer Professorenphilosophie und Philosophieprofessoren. Die Hauptwörter, die nehmen sie aus Eckehart, Luther, Fichte, Goethe, Kant, aber ihre aber, doch und wenn, ihre und und auch, die gehören ihnen, an ihnen kann man sie erkennen] – auch im Katholizismus in den Formen die Symbole suchend ...« Aber was eignet nun dem Professor Eucken, bloß daß er immer dem gebildeten Publikum des Berliner Tageblatts sagt, daß dem deutschen Wesen der Zug zur Innerlichkeit eigne, die in Meister Eckart nach dem Ansichsein der Seele ... und was eignet dem Publikum des Berliner Tageblatts, bloß daß es zuhört, wie der Professor Eucken sagt, daß dem deutschen Wesen der Zug zur Innerlichkeit eigne, die in Meister Eckart nach dem Ansichsein der Seele sucht ... Und von all dem wird nur uns und nicht dem Professor Eucken übel?! Wer aber von dem Zuge zur Innerlichkeit anders als mit Innerlichkeit redet, der schmäht sie und beleidigt sie mehr, als einer, der von ihr gar nichts wissen will und ißt und trinkt und schläft. Punktum. Gute, alte Tante Eucken, wäre es jetzt nicht doch vielleicht an der Zeit, die philosophischen Kaffeekränzchen zu schließen?!

 

Wenn ein sachlich geschriebenes Buch erscheint: »Die deutsche Volksernährung und der englische Aushungerungsplan«, dann bespricht es D. Friedrich Naumann, M. d. R., im Berliner Tageblatt in dieser Sprache: »Der ganze Volkskörper wird als eine einzige essende Größe aufgefaßt im Sinne des biblischen Wortes: Unser täglich Brot gib uns heute.« Man staunt wieder einmal, wie lächerlich geistig verlottert doch eine theologische Fakultät sein muß, daß sie einen Mann, der so sinnlos vom Sinn eines biblischen Wortes redet, zum D. machen kann. »Der Käseverbrauch soll gesteigert werden. Es lebe das Käsebrot! Viel mehr Zucker verbrauchen! Weniger Butter, aber mehr Obstmus! Aufheben aller benutzbaren Abfälle ... Von jetzt an beginnt eine Zeit der inneren Umdrehung in jeder Küche.« Aber D. Naumann sorgt zuvor noch für die innere Umdrehung des Magens. Das mag in Kriegszeiten vom Standpunkt der Volksernährung aus nicht ohne Vorteil sein. Man ißt weniger. Bedauerlich ist nur wieder, daß einem sogar der Appetit auf das lebende Käsebrot vergehen kann. D. Naumann, die ins Maßlose auseinanderfließende, aber gerade deshalb äußerlich wie innerlich typische Kolossalfigur der käsigen Mediokrität dieser Zeit, schreibt allzugern im Berliner Tageblatt. D. Naumann ist Führer des Volkes; hat er als solcher wirklich nichts anderes zu tun, als sachliche Bücher in die eklig ornamentierte Sprache des Feuilletons zu übersetzen? D. Naumann schreibt allzugern ins Berliner Tageblatt. Er sieht also doch das Berliner Tageblatt. Warum erklärt uns der kolossale Führer des Volkes niemals, was z. B. die täglich erscheinenden vier bis zwölf Seiten voll Kriegsartikelinserate zu bedeuten haben. Wenn einer so für das Wohl der Volkswirtschaft besorgt ist, dann müßte er sich doch auch einmal dafür interessieren, durch wie viele und durch was für Hände seit Monaten alle jene Kriegsartikel hindurchgehen müssen, die doch nur die einzige Hand des Staates braucht und aus Steuern bezahlt, welche nicht bloß aus den Taschen der Kriegslieferanten stammen. Und D. Naumann könnte sich dann auch besinnen, mit Hilfe welcher dialektischen Ethik die lukrative Mithilfe des Mosse-Wolff-Blattes zu solchen höchst, höchst seltsamen Geschäften in die Auffassung des Volkskörpers als einziger essender Größe im Sinne des biblischen Wortes: »Unser täglich Brot gib uns heute« hineinzudenken ist. Und schließlich möge D. Naumann mir schwer Begreifendem und doch, ach, so Wissensdurstigem sagen, ob der Sinn des biblischen Wortes: »Unser täglich Brot gib uns heute« oder irgendeines andern auch erfüllt ist in jenem Inserat, das im selben Berliner Tageblatt, wo sein Aufsatz erschien, zwar nicht vorne, aber hinten, also im Hauptteil, stand und so lautete:

Für das in unserem Verlage erschienene nationale Gedenkblatt » Vaterunser 1914«, Bild von K. A. Wilke, Gedicht von Dr. Mirko Jelusich, suchen wir Vertreter, Grossisten und Wiederverkäufer in allen großen und kleinen Plätzen Deutschlands. Der Alleinvertrieb wird für einzelne Bezirke unter günstigen Bedingungen vergeben; der Vertrieb bietet bei energischer Tätigkeit eine Verdienstmöglichkeit von

M. 3000. – monatlich.

Die »Schlesische Zeitung« schreibt über das Gedenkblatt:

Ein Gedicht »Vaterunser 1914« von Dr. Mirko Jelusich, bei dem die einzelnen Bitten des Vaterunsers in ein inniges und wuchtiges Kriegsgebet verwoben sind, ist in Verbindung mit der farbigen Wiedergabe eines Gemäldes von K. A. Wilke, das zwei betende Krieger darstellt, von der Verlagsanstalt Vaterland G. m. b. H. in Berlin als Kunstblatt herausgegeben worden. Das Gedicht ist in alter gotischer Schrift unter Heraushebung der einzelnen Bitten durch rote Lettern gedruckt, so daß es auch im farbigen Eindruck mit dem Bilde zusammenstimmt. Das schöne Blatt ist in verschiedenen Ausstattungen erhältlich.

Ein Probeexemplar wird gegen Einsendung von M. 1,50 geliefert. – Weitere äußerst zugkräftige nationale Kunstblätter erscheinen demnächst in unserem Verlage.

Berlin W 62
Kurfürstenstr. 107

Verlagsanstalt Vaterland G. m. b. H.

Wüßte man nicht und wäre dessen nicht in unerschütterlichem Glauben gewiß, daß man auch in einem Fünfmillionenheer, und selbst wenn Tausende und Zehntausende auf einmal fallen, nicht en masse stirbt, sondern als Einzelner, daß Bedeutung und Schicksal des Einzelnen weit in Unendlichkeiten und in Ewigkeit hinausgehen über Schicksal und Bedeutung einer verfaulten und blutbespritzten europäischen Politik, die mit kindischem Dünkel und tierischem Ernst doch nicht weiß, wo der Ernst liegt, – wüßte man das nicht, dann könnte man freilich allein schon über die Vorstellung verzweifeln, daß die draußen vielleicht nur für ein Vaterland G.m.b.H. fallen.

 

Daß Richard Dehmel als Fünfzigjähriger in den Krieg zieht, ist schön, erfreulich auch deshalb, weil er wenigstens die selbstverständliche Forderung erfüllt, die doch an jeden zu stellen ist, der sich in sämtlichen Zeitungen der ganzen Nation und Europa anmeldete, daß er in den Krieg ziehe – die selbstverständliche Forderung, daß er nun auch wirklich in den Krieg ziehe, eine Forderung, der aber eine ganze Reihe von Dichtern und Denkern mit einem dem vorhergehenden Lärm an Intensität entsprechenden Schweigen – in diesem einen Punkte nur, wohlverstanden, denn sonst gröhlen sie wahrlich, daß uns die Ohren gellen – nicht genügten; ich will heute nur den Herrn Ganghofer nennen, den Liebling des deutschen Lesepublikums in Friedenszeiten, also: sentimental und ein bißchen geil, rosenapfelbackig, stierstirnig und schafbocklockig [ihm ziemen wahrlich homerische Epitheta, ist er doch der Homer dieses Krieges!], der anstatt, wie überall plakatiert, gegen die Russen zu ziehen, jeden Tag Gedichte macht, deren jedes einzelne eine nicht wieder gutzumachende Niederlage der deutschen Literatur ist, der aus dem Hauptquartier Berichte schickt, bei deren Lektüre man sich unwillkürlich zurückbeugt aus Angst, so eine Spalte Pathos könnte platzen und wir hätten die ganze Bescherung im Gesicht. Ich kann aber freilich nicht umhin, auch noch zu bekennen, daß ich die unerschütterliche Überzeugung habe, daß unter den etwa zwei Millionen ungenannten Freiwilligen die zwei etwa zwei millionenmal genannten Freiwilligen Moissi und von Hofmannsthal heil wieder zu uns kommen werden. Wieder wird Moissi bei Herrn Reinhardt den Hamlet zum greinenden hysterischen Frauenzimmer machen, und Herr von Hofmannsthal wird mit Richard Strauß zusammen ein Siegesballett komponieren. Der Unterschied zur Josephslegende wird nur der sein, daß es diesmal nicht in Paris zum erstenmal aufgeführt wird, sondern in New York, schon deshalb ein großer Fortschritt, weil dort die Tantièmen ins Amerikanische ganz von selber wachsen. Sie werden wiederkommen. – Daß Richard Dehmel, bevor er in den Krieg zieht, einen Brief an seine Kinder schreibt, nun: darin wird er sich mit vielen Vätern finden. Bis dahin verstehe ich alles. Aber daß Richard Dehmel den Brief an seine Kinder als Feuilleton des Berliner Tageblatts veröffentlicht, oder soll man sagen: ein Feuilleton des Berliner Tageblatts als Abschiedsbrief an seine Kinder schickt – das verstehe ich nicht mehr. Oder ist auch dies vielleicht nur ein Ausfluß der ganzen Schwäche dieses Dichters, der niemals rein ein Geistiges sah, nie vom Krampfe ganz sich lösen konnte, nie im Lärm die Stille fand, in der Wirrnis nie ein klares Auge war! Der hielt wohl zuzeiten schon eine Muskelkontraktion für ein Gedicht. Ein Irrtum! Und auch die Brunst ist ja nicht von Richard Dehmel erfunden worden, nur die in der Brunst zur Hälfte steckengebliebene Lyrik ist von ihm. Ich schmähe nicht den Wurm, aus dem ein Pfauenauge wird, doch muß der Schmetterling ganz heraus, damit er unser Aug' erfreue.

Professor Hermann Cohen definierte das »Eigentümliche des deutschen Geistes«: »Deutsch ist die Verbindung von Rationalismus und Idealismus, alles andere ist Ausländerei.« Hallo, wenn ich nun aber nicht mag, wenn ich dieser Definition nicht genüge, treibe ich dann Ausländerei, bin ich ausgestoßen aus dem Volk meiner Väter?! Was ist da zu machen, wenn der Herr Professor so sagt?! Ich habe nicht Teil an dem Marburger Rationalismus. Ich lehne dankend ab. Dagegen steht wohl der Rationalismus der Firma Mosse fest, höchstens der Ullstein dürfte einen noch rationelleren Betrieb haben, und der Wolff ergänzt das allzu einseitige Rationalistische des Inseratenteils und bringt den Idealismus hinzu, indem er behauptet, daß er die Hände fromm falte, wenn der Kaiser ins Feld zieht, und daß ihm das Herz weh tue, wenn die Kathedrale von Reims beschossen wird – und so haben wir schließlich wohl den deutschen Geist am besten im Berliner Tageblatt verkörpert, weshalb Herr Professor Cohen auch zuweilen ein Feuilleton dafür schreibt. Professor Hermann Cohen hat ein dickes System der Ethik geschrieben, dazu bin ich nicht imstande, aber ich weiß mit Evidenz, daß es unter Umständen – im Fall einer Kollision – ethischer ist, kein Feuilleton für das Berliner Tageblatt, als ein System der Ethik, und wäre es das vollkommenste, zu schreiben. Das weiß ich mit Evidenz und verfechte es gegen eine Legion von Geheimräten. Vielleicht nimmt der Herr Professor diese Erkenntnis noch in einen Paragraphen oder als illustrierende Anmerkung zu einem Paragraphen seines Systems auf. Oder kommt vielleicht später ein schlauer Privatdozent daher und erklärt mir bereits professoral und echt sombartisch, daß ein Unterschied sei zwischen der Wissenschaft der Ethik und ethischem Handeln. Nun ja, ist es denn aber überhaupt möglich, diesen Unterschied nicht zu sehen? Dann weiß ich eben, daß es heute Wissenschaften gibt, die zu jenen unnützen Worten gehören, für die man Rechenschaft ablegen soll. »In der Dichtung des Dramas haben die Deutschen vielleicht nicht den höchsten Gipfel erreicht.« Vielleicht, vielleicht. Das kann jeder sagen. Ich will es genau in dieser großen Zeit wissen. Haben sie, haben sie nicht? Wozu ist man denn Professor, Geheimrat, gar?! »Aber das Eigentümliche der deutschen Poesie liegt in der Lyrik.« Professor Cohen hat nicht bloß ein System der Ethik, sondern auch ein noch dickeres der Logik geschrieben. Aber es ist eine der gangbarsten Erfahrungen – und in diesem Krieg konnte ihr niemand entgehen –, daß diese Logiker innerhalb ihres Systems und in den Hörsälen infinitesimale Schrittchen machen, um ja nicht zu irren – auf einem Irrweg! –, sobald sie aber ins Leben treten, die mutwilligsten Kapriolen schlagen, Purzelbäume machen und auf die Nase fallen. Wie lautet der Obersatz? Deutsch ist die Verbindung von Rationalismus und Idealismus. Nun kommt ein Untersatz: »Das Eigentümliche der deutschen Poesie liegt in der Lyrik.« Daraus ist zu folgern – modus Datisi: Die Lyrik ist eine Verbindung von Rationalismus und Idealismus. Oh, thou sweet poetry! » Sehnsucht als Grundgefühl der Liebe, das ist es, was die deutsche und namentlich Goethes Lyrik ausmacht.« Das ist nun eine neue Bestimmung. Wenn die Sehnsucht das Grundgefühl der Liebe ist, und – wohlgemerkt – beide zusammen eine Verbindung von Rationalismus und Idealismus, sonst wären sie ja Ausländerei, – ich treibe nur Logik, – wenn die Liebe nicht sich selber genügt, dann waren alle die Liebenden und vor allem Goethe betrogen, die meinten, daß die Liebe alles sei und nichts mehr bedürfe, und Christus war nicht Gottes Sohn, da er lehrte, daß Gott die Liebe sei, denn die Liebe ist nicht das letzte und hat zum Grundgefühl die Sehnsucht, sagt der Herr Professor. So ist Gott die Sehnsucht, wahrscheinlich die Sehnsucht nach dem collegium logicum bei Professor Cohen. »Allein die Wahrhaftigkeit, das Eigentümliche des deutschen Geistes, wird uns nicht vererbt. Wir müssen arbeiten und kämpfen, um dieses Gut nicht zu verlieren. Nur so können wir, wie Fausts letzte Worte lauten: ›auf freiem Grund mit freiem Volke stehen‹.« Das ist nicht einmal philologisch exakt. Faust hat noch ein paar Worte dazu gesagt, ehe er starb. Aber auch die sind nicht seine letzten Worte. Ich lasse es mir nicht nehmen, daß die letzten Worte des Chorus mysticus auch Fausts, auch Goethes letzte Worte und also Gott sei Dank keine nur politischen sind. Davon will die reine Logik freilich nichts wissen. Mit dem Tiefbauingenieur Faust kann sie sich zur Not noch verständigen, aber wenn einer von Erlösung, Gnade, Fürbitte Gretchens und solchen vieldeutig irrationalen Vorgängen redet, dann graust's der Logik in Marburg, wo die Mühlen leer klappern, denn es ist kein Korn da, und brächte einer Korn, es zerrisse nur ihre Mühlen. Ich hab' etwas auf dem Herzen, bei dieser Gelegenheit kann es heraus. Ich muß es endlich einmal sagen: dem Liberalismus, dem Rationalismus, dem Monismus, auch dem korrelativen, die doch sonst wahrlich mit Goethe den grauenvollsten Unfug treiben, ist der Schluß des Faust im tiefsten Grunde verhaßt. Hier sind sie doch alle einig, alle die, welche zusammengehören, wiewohl sie hie und da die Welt noch mehr verwirren, indem sie kindisch gegeneinander polemisieren, etwa der Kerr gegen den Harden, der Sänger gegen den Sombart: es gibt doch wirklich nichts Überflüssigeres. Die stilleren, besseren, die Professoren wie Cohen, werden verlegen, die Schreier kriegen die Gichter, und der Abschaum wird frech. Zum Teufel, heißt das ein deutscher Mann sein – sagt der Harden – der am Schluß seiner Laufbahn zu Gott flüchtet, zum Heiligen, statt in die Zukunft oder – sagt der Wolff oder der p. s. – potz Schlendrian, in den Fortschritt des Berliner Tageblatts. Nur der Mauthner grinst verstehend: »Kunststück! Poet halt, mache mer auch!« und läßt Helden und Genius mauscheln im Himmel. Wenn der Geist des Berliner Tageblatts nach diesem Kriege siegt – und er wird siegen! –, wird er in spätestens 150 Jahren einen philologischen Heros erzeugt haben, der natürlich A. A. S. Meyer-Meyer heißt und der nachweisen wird, daß der Schluß des Faust apokryph ist, untergeschoben von einem der Dunkelmänner, die noch im Anfang des 20. Jahrhunderts, ausgestoßen aus dem Geschlecht, von Professor Cohen der Ausländerei bezichtigt, ein schmählich-klägliches Dasein führten.

 

Man kann jetzt mancherlei im Kino sehen, z. B. die Beerdigung gefallener Krieger. Es geht alles ordnungsgemäß von statten. Die Lippen des Geistlichen bewegen sich, er hält also die Rede; dann wirft er drei Handvoll Erde in das Grab. Und jeder der rings herumstehenden Soldaten tritt näher und wirft auch eine Handvoll Erde ins Grab. Alles geht ordnungsmäßig von statten. Keiner hebt einen Stein auf, um ihn auf den Kerl zu werfen, der da kurbelt. Die Krieger nahmen die Segnungen des Friedens mit in den Krieg, so werden sie nicht erstaunt sein, wenn sie wieder zurückkommen, und alles in üppigem Wachstum wiederfinden. Und doch wird dieser Film sofort zu einer hochanständigen Vorführung, ja fast zu einem Gottesdienst, wenn man jenen gesehen hat, der die letzten Minuten eines Spions vor der Vollstreckung des Urteils darstellt. Ist auf Gottes weiter Erde solches möglich? Jawohl, in einem einzigen Land, und der Photograph behauptete sogar, daß der Film mit Erlaubnis des k. k. Kriegsministeriums aufgenommen worden sei. – Es war ein langer Weg, den der Spion zum Galgen gehen mußte, an vielen kahlen Häusermauern vorbei und durch dunkle Höfe. Ein junger Offizier zündete sich eine Zigarette an. Neben dem Spion, der zum Galgen ging, schritt mit kleinen Schritten der Pfarrer, der Vertreter Christi auf Erden, im Ornat, ein römischer Pfarrer. Und er machte ein zufriedenes Gesicht, wie einer, der eben von der Mahlzeit kommt. Als sie aber nur noch wenige Schritte vom Galgen entfernt waren, da gebot ihnen der Kinooperateur Halt. Und sie hielten. Und der Spion, der in der nächsten Minute die weite Erde nicht mehr sehen sollte, mußte sich vor den Apparat eines Photographen stellen. Und er sah in den Apparat – er sah in den Saal auf alle die Menschen und auch auf mich, und zuweilen im Traum noch sehe ich seinen Blick. Aber auch alle die andern sahen in den Apparat. Und auch der Pfarrer; der neben dem Spion stand, der Vertreter Christi auf Erden, im Ornat, ein römischer Pfarrer, sah in den Apparat. Doch muß ich zur Ehre des Publikums sagen, daß ich nicht der einzige war, den das Grauen das Herz frieren ließ. Neben und über meinem eigenen spürte ich das Grauen des ganzen Saales. Was aber und wie viel muß einem Kinopublikum geboten werden, damit es den Atem anhält und starr wird vor Entsetzen. Aber es wird geboten Die in diesem Abschnitt kursiv gedruckten Stellen wurden bei dem ersten Erscheinen der Mehrzahl dieser Aufsätze im Brenner-Jahr-Buch Sommer 1915 von der k. k. Zensur unterdrückt..

September 1915

Die Satire ist Monolog; diese Eigenschaft hat sie fast gemeinsam mit der Predigt des berufenen Predigers, die keine Diskussion zuläßt. Mag die Polemik die Replik fordern, Satire ist immer Monolog. In noch höherem Maß fast als die Lyrik ist sie immer geistige Form, die einmal da, ihr Inhalt selber ist, von ihr wahrlich schwerer zu trennen als die Seele vom Leib. Der Satiriker ist der reifere, um eine Dimension wissendere [darum hat er nicht bloß das Pathos, sondern auch die Komik] Bruder des Lyrikers: den zieht die Geliebte hinan, jenen – ach, ihn auch! – jenen stößt der Herr Mauthner ab. Beider Mittel ist die Sprache in ihrer Ganzheit, ohne Nebenzwecke, wie sie der Dramatiker hat, vom Romanschreiber gar nicht zu reden. Zu Quelle und Ursprung der Sprache dringt nur die Lyrik, denn sie ist selber Lyrik, den Schutt aber der Welt, der sie begräbt, verbrennt nur die Satire. – Der Weg des Lyrikers ist kürzer, aber der ist doch wie ein Schlafwandler. Kreischt die Welt, so fällt er; der Weg seines Bruders ist steiniger und länger, aber wenn er am Ziel ist, fürchtet er keinen Überfall mehr. Wie der Jüngling schöner ist als der Mann, so sind die Verse Vergils schöner als die Verse Juvenals. Aber es gibt Männer, in denen der Jüngling plötzlich die Augen wieder aufschlägt, und es ist wie ein Wunder, und es gibt Verse Juvenals, in denen alle Lyrik der römischen Sprache sublim und majestätisch ertönt, und es ist wie ein Wunder. – Polemik ist dialogisch, Satire ist immer Monolog. Bei der Polemik kann es sein, daß der eine Wertträger die Replik nicht geben will oder kann, aber das ist dann auch eine; gegen die Satire kann der »andere« nichts sagen; sagt er auch noch so viel, er ist immer nichtssagend.

Nach diesem Gesetz haben sie denn auch gehandelt, d. h. geschwiegen, die im Brenner-Jahrbuch standen. Mit einer Ausnahme. Herr Blei hat Pech mit meinen Schriften. Sie könnten ihm ganz gut schmecken, wenn er nicht immer auf einen Fremdkörper stieße, der aber sein eigenes Moi ist. Das ist unangenehm, wie wenn man in einem delikaten Hasenbraten plötzlich auf ein Bleikügelchen beißt. Das kann ich nachfühlen. In der »Aktion« also [Aug. 1915, Nr. 33/34] steht eine Erwiderung Bleis, deren Kern wohl dieses ist:

»Ich habe einer Frau, der allein das zu tun einfiel, auf ihr Ersuchen geholfen, Papier, Druckschrift, Zeichner auszusuchen. Wie Sie sich mich denken, faßt mich Begeisterung, wenn ich von ›Eleganz‹, ›Chick‹, von Damenhüten, überhaupt von Damen höre ... Mir sind diese Dinge, mitsamt der ›Erotik‹ und der sonstigen Berliner ›Kultur‹ immer außerordentlich wurscht gewesen. [Zitieren Sie mir nicht meinen Irrtum des ›Amethyst‹ und nicht den Studentenunsinn des ›Lustwäldchen‹.] Diese Wurstigkeit der Mode hindert mich nicht, daß ich mit meinen paar drucktechnischen Kenntnissen einer Modenzeitung helfe, für ein wenig Geld, lieber Herr, für das wenige Geld, das ich nötig habe, um mit meinen drei Angehörigen ganz bescheiden zu leben, ohne Auto und Sommerreise und Bad. Sie bezahlen Ihr Mittagessen gewiß nicht aus dem Einkommen Ihrer beiden Kierkegaardschriften ... Aber Sie sind vielleicht Weinreisender oder Versicherungsagent und schaffen sich auf diese Weise das, wovon Sie Nahrung, Wohnung, Kleidung bezahlen. Oder Sie leben von einem Erbe, das der Vorbesitzer vielleicht erwuchert hat ... Kaufmännisch gerissen, wie ich bin, zog ich es vor, für sehr wenig Geld einige gute Bücher zu übersetzen ... so Laclos und Suarès und Beckford und Thomas a Kempis. Auch blödsinnige Sachen in dümmsten Stunden zu machen, wie dieses alberne Anthologie-Lesebuch ...«

Es wäre nun zwar für meine These vielleicht angebracht, tiefer zu forschen, ob Herr Blei bloß als beratender Buchtechniker der Modedame geholfen hat oder nicht auch als schreibender Modephilosoph – hier hat das Wort seine eigentliche Bedeutung –, indem es nämlich Aufsätze von einem Nikodemus gibt. Aber dieses Pseudonym ist ein Riegel. Es wäre stillos, daran zu rühren. Das Geheimnis des Nikodemus soll man achten und nicht zu ergründen suchen, einerlei, ob er ein Mensch unter den Pharisäern, ein Oberster unter den Juden, nachts zum Herrn geht, um ihn über das ewige Leben zu befragen, oder ob er umgekehrt, ganz laut und bei Tag ein Christ der Imitatio, nur heimlich zu den Juden geht, um mit ihnen über die Mode und Buchtechnik, also über das zeitliche Leben zu reden. Man soll daran nicht rühren. Auch muß ich schon sagen: Wenn Herr Blei so glatt sich selber wegradiert, wie in dieser Antwort, dann bin ich ja überflüssig geworden, dann habe ich auch nichts mehr gegen ihn, denn ich habe selbstverständlich nichts gegen das Nichts, das sich für nichts ausgibt, sondern nur etwas gegen jenes, das als Etwas erscheinen will. Freilich, die Fragen hören so leicht nicht auf, so könnte man auch da noch immer fragen, ob auch die Verantwortung für nicht ganz ungefährliche Bücher – im Sinn der Imitatio nämlich! – so leicht wegzuradieren oder dadurch abzuschütteln ist, daß man sagt, sie seien einem »wurscht«. Aber dieses glaub' ich ihm gar nicht. Er prüfe sich nur noch einmal auf Herz und Nieren und anderes, ob ihm die Erotik »wurscht« ist, und er sage sich doch, daß es sympathischer und namentlich viel weniger verwirrend ist, mit Ernst und Leidenschaft Erotik und Spiel zu frönen, als spielend und literarisch den Ernst und die Inbrunst des Thomas a Kempis zu betasten. Das nämlich ist der Kern meiner Polemik und Satire. Aber zuerst etwas von dem des Herrn Blei. Also zuerst etwas Wirtschaft! Und da höre ich denn das Plätschern jenes Tonfalls, gegen den ich im bürgerlichen Leben vollkommen wehrlos bin, der mich weich macht wie Butter: Jedem ein Häuschen und ein Heimgärtchen und eine Rente, und ich tu's nur für meine Familie, und du hast gut reden, du brauchst nicht zu hungern, und wer weiß an meiner Stelle würdest du auch so oder noch ganz anders handeln ... Ach, wie von Herzen gern sähe ich jeden, auch Blei, auch mich, im Besitz einer Villa und Rente, damit jenseits solcher Argumente der rechte Kampf erst beginnen könnte. Nie hat Herr Blei Wahreres geschrieben, als da er sagte, daß ein Mensch wohnen, essen, trinken und also Geld haben oder verdienen muß. Und er hat auch ganz richtig erraten, daß ich vom Ertrag meiner Schriften nicht leben kann, also entweder Geld haben oder verdienen muß. Streiten könnte man höchstens über den Geschmack, mit dem oder besser ohne den Herr Blei diese Wahrheiten anbringt, eine, da es sich um den arbiter elegantiarum handelt, vielleicht auch nicht unerhebliche Frage. Ich will nicht ungerecht sein, ich will in diesen Dingen keine Zweideutigkeiten aufkommen lassen. Es ist so, daß ich Arbeit und Verdienst, die mir Möglichkeit zu Studium und Schreiben geben, einem Ausnahmezustand verdanke: der Jugend- und Mannesfreundschaft eines Verlegers. Wäre das nicht so, was dann? Weinreisender? Versicherungsagent? Wiewohl diese Berufe dem der Pornographie vorzuziehen sind, kämen sie wegen meiner vollendeten Talentlosigkeit dazu nicht in Betracht. Aber vielleicht Buchhalter, was ich schon einmal war? Vielleicht Buchhalter bei Mosse oder S. Fischer sogar?! Sehr wohl, das ist zu denken, aber was ich mir schlechterdings nicht denken kann, das ist, aus Not ein »Führer des Geistes« der Neuen Rundschau oder des B. T. werden zu können. Hier ist das discrimen und nirgends anders. Ich ertrage zur Not ein unaufgeräumtes Zimmer, ein schlampiges Essen, ein ungemachtes Bett mit der Geduld eines Russen, aber im Geist müssen die Dinge an ihrem Platz stehen, sonst werde ich krank und grob. Es ist meine wohlüberlegte Meinung, daß ein Weinreisender, der nur Weinreisender ist, und nicht durch eine verdammte Perversion auch Lyriker, wie der Herbert Eulenberg, und solange er die seinen Beruf treffende ethische Forderung, daß er nämlich echten Wein und nicht geschmierten verkaufe, erfüllt, unendlich erhaben ist über den Propagator der Affenphilosophie Mauthners, trotzdem er sich vielleicht vor diesem, um ein Geschäft zu machen, mehrmals verbeugen muß – es ist meine wohlüberlegte Meinung, daß ein Versicherungsagent, wenn er nur Versicherungsagent ist und nicht zu gleicher Zeit Feuilletons unter dem Pseudonym Emil Ludwig schreibt und die Versicherungsgelder nicht unterschlägt, mit aufrichtiger Verachtung herabsehen könnte auf das Gewerb des Herrn Bahr, der sich am Gral besäuft – diese Butzel! –, um in einem faulen Prozeß gegen Ronacher als Heiliger zu bestehen – das alles ist meine wohlüberlegte Meinung. Ja mehr noch. Ich kann mir denken, daß etwa ein Pfarrer, dem es Ernst ist mit Gott, aus Ekel vor den reisigen und rissigen Hirnen, die Schwertsegen in der ordinärsten Sprache der Welt schreiben und, begabt mit der fragwürdigsten Gesinnung der Welt, von der Kanzel herab in Predigten den Haßgesang des Herrn Lissauer variieren, sein Amt niederlegt und, ohne Unterstützung, aus Not, zum Weinreisenden wird, vielleicht, weil er mit den Kunden trinken muß, als Säufer im Delirium stirbt – und trotzdem am Tage des Gerichts vor dem Stuhle steht in größere Gnaden gehüllt, als die Exzellenzen, Oberkonsistorialräte und Oberhofprediger, die man mit Salven zu Grabe trägt. Das muß so gut möglich sein, wie es denkbar ist, daß ein Hanswurst im Schutze von Engeln seine Kalauer macht, während zur selben Zeit einer im Ornat im Dienste Satans den Segen der Apostel spricht. – Ich kann mir vorstellen, daß ein Denker im seligen Umgang mit einem Gedanken den maschinellen Phrasenbetrieb bei dem Gschwerl von Privatdozenten nicht mehr aushält, und weil er nichts anderes kann und hat, aus Not und »um des bißchen Geldes willen« Versicherungsagent wird. Ich kann mir vorstellen, daß eines solchen Mannes Gedanken, oder wenn nicht sie, so doch seine reine Verliebtheit in seine Gedanken ewig bewahrt und aufgehoben bleibt im Geiste, wenn alles geheimrätliche Gefasel dieser Tage längst zu seiner Heimat, zum Wesenlosen, zurückgekehrt ist. Das sind so die Vorstellungen, die ich von den Möglichkeiten der Verbindungen von Geist und Wirtschaft heutigentags habe. Und die Anwendung. Ich erkläre, daß mein Verdacht, Blei könnte auch mit Bildern handeln, nicht eine Information ist – er suche sich einen heute Schreibenden, der so vor »Informationen« geschützt ist wie ich –, sondern eine Deduktion, von der ich viel mehr halte. Am Anfang und am Ende meiner Schriftstellerei steht die Anschauung – principium et finis – dazwischen aber lebe ich reichlich von Deduktionen. Und zwar souverän! Ich schalte und walte mit ihnen, wie der absoluteste Autokrat, ja zuweilen fast wie ein alter Hegelianer. Sogenannten Tatsachen, die sich für anderes ausgeben, die zufällig anders erscheinen, als sie ihrem Wesen nach sind, sehe ich so lange ins Gesicht, bis sie ihr Versehen oder ihren Betrug reumütig eingestehen. Wenn mir also einer beweisen würde, daß Blei niemals mit Bildern gehandelt hat, so würde ich sagen, daß Blei ein Pechvogel sei. Wenn Blei mir sagt, daß Damen und Damenmode ihm »wurscht« seien, dann möchte ich ihm beschwörend zurufen: »Erkenne dich selbst!« Ich will ihm wohl, nicht jeden würde ich in meinem platonischen Staat so gut behandeln wie ihn. In allem Guten will ich ihm nur die Beschäftigung mit Thomas a Kempis ausreden, und auch nur die öffentliche, publizistische natürlich, ganz und gar nicht die private, medizinische – er aber will mich nicht verstehen und dreht die Sache um, als wollte ich ihm die Damen und die »Erotik« vorwerfen. Nicht so, nicht so! Er Pfuscher, er störe mir doch nicht so meine Kreise! Auch macht er sich schlechter, als er ist. Und warum? Er kann nicht lesen, er liest schlecht, das tun alle die, welche schlecht schreiben. Das hängt eng zusammen. Alle würde ich sie noch einmal in die Schule schicken, damit sie erst lesen lernen.

Ich lebe souverän von Deduktionen. So behaupte ich, daß der wahrhaft Liebende von dem Gegenstand seiner Liebe entweder gar nicht – aus Scham – oder ergriffen redet und schreibt. Die stärkste Ergriffenheit aber verlangt das Göttliche und die Liebe zu ihm. Nun ward mir die Gabe geschenkt, den Liebenden zu erkennen und seine Sprache, zu unterscheiden, ob einer ein Liebender ist oder ein Literat, und diese Gabe habe ich noch bis in die abstraktesten Wissenschaften, so erkenne ich noch den Liebenden in der Sprache Husserls, der verliebt ist in die Logik, die sich ihm deshalb auch zu erkennen gab. Das ist mein Weg und mein Kampf und mein Ziel –: ich habe keine Ruhe, ich räume alles weg, verbrenne alles, bis ich auf den Liebenden stoße und auf den Ergriffenen. Er allein, sonst keiner, kann mir die Waffen aus der Hand schlagen, ihn grüße ich, vor ihm verneige ich mich, wo immer ich ihn treffe. Wenn ich aber einen treffe, der vom Göttlichen innerlich unberührt und nur mit jenem selben »Geschmack« redet, wie von den »Damen« oder der »Erotik«, von denen er selbstmörderisch behauptet, daß sie ihm wurscht seien; mit demselben Geschmack, so daß man nur die Namen vertauschen dürfte, um das eine für das andere gelten zu lassen, dann behaupte ich a priori, daß dieses Schriftstellers Übersetzung der Imitatio Christi wesentlich grauenhaft falsch sein muß. Das behaupte ich a priori und souverän, ohne die Übersetzung gelesen zu haben. Ich behaupte, daß es unter solchen Umständen für diesen Schriftsteller besser wäre, sich für die Reformation der Damenmode ehrlich einzusetzen, als die Imitatio zu übersetzen und sich dabei ungefähr ebensoviel zu denken wie bei einem Satz des Herrn Maurice Barrès oder bei seinen eigenen, wie etwa diesem: »Was man Frieden nennt, ist nur die Zustandsbenennung antagonal dem äußersten andern Zustand, welcher der Krieg ist« – einem Satz, der in einer begeisterten Zeit, in einer großen Zeit, ja aus der Not der Zeit geboren, geschrieben und in der führenden geistigen Monatsschrift Deutschlands gedruckt worden ist. [Es ist übrigens unerfindlich, wie Herr Blei mich auffordern kann, ihn zu lesen: ich zitierte ihn ja immerzu!] Er überlege es sich also noch einmal genau. Wie soll ich, der ich begeistert bin für den Satz vom Widerspruch, ihn in meinem Staat, in dem es nichts Gemeines gibt, also z. B. kein B. T. und keinen Mauthner, zum Damenschneider bestimmen, aber gleich darauf es für eine Gemeinheit erklären, wenn er wirklich Damenschneider geworden ist. Nein, nein, er soll es ja sein. Und käme ihm nicht manches zustatten?! Z. B. auszusehen oder aussehen zu wollen wie ein Abbé vom Hofe des Régent, ist nun einmal heute im Leben, ja sogar in der Literatur ein Anachronismus, in der Damenkonfektion dagegen eine nouveauté, ja vielleicht sogar eine – création.

 

Der liberale Professor Leopold v. Wiese, Professor des phantastischesten aller phantastischen Fächer dieser wissenschaftlichen Zeit, die an der Wasser- und Fettsucht der Phrase und an der Schwindsucht und Auszehrung des Geistes leidet, also Professor der Nationalökonomie, vergleicht den 80 Jahre alt gewordenen Professor Exzellenz Adolf v. Wagner mit – Moses.

»Deshalb sollte man ihn heute als den Patriarchen unseres Volkes feiern ... Wie Moses kann er heute vom hohen Berggipfel in das gelobte Land der Zukunft hinabblicken, zu dem er sein Volk rastlos zu führen bestrebt war. Möge er, glücklicher als Moses, mit uns nach dem Frieden in die gesegnete Ebene hinabsteigen, damit wir auch dann zu ihm treten und sprechen können: Sage uns, wie du es meinst, auf daß wir das Rechte tun.«

Ob die Ebene, in die wir hinabsteigen werden, gerade gesegnet oder gar das gelobte Land sein wird, muß man erst abwarten. Moses hatte die Verheißung des allmächtigen Gottes, aber ich habe nie etwas davon gehört, daß Exzellenz v. Wagner oder gar Professor v. Wiese eine erhalten hätten, auf die wir so ohne weiteres bauen dürfen. Der Vergleich des Prof. v. Wiese ist aber auch kein Scherz, oder ein Geburtstagstoast im Stil einer, wenn auch geschmacklosen, Kneipzeitung, er ist Ernst, er ist der Ernst, der zu dieser großen Zeit gehört, und steht deshalb im Feuilleton des B. T. Was ist da zu tun? Eigentlich müßten ja alle die Freunde des greisen Gelehrten wie ein Mann aufstehen und den Professor v. Wiese zur Ordnung und zur Nüchternheit rufen. Ist es vielleicht nicht ein klarer Satz, daß der ernsthafte Vergleich eines Sterblichen mit einem Unsterblichen, ja einem Auserwählten Gottes nicht so sehr eine Beleidigung des Unsterblichen oder gar des Auserwählten Gottes ist, als vielmehr die ärgste, die absolute, die objektive Verhöhnung des Sterblichen? Man wird sagen, diese Professoren und Führer wissen nicht, was sie tun und sagen. Gewiß wissen sie es nicht, sie sind ja immerzu betrunken, von Phrasen betrunken. Aber wenn einer, der als Führer auftritt, und das tut ja dieser Professor, und in der Trunkenheit einen Unsinn macht, dann ist freilich nicht dieser Unsinn, sondern die Trunkenheit das eigentliche Delikt. So gilt das im Krieg, und wir haben ja Krieg. Kann denn das Leben auf die Dauer so weitergehen? Der Mensch ist ein zusammengesetztes Wesen, er lebt nicht vom Brot allein, auch nicht allein von dem lebenden Käsebrot des D. Naumann: er lebt auch vom Geist und vom Absoluten. Ist die Verbindung mit ihm abgebrochen, so läuft zwar die Maschine, die der Geist erschaffen hat, noch eine ganze Weile von selber weiter. Warum denn nicht? Aber einmal hört es dann doch auf. Wenn die Dinge im Geist nicht mehr an ihrem Platze stehen, dann hilft es auch nichts, daß Schreibtisch oder Speisekammer in Ordnung sind, denn die sind ja schließlich auch nur deshalb in Ordnung, weil einmal die Dinge im Geist an ihrem Platz standen und gelassen und nicht heruntergerissen wurden in die Schwemmlokale des B. T. Diese ideenlosen, geistig längst bankerotten, den »Meinungen« der Presse unterworfenen europäischen Staaten sind ja auch nicht mehr imstande, einen »wahrhaften Krieg« zu führen, sondern sie können nur noch – der Papst hatte den Mut, dies öffentlich zu sagen – ein »Gemetzel« veranstalten, ein so ehr- und sinnloses Gemetzel, wie es eben der Idee eines bestialischen Phrasenautomatismus entspricht. Und das alles geschieht, weil diese europäischen Staaten und Kirchen seit Generationen schon ruhig zusehen, wie Räuber und Diebe am Wort und an der Sprache oder im besten Fall Schwachköpfe alle absoluten geistigen Sinne und Bedeutungen meuchlings ermorden und, selber Kastraten, an der Universität auch noch die Jugend kastrieren, die Jugend, die doch aus der Hand des Schöpfers nach wie vor, denn Gott ist unveränderlich, mit der Anlage zum Geist und dem Hunger nach dem Brot des Geistes hervorgeht und hervorgehen muß.

 

Das muß man sagen, die Sehnsucht dieser Zeit nach einem Mann ist groß, so groß, daß sie ihr Genügen schon in einem blutleeren, baren Nominalismus findet. Wie anders könnte ich es mir sonst erklären, daß die Naumann, Stresemann, Zimmermann, Bassermann, Wassermann, Kellermann, Mannesmann [Die Potenz! Ich fürchte manchmal sogar, die Deutschen sterben lieber für Mann und Mannesmann, als für Kind und Kindeskind!] und Mann schlechthin [die Wurzel] – berühmte Männer geworden sind!

 

Was nun aber die Behauptung des Herrn Oberhofpredigers anlangt, daß »die Person des Herrn jetzt ganz entschieden vielleicht richtend durch die Welt schreitet«, so bin ich der Meinung, daß das »Vielleicht« dem »Ganz entschieden« ganz entschieden schadet, und umgekehrt das »Ganz entschieden« dem »Vielleicht« das Dasein nicht leicht, sondern recht schwer macht, so daß es vielleicht besser gewesen wäre, ganz entschieden zu sagen, ob die Person des Herrn bloß vielleicht richtend oder ob er ganz entschieden richtend durch die Welt schreitet, wenn anders die potsdämliche Meinung nicht eine noch viel kompliziertere ist, nämlich: daß die Person des Herrn ganz entschieden jetzt durch die Welt schreite, aber nicht ganz entschieden sei, ob er auch richtend durch die Welt schreite, da er vielleicht nicht richtend durch die Welt schreitet – oder noch viel komplizierter: daß nämlich das »Vielleicht«, daß die Person des Herrn jetzt richtend durch die Welt schreitet, ganz entschieden ein Vielleicht sei, so daß es nicht nur vielleicht, sondern ganz entschieden niemals ganz entschieden entschieden werden kann, ob die Person des Herrn nicht bloß vielleicht, sondern ganz entschieden richtend durch die Welt schreitet. Und in diesem Fall wäre freilich der Probabilismus kein asymptotischer Marsch mehr, sondern das Absolute selbst [wenigstens das Hegelsche] und die neudeutsch preußische Kirche hätte eine famos zum Krieg passende Theologie, indem sie statt ja –: ganz entschieden vielleicht ja sagt, und statt nein –: vielleicht ganz entschieden nein.

 

Wenn ein Quartaner in seinem Aufsatz sich so konfus ausdrückt wie der Reichskanzler in einer großen Rede, die die ganze Welt liest, dann muß er vortreten und erklären, was er eigentlich gemeint hat und wie der Satz konstruiert ist, und ob man denn einen »Plan Lug und Trug« nennen kann. An ihrer Sprache soll man sie erkennen. Das Studium ist beschwerlich, zeit- und nervenraubend, aber am Ende steht auch die Erkenntnis. Wie konfus muß es in einem solchen Hirn aussehen, das wohl nur, weil es so gut gepanzert ist, die Verantwortung für eine halbe Million Tote so leicht übernimmt. Was für ein schlottriger und klappriger Gesell muß der Gedanke sein, der in entscheidender Stunde nach tagelanger Vorbereitung nur so schiefen und hinkenden Ausdruck findet! Und die Versammlung von erlesenen Vertretern der allgemeinen gleichen und direkten Mittelmäßigkeit vertagte sich, nicht, um der Bedeutung der Sätze nachzusinnen, sondern aus Bewunderung für die Schönheit der Rhetorik. Die Identität der Ereignisse und der Sprache stellte sich sofort dadurch heraus, daß am selben Tage die Oberste Heeresleitung offiziell berichtete: »Wir zogen unsere Truppen zurück, um nicht unnützes Blut zu vergießen.« Es ist möglich, daß es einiges unnützes Blut gibt; so hört man, daß sich im Hauptquartier so unnütze Literaten wie der Paul Goldmann herumtreiben, so unnütze – dem geistigen Leben nämlich – Dichter wie Ganghofer, Kellermann, Schmidtbonn und das ganze nicht bloß unnütze, sondern schädliche Reporterpack. Nun gibt es Weltanschauungen, die behaupten, daß man unnützes Blut lieber heute als morgen vergießen soll, ohne sagen zu wollen, daß man Blut unnütz vergießen soll. Meine bescheidene Meinung ist die, daß man nicht nur Blut, sondern sogar unnützes Blut nicht unnütz vergießen soll, eine Privatmeinung, die ich natürlich der Obersten Heeresleitung nicht oktroyieren kann; sie tut das Gegenteil und ist die Weisheit der Welt. Wenn aber die Herren einmal soweit sein werden, daß sie auch das ABC vergessen haben, will ich gerne bereit sein, ihnen die Anfangsgründe der Grammatik wieder beizubringen. Wenn der Krieg noch lange dauert, sehe ich die Zeit voraus, daß am Reichskanzlerplatz nur noch gelallt und in der Obersten Heeresleitung nur noch addiert wird, die Leichen nämlich; bei der Quantität ist das auch keine Kleinigkeit, und die Menschheit wird zur Rechenmaschine. An ihrer Sprache sollt ihr sie erkennen! Die gute Europa hat Denken und Sprechen verlernt, sie verwechselt die Adjektiva mit den Adverbien. Sie redet noch wie ein Papagei. Stimmt's, ist's gut, stimmt's nicht, ist's gleich! Sie ist wie die Mumie in Strindbergs Gespenstersonate: sie kann einige Lieder pfeifen aus alten Tagen und hohe Worte plappern. Die gute Europa ist eine alte Vettel geworden, sie denkt nicht mehr, sie stinkt; sie verwechselt das nämlich, weil es ähnlich klingt, sie fügt eben die Worte schon lange nach ungefähren Lautassoziationen zusammen, wie die echten Paralytiker, und lebt trotz Blut und Leichen in euphorischen Zuständen, wie die echten Paralytiker; der Sinn ist längst beim Teufel, der darüber sehr zufrieden ist. Die gute Europa ist alt geworden, schwach und ausgestorben in ihren Instinkten. Sie weiß nicht mehr, was man essen und trinken kann. Aber sie weiß sich zu helfen mit der Wissenschaft. Zwar wäre es vielleicht einfacher, sie ginge zu den Kühen und Ochsen und allerlei anderem Getier auf die Felder in die Lehre, um die Anfangsgründe wieder zu erlernen. Aber wenn es die Wissenschaft auch kann! da läßt sich der Fortschritt nicht lumpen, sondern er läßt sich's was kosten. Wozu haben wir denn die Chemie? So entdeckte der Geheimrat Freudenthal, daß man in diesem Jammertal das Stroh nicht essen kann. Wenn er jetzt auch noch entdeckt, daß man Tinte nicht trinken kann – was ja ohne den Konsensus der Chemiker für uns Ignoranten dahingestellt bleiben muß –, dann schlage ich vor, daß man ihm den Orden Pour le mérite gibt und anbetend auf die Knie sinkt vor dem Triumph des Fortschritts, der nun endgültig und ein für allemal entdeckt hat, daß man Stroh nicht essen kann!

Oh, wir müssen hart mitbüßen, die noch einen Funken des Geistes in Herz und Hirn haben, wir müssen hart mitbüßen, daß gleich nach Bismarcks Tod die gigantischesten Dummköpfe der Weltgeschichte dem großen Volk an jeder Grenze eine Feindschaft schufen. Nescis, quam parva intelligentia regitur mundus, galt noch für den Kanzler Oxenstjerna, wir haben die intelligentia überhaupt ganz gestrichen, auch die parva. Wir müssen hart büßen. Delirant reges, plectuntur Germani. – Wäre es schon schwer, den Verstand zu behalten, wenn man als lebendiger Mensch in die Räume einer gut funktionierenden Fleischhackmaschine als mögliches Futter geriete, so will das doch noch nichts heißen gegen unsere Aufgabe: als lebendiger Mensch in eine verhexte Fleischhackmaschine zu geraten, die wie in einem bösen Traum mit souveräner Verwandlungsfähigkeit sich plötzlich in einen Tagesbericht verwandelt, der die Wörter verwechselt, dann in den Ganghofer, der Bauchweh hat und auf den Abtritt geht, dann in einen Pfarrer, der Moloch mit Christus verwechselt, dann in einen Professor, der von einem Papagei, welcher ein Wort Fichtes schnarrt, nur durch seine Häßlichkeit sich unterscheidet, dann in einen Wucherer, der aus dem Blut der Schlachtfelder Gold macht, dann in einen Kronprinzen, der begeistert ist für die 50. Aufführung der Lustigen Witwe und zusammen mit Presber das Wort »Immer feste druff« prägt, um dann wieder die präzis arbeitende Fleischhackmaschine zu werden. Da heißt es aufpassen, da gehört ein gesundes Hirn dazu, um das alles zusammenzudenken. Nicht zu denken, ist freilich keine Kunst. Ich habe die Geisteskraft, einen unwahrscheinlichen bösen Traum mitten im Schlafe zu unterbrechen, ihn anzuschreien, ihn mir von der Stirn zu wischen, und aufzuwachen. Wenn aber der böse Traum die Wirklichkeit ist!

Die Zerrüttung des geistigen Lebens ist an einem eindeutigen Merkmal leicht zu erkennen: an der Abwälzung der Verantwortung. Der Kopf und das Herz, die nach Gottes Ordnung sie tragen sollen, schieben sie ab auf die Hände, und die schließlich auf die Werkzeuge, der Geist auf die Materie, das Lebendige auf das Tote, wie im Frieden schon, so noch mehr im Krieg. Vom Kaiser bis zu seinem jüngsten Sergeanten, der eben noch brüllen kann, vom Reichskanzler bis zu seinem letzten Subalternbeamten und alle die traurigen Abgeordneten der geräuschvollen Borniertheit – alle sind einig in dem grotesken Satze: »Wir lehnen jede Verantwortung für den uns aufgezwungenen schrecklichen Krieg ab.« So ist's recht, das versteht sich; die Verantwortung übernehmen natürlich die Maschinengewehre, die Zeppeline, die Bomben und die »genialen« Brummer. So ist's in Ordnung. Aber diese ausgepumpten Menschen, die heute in Deutschland auf Thronen und an Regierungstischen sitzen, werden aus so teuflischer Verblendung noch einmal erwachen müssen. Mit der Verantwortung ist es ganz genau so wie mit Gott: man entrinnt ihr nicht. Lehnt man die Verantwortung für eine Tat ab, so muß man sich auch noch dafür verantworten, daß man die Verantwortung ablehnte. [So will mich auch, wenn der General Ludendorff die Äußerung macht: »Es gibt kein Verhängnis«, eine Angst nicht verlassen, daß unser Verhängnis ist, Führer zu haben, die glauben, es gebe kein Verhängnis.] Denn für Gott ist der regressus in infinitum eine Kleinigkeit und in einem Nu gemacht.

Die deutsche Regierung muß rein des Glaubens sein, daß dieser Krieg das Ende des Deutschen Reiches sein werde, sie muß, trotzdem sie das Gegenteil behauptet, nämlich, daß jetzt erst der große Morgen des Deutschen anbreche, in Wahrheit des Glaubens sein, daß jetzt die finstere Nacht hereinbreche. Sonst wäre ihr Verhalten nur durch Irrsinn zu erklären. Durch nichts anderes. Sie liefert 40jährige Männer der Behandlung durch Schlächtergesellen, Sadisten, Alkoholiker und Idioten aus, die plötzlich in der großen Zeit wieder Offiziere geworden sind. Ja, kommt denn den regierenden Herren nicht einmal in Angstträumen – oder schlafen sie denn wirklich auf einem so sanften Ruhekissen? – der Gedanke, daß sie sich mit Gewalt Hunderttausende renitenter Staatsbürger erschaffen, die, sobald das Kommando einmal wieder abgegeben ist, ihnen einen feinen Tanz aufspielen werden! Glauben denn wirklich diese Schwachköpfe, sie könnten die Wunden viehischer Beleidigungen und maßloser Ungerechtigkeit durch ein Buch vom Ganghofer oder durch den Anblick rosenrot blühender Hohenzollernprinzen wieder heilen?! Glauben sie das denn wirklich?! Dann gehören sie doch eigentlich ins Irrenhaus!

Indivisibiliter ac inseparabiliter

Es las einer den Armee- und Flottenbefehl des österreichischen Kaisers über die neue Fahne und Flagge vor und versprach sich dabei infolge einer hinterrücks wirkenden und, wie es sich zeigte, unheimlich fest gegründeten Erkenntnis – er las nämlich: »und umschlungen von dem Devisenbande: Indivisibiliter ac Irreparabiliter«. Er merkte auf der Stelle den Lapsus und beschloß blitzschnell die richtigen Worte einfach zu übersetzen; so glitt er fast ohne Pause weiter: Unheilbar und ..., aber da sah er resignierend ein, daß hier nichts mehr zu retten sei.

Aus dem »Nachwort« 1917 Theodor Haecker: Ein Nachwort. Hellerau 1918.

Durch das Christentum ist alle Tragik verändert worden, ist alle Tragik zurückgenommen worden in die Zeit und die Vergänglichkeit. Sie ist nicht aufgehoben, aber sie hat, wie alles, eine andere Bedeutung bekommen, oder vielmehr, sie hat ihre wahre Bedeutung bekommen. Über dem eng bezirkten Raum irdischer und olympischer Lebensfreude wohnt die Angst, das ewige Rätsel, nicht das Geheimnis, durch welches Wort schon das Licht der Offenbarung hindurchscheint, das nur Hülle der Fülle und Verheißung ist und sich selber schenkend offenbart, während das Rätsel selber ein Nichts ist in der Antwort und ein Grauen in der Frage. Darum ist auch das schwermütigste Wort, das jemals im Herzen eines Menschen aufkam und das sein Mund nicht behütet hat, von einem Griechen gesprochen worden und von einem Griechen uns überliefert worden: Ich liebe die Kinder; deshalb will ich keine haben. Man verstehe es recht. Dieses Wort könnte auch ein jüdischer Prophet oder Hiob sagen, oder es könnte heute wahrlich ein edler Mensch es sagen; aber das Motiv dazu läge immer nur in einer Stimmung und in der Zeit – im nächsten Augenblick schon könnte es anders sein. Bei jenem Griechen aber kann es nicht im nächsten Augenblick anders sein; bei ihm liegt das Motiv im Ewigen, das ihm gegeben ist. Ein alter Prophet und Hiob und ein edler Mensch in diesen grauenvollen Tagen der ehrlosen Menschenschlächterei hätten es zum Himmel geschrien, der Grieche aber sagte es in sich hinein, er mußte es wieder essen; da war kein Ohr, das es hätte hören können, und kein Herz, das es hätte bewegen können. Er hatte zu Ende gedacht, während alle die, welche ihn nicht verstanden, noch nicht aufgewacht waren und noch träumten. Der edle Grieche, der zu Ende dachte, mußte verzweifeln und in die Krankheit zum Tode fallen, die Jahrtausende später Hölderlin verschlang und die voll unnennbar süßer Klage sein kann. Denn wie um noch einmal dem Sehenden zu zeigen, wie verzweifelt alle unerlöste griechische Schönheit ist, hat sich das Leben Hölderlins in gesangerfüllter Nacht verloren. Wo in aller Welt der Sprache ist unsagbarere Schönheit offenbart als in einer Strophe Hölderlins, und oft in einem einzigen Verswort: taglang, wo der Laut lang wie der Tag, lang wie das Leid ist?! Nur viele Worte der Vulgata sind noch schöner. Und wäre im Christentum die wahre Schönheit nicht auch bewahrt, wäre sie nicht auch die Gabe des einigen Gottes, so wäre mancher Abfall leichter zu entschuldigen; aber so ist es nicht! Das tragische Schicksal erfüllte sich an Hölderlin unerbittlich, tragischer noch durch den Mangel an Resonanz einer anders gewordenen Welt; er selbst mußte noch im gottverhängten Wahnsinn sich selber die dunklen delphischen Strophen singen, da er ja allein war und Vieles in Einem: der tragische Held und der tragische Dichter, welche Last von Leid auf eine einzige Menschenseele; denn Oedipus war nicht der klagende Dichter und Sophokles nicht der leidende Held; jener aber war beides und dazu noch Chor und Volk: das dumpfe Mitgefühl für sein durchsichtig ausgedrücktes Leid, der Grundbaß seiner Melodie. Solchen Preis zu zahlen für solche Größe ist groß, aber doch nur menschlich groß; hier ist keine neue Ordnung, sondern es ist die Grenze des menschlichen und endlichen Geistes erreicht. Der Unterschied zwischen einem Genie und einem gewöhnlichen Menschen ist hier im Grund kein anderer als der zwischen Gras und einer edlen seltenen Blume, und vor der neuen Ordnung sind beide wie Gras, das in den Ofen geworfen wird. Es hilft uns nichts vor der Erkenntnis, daß Hölderlins Leben hier in Verzweiflung endete – für die Ewigkeit haben wir ja den Trost, den Kierkegaard über Sokrates hatte: »Er ist inzwischen sicher Christ geworden« – und den Mut, dieses zu sagen, müssen wir aufbringen, wiewohl es nicht leicht ist, wenigstens, ihn beständig zu haben. Denn die geistige Jugend dieser Tage, soweit sie nicht einfach nichts oder frech ist, indem sie etwa einen Schriftsteller wie Heinrich Mann, der uns die allerletzten, allerschalsten Aufgüsse der Kunst der Flaubert, Zola, D'Annunzio keck als Ersatz für Romanen wie für Romane serviert, für einen großen Dichter und Geist erklärt; indem sie gar – welch eine Burleske! – Herrn Sternheim mit Molière verwechselt, dem, einem gradgewachsenen Satiriker einer verrenkten Gesellschaft, ein wahrer Kunstkenner wohl zurufen durfte: Courage, Molière, voilà la vraie comédie!, während jenem, der entarteter ist als die entartete Gesellschaft, ihr Produkt also und unter ihr, nicht über ihr, höchstens der Zuruf desselben wahren Kunstkenners: Ohé, Sternheim, merde, voilà la vraie juiverie! gerecht werden könnte, da er die Dinge wieder an ihren rechten Platz stellt; aber, wenn ich damit anfange, wie soll ich zu Ende kommen? – diese geistige Jugend ist reichlich schwermütig; sie kaut als tägliches Brot nur das Elend der Welt und kennt keine andere Lust mehr, als die der Verachtung und des Ekels. Und wenn sie erst vierzig Jahre alt geworden sind, werden sie klagend ihrer Knabentage gedenken und die Freude ihres Lebens in der Erinnerung haben statt in der Hoffnung. Sie sind hochmütig und ziehen deshalb im Grunde die tragische Verzweiflung der Seligkeit vor; sie bewundern mehr den Selbstmord eines Genies als dessen Entschluß, auf nicht andere Weise selig zu werden als die Fischer von Galiläa, als Bauern und Dienstboten. Dieser Hochmut macht aber feig im Urteil und ängstlich vor dem der Welt und der Journale; er verhindert die sehr wichtige Erkenntnis, daß die Katastrophe so vieler von Natur Hochbegabter in den letzten hundert Jahren nicht mehr tragisch im reinen Sinn – das ist einfach nicht wahr – sondern als Verzweiflung, als Schuld, als Entfernung von Gott zu verstehen ist. Wer über die ruhmreichen Geisteskämpfe des ersten Christentums gegen die Gnostiker etwas Bescheid weiß und den unendlichen Erkenntnis- und Wahrheitsgehalt der eigentlichen Glaubensdogmen, an denen Luther noch sich erquickte, der gewinnt auch einen Überblick über die Irrungen der Leidenschaften und die Irrtümer der Gedanken der letzten hundert Jahre, wie weder Genialität noch eine bloße philosophisch-ästhetische Bildung ihn je geben können. Er sieht auch ein, daß jene Kämpfe durch einen einfältigen und realen Glauben und nicht nur durch Genialität und philosophische Begabung, über welche die Gnostiker in mindestens ebenso hohem, wenn nicht in höherem Maße verfügten, entschieden worden sind. Jene Jugend zieht, trotz aller modischen Religionsgespräche, trotz all der St. Preux Ridicules des Neokatholizismus im entscheidenden Fall immer die ästhetischen Kategorien den religiösen weit vor, sowohl für ihr Privatleben als auch öffentlich und literarisch, um nicht banal zu sein. Sie haben indes unrecht, auch für die Kunst, die schließlich doch nur Dauer hat, wenn sie Gott dient, nicht wenn sie sich selber zu Gott macht. Wenn einer zu Bach bewundernd gesagt hätte: Deine Kunst ist so gewaltig und grenzenlos und allumfassend, daß sie auch noch das Religiöse nur als eine Provinz in sich hat und beherrscht, und wenn er dies nicht bloß rein formal, wie man ja auch von der reinen Logik sagen kann, daß ihre Gesetze noch die Sprüche Christi beherrschen, sondern material und hierarchisch wertend, wie man es eben heute versteht, verstände, so hätte Bach den gescheiten Schwätzer vielleicht groß angeschaut und gar nicht verstanden. Doch ist das unwahrscheinlich, weil er ein gottesfürchtiger Mann war, und der weiß in diesen Dingen Bescheid, mag er auch noch so einfältig sein, besser als das klügste Genie, das seine Begabung nicht zu Gott hinführt. Also hätte er es ganz einfach für das, was es ist, erklärt, eine Gotteslästerung oder ein Geschwätz. Denn er wußte, und in diesem Wissen sind sich schließlich der Fidschi-Insulaner und der geistigste Christ einig, daß das Religiöse unbedingt jene Ordnung ist, der man nur dienen kann, in der man immer Knecht ist, der man nur opfern kann, die selber aber man niemand und niemals opfern darf. Es ist jene Ordnung der Dinge, der man, nicht abstrakt und für »eigenen Sold«, sondern auf ausdrücklichen Befehl Gottes, den eigenen Sohn opfern muß, und dann also doch auch, wenn es verlangt wird – die Genialität, während zum Beispiel ein Mann, der, wenn dies überhaupt im Ernst jemals vorkam, der Kunst allein Weib und Kind opferte, niemals dafür auf Gott sich berufen kann, sondern immer einer Versuchung des Teufels unterlegen ist. Ich sage: »wenn es überhaupt vorkam«, wiewohl ich glaube, daß es in der Tat zuweilen, aber selten, vorkam – ich sage deshalb so, weil ja auch heute gewiß manch einer Weib und Kind verläßt, mit großem Geflunker, aber es nicht nur gewiß ist, daß er es nicht um des Reiches Gottes willen tut, sondern ebenso fest steht, daß er es auch nicht um der Kunst willen tut.

Der Christ aber darf und soll zu Ende denken; und wenn er glaubt, muß er selig werden. Warum soll denn auch ein Mensch nicht in jedem Augenblick seines Lebens an Gott die dringende Frage richten dürfen: Warum bin ich denn nicht selig? Für ihn kann die Schwermut nur ein Stadium und eine Stimmung sein, die ihm auch zum Guten dienen müssen; bleibt er aber in ihr, so will er in ihr bleiben; dann aber ist sie, das wußte Kierkegaard mit den alten Kirchenvätern, Sünde. Das Tragische in der Welt wird durch das Christentum nicht aufgehoben, weder faktisch, noch für die Betrachtung des Denkers oder die Schöpfung des Dichters. Ja, ich kann mir einen denken, der sagt: »Gesetzt, es gibt eine ewige Höllenstrafe, und das ist die Lehre der Kirche, eine Höllenstrafe, die Gott, auch wenn er wollte, und mit all seiner Liebe, die über alles gewiß ist, nicht aufheben kann, dann ist dieser Gott, der so in seinen Weltenplan tragisch verstrickt ist, die unglücklichste, die tragischeste Person, gegen die ein Ödipus nur ein lallendes, halb bewußtloses Kind ist, über das man lächeln muß. Oh, ich möchte doch lieber noch im ewigen Feuer der Hölle brennen, als jener Gott, jener ewig betrogene Liebhaber sein!« Oder es könnte einer sagen: »Die furchtbarste Tragik ist ja überhaupt erst durch das Christentum in die Welt gekommen. Denn was ist die Empörung des Prometheus gegen Zeus, der doch selber nicht sicher ist auf seinem goldenen Stuhl, weil die blinde Nacht des Schicksals über ihm ist, machtvoller als seine Blitze, die sie nicht und nie erhellen, sie ist doch nur ein Scherz im Vergleich zu der Empörung des Iwan Karamasoff gegen den einen, allmächtigen Gott, Schöpfer Himmels und der Erde, der Himmel und Erde, wie er sie aus dem Nichts erschaffen hat, auch nicht hätte schaffen können, Herr aller Wege und alles Schicksals, Vater des Lichts, bei welchem keine Veränderung ist noch Wechsel von Licht und Finsternis; der den Anspruch erhebt, allein gut zu sein, so daß auch sein Sohn, als er Mensch ward, sagte: Was nennest du mich gut, nur Gott ist gut; und der dennoch zusieht, wie Unschuldige, Kinder und Tiere geschunden werden. Das Leid, das Zeus und die Götter immer wieder zurückschoben, weil sie es nicht hätten tragen können, trägt nun ein Mensch allein in seinem Herzen – ewig und ohne die Möglichkeit des Wahnsinns. Welch ein Übermaß der Tragik! Prometheus hat ja in seinen Schmerzen den seligen Gedanken, daß er gut war, daß er besser ist als Zeus, ja, daß Zeus selber ein Opfer und ein Unfreier ist. Und jeder physische Schmerz hat auch seine Grenze, keiner ist grenzenlos; hat er seine Grenze erreicht, so ist die Natur barmherzig und versenkt ihn in der Wollust der Ohnmacht. Aber Iwan ist in der Wollust der Macht und der Liebe noch unselig, denn allein die Verzweiflung des Geistes ist grenzenlos; sie nur hat keine Grenze. Welch ein Übermaß von Tragik ist in die Welt gekommen durch die christliche Offenbarung, daß Gott gut ist und Licht ist und Schöpfer einer Welt, die im Bösen liegt!«

In diesen beiden Reden ist jedoch der Begriff des Tragischen längst gesprengt; aber mit beiden kann nur der Glaube fertig werden. Beide Reden setzen persönliche Leidenschaft voraus; kein bloßer, platter Freidenker könnte diese Einwände vorbringen, ja er wird auch dann noch, wenn sie schon gemacht sind, viel zu flach sein, als daß er ihre wirkliche Tiefe verstehen könnte. Beide Einwände können von einem Geärgerten gemacht werden, freilich aber auch von einem – Apologeten. Der Wert und die Bedeutung einer Apologetik messen sich ja nicht nur am Glauben des Autors, sondern auch an seiner Kunst, die Einwände der Gegner nicht nur zu durchschauen und vorauszuschauen, sondern sie sogar noch viel besser darzustellen als seine Gegner. Diese Seite der Polemik hat das Christentum von Anfang an gehabt. Christus war, wenn es darauf ankam, ein besserer Schriftgelehrter, als die Schriftgelehrten, die in Scham abziehen mußten. Paulus war ja der prädestinierte Kampfdialektiker. Die Blütezeit der Scholastik hatte ihre Methode des Sic et Non. Pascal hatte die Absicht, noch schroffer als Montaigne, die Unsicherheit und Relativität aller Verhältnisse dieser Welt darzustellen, und sie ist ihm so sehr gelungen, daß Dummköpfe, die das Ganze nicht sahen, ihn für einen verzweifelten Skeptiker ausgaben, so, wie für ihren eigenen Unglauben bestrafte Flachköpfe Kierkegaard für einen Atheisten ausgeben. Wenn man sich von dem Christentum, ich meine dem rechtgläubigen, bewußt abkehrt, so versteht man von Kierkegaard nicht mehr viel. Nur so sind auch die vielen recht merkwürdigen Mißverständnisse und Unverständnisse des sehr gescheiten Schrempf zu erklären, die in den späten Nachworten zu seinen Übersetzungen ihren Ausdruck finden. Wer in Kierkegaard einen Mann sieht, der über das Christentum hinaus zu so etwas wie Freidenkertum führen kann, der sagt notwendig und hoffnungslos die falschesten Dinge. Die Apologetik hat es immer mit den Götzen und dem Götzendienst ihrer Zeit zu tun. Der Götze unserer Zeit aber ist neben dem goldenen Kalb schon seit über hundert Jahren die von Gott losgesagte Kunst und die ästhetische Weltanschauung. Darum sind die Apologeten unserer Zeit nicht Gelehrte und weltfremde Theologieprofessoren, sondern Dichter und Künstler: Kierkegaard mit den gewaltigen Werken seiner Pseudonyme: Tolstoj mit seinen Erzählungen und seinen Dramen; Dostojewskij mit seinen Romanen; schließlich, wenn auch arg durch Theosophie und Inder verwirrt, Strindberg in seinen Alterswerken.

Wären jene Einwände dogmatische Feststellungen und nicht bloß, was sie sind, dichterische Ausbrüche verzweifelter Stimmungen und noch einmal: apologetisch erlaubte Darstellungen, so würde ich sie nüchtern nicht aushalten, sondern mich vor ihnen schützen mit allen Mitteln der Hedonik und der Betäubung oder mich gleich in den Wahnsinn, der weit vorzuziehen wäre, flüchten. [So habe ich auch niemals begriffen, wie Calvin, der starke Geist und große Theolog, den Gedanken der absoluten Gnadenwahl und Prädestination aushalten konnte, ohne verrückt zu werden, oder es nur so begriffen, daß er den Gedanken eben doch nicht so gedacht hat, wie man einen Gedanken, dessen Inhalt ewige Dinge sind, denken soll.] Aber es ist anders. In jenen Gedanken fehlt ein Merkmal, welches das Tragische erst konstituiert, und dessen Mangel auch es verschwinden läßt und aufhebt; ein gewisses Maß von aufgehobener Freiheit, von Unabänderlichkeit, und was darin liegt: ein gewisses Maß von Unschuld. Im ewigen Leben gibt es kein Verhängnis, also auch keine Tragik – die Tragik ist kein Merkmal des Absoluten – sondern ein freiwilliges Zuwenden des Antlitzes zu Gott oder ein freiwilliges Abwenden desselben von ihm. Himmel wie Hölle liegen jenseits aller Tragik, die zurückgeworfen ist in die Zeit und die Endlichkeit. Hier wird es immer bis an das Ende der Tage tragische Konflikte geben, welche in Raum und Zeit, das liegt in ihrem Wesen, nicht zu lösen sind, sondern zu Katastrophen führen; tragische Konflikte zwischen Zeit und Zeit, Zeit und Ewigkeit; zwischen Sinnlichkeit und Geist, Eltern und Kindern, Mann und Weib, Recht und Macht, Wert und Unwert, Wert und Wert, Tradition und Neuerung. Die Reaktion der Person aber, deren Schicksal mit dieser unabänderlichen, objektiv gegebenen Tragik beschwert ist, wird Schmerz und Leid sein: die kann das Christentum ihr nicht nehmen, aber die Verzweiflung kann es ihr nehmen, und die Seligkeit kann es ihr geben. Für den Christen gilt absolut, daß alle Tragik nur zur Dialektik von Glück und Unglück, von Freud und Leid gehört, aber diesseits der Verzweiflung sich abspielt. Wo diese dennoch eintritt, ist sie, religiös gesprochen: Schuld, näher: Mangel an Glaube; denn nicht wie bei den Griechen, wo Finsternis den Getroffenen verschlingt, ist es hier, sondern das Licht nimmt den Verwundeten auf und heilt ihn; psychologisch gesprochen aber ist es dieses: Die tragische Person wirft eine unendliche Leidenschaft, die doch nur dem unendlichen Gegenstand, den ewigen Dingen, dem Heil der Seele, der Anbetung Gottes, dem Abscheu vor dem Bösen zukommt, auf einen ihrer nicht werten endlichen Gegenstand: Liebe zum Mann oder zum Weib, zur Welt überhaupt, zu Staat, Volk, Vaterland, Macht, Reichtum, Ehre, Ruhm, aber auch Haß gegen zeitliche und vergängliche Übel und Menschen. So will Iwan einen Augenblick in der Zeit, wo das Kind von den Hunden zerrissen wird, versteinern und erstarren machen, ewig machen; aber da tut Gott nicht mit, er hat von Ewigkeit her den Schmerz vergänglich gemacht und ihm eine Grenze gesetzt. Am Mißverhältnis also einer grenzenlosen Innerlichkeit – psychologisch gesprochen, denn religiös ist es Schuld, näher: Mangel an Glaube – und eines begrenzten, endlichen, vergänglichen Gegenstandes, in dem furchtbaren Vakuum, das dadurch entsteht, geht das Individuum seelisch zugrunde. Das ist der Schlüssel zum Verständnis aller Tragik bei Shakespeare, dem großen Dichter des Protestantismus; denn diese Form der Tragik ist am Christentum orientiert, und nur Narren oder Flachköpfe können meinen, daß sie auch im Heidentum möglich sei. Nein, der gewaltige Schatten, den hier eine unerlöste Natur wirft, hat zur Voraussetzung das unermeßliche Licht, das Gott im Jahre eins durch die Juden der Welt geschenkt hat. Bei den beiden größten Dichtern des Katholizismus: Dante und Cervantes, sind die Werte und ihr Rang, die Erlösung als Lösung des Tragischen in größerer Harmonie, in milder Vermittlung und wie in der Theologie nicht ausschließlich in der Grenzsprache des Paradoxes und der Antithese.

Der Opfertod Christi ragt also weit über das Tragische hinaus, wiewohl er innerhalb einer bloß zeitlichen Betrachtung ganz gewiß auch »Schicksal« ist – es gelingt ja nicht jedem hergelaufenen Menschen, sich aus nur geistigen Gründen kreuzigen zu lassen; ja, es ist vielleicht für den Theologen noch einzusehen, daß dies überhaupt in Zeit und Ewigkeit bloß einem Menschen, dem Gottmenschen, geschehen kann – und »Tragik«, »Tragödie«, denn psychologisch war das Urteil des hohen Rates in einem objektiv notwendigen, nicht bloß in einem subjektiv leichtfertigen Mißverständnis begründet, und objektives Mißverständnis ist eine Hauptkategorie des Tragischen. Wo ist Tragik, die als Element nicht ein Mißverständnis enthält? In diesem Sinn also war Christi Opfertod Schicksal und Tragödie und sollte es sein, da nichts menschlich Großes einfach vernichtet oder übersprungen werden, sondern mit einem neuen Sinn erfüllt und erlöst werden sollte. So ist es denn nur eine widerwärtige Stümperei, wenn man mit dem Christentum auf so bequeme Weise fertig werden will, wie Journalisten und Herr Rathenau, die meinen, es sei doch nur ein historischer Zufall gewesen, daß Christus mit der »Welt« in Konflikt kam und sogar gekreuzigt wurde, da sich Zeiten und Völker denken lassen – vielleicht heute! was?! – die Christus und sein Leben und seine Lehre [Luk. 16] und sein Beispiel ohne jeden Widerstand, in Sanftmut annähmen und ihn 70 Jahre alt werden ließen! Wie dumm das ist! O nein, wir wollen uns nicht täuschen. Es würde zwar heute, wenn Christus wiederkäme, der religiöse Liberalismus ihn nicht kreuzigen oder umbringen lassen, aber nur, weil der religiöse Liberalismus das überhaupt nicht tut; auch damals hat er es nicht getan, denn er ist in diesen Dingen – welchen Nutzen er in politischen, sozialen, gesellschaftlichen haben kann, geht mich hier nichts an – der Laue, der weder sich ärgern, noch glauben kann; der Typus, den man vielleicht in dieser Welt, aber schwer im Reiche des Geistes brauchen kann – der Liberalismus würde ihn heute einladen, zusammen mit Bahr, auf welche alte Literaturbutzel zwar der letzte Feuilletonleiter nicht mehr, dagegen aber die ecclesia militans mit Jubel hereinfällt, wahrscheinlich im Glauben, einen herrlichen Gottesstreiter zu bekommen: er ist aber nur ein zauberischer Automat aus dem Hause Spalanzani; der hat ihn auf uns losgelassen: sein Gesicht ist eine Alraune, aber auch keine echte, beileibe nicht, die Wurzel am Kinn ist nur angeklebt; man zupfe ein bißchen! –; mit dem Hotelier Johannes Müller; mit dem berühmten Kritiker P. Expeditus Schmidt, der soeben Ibsen entdeckt hat; mit dem vollkommensten Christen des Tempels und der Börse W. Rathenau; mit dem Versorger der theologischen Bedürfnisse von Berlin W. Troeltsch; mit Exzellenz Harnack, preußische Exzellenz und erster Lehrer der Lehre des Gekreuzigten, und dem tüchtigen Erzbischof Faulhaber – faul aber auch nicht: kein fauler Verzichtfriede! dieser Staats ... nun ja, dieser Staatschrist!, aber doch liberal genug, um mit der andern Exzellenz die neue Kaiserhymne auszusuchen, wir warten darauf immer noch ungeduldig, wir können es überhaupt kaum mehr erwarten: etwas rascher, bitte, immer feste druff! – der Liberalismus würde ihn einladen, zusammen mit diesen und jenen und andern und vielen, bei Ullstein, bei Fischer, bei Müller, bei Kösel, es ist alles einerlei, einen christlichen Almanach herauszugeben. Der Liberalismus würde ihn im äußersten Fall in ein Sanatorium, oder wenn Er, was doch ziemlich wahrscheinlich ist, wieder als Armer auf der Welt herumginge, in ein Irrenhaus einbringen lassen. Die Orthodoxie aber und die »Beamten« würden Christus, wenn er heute wiederkäme, zwar auch nicht eine Dornenkrone aufsetzen, aber sie würden den Rat geben, ihm die Pickelhaube aufzusetzen, ihn, der wahrscheinlich doch bloß a. v. wäre, k. v. zu schreiben – es ward im ethischen Wirrwarr dieses Krieges zuweilen zur Ehre der Ärzte wie der Richter, dem Vaterland mehr als der Ehre gewogen zu sein – und in den Schützengraben zu stecken, damit ihm die Mucken ausgetrieben werden; denn Feldwebel und »Staatsbeamte« brächten die Sache nicht bis zur geistigen Entscheidung und Verantwortung einer öffentlichen Gerichtssitzung; wir leben nicht in der »Fülle der Zeit«. Aber wir wollen uns doch nicht täuschen: auch heute würde er gekreuzigt werden oder »die Strafe erleiden, die an die Stelle der Todesstrafe getreten ist«.

 

Zu den vielen Gesichtspunkten, unter denen das Werk Kierkegaards betrachtet werden kann, gehört ja auch dieser historische, daß es vom ersten bis zum letzten Wort ein gewaltiger Widerspruch ist gegen die Aufhebung des Satzes vom Widerspruch, die Hegel und seinen Schülern wie durch ein Wunder der Sünde und der weltlichen Torheit sowohl in ihren eigenen wie in den Köpfen ganzer Generationen zu bewerkstelligen gelungen war. Sie war wohl wirklich »die Forderung der Zeit« gewesen, und Hegel ihre Erfüllung. Der Erfolg war und ist ja – noch! – unermeßlich. Nicht so sehr in den exakten Wissenschaften, dort ging es nicht so leicht, wir wenigstens wissen nicht viel von einer Wirkung der Hegelschen Dialektik auf Mathematik und Physik, um so mehr aber in der Ästhetik, und hier, wie wir gerne gestehen wollen, sogar mit Recht. Denn die Ästhetik ist jene Sphäre der Unentschiedenheit und des Spieles, in der Sachen wie die Aufhebung des Satzes vom Widerspruch möglich und erlaubt sind, an denen, wenn es Ernst wird, Leben und Seelen der Menschen zugrunde gehen. Für die Ästhetik ist Hegel, wie die Romantik beweist, der größte Philosoph. Aber das Unheil war, daß er es auch für Ethik und Religion sein wollte und wurde; daß der Satz vom Widerspruch auch dort zugunsten der Mediation abgeschafft wurde, wo er durch Christus selber in seiner radikalsten und konkretesten Form ausgesprochen worden war: Wer nicht für mich ist, ist wider mich. Hier sind wir zuzeiten scholastischer als Scholastiker und behaupten, daß Leben und Sätze Christi schließlich doch die letzte Quelle aller und jeder absoluten Wahrheit sind. Auch der Satz der Identität hat seinen vollen Sinn erst in Gott, in dessen ewiger Identität mit sich selbst; er kann sich durch nichts erklären als durch sich selbst; er kann bei niemand schwören als bei sich selbst. »Wem ich aber gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wes ich mich erbarme, des erbarme ich mich.« Wo der Satz vom Widerspruch aufgehoben ist, läuft der Mund; und das tut er ja heute wahrlich. Es ist noch nicht anders: unsere Kulturwissenschaften leben immer noch von Hegel; man darf nur einen Blick tun in die Bücher der gefeiertsten »Theologen«, Historiker, Kulturessayisten, der Troeltsch, der Meinecke, der Simmel und so weiter. Freilich ist das ein Betrieb, der noch unter allem aussprechbaren Maß subaltern ist, und bei dessen Betrachtung wir die ergötzliche Entdeckung nicht vermeiden können, wie dieselben Leute, die, nachdem es ihnen Nietzsche vorgesagt hatte – ein guter Christ hat dazu freilich Nietzsche nicht nötig gehabt –, mit etwas Mitleid und Verachtung auf die »Bildung« eines D. Fr. Strauß und Genossen herabsehen, wie dieselben Leute heute die Anhänger, die Bewunderer, die Propagatoren jener ordentlichen und außerordentlichen Professoren des Kulturgewäsches sind, die doch in jedem Betracht, an Gelehrsamkeit, an Fleiß und Charakter tief unter Strauß und den ersten Hegelschülern stehen, und die einen lesenden und – schlimmer noch – einen unaufhörlich schreibenden Bildungspöbel heranzüchten, der sich gewaschen hat – mit K. A.-Seife. Das Geheimnis des Erfolges besteht genau wie bei Hegel darin, daß sofort jeder, der keck genug ist, auch mitmachen kann. Oder ist vielleicht nicht für einen aufgeweckten Primaner – welcher ist nicht aufgeweckt?! – die Simmelei, neben der Neuen Dichtung, leichter zu erlernen als Griechisch? Es ist in Wahrheit ein voraussetzungsloser Betrieb, namentlich, wenn zu den Voraussetzungen auch das Gewissen gehört, nicht bloß das Wissen. Ich weiß es ja, ich weiß schon, daß die Herrlichkeit einer Simmelei jeweils nicht allzulange dauert und die Toten ihre Toten begraben, aber das Vertrackte ist, daß sofort eine neue an die Stelle der alten tritt; daß nur der Inhalt wechselt, die Form ewig zu dauern scheint. Und noch trostloser ist, daß auch das Echte im Handumdrehen der Schüler und Nachäffer zur Simmelei wird. So heute mit der Phänomenologie, die der Theologie so viel geben kann. Da ist wohl Husserl, der Meister, dessen Werke für die Philosophie von weittragenderer Bedeutung sein werden als einst die Kritik der reinen Vernunft; bei ihm ist die Form dem Inhalt adäquat; bei ihm ist wirklich die Form die Reduplikation des Inhalts, aber er ist auch weise und bescheidet sich. [Das Geheimnis ist nämlich: nicht zu blasen, was einen nicht brennt, und wenn einen schon gar nichts brennt, überhaupt nicht zu blasen!] Da ist auch Scheler, der wirklich Lehrer ist, und der uns durch die Fülle der Erkenntnismaterie, über die er wie heute kein andrer verfügt, für die ihr durchaus nicht gewachsene und so oft jeden sprachlichen Anstand allzu schroff verletzende Form, er würde sagen: irgendwie entschädigt. Es ist nur aufzupassen, daß er nicht aus der »reinen« Wesensschau in einem Augenzwinkern eine ziemlich – barocke mache, und es ist nicht zu vergessen, daß er als politischer und kirchlicher und als kirchenpolitischer Autor in einer die Komik streifenden retrograden Weise die unzeitgemäßen Betrachtungen liebt. Er scheint manchmal in der romantischen Illusion zu leben, eine rettungslos untergehende Kultur sei dadurch doch noch zu retten, daß man erzählt, wie schön sie einmal war. Er schreibt in diesem Krieg 1915 über den Genius – der Perserkriege; 1916 über die Kirche unter – Gregor dem Großen; über den Katholizismus des Heiligen Franziskus, und ist von alledem selbst so hingerückt, daß er die Frankfurter Zeitung für eine Kathedrale hält, in der Thomas a Kempis zelebrieren kann. Aber trotzdem er also politisch und kirchlich der typische Romantiker ist – übrigens war das Plato für seine Zeit unbedingt auch; freilich ging Griechenland langsamer zugrunde, als Europa heute sich erledigt –, ist er als Philosoph ein wirklicher »Lehrer«; die Jugend, die das vergißt oder übersieht, betrügt sich nur selber. Doch so viele andere! Wie haben sie uns in allerkürzester Zeit schon mit Sprachschund und neugeschwätzten Banalitäten geplagt! Der Betrieb läuft bereits so automatisch und geschmiert wie die Simmelei; nur ist das hier gefährlicher; in der Dialektik läßt es sich leichter schwindeln und schwimmen als in der Anschauung. Diese Philosophen der Anschauung bringen es fertig, unanschaulicher zu schreiben, als ein Marburger je geschrieben hat. Kann man satirischer sein, grausamer gegen sich selbst? Sie behaupten und sagen aus: wir schauen an, und meinen, daß das schon genüge und uns beweise, daß sie anschauen; aber die Blindheit ihrer Aussage verrät ihre eigene, doch die sehen sie auch nicht. Sie haben läuten gehört und sagen das und meinen, daß sie nun auch läuten. Die Stummheit ihrer Sätze bezichtigt sie der eigenen; aber die hören sie auch nicht. Sie beißen nicht auf Brot, sie beißen auf ihre Zunge; aber das spüren sie nicht, es ist schrecklich. Sie reden und sehen immer »irgendwie« vorbei. In ihrer Hut ist die Phänomenologie die »Philosophie des Irgendwie« geworden –: irgendwo und irgendwie immer schreibt oder sagt irgendeiner oder eine: irgendwie, was wirklich, aber nicht bloß irgendwie, zum Davonlaufen ist. Und wie komisch sind die Versuche, ihre Sprache, die doch bei jedem Satz, den sie machen will und eben nicht machen kann, über die fürchterlichen noch nicht wortgewordenen Buchstabenklumpen einer nicht durch-und-durchsichtig gedachten Terminologie stolpert, mit Gewalt – wer Sprachnerven hat, dem tut's im Hirn und in allen Fingerspitzen weh – leicht und schwebend zu »machen«; es ist, wie wenn plötzlich ein Spießer uns dichterisch kommt, eine Kuh uns tänzerisch kommt. Ihre Philosophie gerade müßte sie lehren, daß solche Dinge nicht »gemacht«, sondern geschenkt werden. Doch wollen wir das lassen und uns aufrichtig über die Philosophie Husserls freuen.

 

Welch ein Gesindel spielt heute die Propheten und die Auserwählten! Und da muß man schon sagen, nicht immer harmlos und ungefährlich, nicht immer bloß literarisch, sondern auch mit realen Kräften, aber unreinen. Während die Diener der offiziellen Kirchen Predigten für Kriegsanleihen halten und nur allzuoft die freche Machtgier der europäischen Staaten unterstützen, anstatt sie mit allen Mitteln des Geistes und des Wortes zu züchtigen; während sie so oft mit Dingen sich abgeben, die sie eigentlich nichts angehen, und ihrer traditionellen Beschäftigung obliegen: Mücken zu seihen und Kamele zu verschlucken, brechen die Dämonen ein in das Seelenreich der Menschen und richten Unheil an. Das evangelische Christentum kennt zum Beispiel keine Theosophie, Spiritismus, Magie; Dinge, die heute in einem schreckenerregenden, Seelenopfer unerhört fordernden Anwachsen sind. Die ersten Christen haben gegen solche Erscheinungen mit aller Macht auf ausdrückliches Geheiß ihres Herrn und in der keinem Zweifel unterworfenen Erkenntnis angekämpft, daß sie den Mächten des Bösen entstammen. Theoretisch weiß das die christliche rechtgläubige Kirche heute auch, wie sie alles weiß; aber was nützt totes Wissen gegen reale Macht, wo doch nur eine praktische furchtlose Seelsorge dem Verderben Einhalt tun könnte. Die Seelen, die verführt werden, sind ja von vornherein krank und verlangen den geistlichen Arzt, der ihnen die rechte bekömmliche Speise geben kann; die feste nehmen sie nicht an. Das Zwielicht, in dem sie leben und das dem Zwiegelichter den Eintritt bereitet, ist blind für die Klarheit des starken Wortes. Ist es auch zehnmal wahr, wenn ich sage, daß Kellnerseelen ohne Theosophie lange nicht so schleimig und schmierig sind wie solche mit Theosophie; daß ein Heiratsschwindler ohne Magie eine erfreuliche Erscheinung ist gegen einen solchen mit Magie; daß der Rudolf Steiner unmöglich der Aar mit dem goldenen Gefieder ist, der die Seele zu dem Göttlichen emporreißt, sondern eine aus der Kloake des Simon Magus durch die Kanäle Jahrtausende schon faulender Gnostik zum Seelenfang heraufgetriebene, in allen Farben der Verwesung schillernde Ratte, die die arme Seele in den Schlamm zieht: dadurch stärke ich nur die starke und rette nicht die kranke Seele. Es nützte auch nicht viel, wenn einer sagte, daß in einem bessern, nicht so sehr mit Mordanschlägen, Verbreitung von Lügen, Nahrungsmittelverderbung und Wuchererfürsorge beschäftigten »christlichen« Staat gewisse Existenzen fast unter die Aufsicht der Polizei fallen könnten, da ich sehr wohl weiß, daß die Seelenfänger zugleich so schlaue und gerissene Kommis sind wie nur je Jüdchen aus Prag, und daß sie seelenmörderische Mittel genug wissen, um ein Opfer in dem Augenblick, wo es aufwachen und sich wehren will, gerade noch unzurechnungsfähig zu machen, so daß es sich nicht mehr wehren kann. Doch sollten die christlichen Kirchen auf die Gefahr aufmerken.

 

Seitdem aber die Kirche Christi herrscht, gibt es ein auserwähltes Volk im Sinne der Natur oder Rassebestimmung überhaupt nicht mehr, wiewohl es wirklich eines gegeben hat. Denn daß die Juden nicht untergingen, wie so zahllose alte Völker, sondern die Jahrtausende überdauern – ohne Staat, was ein nur natürliches Volk keine hundert Jahre aushielte –, liegt unter keinen Umständen in einer nur naturhaften Bestimmung. Die Juden, der edelste wie der gemeinste, leben auch heute noch vom Segen oder vom Fluche Gottes, der mit ihnen als Volk allein einen Bund geschlossen hat, den sie aber nur immer von neuem mißverstanden, indem sie ihn selbstsüchtig, imperialistisch, preußisch-alldeutsch interpretierten; der ihnen zuerst sich geoffenbart hat; der ihnen zuerst seinen Sohn geschickt hat; der nach einer alten Weissagung sie nicht untergehen läßt, bis Christus wiederkommt, während jedes andre bloß natürlich bestimmte Volk, wenn es die Gebote des Christentums, nachdem sie ihm einmal offenbart sind, nicht befolgt, ohne Gnade, als solches den Gesetzen der verweslichen Natur unterworfen ist. Es hat seitdem kein auserwähltes Volk mehr gegeben, und es gibt auch heute keines; auch die Russen sind keines, da irrte Dostojewskij sehr, sondern Gott muß sich offenbaren, so wie er es Abraham, Isaak, Jakob, Moses und den Propheten tat. Wie einfach ist hier der Irrtum Dostojewskijs und aller ähnliche durch die Dogmatik aufzudecken, daß er nämlich die Transzendenz der Sphäre, in welcher Gott lebt, der nicht nach dem Sein erst ringt, sondern der ewige Klarheit ist und sich zum Menschen neigt, nicht beachtet. Aber um die Auseinandersetzung mit dem Christentum werden die Juden, eben weil sie »auserwählt« waren, unter keinen Umständen herumkommen, ich meine die ernste, die im Geist und in der Wahrheit, ich meine nicht die wissenschaftliche, die künstlerische, die philosophische, die literarische, die liberale, die tolerante, die symbolische, die entwicklungsgeschichtliche, die mythische, die theosophische, die humane, die vermittelnde, die soziale, die politische, die demokratische, die westliche, die östliche, die zionistische, die ästhetische, die ethische oder was sonst noch die letzten Jahrzehnte an Ausflüchten ersonnen haben, um nur ja das religiöse Entweder – oder: Ist Christus der Messias oder nicht? zu umgehen. Diese Auseinandersetzung wird dann auch einen etwas andern Charakter haben, als der ist, den wir neulich mit Mißbehagen erlebten, da einer, interessiert und krank von Ehrgeiz, sich hinsetzte und eine Streitschrift vom Glauben schrieb, aus der die deutsche Geschäftswelt mit Staunen erfuhr, daß ihr pater patriae und Aufsichtsrat nicht, wie sie doch annehmen mußte, mit beiden Füßen auf ihrem Boden, sondern, sage und schreibe, auf dem des Evangeliums stehe, ganz einfach, ohne ein Dogma nötig zu haben, ohne Schwanken, so sicher wie eine Aktie der A. E. G. auf dem Boden doch ganz gewiß dieser Welt steht; ohne jeden Skrupel oder Zweifel, nicht bloß wie Petrus, der auch hie und da zweifelte und sogar den Herrn verleugnete; nicht wie Jakobus, der Bruder des Herrn, der zur Sicherheit das Gesetz, das ein Berliner natürlich auch längst nicht mehr braucht, nicht entbehren wollte; nicht wie Paulus, der »eiferte« und nicht ganz ohne dogmatische Sätze lebte mitten in dieser gefährlichen Welt; nicht wie Augustinus, Pascal, Kierkegaard, die nie vergaßen, daß auf dem Boden des Evangeliums auch das Kreuz steht; – o nein, jener ist ganz anders; von ihm muß man sagen, daß er, während er eine Rundfrage des B. T. [Auflage 250 000] beantwortet oder das Vaterland rettet oder Kunstpreisrichter ist, zu gleicher Zeit reiner als Johannes immer am Busen des Herrn ruht. Siehe, hie ist mehr denn Bahr! Aber waren vielleicht nicht doch unter den Wechslern, die Christus aus dem Tempel jagte, auch Agenten der Gesellschaften, in deren Aufsichtsrat der moderne reiche Jüngling sitzt, der auch durch das Nadelöhr so leicht geht, wie ein Kamel in den deutschen Olymp kommt? [Man sehe sich einmal alle die Gesichter im S. Fischer-Katalog an. Ein Spaßteufel scheint ja die Leute zu reiten, daß sie in einem fort sich photographieren lassen, während sie doch, klugerweise, öffentlich zeitlebens Gasmasken tragen müßten.] Aber nein, könnte er sagen, damals freilich machten sie aus dem Tempel ein Kaufhaus, ich aber habe aus der Börse einen Tempel gemacht. Und er hätte recht, das ist wirklich die Umwälzung, unter deren Folgen wir leben. C'est la guerre. Aber, was ist das Ganze, ja, was ist denn das? Es ist ein bißchen keck, es ist sogar so sehr keck, daß der Zorn aufsteigen könnte, wenn der sich doch nicht immer wieder in Lachen auflöste durch die Entdeckung jener substantiellen Dummheit, die unentrinnbar allen Berliner »Westlern« neben ihrer formalen Klugheit zukommt und durch diese niemals zu verbergen ist, sondern nur immer wieder neu geoffenbart wird. Das ist eine im buchstäblichen Sinn verfluchte Arbeit, das ist die Praxis zur Marburger Philosophie, Fluch und Leid einer ewig unseligen Asymptotik. Sie sehen nicht bloß das Ziel, sondern auch seine Unerreichbarkeit durch sie selbst – sagen nun aber doch, daß das das Ziel sei, weil sie es vor der Welt nicht aushalten, nicht am Ziel zu sein; sie erkennen den eigenen Mangel und die eigene Blöße, sie erkennen aber auch, daß sie sie nie decken und zudecken können – sagen aber doch, daß das die Fülle sei, weil sie es vor der Welt nicht aushalten, die Fülle nicht zu sein; sie schwindeln ein bißchen und sehen, daß der Schwindel nicht fruchtet, und schwindeln wieder ein bißchen und sehen wieder, daß ... – sagen aber doch, daß das die Wahrheit sei, weil sie es vor der Welt nicht aushalten, nicht die Wahrheit zu sein. Ach, wer will sie noch strafen, die so sich selber strafen. Hier lassen nicht einmal die Betrüger sich betrügen, während das doch sonst ihre Rettung ist ... Wer aber offen zugibt, daß es in dieser Welt gar nicht so leicht ist, auf dem Boden des Evangeliums auch mit der Tat zu stehen, und deshalb ein wenig Dogmatik als Stütze recht nützlich sein kann; daß auf diesem Boden viele Dinge ganz gewiß nicht wachsen können, die dagegen auf dem Boden der A. E. G. üppig gedeihen; wer es für sicherer hält, in den Behauptungen über die eigene Christlichkeit und Vollkommenheit und Fähigkeit, andre zu lehren, etwas unsicher zu sein, dem wird noch gratis die Erkenntnis geschenkt, wie furchtsam vor dem Urteil der Welt der neue Apostel ist, während es ein unentbehrliches Merkmal des wahren wäre, daß er die Welt und was sie sagt nicht fürchtet. Jener aber, darüber täusche dich nicht und glaube mir, fürchtet dich und mich und jede Kritik der Zeit. Er wird sich im Tag lieber zehnmal die Hand beschmutzen, als daß er einmal das lobende Urteil des letzten Zeitungsschmierers verschmähte – dieser Evangelist und Hohepriester der Börse.

 

In allen nur menschlichen und irdischen Beziehungen fallen Autorität und Wert so fortwährend auseinander, daß ein guter Teil der Geschichte unter die Formel zu bringen ist: Autorität ohne Wert und Wert ohne Autorität, mit der Möglichkeit unendlich vieler Grade. Wo eine dieser Qualitäten, die beide ihre letzte Quelle in Gott haben, ganz verfehlt und auch sogar theoretisch, in der Lehre, beiseite gelassen oder unterdrückt oder gar nicht mehr gesehen wird, wirkt das immer wie eine Kastration des Geisteslebens und verlangt das »Korrektiv«, das tüchtig einseitige Hinstellen des Gegenteils. Ein geistiges Leben, in welchem Autorität ohne Wert [der Personen!] herrscht, stockt und wird hart; ein Leben, in welchem der Wert so viel gilt wie der Unwert und beide sich nebeneinander einmal ruhig »ausleben« sollen: es wird sich dann schon von selber das rechte entwickeln, wird zum Brei und zur Suhle, wie die offizielle protestantische Kirche und Theologie. Um es gleich zu sagen: Ich weiß es aus der gewissesten, mich stärkenden und beglückenden Erfahrung, daß es unter den Protestantischen, die ja auch Evangelische heißen, wahrhaft evangelische Menschen im Verborgenen gibt; die werden wieder das Salz der Erde sein, das Licht der Welt sein in den Tagen der Finsternis, die nun über Europa heraufziehen. Sie haben auch gegenüber ihren katholischen Brüdern die rechte Stellung; sie erfüllen das edle Wort Möhlers, daß der wahre Wettstreit der beiden Konfessionen nur die Verherrlichung Christi sein sollte –: sie verherrlichen Christus. Ich weiß auch, daß die Evangelischen vor nicht langer Zeit zwei Führer den Suchenden geschenkt haben, die alle Kultur und Kunst und Literatur dieser Zeit lange, lange überleben werden: Blumhardt, der fast ein Heiliger war, und Hilty, der wie Abraham ein Freund Gottes war, einer der weisesten Männer aller Zeiten, weise geworden durch den Glauben an den gekreuzigten und auferstandenen Christus. Das weiß ich, und neben ihnen bin ich nicht viel, ein Knecht, der Platz schafft, ehe er zur Ruhe Gottes einkehrt, die auch ihm verheißen ist. Aber die offizielle, publizistische protestantische Theologie und Kirche ist Schmach und Elend. Die Harnack und Troeltsch christliche Theologen zu nennen, ist doch eine Schmeichelei, die sogar für den Geschmack deutscher Geheimräte etwas zu plump sein sollte, als daß sie sie annehmen könnten. Sie dürften sich ja mit Recht Gelehrte, Philologen, Historiker, Soziologen und weiß Gott was nennen. Sie können gut Griechisch, aber Wilamowitz, der Feldwebel als Apollon, kann wahrscheinlich noch besser Griechisch und ist vielleicht deshalb ein noch besserer christlicher Theolog! Wenn einer zu diesen Leuten ginge und fragte, was er nun als Christ unbedingt zu glauben habe, meinst du, sie würden es ihm, wie es sich gehört, kategorisch sagen, o nein, sie würden in die ärgste Verlegenheit kommen. Kann mir einer, der das Wesen des Christentums von Harnack gelesen hat, sagen, was eigentlich das Wesen des Christentums sei? Er trete vor! Ich habe nur den Eindruck gewonnen, daß das Buch ebensogut von Sven Hedin geschrieben sein könnte [selbstverständlich könnte Harnack, auch ohne in Tibet gewesen zu sein, die Bücher Sven Hedins geschrieben haben; ich will nicht ungerecht sein]. Die Propheten Jesaias und Jeremias hält Herr Troeltsch für Waisenknaben der hohen, heute bei uns geltenden Ethik. Sie waren nur die Verkünder der »Nebenethik eines primitiven Bauernstaates« [erfinde das einmal einer!], ein bißchen aufgeregte und polternde Leute, auf die eine so harmonisch ausgeglichene Persönlichkeit wie Herr Troeltsch hoch vom Katheder eines Berliner Hörsaals heruntersehen kann. Welch ein Schauspiel! Als ob einer an Christus glauben könnte, der vom heiligen Geist der Propheten nichts gespürt hat! Man könnte auch die Bemerkung machen, daß der primitive Bauernstaat mit der Nebenethik jener so wenig einverstanden war, daß er diese lieber in die Grube warf oder steinigte, als daß er sie zu Geheimen Räten machte, während ein höchst komplizierter Militär- und Industriestaat Herrn Troeltsch für die wackere Konstruktion seiner Nebenethik sicher noch zur Exzellenz machen wird. Ob aber das doch nicht der Beweis wäre, daß es sich um Ethik-Ersatz handelte, und ob Herr Troeltsch auch nach seinem Tod für einen Propheten gelten wird? Freilich, wer so etwas sagt, ist ein ungebildeter Rohling. Gut, meinetwegen. Ich habe nie den Ehrgeiz gehabt, ein Knecht jener Höflichkeit zu sein, die nur Furcht ist des Kommis, einen Kunden, ich will sagen einen Leser, das hochgeehrte gebildete Publikum: meine Damen und Herren anzustoßen oder zu verlieren; einer Bastardhöflichkeit, die vom Ideal heidnischer Humanität gleichweit entfernt ist wie von der Güte des Heiligen. Dennoch! Sollte es in der großen offiziellen Kirche nicht einen geben, dem es ekelt und graut vor dem Gedanken, daß eine ganze Generation junger Theologen unterrichtet und »gebildet« wird von einem solchen heillosen Schwätzer; daß ein solcher heilloser Schwätzer als Leuchte der Theologie gilt? Wahrlich, sonst konnte man doch sagen, daß es die Art der Menschen sei, einen Propheten zwar, solange er lebt, zu steinigen oder zu verhöhnen, ihm aber, sobald er tot ist, die schönen Grabmäler zu erbauen. Siehe, das kann man nun auch nicht mehr sagen. Wie grauenvoll verheerend wirken doch die Gase der »Bildung«! Wo sie über eines Menschen Herz und Hirn hinstreichen, ätzen sie auch noch die letzten Reste des Menschlichen weg, auch noch jenes Allzumenschliche, das doch der Hebel zur Umwendung sein kann. – Es ist ja eine alte Erfahrung, daß in keiner anderen Wissenschaft ein solches Flunkern und Schwimmen möglich ist wie in der Theologie, eben weil sie es mit der transzendenten Sphäre der Offenbarung zu tun hat; aber ein so groteskes Elend oberflächlicher Biederkeit, wie heute in der protestantischen Theologie, war doch nicht vorauszusehen. Sie kennt ihren Gegenstand überhaupt nicht mehr, sie weiß nichts mehr von ihm, sie kennt eine absolute transzendente Sphäre nicht mehr und redet deshalb von hundert und tausend Dingen, bloß nicht von denen, die sie eigentlich angehen. Das ist nun wirklich in keiner anderen Wissenschaft möglich. Es ist ja, wie wenn der Mathematiker das Reich der absoluten Zahlen nicht mehr sähe; dann wird er auch bald von den U-Booten sprechen, vielleicht gut Griechisch lernen, vielleicht auch Hebräisch aus Langeweile. Man sollte ja meinen, daß das immer neue Wunder der Gnade geborenen Denkern – das müßten Theologen ja sein, und wenn sie es nicht sind, sind sie eben νόθοι  – immer etwas zu denken geben müßte. Aber du wirst von ihnen höchstens erfahren, was andere, oder auch nur, daß andere über die Gnade nachgedacht haben. Und selbst das wirst du schlecht erfahren, so daß du mißtrauisch sein mußt. Sie aber haben Wichtigeres zu tun, viel Wichtigeres. Soll ich von ihren großen Taten im Krieg erzählen? Ich will's. Das »Eichenlaub mit Schwertern«, das die philosophische Fakultät sich verdiente, indem sie ihre friedlichen Lorbeeren einem Dutzend Generälen für gutes Trommelfeuer schenkte, ließ ihre Schwester von der Theologie nicht schlafen, wiewohl sie doch, wie gesagt, gerne schläft und es, wenn sie sonst nichts kann, sogar besser wäre, sie schliefe weiter. Aber sie wollte in der großen Zeit auch Ehrendoktoren haben. Da versteht man nun freilich nicht recht, warum sie nicht dasselbe Dutzend Generäle für gutes Trommelfeuer zu Ehrendoktoren auch der Theologie gemacht hat. Schade! Doch fand die evangelisch-theologische Fakultät von Münster einen Ausweg, aus Anlaß des Krieges, an dem diese Theologen mehr, als ihnen einmal lieb sein dürfte, beteiligt sind, zu einem Ehrendoktor zu kommen, indem sie dazu einen strebsamen Beamten machte, weil er gerade Reichskanzler geworden war. Nun gebe ich ja zu, daß es eine Leistung war, wenn man so aussieht wie Michaelis, auf die Aufforderung des Photographen: bitte, recht freundlich! plötzlich ein Gesicht: bitte, wie Bismarck! machen zu können. Immerhin – ist es ein Verdienst um die Theologie? Ich hab' in diesem Fach im Variété schon bessere Nummern gesehen, die deshalb doch nicht Ehrendoktoren der Theologie, ja nicht einmal deutsche Reichskanzler geworden sind. Oder liegt die Sache ganz hinterhältig fromm? Sollen wir erbaut werden durch den Gedanken, wer hier wohl demütiger war und geringer von sich selber dachte: die evangelische Fakultät, die den Titel verlieh, oder der evangelische Mann, der ihn annahm?

Herr Brandes hat von seinem Standpunkt aus, wenn wir die absolute Plattheit auch einen Standpunkt nennen sollen, mit Recht Kierkegaard vorgeworfen, daß er sich um D. Fr. Strauß, der doch ganz Europa in Aufregung versetzte – so was versetzt Herrn Brandes immer in Aufregung, wiewohl ihm das doch auch mit Leichtigkeit gelungen ist: es ist ja ein gutes Europa –, so ganz und gar nicht gekümmert habe. Und in der Tat, seine Geringschätzung des abtrünnigen Flachgeistes war ein souveräner Gestus; aber noch größer war schließlich doch seine Geringschätzung einer Kirche, die mit jener Mediokrität nicht einmal fertig wurde und gar nicht mehr die Sphäre kannte, mit deren Waffen solche Angriffe abzuwehren sind. Die offizielle protestantische Kirche ist ganz sicher nicht »das Reich Gottes«, aber sie hat auch, wiewohl das dann doch unbedingt nötig wäre, nicht ein einziges Dogma, an das sie unerschütterlich glaubt, das unbedingt feststeht. Das nennt sie Entwicklung, Fortschritt, Werden; aber in Wahrheit ist es einfach Auflösung. Man stelle sich einmal Luther vor, wenn in seinen Zeiten ein paar so lächerlich subalterne Menschen wie Traub, Jatho und Konsorten – man sehe wieder die Gesichter an! Es lebe die Physiognomik! – als Reformatoren und Emporentwickler aufgetreten wären! Dieses letzte namentlich, das Emporentwickeln, hätte ihn in Raserei versetzt. Die protestantische Kirche kommt durch ein paar ehrsüchtige Dummköpfe und Feuilletonisten, die Zeitungen haben, ins Wanken. Wohl gibt auch sie heute den artigen Patronen das wirkende Relief, da diese, wenn sie nur als Privatleute, ohne Amt, so wie ich, aus reinem Interesse für die Sache, etwas über die Kirche, dafür oder dagegen, sagen würden, weder im Berliner Tageblatt noch in der Frankfurter Zeitung ein Feuilleton untergebracht hätten –: so dumm sind sie und so unbedeutend. Aber als rebellierende Pfarrer, die trotzdem im Amt bleiben – der einzige Redliche und Reinliche war Schrempf –, locken sie die Aasgeier an von überallher. Nun braucht für sie nicht mehr der Geist zu zeugen, jetzt tut's die Zeitung. – Die vollständige Abschaffung des geistigen Autoritätsbegriffes und der Unterscheidung der Sphären hat der protestantischen Theologie noch eine andere nette Frucht beschert: die absoluten Schundromane, die im Zeitalter der Schundromane erschienen sind und für gewöhnlich den Titel tragen: Das Leben Jesu. Irgendein Privatdozent oder Theologieprofessor oder Pfarrer, deren letzter Hörer oder Dienstmädchen oder Ehefrau mit Recht die Möglichkeit bestreiten würden, von ihnen »psychologisch erklärt« zu werden, erklären psychologisch den Gottmenschen, den Stifter der Religion, die sie zu verkündigen haben. Und sie gehen dann gleich ordentlich ins Zeug; verstehen tun sie ja alles, finden einiges aber doch recht bedenklich, nicht mehr zeitgemäß, perfektibel, entwicklungsfähig, namentlich an der Ethik, da stimmt schon gar nicht alles; da ist einiges übertrieben, »paradox«, und dann doch wieder selbstsüchtig, ja, man stelle sich nur vor, sogar eudämonistisch: man tut das Gute, ehe man es um seiner selbst willen als Vollkommener tun kann, man tut das Gute – um selig zu werden, ja, so was! Der, welcher als der »Herr«, dem alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden, in die Welt und die Geschichte eingetreten ist, bekommt von Leuten, von denen weder du noch ich, die keine Heiligen sind, eine Einmischung in ihr privates oder öffentliches Leben vertrügen, Zensuren und Berichtigungen; doch beziehen die Leute ihre Gehälter als »christliche Lehrer« weiter und bleiben weiter in der Kirche. Was »glaubt« die nun eigentlich? Es ist schon Gotteslästerlicheres und Gefährlicheres im Christentum geschehen –: Peinlicheres und Dümmeres nie!


 << zurück weiter >>