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Strandläufer.

Am Abend nach der Einfahrt, als die Koffer ausgepackt waren und alle Einrichtungen ausgeführt, – »die Compagnie eingeschachtelt«, sagte Papa – wollten Ida und Frida, Paul und Gustel die Landratte Lydia noch einmal nach dem Strand führen; aber als sie die Näschen hinaussteckten, hatte der Mond die Vorstellung abgesagt und ein feiner Regen rieselte herab.

Mama fand, in diesem Fall sei zeitig zu Bett und früh wieder heraus das Schicklichste für Spatzen, und mit leisem Seufzer wurde die höhere Weisheit angenommen, obgleich sich die drei Großen eigentlich regenfest fühlten.

Dafür war's denn nun aber am nächsten Tag desto schöner. Ehe Frau Bewermann die Augen aufgeschlagen hatte, schlüpften die beiden Waldweibchen zum Hause hinaus; niemand war ringsum zu sehen, nur Frau Stine Steen stand am Brunnen im Hof und bewegte eifrig den Schwengel. Das Spatzennest lag auf der Höhe des Dorfes, in einem Waldeckchen vor allzu heftigen Stürmen geborgen, nur von Gustels Dachstübchen aus konnte man den Nordstrand sehen, an dem gestern gelandet worden war; ein zweites Bodenfenster gab einen Lugaus nach Süden frei, bis zu den Greifswalder Kirchtürmen, die gute Augen manchmal, noch öfter aber eine flügelfrohe Phantasie sehr deutlich zu sehen vermeinten.

Seitwärts, einen Katzensprung weiter nach dem Dorfe zu, lag Herrn Kalkoffs Villa. Da waren noch alle Vorhänge fest geschlossen.

»So wird's überall sein,« sagte Gustel, »laß uns durch den Wald gehen; heimwärts finden wir das Dorf gewiß schon munter und belebt.«

Sie liefen links ab vom Spatzennest ins Grüne hinein; überwurzelter Weg, hie und da eine Bank, lauschige Buschwinkel, Perlen vom nächtlichen Regen überall auf Halm und Kräutern und hohe, sich wölbende Wipfel über ihnen. Lydia schwieg, das leise Rauschen, von dem sie nicht wußte, kam's von den Baumkronen dort oben, oder von der See da unten, legte sich ihr Ehrfurcht heischend aufs Herz. Gustel stand vertrauter Schönheit gegenüber, wie der Wind lief sie den Waldpfad hinab und schickte einen jauchzenden Ruf hinaus in die Luft, als sie auf die erste freie Düne sprang. Atemlos kam Lydia ihr nach und hielt sich am Arm der Freundin fest.

Da war es ja nun, das Herrliche, was sie jetzt vier Wochen lang genießen durfte, das »einzig Schöne«, von dem Pate Braun ihr beim Abschied gesagt hatte, es sei die gewaltigste Predigt der Natur.

Drei Dünen, gleich hohen Sandwellen, lagen noch vor ihnen; dahinter rollte das Wasser heran: große, langhingestreckte Hügel, tiefgrün in ihrer Bucht, auf denen die weißen Schaumpferde heranritten, kurz vor dem Strande sich überstürzend, zischend, verrinnend, verschwindend, stets von neuen gefolgt, die sich reckten und stürzten – wieder auf – wieder ab – ewig das Gleiche in ewigem Wechsel.

Aber nicht nur am Ufer, soweit der Blick hinausschweifte, bis zum Horizont, die gleichen Hügel, die gleichen Reiter; nur daß draußen die See in schwärzlicher Bläue sich von dem zartgefärbten Himmel abhob.

Gustel fiel der Freundin jauchzend um den Hals. »Süße Lydia, du hast ja ein ganz unmenschliches Glück, gleich am ersten Morgen einen netten, kleinen Ostwind.«

Der nette, kleine Ostwind warf die beiden Mädchen beinah um, wenn er nach kurzem Atemholen mit jähem Stoß gegen sie anprallte.

Endlich stammelte Lydia: »So ist sie nicht immer?« Gustel lachte.

»Was denkst du wohl, was uns geschehen wäre, wenn sie sich gestern so lustig aufgeführt hätte? Seekrank wären wir geworden; vom Baden wird heute kaum die Rede sein für dich, Neuling. Nein, zumeist ist sie sanft wie eine Badewanne, unsre liebe, gute, kleine Ostsee.«

Zärtlich sah Gustel hinaus und breitete den Wellen die Arme entgegen; dann wateten die beiden Mädchen durch den Sand und lagerten sich im Schutze der letzten Düne, die Augen auf das wechselnde Spiel der Wellen gerichtet.

Ein kleines Weilchen schwiegen sie ganz still; dann sagte Gustel auf einmal: »Du! Ist's nicht wunderbar? Gerade als ob das Bild des Meeres alle törichten Gedanken aus Kopf und Herzen fortspüle und nur Schönes und Klares zurückließe.«

»Ja,« antwortete Lydia zögernd – »aber – nein doch nicht! Mir macht es eher Angst; ganz wirr werde ich davon – das ist alles viel zu weit und groß, wo bleibe ich denn da, ich kleines verwehtes bißchen Mensch.«

»Ei!« sagte Gustel, »denk doch nicht an dich; schau doch hinaus und freu dich der Schönheit.«

Lydia schwieg; nicht an sich denken, als ob man das könnte!

Aber sie sah gehorsam hinaus, und müde konnte man des Anblicks freilich nicht werden. Welle auf Welle, Sturz auf Sturz, wieder und wieder derselbe Donnerton, der das Zerschellen der Brandung aus dem allgemeinen Brausen heraushob.

Eine halbe Stunde etwa mochten sie so gesessen haben, da wurden stürmende Schritte hinter ihnen laut und mit Hallo sprang Paul auf die Düne herauf. »Da sind sie! Frau Stine hat euch verraten! und ihr sollt sachte zum Frühstück kommen, dem feinen Seewind zu Ehren schlägt schon das ganze Spatzennest mit den Flügeln.«

Lydia freute sich sehr über den Aufbruch und den lustigen Gesellschafter, dessen Erscheinen sofort den Bann von ihr nahm, mit dem das gewaltige Neue sie fesseln wollte.

Die drei schlenderten den Strand entlang dem Dorfe zu, nicht so nahe am Ufer, daß die Wellen sie fassen konnten, aber doch nahe genug, um hie und da das letzte verrinnende Naß unter den Stiefelchen zu spüren; dann gab's ein Aufschreien, Zurückspringen und Aufjauchzen. Sie konnten sich's gönnen, leer war der Strand; nur an den aufgestapelten Booten waren ein paar Fischergestalten beschäftigt, diejenigen, welche der steigenden See am nächsten lagen, höher hinauf zu bergen.

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»Ist's nicht wunderbar? Gerade als ob das Bild des Meeres alle törichten Gedanken aus dem Kopfe fortspüle.«

»Famos,« sagte Paul, »die Fischer denken, es wächst noch, das gibt heute eine Lust! Kampf mit den Wassergeistern, frei nach Böcklin.«

Eben in diesem Augenblick tat sich dem jungen Volk eine kleine lauschige Dünensenkung auf und in dieser Sandkaule saß, einen Malkasten auf den Knieen, ein Mann.

Nicht, wie Lydia sich in ihrer Holkwitzer Mühle die Maler ausgemalt hatte, saß er da, er trug gleich dem echtesten Tünchergesellen einen grauen Kittel, der reichliche Spuren von dem Blau und Grün zeigte, das die Wellen da draußen auf die Leinwand fangen sollte. Eine häßliche knappe Reisemütze saß ihm so fest auf dem Kopf, daß nur ein schmaler Streifen kurzgeschnittenen Haares im Nacken sichtbar wurde. Zwei farbensatte Pinsel hatte er im Eifer quer in den Mund genommen, die ragten nun rechts und links zwischen den Lippen vor wie ein ungeheurer steifer Schnurrbart, und er arbeitete so heftig darauf los, als müsse er ebenso schnell, wie die Welle sich hob, wuchs und überstürzte, das Wunder auch auf die Leinwand zwingen.

Dies alles hatten die drei mit einem schnellen Blick der Verwunderung gefaßt, und ehe er sich die Sache recht überlegte, platzte Paul heraus: »Hurra! da sitzt er schon und fängt sich neue Wasserkerle ein.«

Diesmal hatte der Maler gehört, drehte den Kopf, nahm den steifen Bart aus den Zähnen und fragte: »Wer sitzt?«

Die Stimme knarrte ziemlich unhold und rübezahlmäßig durch den Sturm, Paul wäre unbedingt in Verlegenheit verstummt, wenn die »Damengesellschaft« nicht seinen Ehrgeiz gestachelt hätte. So nahm er den Primanermut zusammen und antwortete: »Böcklin, dacht' ich, Wasservolk malend.«

Ein knurrendes Lachen kam von des Malers Lippen. »Nicht Böcklin, nicht ganz, sondern einer, der erst auf dem Weg oben hinauf ist. Ihr aber seid wohl Wassergelichter, was sich einfangen lassen will. He?«

»Nein,« antwortete Gustel und hob sich auf den Fußspitzen, um ein bißchen nach der Leinwand zu gucken. »Wir sind die Waldweibchen aus dem Spatzennest und das ist nur ein Primaner –«

Das knurrende Lachen wiederholte sich. »So? Und ich bin ein Unglückshuhn, das sich den Morgenschlaf um die Ohren geschlagen hat, um allein auf dem Platze zu sein, und doch kommt einem solch kleines Teufelsvolk zwischen die Sonne, und wenn man gar meint, es sei ein ordentlicher Nix darunter, dann ist's nur ein Primaner und luftiges Dryadenvolk. Kann ich nicht brauchen.«

Diesmal war's Gustel, die lachte; aber sie war auch purpurrot geworden und machte keinen langen Hals mehr.

»Gleich werden Sie uns los,« sagte sie eifrig; »ganz flink fliegen wir fort, guten Morgen, guten Morgen!«

Husch, husch, husch, waren die drei vor dem Sandkesselchen vorbeigelaufen, und der Maler war wieder mit Sturm und Wellen allein, aber sein knurrendes Lachen hörten die drei Strandläufer noch eine ganze Weile zwischen dem Wellengebrause hindurchklingen.

Beinah hätten die Geschwister vergessen, Lydia den Badestrand mit Zellen und Stegen vorzustellen, so sehr nahm der Maler ihre Gedanken und ihre Rede in Anspruch. Auch noch während sie landauf an strohgedeckten Hütten, stattlichen Logierhäusern und lauschigen Villen vorüber durch die große Dorfstraße wanderten, gab des Malers Anzug und Wesen ihnen wichtigen Redestoff. Die Hauptsache, sein Bild, hatte man eben leider nicht zu sehen bekommen.

Im Dorf war jetzt schon hie und da Leben; besonders in den Gehöften ging's munter zu. Da waren immer je drei Gebäude: Wohnhaus, Stall und Scheuer um eine stattliche Dungstätte geschart und von einer niederen Steinmauer umgeben. Auf den Dächern und den Mauern wuchs gelbblühender Steinwurz, Glückskraut genannt, und drinnen im Hof hantierten die Leute.

Vor Fischer Stures Anwesen blieben die Geschwister Elwers stehen und boten dem Besitzer einen guten Morgen. Er kniff das linke Auge zusammen und nickte ihnen zu, nach einem Weilchen sagte er noch: »Gun Tak ook;« aber zwischen dem Blinzeln und dem Reden hätte man gut und gerne bis zwanzig zählen können.

Dabei förderte er stetig und ohne Aufhören seine Arbeit.

»Ist es nicht großartig?« sprach Gustel im Weiterlaufen, »das sieht so langsam aus, als solle eins eingeschläfert werden, und dabei schaffen sie so mächtig viel; ich begreife es gar nicht!«

»So sind sie auf dem Land,« rief Lydia eifrig, »Jens Sture erinnert mich –«

Erschrocken hielt sie inne – hatte sie nicht jetzt eben sagen wollen, daß dieser Fischer sie an ihren Vater erinnerte? Nein, lieber daran ersticken, als diese Worte ans Tageslicht lassen. Und als Paul fragte: »An wen denn?« antwortete sie kühl: »An einen Holkwitzer Bauern, mir fiel aber eben ein, daß ihr den doch nicht kennt.«

Paul fand es sehr merkwürdig, daß ein Rügener und ein Altenburger Bauer sich ähnlich waren, was doch unbedingt eine Standesähnlichkeit sein müsse, und konnte sich zu Lydias Aerger gar nicht wieder davon wegfinden. Plötzlich entdeckte Gustel andre Bekannte.

In dem Garten des letzten Häuschens der Dorfstraße flatterte Wäsche, und die Frau, die abnehmend und aufhängend zwischen den zarten Kleidungsstücken der Badegäste hin und her schritt, war es, zu der Gustel mit fröhlichem guten Morgen hinlief.

»Frau Beckers, Frau Beckers! Was ist mir denn das? Haben Sie sich ein Haus gebaut?«

Frau Beckers, deren verwittertes Gesicht einem alten Seemann Ehre gemacht hätte, wischte die nassen Hände an der Schürze trocken, drückte kräftig Gustels kleines Patschchen und versuchte, hochdeutsch zu sprechen.

»Ja,« sagte sie mit stillem Lächeln, »und ›Hoffnung‹ haben wir's genannt, wie das Schiff, mit dem Vadder fort ist; man muß eben hoffen, min lütte Dearn.«

Gustel nickte eifrig. »Ja. Immer! Und sind Rosing und Käting gesund?«

»Ja, ich dank' auch, sie plätten – und haben viel Arbeit, weil's so viel Fremde gibt, und der Jung is noch to Hus, Gott sei Dank, aber ick fürcht', nich allto lang mihr; er meint, er findet Vatern schon – im Indischen Meere war's; übers Jahr hält's den Jung nich länger –«

Als die Mädchen weiter gegangen waren, fragte Lydia: »Wer war nun das wieder? Ihr kennt wohl das ganze Dorf?«

»Natürlich,« fiel Gustel eifrig ein, »außer im letzten Sommer sind wir doch alle Jahre hier gewesen und auf Frau Beckers Mann kann ich mich recht gut besinnen. Sie hatten das kleinste Häuschen draußen nach dem Südstrand zu und lebten vom Fischfang und Heringstrocknen. Als die Badegäste häufiger wurden, hieß es, so nahe beim Dorfe dürfe keiner mehr dörren, wegen des Geruchs, da ging's ihnen knapp; und dann brannte ihnen in einem Winter, wo alles Wasser zu Stein gefroren war, das Häuschen nieder, und um Geld zu einem neuen Häuschen zu verdienen, verheuerte sich der Mann auf der ›Hoffnung‹ nach Indien. Aber er ist nicht wieder gekommen, das Schiff ging unter.«

»Euer geliebtes Göhren ist gräßlich,« sagte Lydia; sie fühlte sich von einem flauen, nüchternen, übernächtigen Gefühl ganz eingenommen, »oder ihr erzählt Schauergeschichten. Sie haben ja wieder ein Haus.«

»Ja, wer weiß, mit wie viel Schulden sie das Haus in Hoffnung auf guter Freunde Hilfe gebaut haben. Wenn sie dir leid tun, dann laß sie nur recht viel Sommerfähnchen waschen, während der Ferien ist ihre Erntezeit fürs ganze Jahr.«

Lydia beschloß, nur Waschkleider zu tragen, obwohl sie ihr allerhübschestes Blauseidenes mitgebracht hatte, und dieser Entschluß brachte sie in leidlich behagliche Stimmung. Der Kaffee besorgte dann noch das übrige.

Der Familienkaffee im ›Spatzennest‹ – so stand wirklich über dem hölzernen Balkon des ersten Stockwerks in großen goldenen Buchstaben zu lesen – war sehr hübsch. Alle waren lustig, alle plauderten auf einmal. Von Frau Beckers Häuschen ›zur Hoffnung‹ war nicht mehr die Rede, aber das Malererlebnis wurde nach allen Seiten gewendet und Paul erwies sich als ein Meister schmückenden Vortrags. In seinem Bericht wuchs sich das ganz kleine Erlebnis zu einer Gespenstergeschichte ersten Ranges aus. Nicht nur Ida-Hasenfuß, sondern auch die Heldin Frida bekam große Furchtaugen.

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