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Vierzehnte Nacht.

Es erben sich Gesetz und Rechte
Wie eine ewige Krankheit fort;
Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte
Und rücken sacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage;
Weh Dir, daß Du ein Enkel bist!
Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
Von dem ist leider nie die Frage.

Goethe

Unfern der Hauptstadt war ein großer Wald gelegen. Darin wuchsen schon vor tausend und vielen Jahren in friedlichem Nebeneinander die wunderherrlichsten Tannen und die knorrigsten Eichen und alle Waldbäume sonst, die Laub und Nadeln tragen. Mitten drinnen im Walde lag ein grüner, unergründlicher See, der von zwölf Bergquellen gespeist wurde.

Vor tausend Jahren, so erzählt die Sage, war dieser Waldsee noch ein Weiher gewesen, und die zwölf Bergquellen, die ihn nähren, flossen damals nach allen Winden, die zwischen Abend, Morgen und Mitternacht wehen. Das waren die Bäume und Bäumlein im Walde sehr zufrieden gewesen, denn der trockene Sandboden, in dem sie wurzelten, gab ihnen nur wenig Nahrung her, und sie brauchten doch Wasser, um zu leben. Daher waren die zwölf Bergquellen ihre guten Freunde geworden, trotzdem sie wilde Gesellen waren und zuzeiten in jugendlichem Ungestüm trotzig einherstürmten. Aber im Frühjahr, wenn von Berg zu Tal die Frühlingsfluten brausten und, in tausend Rinnsalen überschwellend, die aufthauende Erde tränkten, machte ihr schäumender Jugendmut alles wieder gut. Nur die Jäger im Walde, die auch dem Fischfang oblagen, ärgerten sich, daß so viele Fischlein ihren Netzen entschlüpften und ungesotten in ferne Flüsse schwammen, wo der Herren Waidgerechtigkeit nicht bestand. Obwohl ihnen der fischreiche Weiher mehr Karpfen und Forellen gewährte, als sie alle zusammen in ihrem Leben aufessen konnten, ersannen sie einen Plan, wie sie allen Reichtum der Quellen für sich ganz allein einheimsen könnten. Sie leiteten die zwölf Gewässer in der Nähe ihrer Quellen in einen gemeinsamen tiefen Wassergraben und führten diesen nach dem Weiher. Nun schwammen die Fischlein der zwölf Quellen nicht mehr nach Abend, Morgen und Mitternacht, sondern sie flossen mit allen Wassern in den grünen Waldweiher, der von Stund an wuchs und wuchs und bald ein großer See ward. Die Fischer aber, weil ihre Knechte den Graben ausgeschaufelt hatten, beanspruchten nun das Fischen im Weiher als ihr Frei- und Alleinrecht. Und am andern Morgen schon nannten sie das ihr ehrwürdiges und geheiligtes Recht, weil die Pfaffen, die im Trüben für sich und den großen Bauch der Kirche auch ihr Fischlein geangelt, ihr Segenskreuz und Amen dazu gegeben hatten.

Die Folge war, daß die Waldanwohner und die Bäume im Walde, denen man ihre beste Nahrungsquelle abgegraben hatte, nunmehr ganz von den Launen des Himmels und noch schlimmer von der Gunst und Gnade der Seeherren abhängig waren und bald zu murren begannen. Doch ohne daß etwas gebessert wurde. Im Gegenteil: von Jahr zu Jahre, je mehr der vertrocknende Sandboden von den dürstenden Wurzeln ausgesogen wurde, desto fühlbarer machte sich im ganzen Walde die Wassernot. Viele Bäume starben ab, oder ihre saftlosen Stämme wurden von den Winterstürmen gebrochen und entwurzelt. Andre fristeten mit dem bißchen Winterschnee und den paar Regentropfen, die ab und zu in der warmen Jahreszeit fielen, ihr Leben notdürftig; aber auch sie ließen die entkräfteten Zweige trauernd zur Erde hängen. Nur die Bäume um den See herum prangten in üppiger Laub- und Nadelpracht, denn ihre Wurzeln hatten beständig Feuchtigkeit, und namentlich die uferüberschwemmende Frühlingsflut führte ihnen alljährlich einen Überfluß an Wasser zu.

Viele hundert Jahre ertrugen die dürstenden Bäume ihre Not mit ziemlicher Geduld. Sie hatten auch selten Zeit, sich mit ihrem Elend zu beschäftigen, da, wuchernd im ganzen Walde, aus einer giftigen Saat das Kraut Zwietracht aufgeschossen war, und nun alle Bäume, die Tannen wider die Fichten, die Fichten wider die Buchen und die Buchen wider die Eichen in scheelem Bruderzwist entbrannt waren. Erst als verheerende Winde ins Land brachen und den ganzen Wald an Kron' und Wurzel bedrohten, vergaßen die Bäume ihres Haders, und auf den Weckruf der königlichen Edeltanne sammelten sich die Tannen, Eschen, Buchen und alle anderen Kronen des Waldes mit ihren Sippen unter einer starken Eiche zum Widerstand gegen den gemeinsamen Feind. In ihren eigenen Klüften und Höhlen wurde die fremde Windsbraut gebändigt, und frei und einig, herrlicher denn je, prangte der alte Märchenwald im jungen Hoffnungsgrün des befreiten Lenzes.

Nun sollte auch ein neuer Frühling jenen armen Bäumen und Bäumlein blühen, die kein Wasser hatten, davon sie den Durst ihres Lebens stillen konnten. Aber als man sie warten und warten ließ, sprachen sie eines Tages zum Weiher: »Siehe, du hast alle Quellen in dich aufgenommen, die uns ehedem Nahrung gaben; willst du nicht manchmal ein wenig überfließen und uns von deinen Wässern auch eine Handvoll abgeben?«

Der Weiher aber sagte: »Das stehet nicht in meiner Macht, ihr lieben Bäumlein, da müßt ihr euch an die Edeltanne und an die Bäume an meinen Ufern wenden, denn die befehlen hier über Land und Flut.«

Und die armen Bäumlein wandten sich an die wasserreichen Bäume am Seegestade und an die königliche Edeltanne und sprachen: »Ihr habt alles Wasser des Weihers und aller Quellen Gewässer, die darinnen fließen. Wollet ihr uns nicht Brünnlein graben im Walde, daß auch wir finden, davon wir trinken können?«

Die wasserreichen Bäume an den Ufern des Sees aber antworteten also: »Ihr lieben Brüder im Walde, wir können euch auch nicht helfen, denn ein jeder hat zu schaffen mit dem, was ihm gegeben ist. Da müßt ihr euch schon an euch selber wenden und euch helfen, so gut ihr das vermögt.«

Wie sollten sich nun die armen Bäume helfen ...?

* * *

O Deutschland!

Ich saß in meinem Stübchen heute abend, träumte von dem und jenem, und auch die alte Fabel vom Wald und Weiher war mir so von ungefähr in den Sinn gekommen, als ich plötzlich in meiner Versunkenheit gestört wurde. Eine längstvertraute Gestalt, die ich aber schon lange nicht mehr gesehen hatte, der müde, gebeugte Gram, war still bei mir eingetreten und hatte mir ein Zeichen gegeben, daß ich ihm folgen möchte. Ich gehorchte seiner Aufforderung um so bereitwilliger, als der Gram die erste jener geheimnisvollen Nachtgestalten war, die mir wieder nahe trat. Denn seit vielen Wochen, seit der wundersamen Sternenfahrt in der Sylvesternacht, war ich in diesen tiefen Traumstunden ganz allein geblieben.

Der Gram führte mich vor die Stadt hinaus in unsern lieben Wald, in dessen grünen Irrgängen soeben noch meine fernschweifenden Gedanken geweilt hatten.

Es war eine milde, lichtklare Sternennacht. Unterwegs in den Feldern überholten wir einen schwarzgekleideten Mann, der auch nach dem Walde ging. Wie wir vorüberschritten, sah ich dem Schwarzrock ins Gesicht und bemerkte zu meinem Erstaunen, daß es gar kein Mann, sondern ein verkleideter Fuchs war.

Im Walde schien heller Mondenschein. Alle Bäume waren schon müde, und die Frühlingsvögel sangen in den Zweigen. Wir näherten uns einer kleinen Lichtung, als an unser Ohr eigentümliche Jammertöne drangen. Wäre die Luft nicht ganz still gewesen, so würde ich geglaubt haben, der Wind seufze so jämmerlich. Ein eigentümlicher Anblick bot sich uns, als wir aus dem Dickicht heraustraten. Auf einem Erdhaufen saßen in friedlichem Beieinander ein Maulwurf und ein Hamster. Der letztere war es offenbar, der die eigentümlichen Klagelaute von sich gab, und zwar, indem er dabei mit vollen Backen unausgesetzt kaute. Als wir näher zutraten erstaunte ich, aus dem vollgepfropften Hamstermaule einen berühmten Kanon zu vernehmen. Das arme Tier, das nebenbei auch unter der anstrengenden Tätigkeit seiner Kauwerkzeuge sehr zu leiden schien, würgte und quetschte die Töne in der Kehle, daß es einen Stein erbarmen konnte ...

»O Not, o Not der schweren Zeit!
»O schwere, schwere Zeit der Not!
»O schwere Not, o Not der Zeit!
»O Zeit, o Zeit der schweren Not!«

»Ja,« seufzte auch der Maulwurf, »es ist manches faul im Staate Dänemark. So z. B. der schuldige Respekt vor Leuten von Reputation, wie wir sind, und vor der hohen Obrigkeit! Ich will sagen, dieser Respekt schwindet – Gott seis geklagt! – immer mehr im Volke. Und das Schrecklichste ist, daß die Leute immer klüger werden! – eine Verschiebung des geistigen Gleichgewichtes, die dem Einsichtigen bedenklich erscheinen muß. Ehemals konnt' ich mir wenigstens mein Wahlsprüchlein loben: divide et impera! Aber heut will auch diese Medizin bei dem miserabeln Pöbel nicht mehr anschlagen!«

»Ja, bester Maulwurf, es stehet schlimm mit uns, es steht schlimm!« sagte der Hamster. »Früher hatte man es hier allein mit den Proletariern unter den Bäumen zu tun. Aber der Geist der Unzufriedenheit greift immer weiter. Da sind Stauden und Sträucher, Pilze und Kräuter, Farn und Moose, und das alles – man sollt' es nicht für möglich halten! – will leben und saugt aus diesem dürren Boden!! Und was bleibt für den armen Hamster? O Not, o schwere Not!«

»Und was das Schlimmste ist,« fiel der Maulwurf ein, »dieser abscheuliche Geist der Unzufriedenheit, diese rohe Gier nach Wasser unterwühlt den ganzen Waldboden. Immer länger und immer begehrlicher strecken diese unverschämten Bäume ihre Wurzeln aus, und gewährt man ihnen aus purem Mitleid einen Tropfen, gleich möchten die Unersättlichen den halben Weiher austrinken! – Nicht den Fingerhut voll sollte man reichen!«

»Das mein' ich auch,« sagte der Hamster. »Überdies dünkt mich, ein Baum, der nicht das Wasser zum Leben hat, der hat schon von Grund aus auch gar kein Recht zum Leben! Ein solcher Baum ist mir grundsätzlich wider das Allgemeinwohl im Walde, das unter ihm mitleidet; und von Ordnungs wegen müßt' er einfach totgeschlagen werden!«

»Ja, es ist wirklich nur eine Gnade, wenn wir an unsern Wald- und Wiesenquellen solch ausgedörrtes Bettelvolk ab und zu noch dulden!« so bekräftigte der feldherrliche Spießgeselle mit sittlicher Entrüstung.

»Wackrer Maulwurf! Nein, wie wir uns verstehen!« lächelte der Hamster unter Tränen und drückte dem Freund gerührt die Pfote. Dann fuhr er fort: »Aber ich sehe gar nicht ein, wir müssen es nicht dulden, wir haben auch Pflichten an uns selbst zu erfüllen! Bald ist Rattag im Walde, da werd' ich beantragen, daß tausend Bäume nächst meinem Felde mit Stamm und Stumpf ausgerottet werden. Denn wenn ich des Winters nicht verhungern soll, muß ich mein Ackerland vergrößern – ich will Kraut bauen!«

»Wie –? hast du an deinen Vorräten noch nicht genug?« fragte mit einigem Erstaunen der Maulwurf.

»›Genug!‹ Was das für ein Wort ist, lieber Maulwurf, als ab ein armer Hamster jemals genug haben könnte! Seitdem ich denken kann, hat es nur noch Mißernten gegeben, und ich fürchte, solange ich lebe, läßt das der liebe Gott auch kaum anders werden!«

»Du ärmster Hamster! Nein wirklich, es ist, als hätte dich der liebe Gott im Zorn geschaffen!«

»Ja, bemitleide mich! Du glaubst mir nicht, guter Maulwurf, wie mich die Not an allen Gliedern zwickt. Besonders aber im Magen: der kann schon gar nicht mehr genug kriegen!«

»Armes Hamsterchen! Man müßte dir einen Doktor holen?«

»Nein, nein, mein trefflicher Maulwurf, keinen Doktor, keinen Doktor! Was könnte der höchstens verschreiben? Fasten und Aderlassen, und das sind Dinge, die ich nicht vertragen kann.«

»Ja, dann wird dir nicht zu helfen sein!«

»Das ist ja eben mein Unglück,« jammerte der Hamster, »mir kann gar nicht genug geholfen werden! Doch siehe – da kommt unser Freund Schwarzrock! ...

»O Not, o Not der schweren Zeit!
»O schwere, schwere Zeit der Not!
»O schwere Not, o Not der Zeit!
»O Zeit, o Zeit der schweren Not!« –

Mein Begleiter faßte meine Hand, und wir traten auf einen Augenblick in den Schatten einer starkstämmigen Rotbuche, um von dem Ankömmling nicht gesehen zu werden.

Mit würdevoller priesterlicher Handbewegung begrüßte Meister Reinecke die beiden Trauergesellen, die, mit eingezogenen Schweifen, jetzt um die Wette ihren Kanon jämmerlich herableierten. – »Gottes Segen über euch! Seid mir gegrüßt, ihr lieben Freunde in dem Herrn! Was giebt es Neues hier im alten Walde?«

»Oh, Ehrwürden,« heulte der Hamster, »die Not ist groß!«

»Ja, ehrwürdiger Meister, und ich bekräftige alles,« fiel der Maulwurf ein.

»Ich weiß – ich weiß,« sagte der Fuchs mit sanfter, wohltönender Stimme. »Und woher kommt eure Not, ihr Lieben? Von dem frechen Untergehölz im Walde, dem Schmarotzertum, das immer mehr anfängt, nach dem Lichte zu streben! O, hätte Gottes Gnade mir die Macht gegeben – euch allen, meine Brüder, sollte bald geholfen sein!«

»Ja, Ehrwürden, im Punkte der Macht kommen wir auf des Pudels Kern,« sprudelte heftig der Maulwurf hervor. »Es sei mir ferne, auch nur mit einem Worte unsre schwererrungene, teure Einheit anzutasten! Aber das eine Schlimme verdanken wir ihr doch, daß sie allen Ruhm und alle Gewalt im Walde unmäßig auf diese einzige Eiche gehäuft hat. Als ob die den Wald allein ausmachte! Mein Geschlecht z. B. hat sich um unsern herrlichen Wald schon unsterbliche Verdienste erworben, als diese Eiche – die übrigens aus ganz niederem Laub-Adel stammt – überhaupt noch keine Ahnen hatte!«

»Allen Respekt,« erwiderte der Fuchs, »vor euern maulwürflichen Vorfahren, die, wie ich sehr wohl weiß, bereits mit Ehren unter dem Turm zu Babel gewühlt haben – aber die Eiche hat doch nun einmal die Gewalt, und sie steht hoch in Gunst bei der königlichen Tanne!«

»Gut, also stürzen wir den Emporkömmling, handeln wir!« stieß der Maulwurf mit heiseren, gedämpften Lauten hervor und fletschte dabei seine Zähne.

Wir traten aus unserm Waldversteck einen Schritt vorwärts und lauschten in die stille Nacht hinaus, die auf ihren leisen Fittichen ein jedes Wort zu uns herübertrug.

Der Fuchs blinzelte lüstern aus den hellen, fast zugekniffenen Äuglein und wartete ab, was der Hamster sagen würde. Der meinte: »Die Eiche hat unleugbar große Verdienste um den Wald und sie hat mir persönlich nichts Schlimmes angetan: allein, ich mag die Eicheln nicht, und wer mir am meisten giebt, der hat mich. Also meine ich, wir müssen die Eiche bei der Tanne verklagen!«

»Hört, was ich euch sage,« sprach der Fuchs, und seine Augen zwinkerten listig. »Als vornehme und kluge Kavaliere dürft ihr ja nicht die Eiche bei der Tanne verklagen und sie merken lassen, daß ihr der Eiche feindselig seid! Denn wie ich die Tanne zu kennen glaube, würdet ihr ganz das Gegenteil erreichen. Das müßt ihr viel schlauer anfangen! Singt lieber der Tanne euern Kanon vor, dann wird sie schon allein für alle Not im Walde ihre Räte verantwortlich machen und ihren ganzen königlichen Grimm auf die Eiche entladen. Ein Wetterstrahl wird sie zerschmettern, und an den Flammen zünden wir dann einen lustigen Scheiterhaufen an, darin wir alle Feinde unserer lieben allgemeinen Wohlfahrt und ihrer Gotteskämpfer elendiglich zu Asche verbrennen. Wir Drei aber, wir brüderlichen Gotteskämpen für das Heil des Allgemeinen – Hamster – Maulwurf – und meine füchsische Wenigkeit – wir wollen uns ewigliche Treu geloben!«

»Also sei es!« lachten triefenden Auges und wie mit einer Stimme Hamster und Maulwurf, und alle Drei reichten sich die Pfoten.

»Nun begebt euch – jeder auf einem anderen Wege – zur königlichen Tanne, lieben Brüder, derweilen ich zur Eiche gehe und auf euch warte.« Damit verabschiedete sich Meister Reinecke, indem er sein Fuchshaupt tief entblößte, und die Drei gingen greinend auseinander. – – –

Mein Begleiter warf mir einen Blick zu, und wir folgten in einiger Entfernung schweigend dem Fuchse.

So waren wir etwa eine Stunde lang fürbaß geschritten, als wir in der Tiefe des Waldes auf einer kleinen Anhöhe unfern dem See die Rieseneiche erblickten. Ihre ehrwürdigen Zweige reckten sich nach allen Winden und schatteten weit über den Hügel, der aus der mondüberflossenen Lichtung wie eine Insel tauchte. Alle Bäume ringsum schienen schon zu schlafen, und kein Vogelruf tauchte mehr in das tiefe Waldgeheimnis.

Der Schwarzrock war bereits am Hügel angelangt und kletterte eben hinauf zum Fuß der Eiche. Da sah ich ganz deutlich, wie er unter seinem Priesterhute die Augen verdrehte, während ein leiser Nachthauch den Schall seiner Stimme, die jetzt heiser und bellend klang, zu uns herübertrug. »Du herrliche Eiche,« sprach er, »laß mich unter deinen starken Zweigen rasten, denn der Weg hat mich müde gemacht.«

Mittlerweile war es Mitternacht geworden, und die Eiche schlief ein. Da siehe! Es währte gar nicht lange, als der mörderische Fuchs ein Beil hervorzog, das er unter seinem langen Priesterrock verborgen hatte, und der Eiche heimtückisch mehrere Axtschläge versetzte. Zum Glück war das vergebene Mühe. Das bißchen Rinde, das absplitterte, weckte den knorrigen Baum nicht einmal aus seinem Schlummer. In ohnmächtiger Wut blickte der Fuchs nach Hilfe um, als von ferne schon seine Freunde, der Maulwurf und der Hamster, heranhumpelten.

Was dann die Drei zusammen geraunt haben, konnten wir leider nicht verstehen; doch wir sahen, wie Maulwurf und Hamster unter den Wurzeln der Eiche in Schnelligkeit ein Loch gruben, das der behende Fuchs mit dürrem Reisig bald ausfüllte. Zuletzt schichteten die Gesellen ringsherum um die Eiche einen Scheiterhaufen und steckten ihn in Brand, daß die Flammen hochauf prasselten. – Hierauf ergriffen sie alle Drei die Flucht, und schnauften nicht Atem, bis sie unterm Schutz der Dunkelheit im dichten Hochwald angelangt waren.

Ganz in unserer Nähe hielten sie still. »Sobald der Rat der Bäume tagt, kommen wir wieder zusammen,« sagte der Fuchs. »Bis dahin, lieben Brüder, wöllen wir rührig sein und ein jeder einen neuen Anhang sammeln. Denn je mehr Parteien, desto schlimmer für den dummen Wald und um so heilsamer für uns! Also gehet hin und lasset uns gründen!«

» Divide et impera!« schmunzelte verständnisinnig der Maulwurf, »das ist mein Wahlspruch, ehrwürdiger Meister!«

»Ganz ausgezeichnet, mein wackrer Maulwurf,« nickte der Fuchs mit wohlwollendem Lächeln. »Aber es ist noch ein anderes Sprüchlein, das ihr über jenem nicht vergessen möchtet: Do ut des! Das wäre verdeutscht: Eine Hand wäscht die andere. Daher fraget niemals ein weiser Mann: ›Ist das Gesetz, dem ich meine Stimme geben soll, gut und zuträglich für unseren lieben Wald?‹ Sondern er fragt also: › Was gebt ihr mir und meinem Anhang? welche Vorrechte und Einräumungen, wenn ich das Gewicht meines Wortes für euer Gesetz in die Wagschale werfen soll?«

»Oh, Ehrwürden,« winselte mit dankbarem Blick der andre Feldgeselle, »das habt ihr mir aus meiner Hamsterseele gesprochen! Auf mich dürft ihr zählen!« – – –

Darauf gingen die Drei auseinander. – Der Gram, der noch den ganzen Abend kein lautes Wort zu mir gesprochen hatte, erfaßte schweigend meine Hand und führte mich auf anderen Pfaden durch die dunkle Wildnis zurück.

Als wir am See vorüberkamen, erblickte ich den Stolz des Waldes, die königliche Edeltanne. Die Nacht mit ihren Sternen funkelte über allen Gipfeln, und sie tauchte hinunter in die flimmernde Flut der Tiefe. Einmal lief durch Wipfel und Gezweig der Tanne ein leises, frühlingsnächtiges Regen – wars vielleicht ein königlicher Traumgedanke? von kommender Morgenröte im alten deutschen Märchenwald? ...

Dann war alles wieder still. Tiefer Waldfriede waltete im Umkreis, kaum daß im Wasser hier und da ein vorwitziges Fischlein plätscherte oder in fernen Schluchten ein scheues Reh durch brechende Zweige rauschte. Ringsum die Gewässer und alle Bäume an den Ufern schliefen. Sie wußten ja nichts von den Brand- und Schandtaten des Judasfuchses und seiner Raubgesellen in dieser Nacht; sie wußten auch nichts von dem Elend ihrer dürstenden Brüder draußen in den fernen, entwässerten Forsten, die sie niemals zu sehen bekamen ...

Wir gingen vorüber. – Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich auf dem Heimweg immer und immer wieder an mein heiliges, deutsches Vaterland gedenken mußte! Die tiefe Wehmut des Grams wollte auch mich erfassen, als mein Auge aus dem Dunkel der Nacht ein hehres Frauenhaupt leuchten sah – so blond und stumm und schmerzensvoll! Und doch war es wie ein Schimmer ferner, hoffnungsreicher Zukunft, der von der reinen, hoheitvollen Stirn glanzvoller strahlte, als ihres goldnen Haares goldene Krone.

Ich sah und fühlte es! Und dann war mirs mit einem Male, als zöge mit jenem nächtigen Glanze ein milder Hoffnungsklang in meine Seele ...

Solange der deutsche Eichwald braust,
Und der Nordsturm in blonden Locken zaust,
Solange sich deutsche Mannesart
In alter Kraft und Treu bewahrt:

Solange soll kein Zahn
An unserm Erbe nagen,
Und Du, mein deutsches Volk,
An Deutschland nicht verzagen!


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