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Siebzehntes Kapitel

Ernst aufwachte, war es schon acht Uhr. Hastig sprang er aus dem Bett, um den Vater zu wecken. Die weichen Kissen und Decken hatte sie beide wie mit einem Nebel von Stille und Schlaflust umhüllt, daß sie zehn volle Stunden geschlafen hatten. Das Hausmädchen war so still durchs Zimmer gegangen, daß sie die Schläfer nicht geweckt hatte. Aber in den Flaschen war frisches Wasser, die Kleider lagen schmuck und ordentlich ausgebürstet auf den Stühlen, die Schuhe standen blank gewichst davor, und im Ofen verglomm die letzte Glut des Holzfeuers hinter dem Eisengitter, das geräuschlos zur Vorsicht vorgesetzt worden war.

Als sie ins Wohnzimmer kamen, mußten sie eine gute Weile warten, eh jemand von den Wirten sich zeigte. Im Eßzimmer sahen sie das stille Mädchen mit dem schlichten Kleid und dem glattgekämmten Haar den Tisch decken.

Der erste, der erschien, war der Propst. Der kleine Mann sah ganz unerhört feierlich aus. Die Bäffchen saßen steif über dem halb zugeknöpften Rock und machten sein fettes Gesicht noch fetter. Sein Mund sah ganz absonderlich aus, gespitzt wie eine Tüte, und die Augen blinzelten feucht und schräg unter den dichten Augenbrauen hervor.

Er hustete und ging auf seine Gäste zu.

»Ein köstliches Wetter hat der Herr uns heute geschenkt!« sagte er.

Die drei Herren setzten sich. Wie gewohnheitsmäßig nahmen sie ihre alten Plätze ein, Ernst saß am Fenster und blickte hinaus auf den Hof, wo die Hunde lagen und sich sonnten, die Hühnerhunde an der großen Treppe, die Hofhunde vor der Treppe, die zum Nebengebäude führte.

Jetzt kam die Propstin. Sie trug ein schwarzes Kleid und eine goldene Brosche und hatte, wie der Propst, rote Augen. Sie erzählte, Amelie wäre noch nicht ganz fertig. Die arme Amelie! Sie hatte solche Angst, zu spät zur Kirche zu kommen!

»Wir haben alle ein bißchen zu lang geschlafen!« fügte sie hinzu.

»Ja,« sagte der Propst und hustete; »es ist Sabbat heute, der Ruhetag des Herrn!«

Langsam setzten sich alle um den Tisch, und das glattgekämmte Mädchen servierte still große Platten mit gebratenem Schinken, Beefsteak und Eiern.

Es war heute womöglich noch stiller als sonst im Pastorat. Kein Laut war zu hören im ganzen Haus; nur Löffel, Messer und Gabeln schienen in Bewegung zu sein. Aber auch sie wurden ängstlich gehandhabt, und wenn jemand ein Wort äußerte, so geschah es mit einer Stimme, die um Entschuldigung zu bitten schien: »Darf ich um das Salz bitten?« »Ein bißchen Brot, wenn ich bitten darf!« klang es halblaut. Ab und zu erklang die Stimme der Propstin, die den Gästen zusprach, doch mehr zu essen.

Nach dem Frühstück gingen alle in die Kirche, die jenseits der Straße lag.

Es war eine niedrige, altmodische Kirche, ohne Turm. Der Adjunkt und Ernst halten sie nicht einmal bemerkt, als sie am Tag vorher daran vorbeigefahren waren. Sie lag ein bißchen abseits von der Straße auf einer kleinen Anhöhe, umgeben von einer hohen steinernen Mauer; daneben stand ein rot angestrichenes baufälliges Glockenhaus, von dem gerade der Klang der alten Glocken über die Häupter der versammelten Gemeinde hinklang.

Keinerlei Geräusch auf dem Platz vor der Kirche, trotzdem eine Menge Menschen da waren. Auf der einen Seite standen die Männer, auf der andern die Frauen. Die jungen Mädchen standen bei den Frauen, die Burschen bei den Männern. Kein Getändel, kein Geliebäugel zwischen Burschen und Mädchen; alle, die vor der Kirche standen, alt und jung, waren ganz still und unterhielten sich nur im Flüsterton, während sie auf den Propst warteten.

Der dämpfende und beruhigende Geist des Pastorats hatte sich noch bis über die Landstraße hinaus erstreckt, weit über die Anhöhe, auf der die Kirche lag und wo das rote Glockenhaus einsam seine Glocken ins schweigende Land hinausrufen ließ.

Es gab viele »Erweckte« in der Gemeinde Sollösa. Stille, schweigsame Menschen, die den Frieden liebten und die Welt fürchteten, Menschen nach dem Herzen des Propstes, die seine Gattertore nicht zuschlugen und auf dem Kirchplatz nicht lärmten. Menschen, die nach Sollösa paßten. Heute füllten sie den Platz vor der Kirche und den ganzen Kirchhof. Um sie her spielte die laue Frühlingsluft, hoch über ihnen trillerten die Lerchen im klaren Sonnenlicht. Die Birken auf dem Kirchhof trugen schwellende, drängende Knospen, und in den Beeten des Pastoratsgartens standen Aurikeln und Perlhyazinthen schon fast in Blüte.

Der Propst, die Propstin und ihre Gäste kamen durch den Kirchhof herauf. Sie gingen durch das offene Gittertor die verwitterten Steinstufen hinan; und vor ihnen her ging ein Flüstern, das plötzlich jedes Gespräch verstummen machte. Ein breiter Weg bildete sich ganz von selbst vor ihnen bis zur Kirche, und ruhig wanderten die Herrschaften der Kirche zu. Die Frauen und Mädchen knixten, die Männer nahmen die Hüte ab. Aber nicht ein Wort ward gesprochen, nur freundliches Nicken und Lächeln flog hin und wieder. Als die Herrschaften durch die niedere Kirchentür verschwunden waren, setzte sich die ganze Menschenmenge in Bewegung. Ohne Lärm, ohne Gedränge füllte sie die Kirchenstühle, die Männer auf der einen Seite, die Frauen auf der andern, und still und lautlos schloß sich hinter ihnen die breite Tür, während von der geschnitzten Empore über dem Eingang die Orgel ertönte. Als der Choral gesungen war, stand der Propst vor dem Altar und betete mit zitternder, hustender Stimme:

»Heilig! heilig! heilig!«

Und die Gemeinde von Sollösa beugte das Haupt und lauschte andachtsvoll. Denn sie glaubte an ihren Propst und war stolz auf ihn.

Der Propst genoß nämlich unter den Kindern Gottes eines hohen Rufes. Er hatte ihn nicht immer gehabt. Und es war nur ein kleines Ereignis, das ihm die Gnadengabe verlieh, daß die Menschen an ihn glaubten.

Ehe er als Propst nach Sollösa kam, predigte er einmal während eines Gewitters. Und während er auf der Kanzel stand und das Gebet für die Verstorbenen betete, der Küster neben ihm, schlug der Blitz in die Kirche und tötete den Küster. Der Pastor selber blieb unversehrt.

Und die Frommen sagten, dies sei geschehen, weil ihr Hirte erhalten bleiben mußte für Gottes Reich.

Still, aber sicher verbreitete sich sein Ruf über das ganze Stift. Als er als Propst nach Sollösa kam, war er ihm schon vorausgegangen und hatte ihm die Herzen der Leute gewonnen. Darum lauschten sie auch seinen Worten so andächtig, als ob Gott selbst zu ihnen spräche.

Denn das war wahrlich Gottes Finger! Daran konnten alle deutlich seinen Willen und seine Absicht erkennen!

Drückend und betäubend lag die Wärme über der ganzen Kirche. Langsam schleppte der Gottesdienst sich hin, bis die Predigt begann. Und die Predigt ging ebenso langsam, und ebenso träge klangen die Choralverse durch den niedrig gewölbten Raum. Da und dort nickte ein Kopf im Schlummer, einer oder der andere lag vornübergebeugt in den Händen, die auf dem Kirchstuhl ruhten.

Niemand entfernte sich, ehe der ganze Gottesdienst zu Ende war. Erst als die letzten Akkorde des Schlußchorals verklangen, erhoben sich alle sachte von ihren Plätzen, dehnten in aller Stille ein bißchen die Glieder und blieben in den Bänken stehen, um erst die Herrschaft hinauszulassen. Dann leerte sich die Kirche, die Türen schlossen sich und der Küster ging, mit den großen Schlüsseln klappernd, heim. Auf allen Wegen und Pfaden wandelten Scharen stiller Menschen nach allen Richtungen durch das sabbatstille Land.

Im Pastorat setzten die Herren sich wieder auf ihren Platz im Wohnzimmer und warteten auf das Mittagessen. Draußen auf dem Hof schliefen die Hunde.

»Es ist gut, daß ich eine kleine Hilfe bekomme!« sagte der Propst zu Ernst. »Und hier ist dankbares Erdreich!«

Er schneuzte sich und hustete.

»Kein Geist des Aufruhrs, Gott sei Dank! Dankbares Erdreich!« Und durch das Zimmer klang das einförmige Ticken der Uhr.

Die Tür zum Eßzimmer ging auf und das Mädchen meldete, daß serviert sei.

Fräulein Amelie stand mit der Propstin im Eßzimmer. Sie gab den fremden Herren die Hand und knixte. Der Propst strich ihr, wie am Tage vorher, übers Haar.

»Du bist nicht in der Kirche gewesen heute«, sagte er.

»Nein«, erwiderte Amelie. »Es tat mir so leid, aber ich mochte nicht zu spät kommen und die Gemeinde stören.«

»Das ist recht, mein Kind!« lobte der Propst.

»Du magst ja nicht, wenn man kommt, nachdem der Gottesdienst schon angefangen hat, Papa«, sagte die Propstin.

Nach dem Essen kam der Kaffee, genau wie am Tag vorher. Der Propst verschwand für ein Weilchen und ließ die Gäste mit den Damen allein.

Nach dem Kaffee reisten die Gäste ab.

»Willkommen nächstes Mal auf unserm lieben, stillen Sollösa«, sagte der Propst, als er Ernst beim Abschied die Hand drückte. Der Wagen fuhr durch den weichen Sand zum Gattertor hinaus; als er auf die Landstraße einbog, zogen die beiden Herren noch einmal die Hüte vor dem Propst, der Propstin und Fräulein Amelie, die auf der Treppe standen und winkten. Die Hunde sahen dem Wagen nach, ohne zu bellen.

Eine Weile saßen der Adjunkt und Ernst schweigend nebeneinander. Jeder war in seiner Art mit dem beschäftigt, was sie erlebt und gesehen hatten.

Schließlich sagte der Adjunkt – und seine Stimme klang wehmütig:

»Es wird recht einsam für dich hier draußen.«

Über des Sohnes Lippen flog ein Lächeln, das der Vater nicht verstand.

»Vielleicht ist es grade das, was ich brauche«, sagte er. Es lag etwas so Scheues und zugleich Bitteres in seiner Stimme, daß der Vater aufmerksam wurde. Er kannte ja den Sohn überhaupt so wenig; er hatte, während er aufwuchs, nie Zeit gehabt, sich mit ihm zu beschäftigen; und der Adjunkt liebte es im allgemeinen, sich die Dinge so einfach wie möglich zu machen. Diesmal aber drängte sich ihm doch mit unausweichbarer Gewalt der Gedanke auf, daß da etwas nicht stimmte, etwas, an dem ein Vater teilhaben müßte. Mit bekümmerter Miene sah er den Sohn an und fragte: »Was ist mit dir? Du siehst so düster aus, seitdem du wieder daheim bist. Hast du etwas auf dem Gewissen?«

Ernst konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Der Vater glaubte offenbar, er hätte etwas zu bereuen, vielleicht Schulden gemacht, schlechte Beziehungen angeknüpft oder etwas Ähnliches. Er, der fast das Leben eines Asketen geführt hatte! Dieser Argwohn kam ihm unendlich komisch vor. Er hätte jetzt um keinen Preis der Welt offen reden können, und antwortete deshalb nur mit demselben Lächeln, das er nicht zu unterdrücken vermochte: »Nichts von dem, was du glaubst, Papa, das kann ich dir versichern!«

»Gott sei Dank!« dachte der Adjunkt.

»Man kann auch so grade genug haben!« fügte Ernst hart hinzu. Es kam so plötzlich, daß die Worte ihm entschlüpft waren, ehe er es wußte. Eine brennende Röte ergoß sich über seine Wangen und Stirn, und er schaute zum Wagenfenster hinaus.

Der Adjunkt ward nachdenklich; eine dunkle Ahnung bemächtigte sich seiner. Gleichzeitig aber sagte er sich auch, wenn es wirklich etwas derartiges wäre, wenn der Sohn tatsächlich unzufrieden sei mit dem Beruf, den er gewählt hatte, so wäre es am besten, wenn gar nicht darüber gesprochen würde. Ein ausgesprochenes Wort war hier gefährlich. Er wußte, wie empfindlich der Sohn war, und begriff, daß der kleinste Versuch, auf sein Gewissen einzuwirken, in ihm die zu einer Katastrophe notwendige Energie wecken würde. Und an diese Katastrophe mochte der Adjunkt gar nicht denken.

Darum war es am besten, es wurde gar nichts zwischen ihnen gesprochen, Ernst machte die Sache mit Gott und sich selber ab. Und so schwieg denn der Vater in dem elterlichen Egoismus, der nicht mit den Kindern oder für sie leiden will.

Die alten braunen Gäule stapften gemächlich durch den hohen Wald, durch den die Sonne schräg fiel und zwischen den feuchtglänzenden Zweigen funkelte. In der Ferne hörte man das einförmige Rauschen eines Bergwassers.

Ernst versank in Gedanken. Gefühle und Eindrücke arbeiteten in ihm, die ihm ganz neu waren. Es waren nicht seine alten Kämpfe und Träume. Es war nicht der kleine Kampf zwischen geistlich und nichtgeistlich. Es war auch nicht seine verschmähte Liebe, die in ihm redete. Nichts von all dem. Die Fahrt aufs Land, der kurze Weg zur Kirche, die Landluft, der Sonnenschein, die Frühlingsgewalt in den brausenden Wassern und schwellenden Knospen – all das erfüllte ihn mit einem Gefühl, das ihm ebenso neu wie unverständlich war. Wenn jemand ihn gefragt hätte, was er fühle oder denke, er hätte nichts darauf antworten können. Aber er war erregt, ohne zu wissen, weshalb, krank von Gemüt, ohne zu wissen, wovon, traurig, ohne die Ursache zu kennen. Seine ganze unterdrückte Jugend, all die erstickten Gedanken, Wünsche und Begierden waren es, die sich in ihm empörten, und Worte entschlüpften ihm, ohne Zusammenhang und ohne Sinn, deuchte ihm selbst. Und doch hätte er keins davon unterdrücken können, nicht ein einziges; so einsam hatte er immer gelebt, so unterdrückt und erstickt war jeder eigene Gedanke, jeder eigene Wille stets in ihm gewesen, daß er das Bedürfnis, das seine Seele erfüllte, gar nicht einmal verstand. Seine eigene Stimme klang ihm fremd, wie sie so das Leid, das die Frucht seines ganzen Lebens war, aussprach.

Und als der Adjunkt nicht antwortete, sagte er kurz und hart: »Ist es nicht sonderbar, daß wir einander überhaupt gar nicht kennen?«

»Wir kennen einander nicht?«

Der Adjunkt sah auf mit einem Blick, der noch vom Essen schwer war.

Ernst lachte laut auf. Er beugte sich vor und redete weiter, eifrig gestikulierend, mit einem Versuch, ruhig und geordnet zu sprechen; aber seine Stimme zitterte nur noch heftiger.

»Nein«, sagte er. »Wir kennen einander nicht. Als Kind hab' ich meinen Vater nicht gekannt, als Knabe nicht, als Jüngling nicht, und auch jetzt nicht, als Mann, der ich sein sollte und nicht bin! Und auch er hat mich nicht gekannt. Sonst hätte er mich nicht so grausam verkennen können. Sonst hätte er mich nicht so gedankenlos und herzlos aufs Gratewohl ins Leben hinauswerfen können, ohne auch nur einen Augenblick danach zu fragen, ob meine Natur mich zu etwas anderem zog, oder ob sie nur schwieg und sich fügte.«

Er sprach, als habe er die Gegenwart des Vaters ganz vergessen, und fuhr dabei fort, starr vor sich hinzublicken und lebhaft zu gestikulieren.

»Warum bin ich nicht ein Bauer geworden?« rief er. »Warum geh' ich nicht hinter dem Pflug und grabe die Erde um und dünge und mache Heu? Warum mäh' ich nicht und hacke Holz und arbeite und lebe, statt meinen Rücken über die Bücher zu beugen?«

Er ballte die Hand, seine lange, hagere Hand, mit einer drohenden Gebärde, in der zugleich etwas Hilfloses lag.

»Die Bücher!« sagte er mit gedämpfter Stimme, damit der Kutscher ihn nicht hören sollte. »Wie ich sie hasse! Sie haben mein Leben zerstört, statt daß sie mich leben gelehrt haben. Sie haben meinen Kopf mit unnützen Dingen angefüllt und mir meine Kraft gestohlen, statt sie zu mehren. Tote sind sie, die die Lebenden beherrschen. Gespenster, die aus ihren Gräbern steigen, um die Lebenden zu schrecken, statt stillzuliegen und zu schlafen! Unheimliche Gespenster, an die wir glauben, und die uns hinter unserm Rücken auslachen, weil wir uns haben narren lassen von ihnen!«

Der Adjunkt packte ihn erschrocken am Arm.

»Du bist krank, Ernst!« sagte er.

»Krank? Ja, ich bin krank, bin nie was anderes gewesen, als krank. Vielleicht ist's das, was mein ganzes Unglück verschuldet hat! Vielleicht ist's das, was mich fortgezogen hat von der frischen Luft und der Arbeit, die stählt, und mich eingeschlossen in dumpfe Zimmer, meine Brust eingedrückt, meine Schultern zusammengepreßt, mein Gesicht gebleicht hat! Warum hat man mich nicht Bauer werden lassen, frage ich? Vielleicht wär' ich dann stark geworden! Vielleicht wär' ich dann ein Mann geworden!«

Er entzog sich dem Griff des Vaters und lehnte sich schlaff in die Wagenecke zurück. Beide schwiegen; der eine, weil er sich erschöpft hatte, der andere, weil er nichts zu sagen wußte.

Aber im Adjunkt erwachte die ganze Liebe einer alten Pastorenfamilie für das Land mit seinem Behagen und seiner Arbeit. Und wie sonderbar seltsam des Sohnes Worte ihm auch vorkamen, und wie überzeugt er auch war, daß dies nur eine Überreiztheit war, die vorübergehen würde, so stieg in ihm doch auch noch ein anderes Gefühl auf. Immer hatte er sich gewünscht, ein kleines Eigentum zu besitzen, das er sein hätte nennen können; er pflegte oft im Scherz zu sagen, sobald er nur erst seine Schulden bezahlt habe, würde er anfangen zu sparen und ein kleines Anwesen kaufen, auf dem er seine alten Tage verbringen könnte.

Des Sohnes Worte klangen seltsam an sein Ohr. Vorwürfe waren es, daß der Vater nicht mit dem Sohn gelebt hatte, damit er dessen Leben verstehen möchte. Sie schmerzten und quälten ihn. Sie kamen so heftig und unüberlegt, wie von einem zornigen, erbitterten Kind. Aber der Adjunkt wurde nicht böse. Denn in ernsten Augenblicken kann es geschehen, daß sogar die Eigenliebe sich verkriecht. Er fühlte nur eine große Leere zwischen sich und dem Sohn; und er klagte sich selbst an. In ihm klangen des Sohnes Worte: Warum hat man mich nicht Bauer werden lassen? Es war ja Unsinn, das wußte er wohl. Und dennoch! Er sah auf des Sohnes magere Gestalt mit dem blassen Gesicht und der eingesunkenen Brust. Und er begriff noch deutlicher, daß es Unsinn war. Aber trotzdem quälten ihn die Worte, quälten ihn und zerrten an ihm. Ein Mitleid packte ihn, als trüge er die Schuld an dieser Schwächlichkeit; und mit einem Male kam ihm das Verlangen, alles wieder gutzumachen, in einem Augenblick wieder aufzubauen, was nur in langen Jahren aufgebaut werden kann, wenn das Gebäude sicher und fest werden soll.

Er legte seine Hand auf des Sohnes Knie und fragte mit zitternder Stimme: »Was fehlt dir? Verheimliche mir nichts!«

Ernst sah auf. Sein Atem ging kurz und hastig, wie nach einer großen Anstrengung. Und er sah so geistesabwesend aus wie gewöhnlich, als wisse er kaum von dem heftigen Ausbruch, der Geschehenes ja doch nicht mehr ungeschehen machen konnte.

»Verheimliche mir nichts!« wiederholte der Vater.

Ernst ergriff mit bittendem Blick seine Hand.

»Verzeih!« sagte er. »Ich bin nur müde. Es war schlecht von mir, so zu sprechen, wie ich's getan habe.«

Der Gedanke, der sich schon vorhin dem Adjunkt aufgedrängt hatte, kam wieder. Und jetzt kam er mit solcher Gewalt, daß alle egoistischen Bedenken wichen. Mit einer plötzlichen Anstrengung sagte er: »Ist es dein Beruf, der dich quält?«

Ernst schwieg einen Augenblick und blickte zur Seite. Und schon bereute der Adjunkt seine Frage. Er fühlte, daß er richtig geraten hatte, und der peinigende Gedanke an die Zukunft ergriff ihn. Er dachte an des Sohnes Stellung, an das, was die Leute, was seine Frau sagen würden. Und mit lähmendem Schreck fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf:

»Und das Geld! Die Ausgabe! Neue Schulden! Neue Sorgen!« Atemlos wartete er auf die Antwort des Sohnes.

Ernst saß ganz stumm. Jetzt war die Stunde da. Jetzt sollte es gesagt werden. Jetzt würde er es sagen. Und in der Einbildung war ihm so leicht zumut, als wäre es bereits gesagt.

Dann aber kehrten seine Gedanken in ihren gewohnten Kreislauf zurück; mit einer unerhörten Kraftanstrengung bezwang er sich, sah dem Vater in die Augen und antwortete, ohne zu zittern: »Du irrst, Papa. Ich habe meinen Beruf aus freiem Willen gewählt.«

Der Adjunkt fühlte, daß der Sohn log. Aber er wagte nicht, die Frage zu wiederholen, aus Angst, eine andere Antwort hervorzulocken. Er hatte sein möglichstes getan, um sein Gewissen zu befreien, und ein Seufzer der Erleichterung entschlüpfte ihm, während er seine Hand aus der des Sohnes zog.

»Gott sei Dank!« sagte er leise.

Der Wagen rollte weiter. Die beiden Männer saßen lange schweigend nebeneinander, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Ernst führte mit einer Bewegung, die ihm eigen war, oft die Hand zum Gesicht und zupfte an einem weichen Bart.

Der Adjunkt bemerkte es; und, um durch einen Scherz das peinliche Schweigen zu brechen, sagte er:

»Bald hast du überhaupt keinen Bart mehr zum Dranziehen.« Ernst ließ hastig die Hand sinken und lächelte gezwungen. »Das ist wahr!« sagte er.

Und der Wagen rollte eine Anhöhe hinauf und vor ihnen lag Gammelby. Hoch über den übrigen Gebäuden ragte der Turm der Domkirche.


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