Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In demselben Augenblick, in dem Frau Dagmar mich verlassen hatte, kehrte in mir die Erinnerung an die Worte zurück, die sie mir zuvor gesagt: »Das ist unsere letzte Nacht.« Sie hallten in meinen Ohren wie etwas Unfaßbares, das ich mit dem, was sonst um mich geschah, nicht in Zusammenhang bringen konnte. Sie schienen mir die Vorbedeutung von etwas Bösem in sich zu schließen, das ich in mir selbst getragen und nie loswerden sollte, und das würde mich jetzt in einer ganz anderen Weise treffen, als ich es je geahnt. Ich hörte diese Worte in mir, und da mir die Kraft fehlte, umzukehren, um Frau Dagmar in dem Gedränge wiederzufinden und ihr eine Erklärung abzufordern, ging ich weiter durch das Gewühl flammender Gesichter und den verblichenen Luxus, wie er in dem Gedränge eines Festes zu herrschen pflegt, das sich seinem Ende nähert. Ich suchte meine Frau, so wie Frau Dagmar es gesagt, und ich fand sie allein in unserer Loge, in einen Fauteuil versunken und auf den ganzen Auflösungszustand der Anständigkeit starrend, der sich vor ihr entfaltete. Ohne ein Wort zu sagen, nahm Olga auf meine Aufforderung meinen Arm, und stumm saß sie im Wagen, der uns in dem grauen Morgenlicht zu unserem Heim führte, dem gelben Hause, das im letzten Winter bar an allem gewesen, was uns einst Freude geschenkt.
Abwesend und in einem inneren Aufruhr, den ich nicht beschreiben kann, verließ ich meine Frau, um in mein Zimmer zu gehen und die Türe zuzuschließen. Die Erinnerungen dieses ganzen Winters jagten durch mein fieberheißes Hirn, der Sinnesrausch war für den Augenblick vorüber, und in dem grauen Morgenlicht nahm ein kühles Nachdenken, das mir das Blut im Herzen stocken ließ, die Stelle des Rausches ein. Was war geschehen? Was war nur geschehen. Nur dieses einzige Wort »unsere letzte Nacht« erklang in meinem Ohr und wollte mir keine Ruhe lassen. Wie ich so daran dachte, wurde es mir unmöglich, zu Hause zu bleiben. Ich riß meinen Überrock an mich und stürzte hinaus. Meine Schritte führten mich zu Frau Dagmars Wohnung, und vor den verschlossenen Läden, durch die kein Lichtfunke herausdrang, ging ich auf und nieder, in der wahnwitzigen Hoffnung, daß sie zurückgekehrt sein und ihr Fenster öffnen würde, so daß ich sie eine Minute sehen und ihr noch einmal Gutenacht sagen konnte. Es schien mir, daß meine Sehnsucht so stark war, daß sie sie wecken mußte, wenn sie schlief, daß sie ihr Herz durch versperrte Türen und Steinmauern treffen, sie zu mir führen mußte, auf welchem Wege immer, und in dem hellen Aprilmorgen glaubte ich unaufhörlich Schritte zu hören, die nahten, eine Stimme, die mich rief, das Rauschen eines Gewandes, das das ihre war.
Plötzlich fiel es mir ein, daß sie möglicherweise noch nicht heimgekommen war, und ich wandte mich um und ging den Weg entlang, ging auf und ab vor der stummen Villa, dem Rasseln von Wagenrädern horchend, die durch die schlummernde Stadt rollten. Ich mußte lange warten, und ich wartete mit wallendem Blut, bis der Glanz der Sonne über die kahlen Wipfel der Eichen emporstieg. Da hörte ich deutlich das Rollen eines Wagens, der sich näherte. Ich wollte ihm entgegenstürzen, bereitstehen, die Wagentüre zu öffnen, und, alles vergessend, sie in meine Arme schließen. Aber es war, als hätte mich jemand zurückgehalten, und ohne mir über meine Handlungsweise Rechenschaft zu geben, eilte ich über den Weg und stellte mich in den Schatten des Stakets und der Hecke, die die Villa umschloß. Stumm stand ich dort, ohne von der Landstraße gesehen zu werden, jeder Nerv angespannt, vielleicht mit der unklaren Empfindung, daß die nächste Minute über mein Schicksal entscheiden sollte.
Da sah ich den Wagen kommen, er fuhr langsam, und eine wunderliche Angst überfiel mich. Der Wagen blieb ein Stück vor Frau Dagmars Villa stehen, aber ich kam nicht heran, um sie zu empfangen. Ich stand wie an dieselbe Stelle gebannt, und es war mir, als wollte meine Seele meine Augen sprengen, die unablässig auf die geschlossene Tür des Wagens starrten. Sie öffnete sich nicht. Ich hörte Laute so wie Flüstern von Menschen, die in Streit geraten sind. Hierauf sah ich eine Hand, die sich durch das Fenster streckte und den Türgriff faßte. Es war eine Männerhand, und im nächsten Augenblick sah ich Frau Dagmar allein aus dem Wagen steigen und ohne sich umzusehen, auf die Villa zugehen. Der Wagen drehte um und rollte schnell der Stadt zu.
Ich hielt vor Spannung den Atem an, und es schien mir, daß mein Herz zu schlagen aufhörte. Selten hatte ein Schimmer des Mißtrauens mich in dieser Zeit des Rausches erreicht, und auch jetzt war es nicht mehr als eine Ahnung, was meine Seele durchströmte. Aber diese Ahnung barg einen Abgrund von Erniedrigung und Qual, der mir alle Besinnung raubte und gleichzeitig jeden Gedanken an Handlung in meiner Seele betäubte. Ich hatte bloß das Gefühl, als drehte jemand in meinem Körper ein Messer herum, ich sah, was dann geschah, hörte jedes Wort, jedoch mit dem Gefühl, als sei mein eigentliches Ich schon weit weg.
Ohne daran zu denken, was ich tat, wankte ich hinab auf den Weg und stand plötzlich Frau Dagmar gegenüber.
Sie sah zuerst ganz erstaunt aus, dann verwandelten sich ihre Züge, so als wollte sie mit ihrem gewohnten Aplomb das Ganze weglachen. Aber im nächsten Augenblick veränderte sich ihr ganzer Gesichtsausdruck, und wie verletzt, nicht in ihren Gefühlen als Weib, sondern in ihren Rechten als Mensch, maß sie mich mit einem Blick der Verachtung vom Kopf bis zu den Füßen und sagte:
»Ich vertrage es nicht, daß jemand mir nachspioniert.«
Ich hörte diese Worte, ich begriff den Ton, in dem sie ausgesprochen wurden. Aber ich war in dem Maß vernichtet, daß ich nicht die Stärke besaß, ihr in gleicher Weise zu antworten. Ich hatte überhaupt nicht die Stärke, ihr zu antworten. Ich drehte mich nur um und begann an Frau Dagmars Seite weiterzuschreiten. Sie ließ es geschehen, und im Sonnenaufgang gingen wir auf und ab auf dem Platze, den ich eben erst mit den einsamen Schritten meiner Erwartung durchmessen.
Nur ein Gedanke schwirrte in diesem Augenblick in meinem gemarterten Hirn herum, und das war derselbe Gedanke, der mich eben erst hinausgetrieben. Alles, was dann hinzugekommen – die Szene mit dem Wagen, der in der Entfernung Halt gemacht, der Abschied, dem ich beigewohnt und doch nicht beigewohnt hatte – all das war noch nicht dahin gekommen, mich zu schmerzen. Es war nicht zu dem Brennpunkt meines Ichs vorgedrungen, in dem nur für einen einzigen Gedanken Raum war. Ich suchte lange nach Worten, um diesem Gedanken Ausdruck zu geben, und endlich sagte ich still, beinahe wehmütig und mild:
»Gedenkst du abzureisen?«
Sie lachte kurz.
»Warum fragst du das?«
»Was meintest du damit, daß das unsere letzte Nacht sei?«
Sie blieb stehen und sah mir spöttisch in die Augen.
»Kommst du deswegen her?« fragte sie.
Ich antwortete ja, aber ich empfand meine Schwäche als brennende Schmach. Es war, als ob ein ganz neues Weib vor mir stünde. Ich verstand es nicht, und ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, als arbeiteten in meinem Innern Mächte, die ich am klügsten täte zu fliehen.
»Du willst wissen, was ich meinte,« sagte sie langsam. »Du sollst es auch erfahren. Damals meinte ich nichts. Nichts, hörst du! Es war ein Scherz, und es fiel mir nicht ein, daß du ihn ernst nehmen könntest. Aber jetzt ist es Ernst. Jetzt meine ich, daß ich zu reisen gedenke.«
»Deshalb, weil ich – wie du sagtest – dir nachspioniert habe?« fragte ich trocken.
»Ja,« antwortete sie kurz. »Ich bin nun einmal so.«
Aber nun war das Gefühl, das lange in mir gearbeitet hatte, herangewachsen, alles andere hinwegfegend, so wie wenn ein Orkan die Luft reinigt. Jetzt war das Wort gesagt, das ich während der Nachhausefahrt in mir getragen, während meines Wartens, bis der Wagen kam. Im selben Augenblick zuckte dieser neue Gedanke wie ein Blitz durch das Dunkel, und vor Verachtung bebend, sagte ich, so ruhig ich es vermochte: »Du fährst mit ihm?«
»Wen meinst du?«
»Ihn, von dem du dich eben erst nach Hause begleiten ließest.«
Sie sah mich mit Erstaunen an, beinahe mit Neugierde, als sähe sie in mir einen ganz anderen Menschen als den, den sie früher kennen gelernt, und mechanisch ließ sie sich die Phrase entschlüpfen, die alles abschneidet, ohne irgend etwas zu erklären: »Ich verstehe nicht, was du meinst.«
Ich weiß nicht, welche Macht mich in diesem Moment klarsehend werden ließ. Es war vielleicht nur der falsche Klang ihrer dünnen Stimme, die mir plötzlich so offenbar wurde, als hätte ich ihr mein ganzes Leben lang mißtraut, und indem ich mit beiden Händen ihre Schultern packte, zischte ich ihr förmlich die rohesten Worte der Sprache ins Ohr. Sie zuckte zusammen und versuchte zu antworten. Aber nichts konnte mich mehr aufhalten. Ich sah sie im Bébékleid, von Courmachern umgeben, sah den Wagen, der stehen blieb, und die Männerhand, die von innen die Tür öffnete, ich sah ihre leichtfertige Miene, ihre imitierte Ladyhaltung, ihren kalten Gesichtsausdruck, diese ganze verabscheuungswürdige Kühle, die bei jedem Lachen aus der Tiefe ihres Wesens hervorströmte. Ich sah all dies blitzartig, als wäre ich durch eine Offenbarung zur Besinnung erweckt worden, und indem ich sie von mir schleuderte, rief ich so laut, als wünschte ich, daß die ganze Welt mich hören sollte:
»Du hast mich betrogen. Von der ersten Stunde an, in der ich dich sah, hast du mich betrogen. Glaubst du, ich wüßte nicht alles? Glaubst du, ich verstände es nicht wenigstens jetzt? Aber eines will ich dir sagen: Das ist mir gleichgültig. Das kann ich ertragen, sowie alles, was ich durch dich gelitten habe. Nur eines kann ich dir nie verzeihen, und das ist, das ich durch dich so tief gesunken bin, daß ich eine solche Frau wie meine Gattin mit dir vergleichen konnte.«
Sie hörte mich mit der Ruhe an, mit der sie jeden anderen Ausbruch, der sie durch seine eruptive Kraft gefesselt hätte, angehört haben würde. Aber bei meinen letzten Worten wechselte ihr Gesicht die Farbe und nahm den Ausdruck tödlichen Hasses an. Sie wandte sich ab und ging. Und vor Gemütsbewegung zitternd, blieb ich auf der Straße stehen, mit dem Gefühl, als hätte ich auf eine giftige Schlange getreten. – –
Wie kam ich dazu, in diesem Augenblick den Namen meiner Frau zu nennen? Wie kam sie mir auch nur in den Sinn? Das zu erklären ist mir heute und immer unmöglich. Aber über dieses Rätsel grübelnd, taumelte ich wie ein Betrunkener zurück in mein Heim.