Gustaf af Geijerstam
Die Brüder Mörk
Gustaf af Geijerstam

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Die Brüder Mörk

Erstes Kapitel

Zehn Jahre waren vergangen. Die Brüder hatten sich daran gewöhnt, einander als Fremde gegenüberzustehen. Auch auf Björknäs war in dieser Zeit eine Hausfrau eingezogen. Es geschah das kaum zwei Jahre, nachdem der Major und Brite nach Kolsäter übergesiedelt waren. Ein großer Unterschied war aber zwischen den beiden Familien. Während der Herr der großen Besitzungen von Kolsäter noch immer nur einen einzigen Erben hatte für das Vermögen, das ihm so unerwartet in den Schoß gefallen war, war die Kinderschar auf Björknäs in ständigem Zuwachs begriffen. Und mehr als einmal konnte die kleine Mina Charlotta mit ihrem spitzigen Lächeln sagen:

»Du bist gut daran, meine liebe Brite! Du kannst dich immer gleich jung und schön erhalten!«

Brite war indessen keineswegs glücklich über diese Tatsache. Sie beugte sich der Notwendigkeit und sammelte ihre ganze Liebe in dem kleinen Erling, der der Augapfel seiner Eltern war, den sie aber, der Sitte der Zeit entsprechend, streng erzogen. Allein sie empfand diese allzufrühe Unfruchtbarkeit als einen Mangel und trauerte in einsamen Stunden oft darüber. Die Mütterlichkeit, die sie nicht einer zahlreichen Kinderschar schenken konnte, und die doch ein Bedürfnis ihrer Natur war, kam den Untergebenen und Angestellten von Kolsäter zugut. Brite ging ihnen nicht nach, machte keine aufdringlichen Besuche in den Hütten der Armen. Aber sie gewöhnte sie daran, zu ihr zu kommen, und wurde so schon in frühen Jahren ein Hausmütterchen, an dem alle, die seiner bedurften, eine Stütze fanden.

Manchmal konnte es vorkommen, daß Brite nach der Ansicht Karl Henriks ein bißchen zu weit ging. Dann konnte er eine Grimasse schneiden, die eine Mischung von Sympathie und Ärger ausdrückte, und sagen:

»Wenn wir so weiter machen, wachsen uns die Leute über den Kopf!« Aber in seinem Herzen bewunderte er Brites praktischen Verstand und ihr gutes Herz, und in allem, was Werke der Nächstenliebe betraf, ließ er seiner Frau freie Hand. Er hatte das Gute im Leben leicht errungen; und allzu knickrig auf den Pfennig zu sehen, war Karl Henriks Sache nicht. Karl Henrik war nämlich keineswegs der Typus eines damaligen schwedischen Gutsbesitzers vom alten Schrot und Korn. Klein und untersetzt, mit raschen – in unseren Tagen würde man sagen »etwas nervösen« – Bewegungen sah man ihn auf seinen Besitzungen die Runde machen. Den ehemaligen Leutnantsschnurrbart hatte der jetzige Major nach der Sitte seiner Zeit sich zum runden, kurzgeschnittenen Backenbart über die Wangen wachsen lassen. Nur das Kinn war frei und glattrasiert, dies kurze, runde Kinn, das zitterte, sobald er erregt war, sei es in Zorn, Trauer oder Freude. Buschig schoben sich die Augenbrauen vor unter einer Stirn, die das Alter leicht gefurcht hatte. Aber seinen eigentümlichen Charakter erhielt das Gesicht durch die Augen, die wohl heiter genug blitzen konnten, oft jedoch auch den Zug von Schwermut verrieten, der in der Tiefe seines Wesens lag.

Im Grunde nämlich konnte sich der Major nie darin zurechtfinden, daß er ein reicher und angesehener Mann geworden war, vor dem die Menschen katzbuckelten, wenn er auch sein Bestes tat, äußerlich die Würde seiner Stellung aufrechtzuerhalten. Brite liebte diesen Zug an ihrem Mann ganz besonders; sie konnte auch nie vergessen, wie erregt sie ihn damals gesehen hatte, als das Glück in Form eines gestempelten Papiers über sie hereingebrochen und es ihnen langsam klar geworden war, daß sie aus der Armut emporgehoben wurden, um ihren Platz unter den Reichen der Familie einzunehmen. Brite selber hatte nie etwas andres gekostet als Armut. Daß man diese als ein großes Unglück empfinden könne, hatte sie in ihrem jungen Glück gar nicht gewußt. Der Instinkt des Weibes lehrte sie jetzt, daß, wer wie ihr Mann, wenn nicht zum Reichtum, so doch zum Wohlstand geboren war, anders empfinden mußte. Diese Erinnerung saß tief in Brite; und darum war es in ihr wie eine geheime Furcht, daß die Armut eines Tages wiederkommen könnte. Wenn sie allein durch die großen Zimmer wanderte oder in ihrem kleinen Kabinett mit den weißen und blauen Möbeln saß, von wo aus sie über den Park und den See hinaussehen konnte, konnte diese Angst über sie kommen, daß sie ganz kalt vor Schreck wurde. Am schlimmsten war's wenn die Herbststürme bliesen und der Schnee mit seiner Stimmung von Weltabgeschiedenheit und stiller Ruhe noch nicht gefallen war. Da konnte sie sich manchmal wie ein Kind vor der Einsamkeit bangen; wenn dann der Major vom Kontor oder aus dem Wald heimkam, fiel sie ihm um den Hals, als hätte sie gefürchtet, ihn nie wiederzusehen. Aber daß derartige Ausbrüche plötzlicher Zärtlichkeit bloß von ihrer durch die Einsamkeit aufgeschreckten Einbildung hervorgerufen waren, das wollte Brite nie zugeben. Tagsüber ging sie meist allein ihren Geschäften nach. Ihre beste Gesellschaft war Erling. Wenn der Sommer kam, und die Gastzimmer einmal leer standen, da verlebten die beiden Ehegatten ihre besten Stunden miteinander. Da wanderten sie zusammen durch den Park oder saßen auf der Bank drunten am See unter dem großen Ahorn, den irgend jemand, keiner wußte mehr, wer, lange vor den Zeiten der alten Exzellenz da gepflanzt hatte. Manchmal gingen sie auch weiter, dem Weg nach, der hinaus in den Wald führte, wo die Pfade enger wurden und das Dickicht wild wuchs. Es war derselbe Weg, den sie einst gegangen waren, an jenem Abend, als sie zum erstenmal auf Kolsäter einfuhren. Und nie konnten sie hier wandern, ohne daß die Erinnerungen an das Vergangene zurückkamen. Einmal geschah es, daß Erling die Eltern auf ihrem Spaziergang just auf diesem Weg begleitete. Er war jetzt ein großer Junge mit seinem Teint, zart gebaut, aber elastisch in seinen Bewegungen und von etwas frühreifem Wesen, wie es Kinder, die ohne Geschwister aufwachsen, meist an sich haben.

Da sagte Karl Henrik zu dem Knaben:

»Kannst du dich noch daran erinnern, daß du nicht immer auf Kolsäter gelebt hast?«

Erling sah auf. Ein grüblerischer Ausdruck kam in sein Gesicht.

»Nein,« antwortete er.

Nachdem er noch einmal nachgedacht hatte, fügte er hinzu:

»Ich weiß noch, daß ich einmal im Wagen hierher gefahren bin und daß überall viele Leute waren. Als wir da waren, sagte Papa, ich sei müde. Darum mußte ich ins Bett; aber ich lag lange wach und konnte nicht einschlafen, weil ich immer die Vorhänge ansehen mußte. Es war eine Mühle darauf und ein Jäger. Das weiß ich noch. Aber von vorher – vor diesem Abend – weiß ich nichts mehr.«

»Du warst auch noch so klein damals,« sagte Brite. »Erst zwei Jahre.«

Erling hätte gern noch mehr wissen mögen. Denn hinter des Vaters Frage lag etwas Besonderes – das ahnte er. Aber die Menschen jener Zeit erzählten ihren Kindern nicht viel von sich selber. Darum wußte Erling auch nichts anderes, als daß er sein Leben lang auf Kolsäter gewesen war.

»Das ist vielleicht das beste,« sagte Karl Henrik. »Um so eher schlägt er Wurzel.«

Gleich darauf wandte er sich zu seiner Frau und sagte:

»Ich habe einen Brief von Nils Göran in der Tasche. Ich habe ihn noch nicht aufgemacht.«

Sie waren inzwischen wieder in die Nähe des Herrenhauses gelangt. Erling, der soeben den Kutscher erblickte, sprang davon. Heut' war nämlich ein großer Tag für den Knaben. Heut' abend, das wußte er, wurden an der Stelle, wo noch heute zwischen Weiden und Tannen der Weg scharf nach dem Lommen einbiegt, die Pferde zur Schwemme geritten.

Der Kutscher war des Majors Getreuer. Er war seinerzeit sein Bursche gewesen. Und als alter Militär hieß er »Spitz«. Als der Major nach Kolsäter zog, nahm er Spitz mit; denn er wollte gerade in der ersten Zeit gern wenigstens einen Diener um sich haben, den er von alters her kannte.

Jetzt war Spitz ein bißchen bei Jahren. Aber im Anfang, als er nach Kolsäter kam, machten sein gewichster Schnurrbart und sein militärischer Pli auf sämtliche Weiberherzen des Guts einen starken Eindruck. Weit und breit hieß er »der schöne Kutscher«; und Mamsell mußte mehr als einmal seinetwegen extra scharfe Aufsicht über die Fenster der Mägdekammern führen. Brite drückte diesen kleinen Schwächen gegenüber ein Auge zu. Er war nun einmal des Majors Günstling. Sie machte mehr als einen Versuch, den schönen Kutscher ins Ehejoch zu spannen, was ihr aber stets mißglückte. Wenn derartiges aufs Tapet kam, richtete Spitz sich stramm auf und sagte:

»Als braver Junggesell hab' ich gelebt und als braver Junggesell will ich auch sterben. Und einstweilen mögen mich die Mädels noch leiden!«

Spitz war und verblieb ein hoffnungsloser Fall. Aber reiten konnte er und kutschieren und mit der großen Peitsche knallen für Zehn! Und darum bewunderte Erling ihn. Und eine Weile, nachdem er den Eltern davon gesprungen war, kam er an der Seite seines Freundes, des Kutschers, auf einem ungesattelten Pferd zum See herab geritten, während die Fohlen durch die Allee hinter ihnen drein sprangen. Die Julisonne stand im Sinken und der Duft der Linden füllte die Luft um die Terrasse.

Auf der grünen Lattenbank, hinter der die Moosrosen blühten, saßen Karl Henrik und Brite. Der Major faltete den Brief, den er soeben langsam und sorgfältig durchgelesen hatte, zusammen und sagte mit einem sorgenvollen Blick auf seine Frau:

»Nils Göran schreibt, er und Mina Charlotta wollen nächste Woche kommen.«

Es geschah immer mit einem gewissen Widerwillen, daß der Major seiner Frau mitteilte, sein Bruder und die Schwägerin würden zu Besuch kommen. Er wußte, in solchen Tagen fiel auf Brite die schwerste Last. Er selber freute sich immer ganz ohne Hintergedanken auf das Wiedersehen mit dem Bruder. Gewiß hatten Jahre und Verhältnisse die Brüder auseinander gebracht und seit Nils Görans Heirat kamen sie noch seltener zusammen als früher. Es war vielleicht sogar ein Glück, daß zwischen den beiden Gütern eine Entfernung von sechs Meilen lag und daß die Besuche darum nicht allzu rasch aufeinander folgten. Karl Henrik konnte sich auch keineswegs verheimlichen, daß die letzten Begegnungen zwischen ihm und dem Bruder eine Enttäuschung gewesen waren. Sobald ein Tag oder zwei vergangen waren, stellte sich zwischen ihnen eine gewisse Kälte ein, und es kostete den Major eine tatsächliche Anstrengung, zu tun, als merke er nichts. Und dennoch fühlte sich Karl Henrik im Innersten froh gelaunt, als er jetzt las, daß der Bruder kommen wollte. Er sehnte sich danach, den alten Nils Göran wiederzusehen, den Nils Göran, der immer wieder in ihm lebte, so bald die Erinnerung an das Unbehagen des letzten Sommers verflogen war.

All das wußte Brite recht wohl, und weil sie mit ihrem Mann bis in seine Illusionen hinein im Takt fühlte, hatte sie nicht das Herz, ihm zu widersprechen und der Verstimmung, die sich bei dieser Nachricht ihrer bemächtigte, Ausdruck zu geben. Halblaut die nötigen Anordnungen beredend, saßen die Ehegatten auf der Bank, während um sie die Dämmerung sank und die Fledermäuse, die der weiße Hut des Majors herbeilockte, über ihre Köpfe wegschwirrten. Erst als sie im Begriff waren, hineinzugehen, sagte Brite lächelnd:

»Du glaubst wohl nicht, daß Mina Charlotta irgend etwas dazwischen kommen könnte?«

Der Major verfiel sofort in denselben Ton.

»Nein,« erwiderte er mit einer Grimasse. »Unmögliches darfst du vom Schicksal nicht verlangen.«

Gedankenvoll machte Brite an diesem Abend ihre gewohnte Runde durch die Zimmer im Erdgeschoß, um nachzusehen, ob die Läden geschlossen waren. Sie sah stattlich aus, wie sie so da ging. Die Jahre hatten sie beinah verschönt, und selbst die Fülle, die mit ihnen gekommen war, gab nur einen Eindruck von Gesundheit und Kraft. Und während sie durch die Zimmer wanderte, dachte sie zum hundertsten Male darüber nach, daß ihr Mann zu gut für diese Welt sei. So alt er war, sah er Nils Göran noch immer mit denselben Augen wie einst, als die Jugend sie vereint hatte. Der Bruder brauchte bloß zu kommen, und Karl Henrik ging ihm mit der ganzen Harmlosigkeit, die ihm eigen war, entgegen.

Brite dachte hieran mit einem gewissen weiblichen Verdruß. Und noch mit diesen Gedanken beschäftigt, trat sie ins Schlafzimmer. Das große Mahagonibett im Alkoven, der mächtige Trumeau, die schweren, geschnitzten Möbel – alles das nahm sich beim Schein der einzigen brennenden Kerze für Brite, in deren Innern es gärte, fast gespenstisch aus. Sie blickte auf all die Jahre zurück, die vergangen waren, und es schien ihr, als ob der einzige dunkle Schatten in ihrem und ihres Mannes Leben von diesem Bruder Karl Henriks herrühre. Brite war nicht mehr das scheue junge Weib, das einst dem unbekannten Schwager zitternd unter die Augen getreten war. Aber hinter ihrem jetzt mehr gleichmäßigen und beherrschten Äußern lebte noch immer die gleiche weiche Empfindsamkeit und beherrschte ihre Natur noch immer gleich stark, wenn sie sich auch nicht mehr auf dieselbe Weise äußerte, wie in der ersten Jugend.

Nie hatte Brite offen mit ihrem Mann über den Bruder gesprochen. Nie hätte sie das Herz gehabt, das zu tun. Aber so oft sie sich auf diese Besuche vorbereitete, die sich zu bestimmten Zeiten wiederholten, hatte sie gefühlt, wie ihr Herz sich in einer Unruhe zusammenschnürte, die sie nicht zu erklären vermochte. Und sie hatte ihren Mann genau beobachtet und gedacht: »Ahnt er nichts?«

Noch im Bett und während Brite lauschte, ob nicht in der Wendeltreppe die Schritte ihres Mannes zu vernehmen wären, beschäftigte sie sich mit diesen Gedanken. Und als sie zum neuen Tag erwachte, waren sie noch nicht verschwunden. Jedoch ging sie ruhig ihren Geschäften nach; nur als sie den Major mit vergnügter Miene nach der Inspektorwohnung hinüber gehen sah, kehrten die Gedanken mit verstärkter Macht zurück. »Wer weiß?« dachte sie dabei. »Vielleicht, wenn man genauer nachsieht, versteht Karl Henrik mehr, als er mir gegenüber sagen will!«

Wenigstens glaubte Brite zu bemerken, daß ihr Mann diesmal minder eifrig als sonst von der Freude sprach, seinen Bruder wiedersehen zu dürfen.

Wäre nicht gerade die Heuernte im Gang gewesen und Fuder um Fuder über die Steinauffahrt des Wirtschaftshofes hinangerollt – die Tage hätten sich sicher noch langsamer hingeschleppt, als es nun der Fall war. Als der Sonntagabend kam und alles zur Ruhe ging, lag für Brites Augen über dem ganzen Hof eine Stimmung wie Unglücksahnen.

Das Unglück kam auch, obgleich in anderer Form, als Brite es sich gedacht hatte. Es kam in der Montagnacht, in der Brite und Karl Henrik plötzlich daran aufwachten, daß Tilda, das Hausmädchen, halb angekleidet, mit einer Laterne am Bett der Herrschaft stand und flüsterte: »Es brennt.« Halb im Schlaf sprang der Major aus dem Bett. »Wo?« rief er. »Antworte doch, Mädel!« Die Dirne stand erschrocken mitten im Zimmer und brachte kein Wort heraus. Im selben Augenblick hörte man vom Hof her Stimmen und das Geräusch hastender Schritte; und über den Lärm weg tönte das stürmische Läuten der Vesperglocke. In einem Nu hatte der Major die Gardine heruntergerissen. Das ganze Zimmer war plötzlich von flammendem Feuerschein erhellt. »Es ist die Scheune,« sagte Brite. »Und der Stall dicht daneben!«

Aber der Major hörte sie nicht. Er war schon über die Wendeltreppe hinab verschwunden. Als er auf dem Brandplatz anlangte, begannen schon die Leute zusammenzulaufen. Vom Stall herüber tönte das Brüllen des aufgeschreckten Viehs, das, mit den bellenden Schäferhunden zugleich, Hals über Kopf in den benachbarten Hag hinausrannte.

Das Hüttenwerk lag eine Viertelstunde Wegs vom Herrenhof. Die Katen lagen ringsum auf dem meilenweiten Besitztum verstreut. Weit umher in den Wäldern, wo die Bäume sich zu Lichtungen oder Waldwiesen öffneten, wo der Fluß sich zum Teich breitete, der zu Ackerland ausgetrocknet war, wo die Kultur den Wald verdrängt und sich Bahn gebrochen hatte – da wohnten die Leute. Die Entfernungen waren weit – die Pfade eng und dunkel. Niemand als eben diese Waldbewohner konnte sich hier zur Nachtzeit durchfinden. Darum kam auch keine andere Hilfe als von den Gutsangehörigen und vom Hammer, wohin der Großknecht Boten ausgeschickt hatte, weil der schwache Klang der Vesperglocke nicht so weit trug.

Darum war auch die brennende Scheune nicht zu retten. Und wäre das Heu nicht dies Jahr halbtrocken eingekommen, so hätte die Scheune sofort in hellen Flammen gestanden. So arbeiteten sich die Flammen mühsam vorwärts, und nur an der einen Längswand gähnte ein verräterisches Loch, durch das sich eine feurige Riesenschlange nach dem Dach hinaufwand. Das Dach brannte schon. Ziegel um Ziegel fiel klirrend herab, begleitet von aufwirbelnden Rauchmassen. Durch die Balken der Seitenwände begannen schon die roten Flammen zu scheinen; jeden Augenblick fürchtete man das ganze knisternde Gebäude in einem einzigen großen, rauchenden Haufen zusammenstürzen zu sehen.

Schwarz, rußig, in ihren langen Hemden, so wie sie vor den Öfen standen, kamen die Schmiede von der Hütte, in der das Donnern der Hämmer verstummt war. Schweigend, die Gefahr mit aufmerksamen Blicken verfolgend, nahmen sie ihren Platz ein in der Kette von Weibern und Männern, die sich vom Brandplatz bis zum See hinunter gebildet hatte. Eimer um Eimer wanderte herauf und ward in die große Feuerspritze geleert, an der acht Mann pumpten, und bei der der Major selber sich als Befehlshaber aufgestellt hatte. Brite stand, ganz zusammengekrochen hinter ihrem Mann. Mit Augen, die vor Unruhe funkelten, betrachtete sie das vor ihr liegende Schauspiel, sah, wie die Flammen, weit umher Funken und brennende Späne schleudernd, gegen den dunklen Waldrand aufflackerten. Ein Entsetzen beherrschte sie ganz und gar. Der Verlust, den das Gut erlitt, vergrößerte sich in ihrer Phantasie tausendfach. Und die Angst, die sie solange einsam getragen hatte, ward vor dem Schreckbild dieser Nacht übermächtig. Bleich, zitternd, fühlte sie in sich nur einen Gedanken, der immer wieder in ihr aufstieg und sie quälte, wie Salz in einer offenen Wunde: »Dies ist bloß der Anfang,« dachte sie, »bald kommt auch der Hof dran.« Sie sah die Armut aus den Flammen sich entgegengrinsen. Aber sie dachte dabei nicht an sich, nur an den Mann, der es nicht würde ertragen können, von neuem arm zu sein.

Die Leute hatten schon eine gute Weile gearbeitet. Da wandte sich der Major zu seiner Frau und sagte:

»Laß ein Faß Dünnbier herausschaffen und sag' den Mägden, sie sollen den Leuten Essen bringen.«

Während er sprach, ergriff er selbst den Schlauch und richtete ihn auf die Wand des Stalles, die schon zu rauchen begann. Zum Glück war das Vieh längst in Sicherheit gebracht.

Brite hörte ihres Mannes Worte gar nicht. In ihre eigenen Gedanken versunken stand sie da, und als der Major sich wieder nach seiner Frau umwandte, hatte sie sich noch nicht vom Fleck gerührt.

»Warum tust du nicht, was ich sage?« sagte er leise und barsch.

Ohne ein Wort der Erwiderung drehte Brite sich um und ging. Und der Major hatte im nächsten Augenblick vergessen, was sich ereignet hatte.

Denn wie eine zitternde Bewegung ging es jetzt durch die ganze Schar arbeitender Männer und Weiber. Eine Stimme hatte gerufen:

»Axt-Lars!«

Der Waldhüter war's, der ihn zuerst gesehen hatte. Sehnig, breitschultrig, leuchtend rot hob sich dicht bei dem bedrohten Stall des Waldhüters Gestalt mit dem dunkelbärtigen Gesicht vom Feuerschein ab. Mit ausgestrecktem Arm deutete er nach der offenen Stalltür. Der Ruf pflanzte sich fort von Mann zu Mann – durch die lange Kette bis hinab zum See. Die, die zu weit weg waren, um sehen zu können, schienen die Kette sprengen zu wollen, um herbei zu eilen und zu sehen, was der Ruf bedeutete. Nur mit Mühe wurde die Disziplin wieder hergestellt. Das kam daher, daß eine unbeantwortete Frage in aller Gedanken war, eine Frage, die bisher keiner laut ausgesprochen und die doch jeder bei sich selbst gestellt hatte. »Wer hat die Scheune angezündet? Ohne Ursache entsteht keine Feuersbrunst!« Das war's, das war die Frage. Und das wußten alle – kein Mensch, der bei Sinnen war, wäre mit einem offenen Licht in den Raum gegangen, wo das neueingebrachte Heu lag.

Axt-Lars stand inzwischen auf der Schwelle des Stalls. Woher er gekommen war, wußte niemand; niemand hatte ihn auch hineingehen sehen. Er mußte im Stall versteckt gewesen sein. Und alle betrachteten es als das reine Wunder, daß er sich überhaupt herauswagte.

Denn Axt-Lars fürchtete sich vor den Leuten. Axt-Lars hatte ein schlechtes Gewissen und konnte keinem Menschen gerade in die Augen sehen. Tief im Wald, in einer alten, halbvermorschten Hütte wohnte er; auf seinen Feldern, die einst, in früheren Zeiten, Frucht getragen hatten, wuchsen Dorn und Disteln. Auf den engen Steigen, die zum Rabenteich oder Totenmoos führten, begegnete man ihm ab und zu. Er ging mit gesenkten Blicken und redete laut vor sich hin, als verwünsche er alle, die ihm in den Weg liefen, und sein Gesicht sah aus wie eitel Schmutz und Bart. In seine Hütte hatte seit undenklicher Zeit kein Mensch einen Fuß gesetzt. Denn wenn jemand bloß dem Grund und Boden nahe kam, den Lars als sein Eigentum betrachtete, so tauchte er schon hinter einer Hausecke auf und drohte mit der Axt. Jemand etwas zuleide getan hatte er noch nie. Darum ließ ihn auch der Schultheiß in Frieden. Aber kein Mensch war davor sicher, daß er nicht eines schönen Tages zuschlug. Darum gingen ihm die Leute aus dem Weg und nannten ihn Axt-Lars.

Er war so geworden, sagten die Alten, weil er Zeit seines Lebens immer nur an die Schlechtigkeit andrer gedacht und alles mögliche Böse zusammengelogen hatte, das, wie er sagte, andere begangen haben sollten, überall sah er nur Schlechtes; und kein Mensch war so rein, daß nicht Axt-Lars ihn aller möglicher Niederträchtigkeiten und Schandtaten bezichtigt hätte. Seine Kinder verließen das Vaterhaus, sobald sie konnten. Sie zogen aus der Gegend fort und man hörte nichts mehr von ihnen. Die letzte, die ihn verließ, war sein Weib. Man trug sie in einem schwarzen Sarg davon und senkte sie in die Erde. Sie hatte wohl am meisten mit ihm ausgestanden. Seit jenem Tag war er ein Ausgestoßener, dem alle aus dem Weg gingen.

Niemand fragte danach, wie er so geworden war. Es lohnt sich kaum, nachzuforschen, woher das Böse kommt. Aber während er jetzt in der Tür des leeren Stalls stand und nach der brennenden Scheune hinüberspähte, sahen alle, wie er vor sich hin murmelte und die Fäuste schüttelte, als wolle er mit seinen bösen Gebeten das Unheil noch vermehren. Es sah fast aus, als wandle Axt-Lars im Schlaf. Mit den Händen vor sich her tastend, ging er auf die Scheune zu und starrte in die Flammen, als zögen sie ihn an sich. Obgleich niemand von den Leuten ihm wohlwollte, stieg doch aus der Schar um den Brandplatz jetzt ein Schrei des Entsetzens empor. Denn im selben Augenblick schlugen die Flammen zum Dach heraus, hüllten das ganze Gebäude in eine einzige große Glutmasse, und mit Donnern und Krachen stürzten die Balken in dem funkensprühenden Rauch zusammen, der für einen Moment fast die Gewalt des Feuers erstickte. Wäre nicht der Waldhüter zugesprungen, um Axt-Lars mit einem Ruck zurückzureißen, er wäre geradewegs in die blendende Flamme hineingelaufen. Der Waldhüter mußte ihn aufheben und davontragen; und Axt-Lars schäumte und biß um sich wie ein wütendes Tier. Erst als der Major kam und ihn anschrie, er möge sich zusammennehmen, wurde er still. Als ihn dann der Major fragte, ob er es gewesen sei, der den Brand angelegt habe, schien es, als erwache er und besinne sich.

»Ich war in der Scheuer,« sagte er. »Und meinen Stahl hatte ich bei mir.«

»Und du hast Feuer geschlagen?« fragte der Major.

»Das hab' ich.«

»Warum hast du das getan?«

»Ich war allein. Und es war dunkel. Und ich fror.«

Mehr war nicht aus ihm herauszubringen. Ein paar, die zuhörten, meinten, wenn man sich nur verrückt stelle, sobald man etwas Böses getan habe, so brauche auch für das ärgste Verbrechen niemand mehr zu büßen.

Die Morgensonne brach hervor über die Wasser des Lommen, über die alten Bäume des Parks und die waldigen Hügel im Hintergrund. Vor dem Inspektorsflügel wurden sie jetzt alle verpflegt, Knechte und Schmiede, Tagelöhner und Kätner, Männer, Weiber und Kinder – alle, die beim Löschen geholfen hatten und sich jetzt um die in Eile aufgestellten Brettertische voll Schüsseln und Teller drängten.

Der Major warf einen letzten Blick auf den rauchenden Aschenhaufen, den ein paar zuverlässige Leute bewachten, damit das Feuer nicht aufs neue ausbrechen und sich weiterverbreiten sollte. Dann ging er hinauf zum Herrenhaus, um Brite zu berichten, daß alle Gefahr vorüber war.

Er fand sie im Schlafzimmer auf einem Stuhl am Fenster zusammengekauert – noch in denselben Kleidern wie in der Nacht auf dem Brandplatz. Sie zitterte wie im Frost und schien des Mannes Kommen gar nicht zu hören.

»Brite,« sagte er verwundert, »warum sitzest du da?«

Da erwachte sie aus ihrer Betäubung. Sie versuchte, indem sie sich aufrichtete, den Major anzulächeln; und es gelang ihr.

»Jetzt heißt's, zum Winter Heu kaufen,« sagte er lächelnd. »Das ist glücklicherweise der ganze Schaden!«

Ein paar Stunden später brachte man Axt-Lars fort. Der Waldhüter wurde mit dem Auftrag betraut, ihn zum Schultheiß zu führen. Dieser nahm den Verbrecher in Gewahrsam, und damit verschwand Axt-Lars für immer aus der Gegend. Er starb im Gefängnis. Die Hütte im Wald, an der der Bach zum Rabenteich vorübereilte, verfaulte so nach und nach und verfiel, da niemand sie bewohnen mochte. Ebensowenig erhoben die ausgewanderten Söhne oder Töchter Anspruch auf das Erbe.


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