Georg Groddeck
Der Seelensucher
Georg Groddeck

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24. Kapitel.

Großes und kleines Geschäft. Der Kegelkönig.

Auf dem Perron machte der fremde Herr halt, drehte sich nach Thomas um und sah ihn aufmerksam an. Dann rückte er seinen Hut zurecht, was Thomas gewissenhaft nachahmte, so daß es einen Augenblick aussah, als ob er von einem Lehrer des Anstands Unterricht im Grüßen bekäme.

»Schulze,« sagte der Herr.

»Müller,« scholl es ihm entgegen, aber sofort folgte »Himmelkreuz –: Weltlein.«

Schulze nahm weder von dem Doppelnamen noch von dem Fluch Notiz. »Die Kerle hatten eigentlich recht. Unser Gespräch war nicht für die Öffentlichkeit geeignet.«

»Im Gegenteil,« erwiderte Thomas, »man kann es gar nicht laut genug sagen, daß die Selbstliebe –«

Der Reisende schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Genug.« Er winkte einem Gepäckträger und beauftragte ihn, 159 seine Handkoffer in das Hotel ›Zum mutigen Ritter‹ zu bringen. »Wenn Sie hier zu bleiben gedenken –« wendete er sich an Thomas.

»Ich habe durch Verlassen des Zuges Protest erhoben,« sagte Thomas stolz, als ob er den Speisewagenkellner dadurch auf das schmählichste bestraft hätte. »Ich gedenke noch heute nach Berlin zu fahren.« Er sprach wie ein König von Spanien, der soeben einen Rebellen gerichtet hat und nun zu seinen Regierungsgeschäften zurückkehrt.

»Heute geht kein Zug mehr.« Schulze mißbilligte offenbar die gänzliche Unkenntnis des Fahrplanes. »Morgen früh 6 Uhr 19 Min. geht ein Personenzug, er ist um 10 Uhr 13 Min. in Berlin. Der Schnellzug fährt um 10 Uhr 04 Min., ist Punkt 12 Uhr Berlin-Anhalter Bahnhof. Das beste wird sein, Sie kommen mit in den ›Mutigen Ritter‹. Wenn ich Sie einführe, werden Sie für billiges Geld prima Verpflegung und Wohnung haben, und die Gesellschaft pflegt abends nett zu sein. Es ist heute Freitag, also Kegelabend. Spielen Sie Kegel?«

Thomas nickte. »Alle Neune,« sagte er. Es war das einzige, was er von dem edlen Spiel wußte.

»Dann also –« der Reisende rieb sich die Hände im Vorgefühl des Vergnügens.

Thomas sah ihn von der Seite an. »Sie reiben schon wieder.«

»Ach, lassen Sie doch Ihre Schweinereien endlich,« rief Schulze ungeduldig. Er ging ein paar Schritte schweigend weiter, dann sagte er: »Was meinten Sie mit der Zigarre, mit den Herren, die Zigarren im Munde hätten.«

Thomas antwortete mit einer Gegenfrage. »Besinnen Sie sich, wie die Gänschen, die man junge Mädchen zu nennen beliebt, rauchen. Rein, raus, rein, raus.«

»Ich verstehe, verstehe. Sie meinen, das Rauchen ist ein Ersatz für andere Genüsse.«

»Ersatz? Eher eine Symbolik. Das Symbol ist nicht Ersatz, sondern hat seine Berechtigung in sich. Aber allerdings lassen sich auf die seelische Verfassung aus dem Rauchen und der Art des Rauchens Rückschlüsse ziehen. Gewohnheits- und 160 Gelegenheitsrauchen, Rauchen durch die Nase, Ringeblasen, Einziehen des Rauches in die Lungen, Zigarren-, Zigarettenrauchen, Pfeifenrauchen; da haben Sie eine Menge Nuancen. Letzten Endes ist das Rauchen ein Beweis dafür, daß auch der Erwachsene Säugling ist. Es ist ein Irrtum, jemanden einen Mann zu nennen, wie es denn überhaupt nichts Dümmeres gibt als die Sprache. Die Bezeichnung Mannweib ist schon wesentlich besser. Dahin deutet schon das Gesicht. Teilen Sie es, so haben Sie oben in Stirn und Nase den Männerbauch mit dem Anhängsel und unter ihm liegt, wie sichs gebührt, das Weib mit den Lippen-Schamlippen und dem Mund als Gebärmuttermund und dem Kinn als Weiberbauch.«

Schulze starrte seinen Begleiter halb entsetzt, halb belustigt an. »Und die Augen, und die Ohren, was machen Sie damit?«

»Die Augen, die sind das Kind. Pupille, Püppchen, im Auge des anderen spiegelt sich unser Mensch in Kindesform. Das Auge ist Mutter und Kind. Deshalb sagte ich ja, es reicht nicht aus Mann-Weib; Mannkindweib, aber da bleibt die Mutter weg. Und dann gehört das Gottesauge noch hinein und der heilige Geist und die Dreieinigkeit. Das Auge ist tief, ein See, ein Spiegel – da haben Sie wieder die Selbstliebe, die Zigarre, wenn Sie es wollen. Übrigens Zigarre: Sie wissen ja, Bismarck empfahl das Rauchen für den Diplomaten; er behauptete, der Raucher sei im Vorteil, weil er nicht gleich zu antworten brauche, sondern unter dem Vorwand, einen Zug aus seiner Zigarre zu tun, nachdenken könne. Aber vor allem ist das Rauchen ein Mittel zu lügen. Man verdeckt den Mund damit, der sich, wie jedes Weib, zu zeigen liebt und alle Wünsche als Weib deutlich verrät.«

»Sie sind ein verdrehter Kerl.« Schulze lachte jetzt wirklich.

Thomas blieb stehen. »Natürlich bin ich verdreht. Aber stoßen Sie sich daran nicht. Zu viel Wanzen. Das Gehirn ist dadurch blutleer geworden. Übrigens verdreht. Eine Schraube wird verdreht. Und nun denken Sie dran, daß man von der Schraubenmutter spricht, daß der Ingenieur weibliche und männliche Teile der Maschine unterscheidet, daß also auch die Maschinen in einem ständigen Geschlechtsverkehr stehen. Soll man nicht verdreht werden, wenn man das alles sieht, Sie werden es ja schon vom Hören.«

161 »Ich denke gar nicht daran. Ich finde Sie nur riesig spaßhaft, lache und spitze die Ohren.«

»Nun ja, die Ohren spitzen, da haben Sie schon wieder den Hund, der den Vater repräsentiert, den Wauwau für die unartigen Kinder, oder das Pferd, auf dem das Kind reitet. Übrigens ist auch das Weib Pferd, wird vom Manne geritten. Nun ja, und das Ohr hat ja auch eine Muschel, genau wie das Weib, und der Gehörgang –«

Schulze stutzte, dann schnippte er mit den Fingern, steckte wieder einmal die Hände in die Hosentaschen und machte längere Schritte. »Ah, nun begreife ich. Denken Sie, Herr Weltlein, in Dingsda, irgendwo in Bayern, habe ich einmal eine Darstellung der Empfängnis gesehen, die war sonderbar. Oben saß der liebe Gott und hatte eine Art Sprachrohr am Munde, das bis ans Ohr der Maria reichte und durch das durchsichtig gemalte Rohr flog die Taube direkt der Maria ins Ohr. Nun begreife ich.« Er freute sich so über seine Entdeckung, daß er immer schneller lief.

»Taube, Ohr, taub,« keuchte der dicke Thomas atemlos neben ihm. »Die Taube ist der Vogel der Aphrodite. Es geht eben alles durcheinander. Erlauben Sie, bleiben Sie doch mal stehen. Ich habe nicht so viel Puste, wie Sie.« Er faßte den Reisenden am Rock und hielt ihn fest.

»Da ist der ›Mutige Ritter‹.« Schulze wies auf ein Haus, über dessen Einfahrt ein Gepanzerter aus Blech auf einem blechernen Pferde einhergaloppierte.

»Zunächst geben Sie mir Bescheid, wie Sie dazu kommen, für ein Weingeschäft zu reisen. Sie sind doch nicht dafür geboren.«

»Ganz richtig. Ich habe einmal studiert, Medizin studiert. Aber die Flasche hat mirs angetan und als Weinreisender habe ich sie ja in nächster Nähe.«

»Ja, ja, die Flasche, Sie Säugling. Flasche und Glas, das ist auch Verkehr zwischen Mann und Weib. Ich bin überzeugt, daß die Flasche durch die Gewalt der inneren Ansteckung von den Hodensäften her entstanden ist. Und Glas und Jungfernschaft gehört auch zusammen.«

Schulze griff das Wort Verkehr auf. Ihm machte der Mann wirklich Spaß, mit seinem jonglierenden Gehirn. »Verkehr ist die Grundlage des modernen Lebens. Verkehrswege, Verkehrsweisen, 162 Erleichterung des Verkehres. Wenn ich Sie so sprechen höre, kommt mir die Idee, daß unsere Zeit zu der großen Steigerung des Verkehrswesens gekommen ist, weil der naturalistische Verkehr zwischen Mann und Weib früherer Zeiten in die sündhafte Heimlichkeit gedrängt worden ist und nun Hoden und Eierstöcke durch – wie nannten Sie es doch – innere Ansteckung gezwungen sind, andere Auswege zu suchen«.

Thomas machte ein wichtiges Gesicht. Ein paar Schulbuben rasten eben vorbei, da reizte es ihn, Schulmeister zu spielen. «Und Sie operieren zu viel mit Ersatz, Verehrter. Der Kaufmann hat eben doch auf Ihre Denkart abgefärbt, der Warenaustausch. Man ersetzt eben eine Ware durch die andere oder durch Geld. Aber Sie vergessen, daß bei diesen Geschäften einer immer geprellt sein muß. Vielleicht haben Sie aber recht. Mir kommt unsere Zeit trotz aller Chausseen, Eisenbahnen, Telegraphen und Telephonen doch geprellt vor, wenn ich sie mit der Boccaccios vergleiche.«

»Geschäft,« fiel der Reisende ein, »erinnern Sie sich an Ihre Auseinandersetzungen über das Bescheißen. Ein großes und ein kleines Geschäft machen, en gros und en detail. Der ›Mutige Ritter‹ hat neuerdings Wasserklosetts. Ich kenne aber noch die Zeiten, wo über der Mistgrube ein Aufbau war mit Sitzgelegenheiten und den dazu gehörigen Löchern für drei Personen nebeneinander, die gemütlich zu plaudern pflegten.«

»Löcher, Brille. Kurios, daß der Mensch diesem Ziel des dunklen Dranges Gelehrsamkeit andichtet. Gelehrt und geleert, vielleicht ist's dasselbe. Es ist eben auch ein Mikrokosmos, ein Weltlein, wir sind ja alle wandelnde Abtritte, haben ständig Dreck in uns. Aber wenn so viel davon gesprochen wird, kommt mich die Lust an, es auszuprobieren, und rasch muß es gehen, darin bin ich Kind.« Im nächsten Moment raste Thomas in das Hotel hinein, überrannte dabei einen kleinen, dicken Herrn im Zylinder mit einer Reitgerte und verschwand, ohne sich im mindesten um Wirt und Portier zu kümmern, in dem gepriesenen Klosett. Von dort kam er angefüllt mit neuen verrückten Ideen zurück, die er zum Gaudium der Stammgäste beim Kegelabend zum besten gab.

Die Kegelei fand statt. Die Parteien wurden ausgelost. Auf der 163 einen Seite scharten sich um den Weinreisenden der Hotelbesitzer Weber, der mit seinen verglasten Augen irgendwo in der Ferne große Weintonnen zu suchen schien, ein »Herr Direktor,« der, wie sich später herausstellte, Leiter einer Zelluloidfabrik war und sich dadurch lästig machte, daß er in gewohnheitsmäßiger Furcht vor realem und seelischem Feuer jedes weggeworfene Streichholz oder Zigarettenstümpfchen mit sorgfältigem Scharren seines breiten Fußes austrat, und ein Kassenrendant Leberecht, bei dem die Schöße des ängstlich zugeknöpften Gehrocks etwas auseinanderklafften und ein längst nicht ausgefülltes Dreieck der Hose sehen ließen, runzlig und faltig, wie man sich etwa das Gesicht seiner von ihm in jedem Satz erwähnten »Alten« vorstellen konnte. Die andere Partei bildeten der Arzt, der Apotheker und der Tierarzt, denen durch das Los der im Kegelspiel gänzlich unbewanderte Thomas zugesellt wurde.

»Na also, die Sache ist gewonnen, von vornherein schon,« lachte der Fabriksdirektor und ließ die Kugel vorsichtig laufen, während er die Rockschöße über den linken Arm nahm. »Zwei von der medizinischen Fakultät genügen schon, aber nun gar drei –.« Er konstatierte mit Befriedigung, daß sechs Kegel fielen. – »Drei bringen alles um, selbst eine Kegelpartie.«

»Nehmen Sie sich nur in Acht, daß Ihre Kugel nicht explodiert, wenn Sie so wild werfen,« tönte es dumpf aus den Bauchtiefen des Arztes, der verächtlich auf das langsame Gehaben des Zelluloidmannes herabblickte. Mit einem rasenden Anlauf warf er die Kugel, die in die Kegel hineinprasselte und am Kugelfang hoch aufsprang. »Das muß rausschießen, wie wenn man Rizinusöl genommen hat. Drei nur? Na, auch recht. Machen Sie's besser, Schulze.«

Der Weinreisende stand schon da, lächelte milde und schob, ohne ein Wort zu sagen seine acht Kegel.

»Bravo,« hieß es, »und nun kommt der Giftmischer.«

Der Apotheker tänzelte vor und während er mit kühnem Schwunge seines gesalbten Hauptes die Künstlerlocke zurückwarf, die ihm beim langen Suchen nach einer möglichst leichten Kugel in die Stirn gerutscht war, rief ihm der ungeduldige Hotelwirt zu: »Nanu mal los, die Kugel ist keine Pille, daß sie so in den Händen herumgemanscht werden müßte.«

164 »Nur Ruhe, laßt ihn nur drehen, je besser so ein Ding gedreht ist, um so glatter rutscht's,« mahnte Dr. Kuno. »Vier nur. Ja, so können wir nicht gewinnen.«

Der Hotelier warf nun und lief hinter der Kugel her, wobei seine Augen noch weiter als sonst hervorquollen. Er wischte seine Hand an der Hose ab und freute sich am Purzeln der Kegel.« »Das klappert, als ob's Sektflaschen wären,« meinte er und freute sich über seine acht Kegel.

»So,« rief Schulze und rieb sich die Hände, »der Doktor und der Apotheker haben's nicht geschafft. Jetzt probiert's der vierbeinige Kollege mit seiner Pferdekur und gibt der Partie den Rest.«

Der Tierarzt stand hemdärmlig da und fuhr mit dem Arm, der die Kugel schieben sollte, ein paarmal vor und zurück, »gerade als ob er eine Klystierspritze reine machen wollte,« ulkte der Doktor, schließlich warf er, legte die Hände auf den Hintern und schaute mit schief gehaltenem Kopf nach den Kegeln. »Acht,« rief er voller Befriedigung und gab sich selbst einen Klaps, daß es knallte. »So spielt man in Venedig.«

Jetzt kam der Rendant an die Reihe. Er schob eine sanfte Kugel, kauerte sich langsam hin, so daß die Rockschöße noch weiter auseinanderklafften, und suchte nun durch seltsame Drehungen des gezückten, knochig dürren Gesäßes unter der faltigen Hose den Lauf der Kugel zu verbessern. Die Kegel purzelten seltsam durcheinander. »Alle neune,« scholl es von oben und befriedigt lächelnd schritt der Held mit den Worten: »Und in anderen großen Seestädten,« zum Tisch, ergriff sein Bierglas, blies den Schaum nieder und trank.

Alles sah gespannt auf Thomas, der, seit er den Ruf Alle neune gehört hatte, ein seltsames Herzklopfen verspürte. Die allgemeine Aufmerksamkeit schüchterte ihn ein, er überlegte einen Augenblick, ob er nicht lieber erklären sollte, daß er nicht mitspielen könne, dann schloß er in einer ruckartigen Mutanwandlung tapfer die Augen und warf. »Alle neune,« scholl es wieder; der Rendant hörte mitten im Trinken auf, der Doktor Kuno nahm seinen Kneifer ab und putzte ihn und der Tierarzt lachte, daß es dröhnte und rief: »Die Kur hat geholfen, unser Pferdchen äppelt flott.«

165 Die Runde begann von neuem mit wechselndem Erfolg, aber als Thomas an die Reihe kam, schob er acht um den König und beim drittenmal wiederum alle Neune, was das Spiel zugunsten der Doktorpartei entschied. Ein allgemeines Halloh entstand, der große Kegelschieber wurde stürmisch beglückwünscht und das Ganze endete damit, daß er damit beehrt wurde, eine Lage Schnäpse zu stiften.

Eine neue Partie begann, die Spieler wurden ausgelost und Thomas kam diesmal zu der Gegenpartei des Doktor Kuno, der mißvergnügt meinte, man könne von vornherein einpacken, wenn man solchen Gegner habe, während der Hotelier eine Flasche Rüdesheimer entkorkte, um sein Glück mit dem großen Kegler Weltlein zu begießen.

Aber das Glück hatte sich gewandt. Bei der ersten Runde brachte er es noch auf zwei Kegel, bei der zweiten, wo er in Nachahmung des gewaltig spielenden Kuno die Kugel sausen ließ, daß es prasselte, ward es ein Sandhase und als er verstimmt und eingeschüchtert durch die wachsende Kälte seiner Verehrer das Glück beim drittenmal dadurch zu bannen suchte, daß er sich wie der Rendant in die Knie kauerte und mit dem Allerwertesten die Kugel zu deichseln suchte, eckte er an. Als er das Unheil kommen sah, drehte er verzweifelt seine stattliche Hinterseite im Kreise, so daß sich die Hose gefahrdrohend spannte; es half nichts, es half auch nichts als er in gerechtem Zorn über sein Mißgeschick, sich halb erhob und die Beine auseinanderspreizend nochmals mit Nachdruck und Empfindung sich zusammenkauerte, nur die Hose krachte, die Kugel irrte ab und zwischen Thomas Beinen erschien an Stelle der Naht ein Spalt, aus dem lustig die weiße Unterhose vorschimmerte. Ein schallendes Gelächter brach los, das sich erneuerte, als er verlegen die Hose hinten zusammenhaltend zum nächsten Stuhl eilte und beim ungeschickten Niedersetzen die Naht der Grätsche noch weiter aufplatzte.

»Achtung! Sie fallen hinten aus der Hose heraus,« rief der Weinreisende, als Thomas sich erschrocken wieder erhob.

»So braucht er wenigstens nicht erst vorn aufzuknöpfen, wenn er pinkeln will,« lachte der Rendant kichernd, »wie ein kleiner Junge, der's Knöpfen noch nicht gelernt hat.«

166 »Eine Weiberhose ist's,« entschied der Doktor, und kramte in seiner Tasche herum. »Aber ich werde die Sache kurieren. Kommen Sie mal her.« Er hatte sich hingesetzt und Thomas zwischen seine Knie genommen, dem der Schweiß auf die Stirne trat und der ängstlich, nach Kunos Hand spähend, stotterte: »Nicht schneiden, nicht schneiden!«

»Nein, nein, Verehrter, ich will Sie nicht kastrieren, nur wieder zum Manne machen. Unsereins kann beides.«

»Geburtshelfer reinwärts und rauswärts,« spottete der Zelluloidmann.

Kuno hatte mit einer Sicherheitsnadel vorn den Spalt zugesteckt, drehte Thomas um und suchte die weit auseinander stehenden Hosenflügel über der fleischigen Wölbung zusammenzubringen.

»Kennen Sie die Geschichte von Adam und Eva?« fragte der Tierarzt. »Als der liebe Gott Männlein und Weiblein schuf, ließ er bei Beiden den Bauch vom Nabel bis in die Kerbe offen, damit die Reste der holden Paradiesesfrüchte rasch wieder herausfielen, ehe sie im Bauch verfaulten. Aber beide Menschenkinder fanden das unbequem, weil sie immer mit gespreitzten Beinen gehen mußten, um nicht untenrum klebrig zu werden. Sie gingen zum Herrgott und baten ihn, den Bauch zusammen zu nähen. Schön, sagte der, aber wenn's halten soll, muß ich Bindfaden zum Nähen nehmen. Hier, er griff in die Tasche und gab jedem einen Groschen. Geht zum Krämer und holt eine ordentliche Kordel. Der Adam war brav und brachte ein schönes Stück Schnur an, das vernähte der Herrgott, und weil das Stück zu lang war, schlang er zuletzt einen dicken Knubben und ließ das Übrige herabhängen, so wie wir's immer noch mit Stolz tragen. Der Eva Stück aber sah der Herrgott bedenklich an. Es war gar kurz, denn Evchen hatte, als sie beim Krämer das große Glas mit den roten Bonbons sah, gedacht, die Hälfte tuts auch, hatte sich für fünf Pfennige Klümpchens gekauft und sie aufgelutscht. Der liebe Gott nähte und nähte, aber es wollte nicht fangen und zornig warf er, als das Stück zu Ende war, die Nadel fort und sagte: Zur Strafe sollst du für ewige Zeiten, da, wo ich dem guten Adam ein Schwänzchen geknotet habe, ein Loch tragen, das immer größer wird, je mehr du es zu stopfen trachtest.«

167 »Hoho!« klang es im Kreise und: »Nun ist der Mann wieder fertig,« sagte der Doktor. »Wir können weiterspielen.«

Es wurde weiter gespielt, aber Thomas' Leistungen wurden immer geringer. Er gab Acht darauf, daß die Naht nicht weiter platzte und die schlechten Witze, die gerissen wurden, sobald seine Sicherheitsnadeln zum Vorschein kamen, machten ihn verlegen.

»Wenn Sie ihm noch eine Binde von einer Nadel zur andern zwischen die Beine gelegt hätten, Doktor, wäre die Jungfrau fertig,« spottete der Rendant und als Thomas in heller Verzweiflung über seine Mißerfolge die Kugel mit beiden Händen zu werfen suchte, meinte er trocken: »Jetzt ist er ganz Tante Auguste damals bei dem Stiftungfest.« Das war zu viel. Thomas schützte Müdigkeit vor und trat aus dem Spiel aus, und als auch dann die anzüglichen Reden von Tante Auguste nicht aufhörten, schlich er sich an das andere Ende der Bahn und setzte sich in der Nähe der Kegeljungen, um das Spiel weiter zu beobachten.

»Alle Neune,« scholl es wieder einmal und als dort bei den Spielern der übliche Schrei nach Schnäpsen erklang, was eine kurze Spielpause anzeigte, begannen die beiden Jungen zu schwatzen.

»Wenn ich's dir doch sage,« eiferte der Ältere, ein Stift von etwa neun Jahren mit fuchsrotem, kurz geschnittenem Haar und dunkelbraunen Augen. »Erst ist die Katherin so dick gewesen,« er steckte den Bauch weit vor und um zu zeigen, daß es noch nicht reichte, faltete er seine schwarzen Hände über dieser Nachbildung eines schwangeren Leibes, »dann ist die alte Lene mit so einer schwarzen Tasche gekommen, wo sie immer davon erzählt haben, sie hätte Futter für den Storch darin. Wie die eine Weile da war, hat die Katherin angefangen zu schreien, als ob sie am Spieß stäcke, und dann haben sie mich zum Doktor geschickt und der hat wieder so eine Art Tasche gehabt, die hat er mir zu tragen gegeben, und wenn man sie schüttelte, hat's geklappert wie Eisen und ich habe auch die Griffe von zwei großen Fleischermessern gefühlt, weißt du solche, womit man Schinken schneidet.«

Der andere Junge hatte mit offenem Munde zugehört. Jetzt zog er seine Hosen, die eine unangenehme Art hatten zu rutschen, weil sie offenbar aus Vaters abgelegten Arbeitshosen dadurch 168 hergestellt waren, daß man die Beinlängen abgeschnitten hatte, hoch, wischte sich die Nase mit dem Finger und sagte: »Du kannst lange schwätzen, eh' ich's glaube.«

»Wenn ich's dir doch sage. Ich werde doch wissen, was ein Messergriff ist. Und dann ist er zur Katherin gegangen und ich habe draußen gehorcht und alles war still und auf einmal hat sie geschrieen, geschrieen, genau so, wie wenn eine Sau abgestochen wird. Und gleich darauf hat das Kind gequäkt. Das ist eben, der Doktor schneidet den Weibsen den Bauch auf und holt das Kind heraus. Und nachher blutet's. Ich werde doch noch wissen, was Blut ist.«

»Und wenn der Doktor nicht dabei ist, und er ist selten dabei,« warf der Kleine ein.

»Dann platzt eben der Bauch von selber. Du kannst doch sehen, vom Nabel bis zum Hähnchen unten ist's nicht fest zugewachsen, da platzt's.«

»Frauen haben gar kein Hähnchen,« warf der Kleine ein, der sich noch nicht überzeugen lassen wollte, aber keinen stichhaltigen Einwand fand.

»Achtung,« klang es von unten. Der Fabriksdirektor war an den Kugelkasten getreten und suchte sich sein Geschoß aus.

Thomas ließ geistesabwesend seinen Blick von dem Manne unten am Eingang der Bahn zu den Kegeln schweifen. Stumpfsinnig begann er zu zählen. Neun Kegel und der König in der Mitte rundete sie zur Wölbung. Schwanger, schoß es ihm durch den Kopf.

Jetzt warf der Direktor einen seiner vorsichtigen Würfe; langsam kam die Kugel angerollt. Da plötzlich stand Thomas mitten in der Bahn, breitete die Arme aus und mit dem Ruf: »Der Doktor, der Doktor,« hielt er die Kugel mit dem Fuße auf.

Die Spieler verstanden nicht, was vor sich ging, konnten aber von Thomas auch nichts erfahren; er blieb vor den Kegeln stehen, achtete nicht auf die Mahnung, das Spiel nicht zu stören und hielt fortwährend »der Doktor« brüllend, jede Kugel auf.

Jetzt sprang Dr. Kuno vor. »Er kommt schon,« rief er und ließ aus voller Kraft eine Kugel dahinsausen.

»Nicht so, um Gottes willen.« Thomas sprang in die Höhe und 169 ließ die Kugel unter sich weg rasen. Er hielt dabei mit der einen Hand die vordere, mit der anderen die hintere Sicherheitsnadel, und da nun eine Kugel nach der anderen angesaust kam, hopste er kunstvoll, wie ein kleines Mädchen, das übers Seil springt, immer laut rufend: »Aber das ist ja ganz falsch, das ist ja falsch.«

»Scheren Sie sich aus der Bahn raus,« schrie der Hotelbesitzer, »Sie haben da nichts zu suchen.«

»Raus aus der Bahn,« ertönte es von allen Seiten und hinten die Kegeljungen, die sich halb tot lachten, wurden plötzlich auch wütend, schrieen »raus« und als sie sahen, wie der Tierarzt ein Bierseidel in die Höhe hob, als ob er es dem albernen Mann da an den Kopf werfen wollte, griffen sie zur Waffe der Gassenjugend und bombardierten das große, dicke Untier, das immer noch hüpfte, obwohl keine Kugel mehr kam, mit Steinen.

Wie ein gereiztes Tier brüllte Thomas jetzt auf und die Augen auf den anrückenden Haufen der Spieler, die sich mit Biergläsern und Stöcken versehen, zur Sturmkolonne gesammelt hatten, gerichtet, wich er gegen den Kugelfang hin zurück, packte die beiden Knaben, hob sie hoch, stieß sie mit den Köpfen zusammen und warf den einen rechts, den anderen links beiseite. So wenig bedeutend das Kunststückchen war, machte es doch die Kegelhelden stutzig, zumal sich Thomas jetzt bückte, den Kegelkönig faßte und ihn hoch über dem Haupte schwingend schrie: »Kindsmörder! Ich schlage dem ersten, der herankommt, den Kopf zu Brei.«

Der erste in der Reihe war der Hotelier, seine Augen wurden noch stierer als gewöhnlich, wie eine Katze, die man scharf ansieht, drehte er den Kopf beiseite und dann nach hinten. Die tapfere Schar war zagend stehen geblieben, ganz zu hinterst der Dr. Kuno, der nur immer rief: »Packt ihn, er ist verrückt geworden. Paranoia acuta, packt ihn.« Dabei sprang er abwechselnd vor und zurück, je nachdem sein ärztliches Pflichtbewußtsein oder sein Selbsterhaltungstrieb überwog.

Jetzt kamen vom Hause her ein paar Weiber gelaufen, die der Lärm angelockt hatte, und erleichtert aufatmend rief der Hotelier im Gefühl, Mann zu sein: »Rufen Sie den Hausknecht, Alwine.«

170 Thomas ließ plötzlich den Kegelkönig sinken, seine rollenden Augen wurden still, und ohne ein Wort zu sagen, verließ er die Bahn. Als hinter ihm her die ganze Bande kam, drehte er sich um und deutete auf den Kegelkönig, den er noch immer in der Hand trug.

Alles stockte, als aber Thomas weiter schritt, klang es kriegerisch von den Lippen des Wirtes: »Hinaus mit Ihnen aus meinem Hause. Alwine werfen Sie die Sachen dieses sauberen Herrn auf die Straße. Hinaus mit Ihnen!« Wie ein Feldherr stand er da, eine Hand vorn zwischen die Knöpfe seines Jacketts, die andere gebieterisch ausgestreckt und in seinen Augen flackerte zum erstenmal seit langer Zeit etwas wie Leben.

Thomas senkte den Kopf und ging und hinter ihm her tönte die Stimme des Rendanten: »Sie verlieren Ihren Dianagürtel.« Thomas griff nach der Nadel, während ein tolles Gelächter hinter ihm losbrach, und schritt langsam auf die Straße hinaus. Dort stand schon sein Handkoffer, darauf sein Stock und sein Hut. Er stülpte den Hut auf und, den Stock mit dem Fuß beiseite stoßend, setzte er sich auf den Koffer und ließ den Kegelkönig, den er immer noch in der Hand hielt, zwischen den Beinen baumeln, wehmütig den Riß in der Hose und die Nadel vorn betrachtend.

Endlich erhob er sich, stellte seinen Kegel sorgfältig vor die Wirtshaustür, nahm Koffer und Stock und ging betrübt zum Bahnhof. Dort im völlig leeren Wartesaal setzte er sich in eine Ecke und dachte nach, und als der Bahnhofsportier zu ihm trat, um ihn zu fragen, mit welchem Zug er fahren wolle, bat er unter Beifügung eines Trinkgeldes, sich vor ihn zu stellen und sich nicht umzudrehen, holte aus dem Koffer den hellen Anzug heraus, der darin war, und zog sich um.

Nachdem er den Portier, der im Spiegel sein Tun beobachtet hatte, und wegen Verletzung des Eisenbahnreglements mit Strafe drohte, nochmals klingend beschwichtigt hatte, schlief er ruhig ein. 171

 


 


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