Der Zauberer von Rom / II. Buch
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92 5.

Wo ist mein Vetter? rief Benno von Asselyn, eilends die Stiege hinunterspringend. Er vergegenwärtigte sich den Schmerz, den Bonaventura empfinden mußte, daß ein solches Ereigniß auf dem Friedhofe seiner Kirche nun wirklich doch hatte stattfinden können. Er erfuhr sogleich, daß auf dem Friedhofe die Ordnung wieder äußerlich hergestellt war und der Schulze des Ortes eben schriftlich eine genaue Darstellung der Thatbestände aufsetzte. Es geschah mit Hülfe des Pfarrers. Gern hätte Benno Beihülfe geleistet, aber Hedemann, ein alter Soldat, erinnerte ihn, daß er heute Nachmittag Schlag fünf Uhr in Kocher am Fall zum Appell auf dem Marktplatze stehen mußte. Der bestellte Wagen fuhr auch schon aus dem Stern vor. Von Lucinden hieß es, sie würde sogleich zur Hand sein; sie hätte gesagt, man sollte nur erst die Herren abholen.

Benno entsann sich seiner militärischen Pflichten. Hatte er doch heute schon die unmilitärische weiße Weste ausgelassen! Doch Bonaventura mußte er wenigstens einen Augenblick sprechen. Er eilte auf den Friedhof und fand den Vetter in der Sakristei der Kirche, beschäftigt mit den Anordnungen einer noch im Laufe des Vormittags von ihm bezweckten neuen Einsegnung der entweihten Begräbnißstätte. Nicht nur von dem Fall an sich war der Pfarrer aufs heftigste erschüttert und durch die Hoffnung, der Thäter würde 93 nicht zu seiner Gemeinde gehören, in der größten Aufregung, sondern er war es noch mehr durch einige Gegenstände, die man ringsumher zerstreut gefunden hatte und die in der That dem freventlich erbrochenen Sarge angehörten. Kurz, Benno fand den Freund so beschäftigt, daß er von ihm gebeten wurde, sich in der Fortsetzung seiner Reise nicht stören zu lassen. Bonaventura setzte mit der ganzen Erregung einer Natur, die in nervöser Anspannung zu leben nicht gewohnt ist, hinzu, daß er nach der vollzogenen Sühne der heiligen Stätte und einer Predigt, die er zur Erschütterung der Herzen, vielleicht zur Entdeckung des Thäters halten wollte, wahrscheinlich den Abend noch selbst in der Dechanei eintreffen würde. Einmal, sagte er, handelte es sich um eine Anzeige beim Amte in Kocher, dann aber vorzugsweise um einige Andenken an seinen unvergeßlichen Vater, die sich wirklich in dem Sarge vorgefunden hätten – Andenken, über welche er mit dem Onkel, dem Dechanten, zu sprechen die Zeit nicht erwarten könnte.

Freund, dich macht der Vorfall krank! Beruhige dich! rief Benno.

Erzähle noch nichts dem Onkel! erwiderte der Pfarrer. Du kennst seine Abneigung gegen alles, was aufregt.

Benno mochte nicht länger forschen, worin die gefundenen Andenken an den Vater bestanden. Wußte er doch, daß in dem reinen und kindlichen Gemüthe Bonaventura's diese Gedankenverbindung um so mehr Trübsinn wecken mußte, als sich dieser seit einiger Zeit die Meinung gebildet hatte, sein Vater lebte noch. Bonaventura bildete sich sogar ein, der Vater wäre aus der Reihe der Lebenden freiwillig geschieden, deshalb geschieden nur, um seiner Mutter möglich zu machen, seinen jetzigen Stiefvater, den Herrn von Wittekind-Neuhof, den Sohn des Kronsyndikus, zu heirathen. Gibt doch die Kirche keine Ehe, auch 94 die unglücklichste, auch die seit Jahren auf einer gegenseitigen Unfähigkeit, die Leidenschaften zu unterdrücken, beruhende und sittlich unmöglich gewordene in keiner Weise frei und löst sie. Bonaventura glaubte, sein Vater hätte sich den Schein des Todes gegeben, um zwei Menschen glücklich zu machen, die auf eigenthümliche und, wie er sich aus den Erzählungen der alten Renate entnehmen zu müssen glaubte, nicht mehr zu vermeidende Weise in die engste Beziehung gekommen waren. So manche Jahre waren seitdem vergangen. Jetzt erst kamen ihm diese Zweifel, jetzt in verstärkterer Gewalt. Benno kannte diese Zweifel und mochte sie um so weniger wecken, als sie mit den wichtigsten und zartesten Lebensfragen im Gemüthe des seinem Beruf so begeistert hingegebenen Priesters zusammenhingen und schon oft Gegenstand von Differenzen zwischen ihnen beiden gewesen waren. In der sichern Hoffnung, ihn vielleicht schon am Abend in der Dechanei beruhigter wiederzusehen, nahm er Abschied, setzte sich in den Wagen und fuhr nach dem Stern, um Lucinden abzuholen.

Auch diese war von der Meldung des in der Nacht Vorgefallenen nicht wenig überrascht. Sogleich hatte sie nach dem Gensdarmenwachtmeister gefragt. Dieser war unmittelbar nach dem Lärm, der beim ersten Morgendienst des Meßners entstand und das Frühläuten zum Sturmläuten gemacht hatte, auf die Landstraße hinausgesprengt, um den Knecht zu verfolgen, der sie gestern gefahren hatte. Man behauptete, daß dieser die Nacht im Stalle geschlafen, lange Licht gehabt hätte und sich eines Spatens aus dem Garten des Wirthshauses bedient haben müßte, den man nicht finden konnte. Die herculische Kraft, die zu der Ausführung des Frevels gehörte, ließ sich dem untersetzten, breitschulterigen Menschen zutrauen.

Das gab nun einen Schwung der Spannung und Erregung! Lucinde wusch und erfrischte sich so schnell, als könnte sie einen 95 Auflauf versäumen. Ehe noch die Mägde ihre Oberkleider, ihren Hut und Schleier gelüftet und entstäubt hatten, war sie mit dem schnell geordneten Kopfe schon aus dem Fenster. Der Zweispänner, eine stattliche Chaise, stand vor dem Hause, ein Kutscher klatschte, Hedemann und der Freiwillige grüßten. So zeitig? rief sie zum Fenster hinaus und zog ihre stehen gebliebene Taschenuhr auf, stellte sie nach dem glänzenden Zifferblatt des Kirchthurms, hing ihr Kreuz um und drängte die Bedienung zur Eile. Nur Milch trank sie, etwas schwarzes Brot aß sie dazu und nach einigen Minuten, obgleich Benno von Asselyn einmal um das andere hinausrief: Uebereilen Sie sich nicht! stand sie unten am Wagen.

Nachdem sie vor der Hausthür ihre Zeche berichtigt, stieg sie an der Hand Benno's ein. Hedemann saß auf dem Bock neben dem Kutscher, der auch als Knecht dem Wirthshaus zum Stern angehörte. Für fremde Herrschaften war er Postillon, für diejenigen, die unter der Taxe reisten, blieb er in seinen gewöhnlichen Kleidern; heute hatte er sein Horn zu sich gesteckt und blies lustig in das allgemeine Juchhe. Das kostete Strafe, hörten es die Gensdarmen des damals so gensdarmenregierten Staates. Grützmacher und Müller jagten dem Leichenräuber nach.

Nein! rief Lucinde, an die Erzählung der Vorfälle sogleich anknüpfend. Wirklich? Mein Kutscher wär' es gewesen! Ich glaub' es nicht! Ich wette, der Thäter war Herr Grützmacher selbst! Er hat dem Pfarrer zeigen wollen, daß die Polizei an keinen Phantasieen leidet!

So gefällig auch Benno war, ihr den Vorfall in aller Ausführlichkeit mitzutheilen, verschwieg er doch die persönliche Aufregung, welche die gefundenen Erinnerungen an dessen Vater in Bonaventura hervorgebracht hatten.

96 Lucinde warf dem Dorfe und dem Pfarrhause einen langen, hoffnungsvoll seligen Abschiedsblick zu.

Hedemann schaute unverwandt in die Ferne. Wie wenig er auch glauben konnte, daß die Italiener an dem Frevel betheiligt waren, bekümmerte ihn doch die Belästigung, der nun wol auch diese friedlichen Passagiere ausgesetzt sein konnten.

Allmählich gab sich der Postillon sowol mit dem Blasen zufrieden, wie mit seinen Mittheilungen über den erst neu im Weißen Roß eingetretenen Knecht, welchen man jetzt sogar einen Franzosen nannte, dann über den Vorfall mit der Stalllaterne und dem fehlenden Spaten.

Da der Staub zunahm, schlug Lucinde ihren Schleier über und forderte Benno auf, seinen Cigarren zuzusprechen. War sie doch in ihrem Leben von Jérôme, vom Kronsyndikus, von Klingsohr, Serlo genug »eingeräuchert« worden. Benno folgte ihrer Erlaubniß, indem er sagte: Mein Onkel, der Dechant, ist galanter. Sie werden bei ihm vom Tabackrauch nicht belästigt werden!

Wie alt ist der Dechant? fing sie nach einer Weile an.

Ah, ah! erwiderte Benno. Wie alt! Fragen Sie doch das niemals in der Dechanei! So alt wie Methusalem ist er nicht, aber so jung auch nicht, wie seine Geburtstage numerirt werden – von der guten Frau von Gülpen, die nun schon dreißig Jahre lang seine Wirthschaft führt!

Dreißig Jahre lang? unterbrach Lucinde.

Eher mehr als weniger! erwiderte Benno. Und zu Hedemann hinaufrufend, fuhr er fort: Nicht wahr, Hedemann, als Sie vor zwölf Jahren nach Amerika gingen, schwankte Onkels Alter um das Ende der Sechziger? Er müßte demzufolge jetzt siebzig sein! Dafür aber, daß nicht Frau von Gülpen seine nächste Geburts- oder Namenstagstorte doch nur mit sechzig kleinen Wachsendchen besteckt, will ich nicht gutsagen!

97 Lucinden machte der Name »Gülpen« in Verbindung mit einer Geburtstagstorte einen märchenhaften und in der Wirklichkeit kaum möglichen Eindruck. Hat nicht Frau von Gülpen, fragte sie, eine Verwandte, die sich Frau von Buschbeck nennt?

Benno versicherte, diesen Namen nie gehört zu haben. Hedemann! rief er; hat die Tante eine Verwandte, die sich Frau von Buschbeck nennt?

Lucinde ergänzte: Eine Schwester vielleicht?

Hedemann, oben auf seinem Bock, zuckte die Achseln. Das Jahr 1809, wo ihre ehemalige Peinigerin von ihrer Lebenshöhe gestürzt sein sollte, lag über die Erinnerungen dieser Generation hinaus.

Benno drückte am Wagenschlag die Asche seiner Cigarre ab und sagte ironisch: Wir sind vielleicht an eine zu große Anzahl von Verwandten unserer verehrten Frau von Gülpen gewöhnt! Ihre Nichten wenigstens – Nicht wahr, Hedemann, die Nichten der Tante –

Erstes Kennzeichen Ihres Onkels – schnitt Lucinde die zweideutige Anspielung auf den Deckmantel für die weibliche Bewohnerschaft einer geistlichen Wohnung ab – Erstes Kennzeichen also – Eitelkeit!

Eitelkeit? sagte Benno. Vielleicht auf seine weißen Hände! Und doch nicht! Diese Selbsttäuschung über den Geburtstag gehört zu des Onkels Lebensphilosophie!

Zweites Kennzeichen: Lebensphilosophie! Welche Philosophie? Die, welche dem Dr. Laurenz Püttmeyer zu Eschede noch immer nicht den Hegel'schen Lehrstuhl und Fräulein Angelika Müller einen Mann verschafft hat?

Ei, Sie sind unterrichtet! lachte Benno auf. Nein, keine von unsern Haarrauch-Philosophieen, die die Dogmatik trigonometrisch beweisen wollen und zuletzt doch an einem Breve des 98 Papstes zu Grunde gehen, wie die da, die seit ein paar Tagen drüben auf unserer Universität zu leben aufgehört hat! Allerliebst, wie in unsere schöne deutsche Kunst und Wissenschaft hinein ein solches römisches Inquisitions-Capitel sein »Kannichverstan« hineinsprechen und sogleich so in ihr herumwühlen und aufräumen darf, wie hoffentlich jetzt die Bauern von St.-Wolfgang nicht unter den Götterbildern des guten Napoleone aufräumen. Sehen Sie immer noch nichts, Hedemann?

Nichts! war die Antwort des zuweilen seine zusammengelegte Hand wie ein Perspectiv gebrauchenden Gefährten.

Napoleone erzählte mir, der Dechant liebe die Antike! fuhr Lucinde fort. Ein Sohn Ihrer Heimat und ein Liebhaber der Kunst? Das scheint mir ein Widerspruch.

Indem rief Hedemann einige Bauern an, die eilends des Weges kamen. Sie waren aus St.-Wolfgang und sagten an, daß bei den Italienern nichts gefunden worden war, was an einen Antheil derselben an dem nächtlichen Verbrechen hätte schließen lassen können. Nach einer Weile sagte Lucinde: Wie mag man die Armen belästigt haben! Sie summte, da Benno über die von ihr angedeutete Unvereinbarkeit seiner zweiten Heimat mit dem Schönen in Nachdenken verfiel, vor sich hin die Worte Mignon's:

Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder stehn und sehn mich an;
Was hat man dir, du armes Kind, gethan!

Für den da oben scheint allerdings Porzia Biancchi zur Mignon geworden! flüsterte Benno und deutete auf Hedemann, der über die nunmehr erwiesene Unschuld der Italiener Zeichen der größten Genugthuung gab.

Die Gegend gewann inzwischen einen bestimmter ausgeprägten Charakter. Man befand sich auf der Absenkung eines großen 99 Thalbeckens, das sich viele Meilen weit in wellenförmigen Senkungen und Erhöhungen hinzog bis zu den Gebirgen, die Deutschland von Frankreich trennen. Der Naturforscher kennt diese Gegend als eine, die ihre urweltlichen Bildungsformen noch jetzt nicht verleugnet. Oft stehen graue Basaltkegel in der Mitte dieses Hügellandes, als Reste vulkanischer Ausbrüche. Einsam ragen die abgestumpften Felsgestalten, von dünnem Zwergholz überwachsen. Oft steigen sie schroff bis zu den schärfsten und dann und wann mit einem Kreuze gezierten Spitzen hinan. Von einem höhern Punkte gesehen ist der Fernblick meilenweit; aber er ist nicht mehr so wohlthuend durch Saatengrün und lichthelle Waldungen, unfruchtbar wird das Land und wie von Steinen überstreut. Hier müssen einst Vulkane einen feurigen Hagelregen aus dem glühenden Innern der Erde geschleudert haben. Bei einzelnen etwas grünen Stellen, aus denen ein Kirchthurm hervorragt, kann man immer annehmen, daß sich das stete unterirdische Sieden und Kochen einer noch nicht geschlossenen Erdbildung dort auch mit einer wohlthätigen Quelle ankündigt, deren Wasser an Ort und Stelle zum Baden dient, erkaltet in Krügen weiter ins Land geführt wird. Kleine Seen finden sich; desto weniger Bäche. Der einzige größere ist jener »Fall«, an welchem Kocher liegt, eine von jenen uralten, in die Römerzeit zurückreichenden Städten dieser sagen- und erinnerungsreichen Gegend.

Hatte man nicht den, zuletzt vom Hundsrück und von den Ardennen begrenzten, düstern Höhenblick der Ferne, so fehlte es abwärts in den Kesselthälern nicht an Abwechselung. Hier hatte die Cultur dem steinigen Boden abgerungen, was er an Fruchtbarkeit, wenn auch nur für Gerste und Hafer, hergeben wollte. Und belebt war bei alledem doch die Gegend. Selbst auf der Landstraße begegnete man, außer Landbewohnern, außer Soldaten, die wie Benno sich beim Stabe einstellen mußten, 100 manchem Geistlichen zu Fuß, manchem im Wagen; des Verbeugens vor Heiligenbildern und vor offenen Kirchthüren wurde kein Ende und selbst vor einer Procession mußte der Wagen halten. Jetzt nach der Ernte begannen die Wallfahrten zu manchem wunderthätigen Gottes- oder Heiligenbilde. Auch jener hochbegnadeten Stadt war man ziemlich nahe schon, die den heiligen Rock des Herrn besitzen will und allerdings die ältesten Märtyrer und Heiligen aufzuweisen hat, ja die den heiligen Athanasius selbst einst beherbergte, als er aus Aegypten vor den Arianern floh. Die Zeit war gekommen, wo gerade des Athanasius' Andenken lebhaft erneuert werden sollte; mancher hohe Würdenträger, sogar der Kirchenfürst der Provinz eiferte jenem Gegner der weltlichen Gewalt nach.

In einem Dörfchen wurde gefüttert. Und als man dann gegen zehn Uhr – die Morgensonne brannte heiß – weiter fuhr, fiel es auf, daß die Reisewagen mit höhern Geistlichen sich mehrten. Benno erinnerte wiederholt daran, daß in Kocher eine geheime Verabredung sollte getroffen werden, welcher selbst Dominicus Nück, sein Principal, nicht ganz fremd war. Er meinte jenes Rütli, wo Bonaventura als ein zweiter Tell fehlen durfte, ob Lucinde gleich, zur Mehrung ihrer Erregung, allmählich vernommen hatte, daß der Pfarrer vielleicht doch noch diesen Abend gleichfalls in der Dechanei eintreffen und somit schon sobald ihr seligstes Hoffen sich erfüllen könnte, wie oft – wie oft Ihm nahe zu sein!

Mit dem Steigen der Sonne wurde es schwüler und schwüler. Gegen elf Uhr kündigte sich ein Gewitter an. In der Gegend von Kocher her lagerten sich dunkle, tief graublaue Wolken.

Benno fing allmählich an in seiner schroffen Beurtheilung Lucindens nachzulassen. Einzelne ihrer Redewendungen, das 101 Mitleid mit den Italienern, die vor einigen Stunden mit Rührung gesprochenen Goethe'schen Verse hoben ihre Erscheinung. Da sie die schwüle Luft bestimmte, den Schleier zurückzulegen, so musterte er mit geringerer Abneigung auch ihren heute fast vornehm sich gebenden äußern Eindruck. Lässig und wie hingegossen lag sie in der Ecke des Wagens. Der schottische Mantel war ihr von den Schultern geglitten und so krampfhaft auch der jetzt eingeschlagene kleine Sonnenschirm von ihr auf die grauen Zeugstiefelchen, die den kleinen Fuß bedeckten, gestemmt wurde, der Eindruck blieb der der Ruhe und fast einer höhern Ergebung. Gestern hatte sie von der Anstrengung und Ermüdung der Reise älter ausgesehen als heute. Heute gab ihr eine geringere Röthe des Antlitzes, ja ein wachsbleicher Teint etwas Vergeistigtes. Die langen schwarzen Wimpern bedeckten die unruhigen Augen. Die Athemzüge wurden ersichtlich aus einer hoch sich hebenden Brust. Es war über ihr Wesen wie ein Hauch gekommen, der ihre Formen anschwellen und sie anziehender erscheinen ließ.

Benno spielte mit seiner Cigarre den Gleichgültigen und war es doch schon lange nicht mehr. Hierhin und dorthin blickend, gab er sich, wie absichtlich, den Schein der Gewöhnlichkeit und prosaischsten Nüchternheit. Dennoch hielt er den Gedanken fest: Wenn sie sich nur nicht rührt! Wenn sie nur in dieser Stellung verbliebe, die Augen, die kalten, nicht aufschlagen, nicht reden, ganz so bleiben wollte, wie sie dasitzt, fast daliegt, träumerisch, ohne Berechnung, ohne Koketterie und Bewußtsein von ihrem sich mehrenden Reize!

Lucinde merkte jedoch schon lange das Interesse, das sie einflößte. Leise blitzte unter den Wimpern ihr Auge hin und her. Fast seitwärts schielend, sah sie zuweilen auf. Die Magie des Eindrucks war nun wieder zerstört.

102 Woran dachten Sie eben, Fräulein? fragte Benno erschreckend vor einem immer so in Thätigkeit verharrenden Verstande.

Lucinde blieb in ihrer hingegossenen Stellung, rückte und rührte sich nicht, senkte die Augen und sagte. Ich sehe Bilder vor mir, die nur Mignon und der Harfner weckten – katholische Bilder – Vielleicht hab' ich die Vision vom Leben auf der Dechanei –

Malen Sie sie aus! sagte Benno und blies den Dampf seiner Cigarre fort, erwartungsvoll, wie sich diese seltsame »Person« weiter entwickeln würde.

Lucinde sprach träumerisch, mit zusammengedrückten Augen, vor sich hin: Ich sehe ein Schloß und sehe Menschen – Sie sind ganz wie in Mondschein getaucht – Ein schöner Park umgibt das altmodische Gebäude – Es hat epheubewachsene Thürme und Galerieen – Kleine Buchsbaum- und Taxushecken ziehen sich unter den Fenstern hin – Springbrunnen rauschen –Pfauen schlagen ihre schönen Räder – Bildsäulen lauschen versteckt aus Jasmin und Geisblattbüschen – Dazu ertönt vom Söller die Mandoline – Ein Pilger schlägt diese Mandoline – Auf der Altane werden von einer Dame Lieder gesungen aus einem alten Pergamentbuch – Ein Mönch, der Liebling und Erzieher des Hauses, steht hinter ihr und schlägt die Noten um – Und wenn fernher dann die Glocken klingen oder ein Jäger im Walde ein Ritornell verhallen läßt, geht alles zur Ruhe – Nun steigen die lieben Englein nieder – Die kleinen bausbackigen Jungen schleppen Violinen und große Contrabässe herbei – Sie musiciren und das so lustig, daß die Frösche mit Jubel einfallen, die Heimchen mitschrillen – Alles neckt sich – Blume und Käfer – Bis endlich die Sonne am fernen Horizont mit rosigen Streifen sich ankündigt – Willkommen o seliger Morgen! – Alles blitzt im Thau – Es läutet zur Messe – Dann Wagengerassel 103 – Es kommen vornehme Abbates und Prälaten – Nach der Andacht spielen mit ihnen die Kinder des Hauses – Spielen selbst mit dem Strick des Franciscaners, der am Abend die Noten umschlug, und lassen ihn Pferdchens springen – Dazu summen die Bienen, schwirren die Käfer – Und wenn auch bei Tisch noch soviel Wein aus schönen hochgespitzten bunten Gläsern getrunken wird und braunglänzende Braten hoch aufgetragen werden, wie in den Bildern des Paul Veronese – Es geht doch Heilig und Weltlich hier immer in eins – Die Reste des Mahls und Weins, diesen in einer hohen strohumwundenen Flasche, schickt man dem frommen Eremiten Federigo unter den Eichen von Castellungo, der dafür die Kinder mit Bildchen beschenkt, die er in seiner einsamen Hütte malt oder sie das schwere, wie Steine rasselnde Deutsch lehrt, wenn es zufällig Kinder eines italienischen Conte sind, oder ihnen in seinen hohlen Eichen Rendezvous' vermittelt, wenn sie größer werden und verliebt sind . . . Doch sehen Sie nur, unterbrach sie sich in ihrer Schilderung plötzlich selbst; es gibt wirklich ein Wetter!

Sie Glückliche, lachte Benno, Sie können Ihre Phantasie zu Hülfe nehmen, wenn leider, leider nicht alles auf der Dechanei so zutrifft, wie Sie's sich ausgemalt haben!

Nein, nein, sagte Lucinde, die Dechanei, die denk' ich mir doch in allem Ernste ganz so – Sie haben's vielleicht nur noch nicht so beobachtet – Versteht sich: mutatis mutandis –

mutatis mutandis? wiederholte Benno und sah sie, erstaunend über ihr Latein, an.

Ich meine – die Kinder –

Ja so! Verstehe! Verstehe!

Es trat eine Pause ein, wo Lucinde den Triumph genießen konnte, sich sagen zu dürfen: Du eingebildeter junger Mensch glaubtest mich so über die Schultern ansehen und nach 104 den Aussagen der alten Renate, des Gensdarmen Grützmacher und wer weiß, ob nicht auch deines so grausamen, so tugendkalten und mich glücklich-unglücklich machenden Bonaventura beurtheilen zu können! Und auch Benno fühlte vollkommen, wie sie dachte. Nach einer Weile sagte er alles Ernstes: Ja, in der Hauptsache werden Sie es wirklich so in der schönen Dechanei finden! Sie könnte ganz in ein Gedicht von Clemens Brentano passen! Selbst die Pfauen fehlen nicht! Und noch mehr, der Onkel hat einen alten Diener, dem er gestattet in den Sternen zu lesen –

Das ist schlimm für seine Teller! unterbrach sie. Aber –?

Frau von Gülpen allerdings – Benno stockte.

Frau von Gülpen? fragte Lucinde gespannt.

Benno zuckte die Achseln und deutete an, daß mit diesem Namen die in Kocher am Fall zu erwartende Poesie ein Ende hätte.

Lucinde verstand diese Geberde. Mit tiefschneidender Ironie sagte sie: Also Frau Renate die Zweite! Und wie sie dann hinzufügte: O Männer! Männer! so war dies doch ein Ton, als hätte Benno aufspringen müssen, ihre Arme fassen und sie niederdrücken mit den Worten: Schwaches Weib, glaubst du denn allmächtig zu sein? Es war dies jetzt aus ihr herausgehend jener Glutenstrom, den Armgart gestern gefühlt hatte, jener Glutenstrom, unter dessen Gewalt vielleicht die Gräfin Paula vergangen wäre, wenn sie nicht Bonaventura gerettet hätte durch die Anordnung, daß Paula aus der orthopädischen Anstalt endlich entfernt wurde; aber auch jener Glutenstrom wieder, der sympathisch übereinstimmende Naturen hätte heben und zum Gefühl der Unsterblichkeit beleben können und von dem sich trennen zu müssen einst Klingsohr zur Verzweiflung gebracht hatte.

Zum Glück für Benno's sich mehrende Aufregung gab es 105 Zerstreuungen am Wege und bald auch kühlte er sich ab durch Lucindens rückkehrende Koketterie. Sie sprach von Armgart und verrieth ihre Absicht, ihren Begleiter zu Vergleichungen zu veranlassen. Nun war es wie eine sanfte Musik, die über Benno kam, als er so voll ersichtlichen Neides Armgart nennen hörte. Mit jener ironischen Schärfe, die seinen Zügen nicht bitter oder gar faunisch wie Klingsohr, nicht elegisch wie Serlo stand, sondern die eine große Anmuth in dem männlichen, edelgeformten Antlitz verbreitete, die schönsten Zähne zeigte und den Augen eine schelmische Gutmüthigkeit verlieh, sagte er: Lieber Himmel, mein Fräulein! Sind Sie denn wirklich schon so alt, daß Sie sich an Armgart's Jugend rächen zu müssen glauben! Lassen Sie doch die Kleine noch so kindisch sein wie sie ist! Hedemann, wie oft haben Sie ihr die Rettungsthat aus Canada erzählen müssen?

Hedemann wandte sich und sagte, er hätte das nur einmal gethan, Herr de Jonge aber wol ein Dutzend mal.

Herr de Jonge! fuhr Lucinde, die Benno über seine scharfe Aeußerung gar nicht zürnte, sondern sie belachte, fort. Wer ist dieser Herr de Jonge? Ein Reisegefährte des Herrn Hedemann? Erzählen Sie! Wir genießen das Gefühl, noch im Trockenen zu sitzen! Sehen Sie nur dort drüben, oberhalb der schwarzen Berge, wie es da schon gießt!

In Kocher am Fall! bestätigte Benno mit nachdenklichem und zerstreutem Ton.

Also, Herr Hedemann! Die Rettung aus Canada! Wer ist Herr de Jonge?

Sie werden ihn vielleicht in der Dechanei finden! erwiderte Hedemann und um gleichsam auf diese Art der Erzählung überhoben zu sein.

In der Dechanei? Um so mehr müssen wir auf ihn 106 vorbereitet sein! Wer ist gerettet worden? Wer hat gerettet? Erzählen! Erzählen!

Diesem Humor ließ sich nicht widerstehen. Benno zündete sich eine neue Cigarre an und begann: Das beste Schiffsbauholz –

Hedemann hielt sich auf dem Bock die Ohren zu, als wollte er sagen: Diese tausendmal wiederholte Geschichte! Ich kann sie nicht wieder hören!

Das beste Schiffsbauholz, fuhr Benno mit um so größerm Nachdruck fort –

Die Cigarre war noch nicht im Gange.

Das beste Schiffsbauholz – wiederholte Lucinde, um gleichsam den Faden festzuhalten –

Bieten die Urwälder Canadas! Sie wissen doch, Fräulein, wo Canada liegt?

Lucinde dachte an ihre langen-nauenheimer Wandlandkarte und zeigte mit dem Sonnenschirm fest und sicher nach Westen hinaus.

Mutatis mutandis! bemerkte Benno. Es konnte heißen: Wer Latein kann, weiß wol auch das! Oder: Da so herum – ist allerdings richtig, aber Amerika besteht nicht aus Canada allein.

Das beste Schiffsbauholz, fuhr er fort, bieten die Urwälder Canadas, und die bequemste Gelegenheit, dasselbe auf dem Lorenzostrom und von da ins Weltmeer und nach England und Holland zu transportiren, findet man bei den vielen Nebenströmen des Lorenzo durch die berühmten Fälle desselben. Ich weiß nicht, ob sich unser Freund Thiebold de Jonge, Sohn der großen Handels- und Holzfirma »De Jonge's Erben« drüben in der Residenz des Kirchenfürsten, auf dem St.-Moritzstrom quer über die tausendjährigen Eichen setzte und mit ihnen die drei- bis fünfhundert Fuß stürzenden Fälle hinunterschwamm, in seinen carrirten 107 schottischen Inexpressibles; nur so viel ist geschichtlich bekannt geworden und in Lindenwerth der abendliche Geisterspuk, wenn die Englischen Fräulein über die Lectüre des »Telemaque« einnicken, daß eines Tages, Sonntags, nicht wahr, Hedemann? –

Sonntags – antwortete dieser kopfschüttelnd –

Eines englischen Sonntags also, wo die Engländer auch in Canada daheimsitzen und keine Landpartieen aus Quebec oder Three Rivers in jene Gebirge hinaufmachen, aus denen der St.-Moritz mit den tausendjährigen Eichen der Firma »De Jonge's Erben« niederstürzt – zwei so melancholische Hypochonder, sag' ich, wie der Oberst von Hülleshoven und sein Freund und Rathgeber da, Remigius Hedemann aus Borkenhagen bei Witoborn, nach Montreal wollten oder nach Isle de Jesus, wo man allein noch eine gute und richtige römische Messe zu hören bekommen kann in diesem abtrünnigen ketzerischen Amerika –

Hedemann schüttelte den Kopf –

Nicht? fuhr Benno fort. Sieh! Sieh! Euch denuncir' ich an die Inquisition! Ihr kommt mir beide schon lange so vor, als wenn Ihr in den alten Wäldern, wo die Indianer dem »großen Gott« scalpirte Menschenköpfe zum Opfer bringen, heiligere Schauer verspürt haben wollt als in unserer alten borkenhagener Dorfkirche! Schämt Euch, ihr Abtrünnigen! Doch davon bei anderer Gelegenheit. Steigen die beiden da unten herum über die Felswände in der Nähe des kleinen Paterson-Sees und träumen von vergangenen Tagen und künftigen englischen Halbsoldpensionen. Plötzlich sehen sie einen jungen lustigen Dandy gerade unter dem letzten Sturz des St.-Moritz herumhüpfen, wie wenn er hätte eine von den Töchtern der hochmögenden Frau Walpurgis Kattendyk zum Tanze führen wollen! Die reichste Familie drüben in der Residenz des Kirchenfürsten, mein Fräulein! setzte Benno erläuternd hinzu.

108 Keine Ausschmückungen! sagte Lucinde, von Benno's Heiterkeit unterhalten.

Der Oberst, fuhr Benno fort, zeichnet gerade den malerischen Sturz, Hedemann raucht eine transatlantische Originalcigarre, da verschwindet plötzlich unser Tänzer und beide wissen nicht, war es ein absichtlicher oder ein unabsichtlicher Entrechat, nachdem die beiden Firnißstiefel plötzlich aufgehört hatten in der Sonne zu glitzern. Von einem Hülferuf konnte nicht gut die Rede sein, denn der St.-Moritz donnert zwar nicht so stark wie der Niagara, spricht aber doch noch immer vernehmlicher als unser immer zahmer und kleinlauter werdender Rheinfall bei Schaffhausen . . . (ob man sich gleich auch noch jetzt bei dem in der Taxe für die Ueberfahrt verhören und drüben einen Franken zahlen kann, wenn man hüben nur auf einen halben bedungen zu haben glaubt) . . . Kurz, ringsum, wie gesagt, englischer Sonntag! Man wußte, daß in einem Orte Namens Forges eine Colonie von Flößern wohnt, die jedoch auf keine sonntägliche Wasserpartieen begierig schien und daheim trotz der Hitze vielleicht irgendeinen soliden Gin-Punsch braute. Nur jenen einen Tänzer hatte man bemerkt. Da er nicht wieder zum Vorschein kam, wurden unsere Menschenfeinde denn doch ein wenig unruhig, und der ärgste aller Timone, dort unser Hedemann, beliebte die geistreiche Bemerkung zu machen: Wenn nur das Bürschchen nicht in den Sturz gefallen ist! In den Sturz nämlich, von dem man die ganze Ausdehnung von dem Orte, wo sie sich befanden, nicht übersehen konnte! Allmählich macht man sich nun auf, klimmt empor, erreicht den Rand der Felsen, durch welche der St.-Moritz sich hindurchdrängend in einen Kessel niederstürzt, aus dem hochauf eine riesige Schaumkrone sich erhebt und dann pfeilgeschwind wieder weiter gleitet dem Lorenzo zu. Doch entdecken sie nichts. Alles ist still; nur wilde Vögel fliegen quer 109 über den Sturz, dessen Schaumtropfen hoch hinaufspritzen, daß die Dinger mit benetzten Flügeln das Weite suchen wie taumelnd. Da plötzlich bemerkt Hedemann's scharfes Auge unten an einem Felsenvorsprung – eine Mütze und eine so elegante, wie sie nur Herr Thiebold de Jonge getragen haben konnte. Nun stand es fest, der Tänzer war verunglückt. Zu sehen von seinen zerstückten Gliedmaßen war nichts. Man rief englisch, deutsch, französisch. Keine Antwort. Aber die Mütze lag da auf der Felsenkante und erst von dieser an konnte man senkrecht in die Tiefe blicken. Nun wuchs die Besorgniß. Sie steigerte sich bei dem immer gleichen Donnern und Zischen der aufspritzenden weißen Strudel, die, wenn der Gestürzte nur einen Fuß breit von der Felswand weiter entfernt lag und sich im Niedergleiten nicht an der Wand irgendwie noch hatte halten können, ihr Opfer verschlungen hatten. Wer stieg die Wand zuerst hinunter, Hedemann?

Der Oberst!

Erzählen Sie selbst, Herr Hedemann! unterbrach Lucinde. Herr von Asselyn, scheint es, brodirt die Geschichte, wie wenn sie in den Exercices des strasburger Englischen Fräuleins gestanden hätte zum Uebersetzen ins Deutsche!

Da es Benno des drohenden Näherkommens der aus zwei Richtungen heraufziehenden Gewitter wegen für gerathen halten mußte, vorläufig das Hinterdeck der Chaise aufzuschlagen, wobei ihn, hinunterspringend, der Quasi-Postillon unterstützte, so nahm Hedemann, nach Benno's Ausdruck, nicht nur die Leine der Pferde, sondern auch den Faden der Erzählung auf und berichtete schmuckloser. Er erzählte, daß anfangs der Oberst und er, beide zu gleicher Zeit, den Entschluß faßten, sich gegenseitig unterstützend bis zu dem Vorsprunge niederzusteigen, wo die Mütze lag. Freilich war damit schon Lebensgefahr verbunden, doch 110 rollte von der fast senkrecht niedergehenden Felsmauer kein Steinchen nieder. Bedenklicher war noch das Wagniß, sich überzubeugen und weiter in die Tiefe zu sehen. Der Oberst hätte es gethan, während Hedemann, sich mit den Fingern in die Wand einbohrend, ihn krampfhaft gehalten. Lautlos hätte er nach erstem Bekämpfen des Schwindels, sich wieder zurückgelehnt und nur mit dem Kopfe genickt, als könnte schon der Schall der Worte die Kraft haben, die schmalen Steine, an denen sie sich hielten, loszubröckeln. Mit Lebensgefahr wäre man emporgeklommen und nun hätte der Oberst berichtet, daß ein junger Mann dicht am Rande des tosenden Sturzes anscheinend todt läge. Kurzum – er wäre dann gerettet worden –

Was? Wie? fuhr Benno auf. Schon gerettet? Wer in aller Welt erzählt denn so! Nein! Zerschmettert vom Niedersturz, fuhr Benno mit pathetischer Stimme fort, zerschmettert vom Niedersturz konnte der Verunglückte nicht sein, denn der Fall war dicht an der Felswand entlang; ein Beweis, daß der Gefallene anfangs die Besinnung behalten hatte und niedergeglitten war an besagter Felswand. Unten aber konnte die Erschöpfung, ja schon der Luftdruck des niederstürzenden Flusses, ein Luftdruck, der bereits an dem kleinen Pavillon zu Lauffen beim Rheinfall den Athem benehmen kann, ihn vielleicht nicht mehr zur Besinnung kommen lassen –

Sie mußten wol, fragte Lucinde zu Hedemann, wie zu einer authentischern Quelle hinauf, nach jener Colonie, wo die Holzschläger wohnten?

Richtig, mein Fräulein! sagte Benno. Eine halbe Meile, und des beschwerlichsten Weges! Es vergingen drei Stunden, bis man an der einzigen Stelle, wo die Rettung möglich war, mit Stricken, Leitern, Stangen ankam. Der Schrecken war nicht gering in der Colonie. Der junge respectable Herr 111 Thiebold de Jonge hatte diesen romantischen Spaziergang auf eigene Hand gemacht, während zwei Commis, ein Diener und einer der besten Holzmesser des Geschäfts, der die jungen Leute auf dieser Gewinn versprechenden Unternehmung begleitet hatte, in der Niederlassung zum Studium canadischen Gin-Punsches zurückgeblieben waren. Die Verzweiflung derselben verdreifachte die Anstrengungen, die man zur Rettung machte, und doch würde sie nicht gelungen sein, wenn das schwierige Anbringen der Leitern, der Stricke, der Stangen nicht von den beiden tapfern Soldaten geleitet worden wäre. Der Oberst war unten der erste. Der Verunglückte lebte noch. Er war allmählich von einer Betäubung erwacht. Er war erwacht, um mit Schaudern zu gedenken, daß er, wenn niemand ihn hier aufsuchte, des elendesten Todes hätte »versterben« müssen. Eine Stunde verging in dieser grausenvollen Vorstellung. Sein Rufen verhallte im Donner des Wassersturzes. Endlich kam die Rettung. Sie war schwierig, aber sie gelang, wie Sie heute noch an meinem Freund de Jonge sehen werden. Sie gelang aber auf folgende Art. Erstens –

Genug! Genug! sagte Lucinde und wandte sich an Hedemann: Das gab gewiß eine glückliche Scene!

Des Dankes? Der Rührung? Im Gegentheil! antwortete pathetisch für diesen Benno. Unsere zwei Söhne der Moorheide enthüllten nur oberflächlich ihr Incognito, nahmen vor zwei Jahren den gleichgültigsten Abschied von ihrem ewigen Schuldner, nicht einmal einen schönen Gruß bestellten sie durch ihn nach Borkenhagen oder Westerhof oder Kocher am Fall. In Quebec erfuhr der Gerettete die Namen des deutschen Obersten und seines nicht im activen Dienste stehenden Gefährten; er wollte ihre Rückkehr in Garnison abwarten, aber leider! sein Schiff war gerade »klar«, er reiste ab mit Hinterlassung einer Menge von Danksagungen und Geschenken. Erst hier in Europa sahen sie 112 sich zufällig in der Residenz des Kirchenfürsten wieder. Heute in Kocher am Fall bei diesem Wolkenbruch werden sie sich an die Strudel des St.-Moritzflusses zurückversetzt fühlen!

In der That brach jetzt das Wetter über die Reisenden mit furchtbarer Gewalt aus. Man bot Hedemann an, daß auch das Vorderverdeck aufgeschlagen würde und er schleunigst hereinkäme. Hedemann öffnete aber nur den Soldatenmantel Benno's und lehnte ein Anhalten um so mehr ab, als ein in der Nähe liegendes Wirthshaus bei schnellem Zufahren bald erreicht sein konnte. Dort wollte man dann Rast halten und den Wagen vollends verschließen.

Das Wirthshaus lag an einem Kreuzpunkte mehrerer Landstraßen. Immer größer wurde die Zahl der sich eilenden soldatischen Kameraden, die in Blousen und Kitteln gen Kocher zogen. Manche Bekanntschaft war in der jähen Flucht der sich vor dem Regen Bergenden mit winkender Hand zu grüßen. Auch der Major der Gensdarmen, unter dem Grützmacher stand, wurde auf einem Gaule dahinjagend ersichtlich. Von der nördlichen Straße kam ein geschmackvolles Reisecoupé herangesprengt. Zwei Militärpersonen saßen darin, die aus dem Wagen sich vorbeugten; die eine war ein Offizier, die andere, wie Benno, ein Gemeiner. Letzterer sprang in dem Gedräng an dem Wirthshause noch vor dem Offizier heraus. Und wie fast zu gleicher Zeit auch das Gefährt aus St.-Wolfgang anhielt und der Soldat den im triefenden Mantel sitzenden Hedemann erkannt hatte, kam er zu diesem herangesprungen, ihm die Hand zu schütteln und ihn halb und halb geradezu zu umarmen. Jetzt hielt ein Diener in nobler Livree einen Regenschirm über dem Soldaten – ein wunderlicher Contrast zu seiner Jacke als Gemeiner. In dem Durcheinander des Erkennens, dessen Reihe nun auch an Benno kam, des Vorfahrens, der Begrüßungen da 113 und dort, des aus dem herabgelassenen Schlage Hinausspringens und unter das schützende niedere Dach Eilens auch von Seiten Lucindens war ihr vernehmbar und ersichtlich geworden, daß dieser neue Ankömmling eben der gerettete Herr Thiebold de Jonge war.

So eilig sie in die dumpfe, von Menschen überfüllte Wirthsstube lief, so sah sie doch, daß der am Wasserfall von St.-Moritz Gerettete eine schlanke Gestalt von lebhafter Beweglichkeit und dreisten und gefälligen Formen war. Er trug helle Glacéhandschuhe, Firnißstiefel, eine Piquéweste unter der nur am obern Knopf geschlossenen Uniform vom feinsten Tuche und eine carrirte Reisemütze, die mehr einem reisenden Engländer als einem Landwehrmann angehörte. In der Wirthsstube sah man Soldaten, Bauern, Viehtreiber, Hausirer, Geistliche, alles was der Regen nur hereinfegte. Lucinde hörte bald, daß der Vorfall mit dem Grabe in St.-Wolfgang allgemein bekannt geworden war. Major Schulzendorf erörterte ihn draußen mit den eben Angekommenen und dem Landwehroffizier, dem Begleiter Thiebold's. Hedemann war inzwischen verschwunden. Ohne Zweifel suchte er die nicht sichtbaren Italiener auf. Daß sie zugegen waren, sah Lucinde an dem ausgespannten Wagen derselben vorm Hause.

Angegriffen von der Fahrt, erregt von allen neuen Mittheilungen und Eindrücken, fast erstickend von der Schwüle des kleinen Saales und betäubt von den lärmenden Stimmen so vieler Menschen, stand sie am Fenster und sah wie die Blitze über die ganze Ebene hin ein magisches Licht warfen. Seltsam glänzte und strahlte das graue Gestein der vulkanisch zerrissenen Gegend.

Ihre Begleiter kamen nicht in den Saal und sie selbst mochte 114 sie nicht aufsuchen. Sie erfuhr, daß es bis Kocher nur noch eine halbe Stunde zu fahren war.

Schon nach kurzer Zeit hatte der Kutscher, vom Regen gebadet, den Wagen draußen ganz geschlossen. Die Pferde wurden nicht ausgespannt. Lucinde konnte annehmen, daß ihre Begleiter sofort weiter zu fahren wünschten.

Doch kamen sie lange nicht zurück . . .

Sie wartete und wartete. Es verging fast eine halbe Stunde. Endlich ließen sich draußen schon die Italiener sehen. Auch der Regen hörte auf. Die Wolken theilten sich. Die Italiener, schien es, dachten an ihre Weiterreise.

Lucinde trat hinaus aus dem Saale, wo sie so lange am Fenster sinnend und träumend gestanden hatte. Sie suchte nach ihren Reisegefährten, die sie so auffallend vernachlässigten. Eben war sie im Begriff, den Alten, Napoleone Biancchi, zu grüßen, als sie, unter dem Thorwege stehend, nach dem Hofe und Garten zu einen lauten Wortwechsel und plötzlich aufs allerheftigste eine Stimme: Hedemann –! rufen hörte.

Sie wandte sich. Mehrere andere folgten ihrem Beispiel. Einige der Hausirer sprangen hinzu nach der Gegend hin, wo der Ruf hergekommen.

Das war ja Benno's Stimme! sagte sich Lucinde. Wie sie dem Beispiel der andern folgend sich wandte, um dem Hofe zuzueilen, kreuzte ihre Schritte, wie auf der Flucht, leichenblaß und mit furchtentstellten Zügen, Porzia. Ihr jüngerer Bruder Catone hinter ihr her. Er trug den Hut, der ihr entfallen schien.

Trug diese Begegnung schon den Charakter eines Moments – denn ebenso schnell war Porzia verschwunden und auf dem Wagen bei ihrem staunenden Vater und ihrem ältern Bruder, der schon die Peitsche in der Hand hielt – so war der Anblick, der sich allen nun schnell herbeigekommenen Beobachtern im Hofe darbot, 115 wie die plötzliche Versteinerung der lebendigsten Scene. Der Hof und Garten ging in Eins. Unter der Kegelbahn schienen die Italiener ein einfaches Mahl gehalten zu haben. Auch vom Hause aus konnte man in die Kegelbahn eintreten, wo man einen gedeckten Tisch sah. Hedemann, Benno, Thiebold de Jonge und der Landwehroffizier bildeten eine charakteristische Gruppe. Hedemann's breitkrämpiger Sommerhut lag auf dem nassen Boden im Garten draußen, er selbst stand wuthschnaubend und wie zum Angriff gerüstet. Benno vor ihm, ohne ihn zu berühren, doch in der Geberde, die den gewaltigen Ruf: Hedemann –! begleitet haben mußte. Thiebold de Jonge stand schützend vor dem Offizier, dem seinerseits ebenfalls die Mütze entfallen war und ein plötzlicher Schreck alle Farbe geraubt hatte.

Wie die Menschen neugierig herzugelaufen kamen, riß Benno den in jeder Ader zu einem Angriff gerüsteten Hedemann in den hintern Garten. Er folgte jetzt wie ein Kind gelassen und willenlos und nur noch das eine Wort kam allen hörbar von seinen bebenden Lippen: Herr – von – Enckefuß! Jede Silbe war betont, in jeder Schwingung der wenigen Worte lag die Andeutung, als wolle er sagen: Wir beide kennen uns doch wol?

Ein Aufenthalt in der Beurtheilung und Vermuthung über alles das war nicht möglich, denn Thiebold de Jonge trällerte soeben laut eine Arie und zog den Lieutenant, wie wenn nichts vorgefallen, tänzelnd weiter. Er führte den Erschrockenen, der seine Mütze aufhob, auf einem andern Wege in die grünen Gebüsche hinaus. Bald kam Benno, der Lucindens ansichtig geworden war, aus einem, wie man sah, mit den lebhaftesten Demonstrationen geführten Gespräch mit Hedemann nach vorn und sagte zu ihr: Bestes Fräulein! Sie werden gutthun, lieber allein vorauszufahren! In der Dechanei kommen Sie 116 gerade noch zu einem Mahle an, das heute zu Ehren der fremden Geistlichen stattfindet! Eilen Sie! Sie finden dann den Onkel und die Tante im besten Humor! Wir andern – wir bleiben noch eine Weile zurück – Gelegenheit, sehen Sie, gibt es noch genug nach Kocher am Fall und mein Absteigequartier ist ohnehin nicht in der Dechanei, sondern seitwärts in einem kleinen Weinberge, eben da, wo Armgart's Vater, der Oberst wohnt!

Aber Hedemann? fragte Lucinde forschend und um so theilnehmender, da sie der Name »von Enckefuß« an die alten düstern Begegnungen ihres Lebens, an den Rittmeister, den »schönen Enckefuß«, erinnerte –

Fährt mit uns oder geht nach dem Regen lieber zu Fuß . . . Sehen Sie nur, dieser Thonboden saugt im Nu eine Ueberschwemmung ein und man geht wieder trocken – Adieu, Fräulein! Heut Abend oder morgen in der Dechanei! Viel, viel Glück!

Diese Willensäußerungen und Verabschiedungen waren zu bestimmend. Benno begleitete schon Lucinden an den Wagenschlag und half ihr mit Artigkeit einsteigen. Ehe sie sich noch gesammelt hatte, ehe sie nur ihre Frage: Aber was ist denn nur vorgefallen? ausgesprochen, fuhr sie schon von dannen. Eine Aufklärung hätten die Italiener geben können. Diese aber hatten schon eine andere der vielen hier sich kreuzenden Straßen eingeschlagen, nicht die, auf welcher sie selbst nach Kocher fuhr. Vom Kutscher konnte sie nichts Anderes über den Vorfall erfahren, als daß jener Herr von Enckefuß aus der Residenz des Kirchenfürsten und zu den Landwehrübungen kam wie alle andern. Sie glaubte den Vorfall so zu verstehen: Der Offizier verfolgte Porzia, Hedemann trat dazwischen, ein Wortwechsel entstand, der zu Thätlichkeiten überzugehen drohte, Benno hielt Hedemann zurück und hinderte ihn, einem Offizier in Uniform eine Beschimpfung 117 zuzufügen, die diesen hätte zwingen müssen, vielleicht Hedemann, wie die Gesetze der militärischen Ehre den Satisfactionsunfähigen gegenüber einmal eingeführt zu haben scheinen, zu durchbohren. In dem Ton, wie Hedemann den Namen: Herr von Enckefuß! gerufen, lag eine Andeutung, daß sie sich kennen mußten. Was hinderte sie, anzunehmen, daß sie dem Sohne des »schönen Enckefuß« begegnet war, desselben Landraths und Freundes des Kronsyndikus, vor dem sie selbst oft genug, wie jetzt Porzia, geflohen war?

Nach einer halben Stunde, gegen halb zwei Uhr, sah sie am Rande eines eigenthümlich geformten, schroffen, fast sargähnlichen, dunkeln Bergrückens das Städtchen Kocher am Fall. Eine hohe Kuppel mit vier Thürmen rings gehörte ohne Zweifel dem Dom von St.-Zeno an.

In ihrer Brust wurde es ihr schwerer und schwerer, je mehr sie hinüberblickte zu der Kathedrale, die mäßig hoch auf einer terrassenförmig sich erhebenden Anhöhe lag. Diese kleine Anhöhe beherrschte auf dieser Seite die Stadt, während auf der andern der düstere Sarg des Gebirges lag.

Jetzt fuhr sie auf gekieselten Wegen durch smaragdgrüne, vom Regen funkelnde Wiesen; dann lenkte der Wagen in Baumalleen ein, die von geschnittenen Hecken durchbrochen wurden. Unmittelbar um ein im Quadrat liegendes kleines Schloß zwar nicht so phantastischen, wie sie in ihrer Vision gesehen, doch gefälligen altfränkischen Geschmacks zogen sich Blumen- und Gemüsegärten. Alles hatte einen vornehmen, gepflegten Anstrich. Das Schloß war mit Bildhauerarbeit geziert. An der Pforte, wo zwei gewaltige Karyatiden einen Balcon mit einst vergoldet gewesenem Eisengitter trugen, fuhr der Wagen an, ohne sogleich empfangen zu werden. Der Kutscher mußte absteigen und selbst klingeln. Dies Klingeln schallte weithin wie mit doppelten Zügen, 118 die den Klang der ersten Glocke nach einer zweiten übertrugen. Ein alter freundlicher Diener in weißen langen Haaren – wahrscheinlich der in Aussicht gestellte Sternseher – erschien, spitzte klug die Augen, orientirte sich, lächelte fein und wohlwollend und öffnete den Schlag. Er hatte eine Serviette über dem Arm zum Beweise, daß man im Hause wirklich mit einem Diner beschäftigt war, wie sie bereits in St.-Wolfgang erfahren hatte.


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