Theophil Gautier
Kapitän Fracasse. Zweiter Band
Theophil Gautier

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In Paris

Es wäre zu langweilig, die Reise unserer Komödianten Station für Station bis nach Paris, der großen Stadt, zu verfolgen, und übrigens ereignete sich auf dem ganzen übrigen Wege kein Abenteuer, das erzählt zu werden verdiente. Der Geldbeutel unserer Freunde war jetzt gut gespickt, und es ging daher rasch vorwärts, denn sie konnten nun überall gute Pferde mieten und jeden Tag eine tüchtige Strecke zurücklegen.

In Tours und in Orleans machte die Truppe halt, um einige Vorstellungen zu geben, deren Einnahme Herodes in seiner Eigenschaft als Direktor und Kassierer in einem noch nie dagewesenen Grade zufriedenstellte.

Eines Abends endlich gegen vier Uhr langte man in der Nähe der großen Stadt an und fuhr die Seine entlang, diesen berühmten Fluß, dessen Wellen die Ehre haben, den Palast unserer Könige und so viele andere weltberühmte Gebäude zu bespülen. Der Rauch, der den Schornsteinen der Häuser entquoll, bildete am Horizont eine große halbdurchsichtige rotbraune Nebelbank, hinter der die Sonne dunkelrot und strahlenlos unterging. Auf diesem Hintergrund von gedämpftem Licht zeichneten sich grauviolett die Umrisse der Häuser, der Kirchen und der öffentlichen Gebäude, auf die man von dieser Stelle aus eine umfassende Aussicht hatte. Auf der anderen Seite des Flusses, jenseits der Insel Louviers, sah man die Bastion des Arsenals, das Cölestinerkloster und fast gegenüber die Spitze der Insel Notre-Dame. Als die Reisenden das Tor St. Bernhard hinter sich hatten, wurde der Anblick herrlich.

Die Kirche Notre-Dame trat mit ihren Strebepfeilern und ihren beiden viereckigen Türmen vollständig hervor. Andere bescheidenere Glockentürme, die in dem Häusermeere versteckte Kirchen und Kapellen verrieten, durchstachen mit ihren schwarzen Spitzen das helle Gefilde des Himmels. Sigognacs Blicke wurden aber vor allem durch die Kathedrale angezogen, denn er war nie in Paris gewesen, und die Erhabenheit dieses Bauwerkes setzte ihn in Erstaunen.

Das Rollen der mit verschiedenen Waren beladenen Wagen, die Zahl der Reiter und der Fußgänger, die am Rande des Flusses oder in den Straßen längs desselben durcheinander wimmelten, blendeten und betäubten den jungen Baron, der bis jetzt nur an die Einsamkeit der unermeßlichen Ebene und an die Totenstille seines alten verfallenen Schlosses gewöhnt gewesen war.

Die Lichter, die bei dem einbrechenden Abenddunkel schnell nacheinander zum Vorschein kamen, bedeckten die dunklen Fassaden der Häuser mit roten Punkten, und der Fluß warf diesen Schein zurück, indem er ihn in seinen schwarzen Fluten zu feurigen Schlangen verlängerte. Bald trat aus dem Dunkel längs des Kais die Kirche und das Kloster der »großen Augustiner« hervor, und auf dem Platze vor dem Pont Neuf sah Sigognac rechts durch das zunehmende Dunkel hindurch die Umrisse einer Reiterstatue, der des guten Königs Heinrichs des Vierten. Der Wagen bog um die Ecke der kürzlich erst hier über das Terrain des Klosters geführten Rue Dauphine. Am Ende der Rue Dauphine, nicht weit von dem Tore dieses Namens, gab es damals ein großes Gasthaus, in dem zuweilen Gesandtschaften aus unbekannten und fabelhaften Ländern abstiegen. Dieses Gasthaus konnte zahlreiche Gesellschaften aufnehmen, auch wenn sie sich nicht vorher hatten anmelden lassen. Die Tiere fanden hier stets gutes Futter und gute Streu, und den Besitzern fehlte es nie an Betten. Hier hatte Herodes beschlossen, das Lager seiner dramatischen Horde aufzuschlagen. Der glänzende Zustand der Kasse erlaubte ihm diesen Luxus, einen Luxus, der übrigens seinen Nutzen hatte, denn er bewies, daß die Truppe nicht aus Landstreichern und Gaunern bestand, die durch Not zu dem Schauspielerhandwerk getrieben wurden, sondern aus wackeren Künstlern, denen ihr Talent ein anständiges Einkommen gewährte. Die Küche, in die die Komödianten eintraten, um hier zu warten, bis man ihre Zimmer instand gesetzt hatte, war sehr groß und geräumig.

In dem Augenblick, als ein Kellner den Schauspielern meldete, daß ihre Zimmer bereit wären, trat ein Reisender in die Küche und näherte sich dem Kamin. Es war ein Mann von etwa dreißig Jahren, von hohem Wuchs, schlank, aber kräftig, und von unangenehmen, obschon regelmäßigen Gesichtszügen. Der Widerschein der Kaminglut faßte sein Profil in einen feurigen Saum, während der übrige Teil seines Gesichts dunkel blieb. Zahlreiche, teils trockene, teils noch nasse Kotflecken verrieten, daß der Mann einen weiten Weg zurückgelegt, und an den von schwärzlichem Blut geröteten Sporenrädern sah man, daß der Reiter, um das Ziel seiner Reise zu erreichen, den Flanken seines ermüdeten Tieres in ziemlich schonungsloser Weise zugesetzt hatte. Es wäre schwierig gewesen, genau zu sagen, welcher Klasse der Neuangekommene angehörte. Er war weder Kaufmann, noch Bürger, noch Soldat. Am wahrscheinlichsten gehörte er in die Kategorie jener armen Edelleute von niederem Range, die in die Dienste eines Großen und Reichen treten.

Sigognac, der nicht wie Herodes und Blasius seine ganze Aufmerksamkeit durch die Küche und die dort bereiteten Herrlichkeiten in Anspruch nehmen ließ, betrachtete mit einer gewissen Aufmerksamkeit den seltsamen langen Menschen, dessen Züge ihm nicht ganz unbekannt vorkamen, obwohl er sich nicht entsinnen konnte, wo oder wann er sie schon gesehen hatte. Vergebens suchte er in seiner Erinnerung – er fand nichts. Dennoch fühlte er unklar, daß er jetzt nicht zum erstenmal in Berührung mit dieser rätselhaften Persönlichkeit kam, die den Anwesenden den Rücken kehrte und, wie um die Hände zu wärmen, sich dem Kamin so viel als möglich näherte.

Da der Baron in seiner Erinnerung nichts Bestimmtes fand, folgte er seinen Kollegen, die von ihren Zimmern Besitz nahmen und nachdem sie ein wenig Toilette gemacht, sich in einem Parterrezimmer wieder zusammenfanden, wo die Abendmahlzeit aufgetragen war, der sie als hungrige und durstige Leute tapfer zusprachen. Blasius erklärte, mit der Zunge schnalzend, den Wein für gut und schenkte sich oft ein, ohne jedoch dabei die Gläser seiner Kameraden zu vergessen, denn er war nicht einer jener egoistischen Zecher, die Bacchus in der Einsamkeit anbeten. Die Mahlzeit war heiter. Animiert durch den Wein und die guten Speisen, froh, endlich in Paris, diesem Eldorado aller Projektmacher, zu sein, durchdrungen von jener warmen Atmosphäre, die, wenn man lange Stunden in der Kälte auf einem Wagen zugebracht, so angenehm ist, gaben sich die Schauspieler den tollsten Hoffnungen hin. Sie rivalisierten in Gedanken schon mit dem Hotel Bourgogne und mit der Truppe des Marais. Sie sahen sich applaudiert, gefeiert, an den Hof berufen, über die Werke der berühmtesten Schöngeister der Zeit verfügen, von vornehmen Herren zu Gastmählern eingeladen und in Karossen umherrollen.

Als die Mahlzeit beendet war, zogen die Frauen ebenso wie Leander und der Baron sich zurück, und ließen die drei alten bewährten Zecher allein bei den noch nicht völlig geleerten Flaschen zurück.

»Verschanzen Sie sich gut in Ihrer Festung«, sagte Sigognac, indem er Isabella bis an die Tür ihres Zimmers geleitete. »Es gibt so viele Leute in diesen Gasthäusern, daß man nicht vorsichtig genug sein kann.«

»Fürchten Sie nichts, lieber Baron«, antwortete die junge Schauspielerin. »Meine Tür hat ein Schloß wie das Tor eines Gefängnisses. Überdies ist auch ein Riegel da, so lang wie mein Arm. Das Fenster ist vergittert, und kein Ochsenauge schaut drohend von der Wand herab. Nie ist eine verzauberte Prinzessin in ihrem von Drachen bewachten Turme sicherer gewesen.«

»Zuweilen,« entgegnete Sigognac, »ist aber doch alle Zauberei vergeblich, und der Feind dringt trotz ihrer in die Festung.«

»Dann,« hob Isabella lächelnd wieder an, »begünstigt die Prinzessin den Feind jedenfalls selbst, sei es nun aus Neugier, oder aus Liebe, oder weil sie sich langweilt, so eingesperrt zu sein, obschon dies nur zu ihrem Besten geschieht. Dies alles ist bei mir nicht der Fall. Da sonach ich, die ich von Natur so überaus ängstlich bin, mich nicht fürchte, so müssen Sie, der Sie an Mut einem Alexander und Cäsar gleichen, ebenfalls ruhig sein. Schlafen Sie daher wo möglich auf beiden Ohren.«

Als sie in ihr Zimmer hinein war, hörte Sigognac den Schlüssel sich im Schlosse umdrehen und die Riegel knarren; als er aber den Fuß auf die Schwelle seines Zimmers setzte, sah er an der Wand im Scheine der den Korridor erleuchtenden Laterne den Schatten eines Mannes, den er nicht hatte kommen hören, und dessen Körper ihn beinahe streifte. Sigognac drehte rasch den Kopf herum. Es war der Unbekannte aus der Küche, der sich offenbar in das ihm vom Wirte zugewiesene Zimmer begab. Das war an sich ganz einfach, aber dennoch folgte der Baron, indem er tat, als könne er nicht sogleich das Schlüsselloch an seiner Türe finden, der geheimnisvollen Persönlichkeit, deren Erscheinen ihn seltsam beschäftigte, mit den Augen, bis eine Biegung des Korridors sie seinen Blicken entzog. Eine Tür fiel mit Geräusch zu und verriet ihm, daß der Unbekannte in sein Zimmer gegangen war.

Da Sigognac noch nicht Lust hatte zu schlafen, begann er einen Brief an den braven Pierre zu schreiben, wie er ihm gleich nach seiner Ankunft in Paris zu tun versprochen hatte. Er trug dabei Sorge, recht groß und deutlich zu schreiben, denn der treue Diener war kein großer Gelehrter. Der Brief lautete folgendermaßen:

»Mein guter Pierre!

Nun bin ich endlich in Paris, wo ich, wie man behauptet, mein Glück machen und mein verfallenes Haus wieder aufrichten werde, obschon ich, offen gestanden, nicht weiß, auf welche Weise dies geschehen soll. Dennoch kann eine glückliche Gelegenheit mich vielleicht dem Hofe nähern, und wenn es mir gelingt, den König zu sprechen, von dem jede Gnade ausgeht, so werden mir die von meinen Ahnen den Vorgängern des Königs geleisteten Dienste ohne Zweifel angerechnet werden. Seine Majestät wird nicht zulassen, daß eine edle Familie, die sich in den Kriegen ruiniert hat, auf so elende Weise verlösche.

Mittlerweile und weil ich keine anderen Hilfsquellen habe, spiele ich Komödie und habe bei diesem Handwerk einige Pistolen verdient, von welchen ich Dir einen Teil schicken werde, sobald ich eine sichere Gelegenheit finde. Besser hätte ich vielleicht getan, wenn ich mich als Soldat hätte anwerben lassen. Aber ich wollte nicht gern meine Freiheit aufgeben, und wie arm man übrigens auch sei, so widerstrebt das Gehorchen dem, dessen Ahnen kommandiert haben und der noch niemals unter jemandes Befehlen gestanden. Die Einsamkeit hat mich überdies ein wenig unfügsam und menschenscheu gemacht. Das einzige Abenteuer, das ich auf dieser langen Reise gehabt, ist ein Duell mit einem gewissen sehr bösen, streitsuchenden Herzog. Dank Deinem trefflichen Unterricht bin ich ruhmvoll aus diesem Zweikampf hervorgegangen. Trotz der Zerstreuungen eines neuen Lebens denke ich oft an das arme alte Schloß, dessen Ruinen über den Gräbern meiner Ahnen zusammenbrechen und worin ich meine traurige Jugend verlebt habe. Von ferne erscheint es mir nicht mehr so überaus elend und häßlich, ja es gibt sogar Augenblicke, wo ich in Gedanken durch die öden Räume wandle und die vergilbten Bildnisse betrachte, die so lange meine einzige Gesellschaft waren. Ein solcher Traum bereitet mir ein gewisses wehmütiges Vergnügen. Es wäre mir eine große Freude, Dein gutes, von der Sonne gebräuntes und bei meinem Anblick von herzlichem Lächeln verklärtes altes Gesicht wiederzusehen. Und – warum sollte ich mich schämen es zu gestehen? – Auch das Schnurren Beelzebubs, das Gebell Mirauts und das Gewieher jenes armen Bayard möchte ich hören, der seine letzten Kräfte zusammenraffte, um mich zu tragen, obschon ich nicht sehr schwer war. Der Unglückliche, den die Menschen verlassen, schenkt einen Teil seiner Seele den treueren Tieren, die sich durch das Unglück nicht hinwegschrecken lassen.

Leben die braven Tiere noch, die mich liebten, und scheinen sie sich noch meiner zu erinnern und sich nach mir zu sehnen? Hast Du es noch möglich gemacht, sie nicht vor Hunger sterben zu lassen, sondern ihnen von der eigenen knappen Portion etwas zuzuteilen?

Sehet zu, daß ihr alle am Leben bleibt, bis ich arm oder reich, glücklich oder verzweifelt zu euch zurückkehre, damit ihr dann mein Glück oder Unglück mit mir teilen könnt, und wir, je nachdem das Schicksal es fügt, miteinander an dem Orte sterben, wo wir soviel gelitten und getragen. Wenn ich einmal der Letzte der Sigognacs sein soll, nun, dann möge Gottes Wille geschehen! In der Gruft meiner Väter ist noch ein Platz für mich leer.

Baron von Sigognac.«

Der Baron siegelte den Brief mit einem Ringe, dem einzigen Kleinode, das er noch von seinem Vater hatte und worauf in blauem Felde die drei Störche graviert waren. Dann schrieb er die Adresse darauf und legte ihn in eine Brieftasche, um ihn abzusenden, sobald ein Kurier nach der Gascogne abginge. Von dem Schlosse Sigognac, wohin der Gedanke an Pierre ihn geführt, kehrte sein Geist nach Paris und zu seiner gegenwärtigen Situation zurück. Trotz der vorgerückten Stunde hörte er doch noch immer um sich herum das dumpfe Brausen der großen Stadt, die, wie der Ozean, niemals schweigt, selbst dann nicht, wenn sie zu ruhen scheint. Mitten unter diesem verschiedenartigen Getöse glaubte Sigognac auf dem Korridor den Tritt eines gestiefelten Mannes zu hören, der mit Vorsicht ging, wie um nicht gehört zu werden. Sigognac löschte sofort sein Licht aus, damit ihn der Schein nicht verrate, öffnete seine Tür ein wenig, und sah in der Tiefe des Korridors eine in einen Mantel von dunkler Farbe gehüllte Gestalt, die ihre Schritte nach dem Zimmer des ihm schon verdächtig erschienenen Reisenden lenkte. Einige Augenblicke später nahm ein anderer Genosse, dessen Schuhwerk knarrte, obschon er sich bemühte, leichtfüßig einherzugehen, denselben Weg wie der erste. Keine halbe Stunde war vergangen, so erschien ein dritter Kerl von ziemlich wildem Aussehen unter dem Schein der im Erlöschen begriffenen Laterne und ging ebenfalls den Korridor entlang. Er war bewaffnet wie die beiden andern, und ein langer Stoßdegen hob den hintern Saum seines Mantels empor. Der Schatten, den die Krempe eines Hutes mit schwarzen Federn auf sein Gesicht warf, gestattete nicht, seine Züge zu erkennen.

Diese Prozession von verdächtigen Gestalten kam Sigognac sehr seltsam vor, und die Zahl vier erinnerte ihn an den Überfall in Poitiers nach seinem Zwist mit dem Herzog von Vallombreuse. Diese Erinnerung war ein Lichtstrahl für ihn, und er erkannte in dem Manne, der ihn in der Küche so sehr beschäftigt hatte, den Kerl, dessen Angriff für ihn hätte verderblich werden können, wenn er nicht darauf gefaßt gewesen wäre. Es war derselbe, der unter den flachen Degenhieben des Kapitäns Fracasse zu Boden gestürzt war. Die andern waren jedenfalls seine Spießgesellen, die von Herodes und Scapin in die Flucht geschlagen worden waren. Welcher Zufall, oder besser gesagt, welches Komplott führte sie jetzt gerade in dem Gasthause zusammen, in dem die Schauspieler Quartier genommen, und zwar gleich am Abende ihrer Ankunft? Sie mußten ihnen von Station zu Station gefolgt sein. Eins war sicher: der Haß und die Liebe des jungen Herzogs waren nicht eingeschlummert. Seine Rache suchte Isabella und den jungen Baron in einem und demselben Netze zu fangen. Für sich selbst fürchtete der mutige Sigognac nicht die Unternehmungen dieser gemieteten Schurken, die schon der Wind seiner guten Klinge in die Flucht geschlagen hätte, und die mit dem Degen gewiß nicht mutiger waren als mit dem Stocke, wohl aber fürchtete er einen feigen hinterlistigen Anschlag auf die Geliebte seines Herzens.

Er traf demgemäß seine Vorsichtsmaßregeln und beschloß, nicht zu Bette zu gehen. Nachdem er alle Kerzen in seinem Zimmer angezündet, öffnete er seine Türe so, daß eine Masse Lichtschein auf die entgegengesetzte Wand des Korridors gerade an der Stelle geworfen wurde, wo sich die Tür zu Isabellas Zimmer befand. Dann setzte er sich ruhig nieder, zog seinen Degen und seinen Dolch, um sie zur Hand zu haben.

Lange wartete er, ohne etwas zu sehen. Schon hatte es auf der Glocke der Samariterkirche und auf der nähergelegenen der großen Augustiner zwei Uhr geschlagen, als sich ein leichtes Rascheln hören ließ und bald darauf in dem leuchtenden Rahmen an der Wand unsicher und ängstlich zögernd der erste Strolch erschien, der kein anderer war als Merindol, einer der Fechter des Herzogs von Vallombreuse. Sigognac stand auf der Schwelle, den Degen in der Faust, bereit zum Angriff und zur Verteidigung, mit so heldenmütiger Miene, daß Merindol, den Kopf senkend, vorbeiging, ohne ein Wort zu sagen. Die drei andern, die dahinter herkamen und durch diese Flut von grellem Licht überrascht wurden, in deren Mitte der Baron wie der Engel mit dem feurigen Schwerte stand, huschten so schnell als möglich vorbei, und der letzte ließ sogar eine Zange fallen, die ohne Zweifel bestimmt war, die Tür des Kapitäns Fracasse, während er schlief, zu sprengen. Der Baron grüßte die Banditen mit spöttischer Gebärde, und es dauerte nicht lange, so hörte er das Hufgetrappel von Pferden, die im Hofe aus dem Stalle gezogen wurden. Die vier Schurken ergriffen, da sie ihren Anschlag abermals vereitelt sahen, schleunigst die Flucht.

Beim Frühstück sagte Herodes zu Sigognac: »Kapitän, haben Sie nicht Lust, diese Stadt, eine der größten und merkwürdigsten der Welt, von der man soviel erzählt, ein wenig anzusehen? Wenn es Ihnen recht ist, so will ich Ihnen als Führer und Lotse dienen, denn ich kenne aus Erfahrung und schon von meiner Jugend an die Klippen, Sandbänke, Untiefen und Strudel dieses für Ausländer und Fremdlinge aus der Provinz so gefährlichen Meeres. Wir sind hier gleich in der Nähe eines der interessantesten Schauspiele, die die Hauptstadt darbietet, denn der Pont Neuf ist für Paris das, was die via sacra für Rom war, die Passage und der Sammelplatz der Neuigkeitskrämer, Poeten, Gauner, Beutelschneider, Kurtisanen, Edelleute, Spießbürger, Söldner und Leute jedes Standes.«

Zeichnung Karl M. Schultheiss

»Ihr Vorschlag ist mir sehr angenehm, wackerer Herodes,« antwortete Sigognac, »aber sagen Sie Scapin, daß er in dem Hotel bleibe und mit seinem Luchsauge alle Ein- und Ausgehenden überwache, deren Art und Weise ihm verdächtig vorkommen sollte. Er möge nicht von Isabellas Seite weichen. Die Rache des Herzogs von Vallombreuse schleicht um uns herum und sucht uns zu verschlingen. Heute Nacht sah ich die vier Strolche wieder, die von uns in dem Gäßchen zu Poitiers so glänzend ausgezahlt wurden. Ihre Absicht war, wie ich glaube, meine Tür zu sprengen, mich im Schlafe zu überfallen und mir einen üblen Streich zu spielen. Da ich einen Anschlag auf unsere junge Freundin gefürchtet hatte und deshalb wach geblieben war, sahen die Banditen ihren Plan vereitelt und haben sich schleunigst davongemacht.«

»Ich glaube nicht, daß sie am Tage etwas wagen werden«, antwortete der Tyrann. »Hilfe würde bei dem ersten Rufe da sein, und übrigens können diese Banditen auch ihre erste Niederlage noch nicht überwunden haben. Scapin, Blasius und Leander genügen vollkommen, um Isabella bis zu unserer Rückkehr zu bewachen und zu schützen.«

An der Ecke der Rue Dauphine machte Herodes seinen Begleiter unter dem Portal der großen Augustiner auf die Leute aufmerksam, die das bei den Fleischern an den Fasttagen weggenommene Fleisch kauften und sich wie toll daraufstürzten, um einige Pfund zu niedrigem Preise zu bekommen.

»Wir wollen«, sagte Herodes, »hier nicht stehenbleiben, denn dann würden wir niemals fertig werden. Gehen wir einige Schritte weiter, und wir werden eines der schönsten Schauspiele der Welt genießen, wie es die Theater mit ihren Maschinerien und Dekorationen nicht zu bieten vermögen.«

In der Tat hatte die Perspektive, die sich vor den Augen Sigognacs und seines Führers ausbreitete, als sie den über den kleinen Seinearm hingespannten Bogen überschritten hatten, nicht ihresgleichen in der ganzen Welt. Auf dem rechten Seineufer strahlte der Louvre, von einem heitern Sonnenstrahl vergoldet. Die lange Galerie, die ihn mit den Tuilerien verbindet, eine wunderbare Anlage, die dem König erlaubt, abwechselnd und ganz nach seinem Gutdünken in seiner guten Stadt oder auf dem Lande zu sein, zeigte ihre unvergleichlichen Schönheiten. Am Ende des Tuileriengartens, wo die Stadt aufhört, sah man das sogenannte Konferenztor und den Fluß entlang über den Garten hinaus die Bäume des Cours-la-Reine, einer Lieblingspromenade der Höflinge und anderer vornehmer Personen, die mit ihren Karossen Parade machen wollten. Die beiden Ufer schlossen wie zwei Kulissen das lebensvolle Schauspiel ein, das der mit Fahrzeugen aller Art bedeckte Fluß darbot.

»Was mich«, sagte Sigognac, »noch mehr als die Größe, der Reichtum und die Pracht der Gebäude in Erstaunen setzt, ist die unendliche Anzahl der Leute, die in diesen Straßen, auf diesen Plätzen und Brücken wimmeln wie aus ihrem Bau aufgestörte Ameisen, und mit Bewegungen, deren Ziel kein Mensch erraten kann, wie toll durcheinanderrennen.«

»Alles dies«, sagte Herodes zu Sigognac, den dieses Schauspiel völlig gefangennahm, »ist nur, was man gewöhnlich sieht. Versuchen wir durch das Gewühl hindurchzukommen und die Punkte zu gewinnen, wo die Originale des Pont Neuf sich aufhalten.«

In einem der über jedem Brückenpfeiler angebrachten Halbmonde plärrte ein Blinder, begleitet von einem alten dicken Weibe, das ihm die mangelnde Sehkraft ersetzte, zweideutige Verse, oder sang in komisch-melancholischem Tone eine Klage über das Leben oder die Geschichte der Missetaten und des Endes eines berühmten Verbrechers. An einer andern Stelle trieb ein rotgekleideter Marktschreier mit einem Pelikan auf der Faust sein Wesen auf einem Gerüst, das mit Menschenzähnen, an Messingdrähte gereiht, verziert war. Er machte sich anheischig, den zuhörenden Gaffern ohne Schmerz – das heißt für ihn selbst – die festgewurzelten, hartnäckigsten Zähne nach der Wahl seiner Klienten mittels eines Säbelhiebes oder Pistolenschusses auszuziehen, falls es dem Betreffenden nicht lieber sei, mit den üblichen Mitteln behandelt zu werden.

»Ich reiße die Zähne nicht aus, sondern ich pflücke sie«, rief er mit einschmeichelnder Stimme. »Also wer von euch an einem schlimmen Zahn leidet, trete ohne Furcht heran, ich heile ihn augenblicklich.«

Zeichnung Karl M. Schultheiss

Ein Bauer, dessen geschwollene Wange sein Leiden verriet, setzte sich, dieser Aufforderung folgend, auf den Stuhl, und der Operateur fuhr ihm mit einer furchtbaren Zange von poliertem Stahl in den Mund. Anstatt sich an die Armlehnen des Stuhles anzuhalten, folgte der Unglückliche seinem Zahn, dem es viel Überwindung zu kosten schien, sich von ihm zu trennen, und sprang über zwei Fuß hoch in die Luft empor, was die versammelte Menge nicht wenig belustigte. Ein gewaltiger Ruck machte endlich seiner Marter ein Ende, und der Operateur schwang die blutige Trophäe über dem Kopfe. Während dieser grotesken Szene ahmte ein Affe die Gebärden des Patienten auf höchst komische Weise nach.

Dieses lächerliche Schauspiel hielt Herodes und Sigognac nicht lange auf, und sie verweilten lieber bei den Zeitungsverkäufern und Bücherhändlern. Der Tyrann machte seinen Begleiter auf einen ganz zerlumpten Bettler aufmerksam, der sich außerhalb der Brücke auf der Breite des Gesimses niedergelassen hatte und, von hier den Arm erhebend, seinen schmierigen Hut jedem unter die Nase hielt, oder sich über die Brustwehr bog, um in einem Buch zu blättern oder einen Blick in das Wasser zu werfen.

»Bei uns«, sagte Sigognac, »nisten bloß die Schwalben auf den Gesimsen, hier tun es die Menschen.«

Plötzlich ließ sich vom andern Ende der Brücke her ein lauter Tumult hören, und die Menge eilte darauf zu. Es waren Raufbolde, die auf dem Platze, als an dem freiesten und geeignetsten Orte, miteinander fochten. Sie schrien: »Drauf! drauf!« und taten, als ob sie wütend aufeinander losgingen. Aber es war nur Spiegelfechterei wie auf dem Theater, wo auch niemand verwundet oder getötet wird. Diese Leute hier schlugen sich zwei gegen zwei und schienen von der größten Wut getrieben zu werden, während sie die Degen, die ihre Kameraden dazwischenstreckten, um sie zu trennen, allemal auf die Seite schlugen. Dieser verstellte Kampf hatte den Zweck, möglichst viel Zuschauer anzulocken, damit dann unter dem Gedränge die Taschendiebe und Beutelschneider ihr Geschäft bequem verrichten konnten. In der Tat kam mehr als ein Neugieriger, der sich mit einem schönen gefütterten Mantel auf der Schulter und gut mit Geld versehener Tasche in das Gedränge hineingewagt, im bloßen Oberkleid wieder heraus und hatte sein Geld vertan, ohne es zu wissen. Nach einiger Zeit versöhnten sich die Kämpfer, die sich niemals entzweit hatten, schüttelten einander die Hand und erklärten ihre Ehre zufriedengestellt, was auch in der Tat nicht schwer halten konnte, denn das Ehrgefühl dieser Strolche konnte unmöglich sehr empfindlich sein.

Sigognac hatte sich, dem Rate seines Führers folgend, den Kämpfenden nicht allzusehr genähert und konnte sie daher nur undeutlich durch die Zwischenräume sehen, die Köpfe und Schultern der Neugierigen dem Blicke ließen. Indessen war es ihm, als erkennte er in diesen vier Strolchen dieselben, deren geheimnisvolles Treiben er in der vergangenen Nacht im Gasthause der Rue Dauphine beobachtet, und er teilte Herodes seinen Verdacht mit. Aber schon hatten sich die Klopffechter vorsichtigerweise unter der Menge verloren, und es wäre schwerer gewesen, sie darin ausfindig zu machen, als eine Nadel in einem Heuschober.

»Es ist möglich,« sagte Herodes, »daß dieser Kampf nur eine Komödie zu dem Zwecke gewesen ist, Sie auf diesen Punkt hierher zu locken, denn jedenfalls werden wir von den Spionen des Herzogs von Vallombreuse genau beobachtet. Einer der Raufbolde hätte sich gestellt, als würde er durch Ihre Nähe beengt, und hätte Ihnen, ohne Ihnen Zeit zu lassen, den Degen zu ziehen, wie aus Versehen einen mörderischen Stoß versetzt. Man sucht Ihnen jetzt durch eine zufällige Begegnung beizukommen. Wer bei solchen Gelegenheiten die Schläge davonträgt, der hat sie, denn es ist unmöglich, zu beweisen, daß der Angriff ein vorsätzlicher gewesen ist.«

»Ich kann«, entgegnete der ritterliche Sigognac, »kaum glauben, daß ein Edelmann einer solchen Niederträchtigkeit fähig sei, seinen Nebenbuhler meuchlerisch durch Banditen ermorden zu lassen. Wenn er mit einem ersten Renkontre nicht zufrieden ist, so bin ich bereit, abermals das Eisen mit ihm zu kreuzen, bis einer oder der andere von uns tot auf dem Platze bleibt. Dies ist der richtige Weg, auf dem Ehrenmänner dergleichen Dinge untereinander auszumachen pflegen.«

»Allerdings,« entgegnete Herodes, »der Herzog weiß aber recht wohl, daß der Ausgang des Kampfes ihm nur verderblich sein kann. Er hat Ihre Klinge betastet und ihre Spitze geschmeckt. Glauben Sie mir, daß er einen teuflischen Groll gegen Sie hegt und in den Mitteln, sich für seine Niederlage zu rächen, durchaus nicht wählerisch sein wird.«

»Wenn er nicht den Degen will, so können wir uns ja zu Pferde auf Pistolen schlagen«, sagte Sigognac. »Dann hat er meine Gewandtheit als Fechter nicht zu fürchten.«

Während die beiden auf diese Weise miteinander sprachen, erreichten sie den Quai de l'Ecole, und hier wäre Sigognac, obwohl er rasch auf die Seite sprang, von einer Karosse beinahe überfahren worden. Seinem schlanken Wuchs hatte er es zu verdanken, daß er nicht an der Mauer zerquetscht wurde, so dicht ging der Wagen an ihm vorbei, obschon auf der andern Seite Platz genug war, und der Kutscher mit einem leichten Ruck des Zügels den Passanten, den er förmlich zu verfolgen schien, recht wohl hätte vermeiden können. Die Fenster der Karosse waren in die Höhe gezogen und die innern Vorhänge heruntergelassen. Wer sie aber beseitigt hätte, würde einen prächtig gekleideten vornehmen Herrn gesehen haben, dessen Arm in einer Binde von schwarzem Taffet lag. Trotz des roten Widerscheins der geschlossenen Vorhänge sah er sehr bleich aus, und die dünnen Bogen seiner schwarzen Augenbrauen traten auf der mattweißen Stirn um so schärfer hervor. Mit seinen Perlenzähnen biß er sich auf die Unterlippe, daß sie fast blutete, und sein feiner, mit wohlriechendem Wachs gestrichener Schnurrbart zuckte fieberhaft wie der des Tigers, der seine Beute wittert. Er war von vollkommener Schönheit, aber sein Gesicht hatte einen solchen Ausdruck von Grausamkeit, daß er mehr Schrecken als Liebe eingeflößt hätte, wenigstens in diesem Augenblick, in dem die schlimmsten Leidenschaften daraus sprachen. »Auch das ist nicht gelungen«, sagte er bei sich selbst, während seine Karosse die Tuilerien entlang weiterrollte. »Und doch hatte ich meinem Kutscher fünfundzwanzig Louisdor versprochen, wenn er geschickt genug wäre, diesen verdammten Sigognac wie infolge eines unglücklichen Zufalles an einem Eckstein zu zermalmen.«

»Hm!« sagte Herodes tief aufatmend, »die Pferde dieser Karosse scheinen denen des Diomedes ähnlich zu sein, die auch Jagd auf die Menschen machten, sie zerrissen, und sich mit ihrem Fleische sättigten. Sie sind doch nicht verwundet, lieber Freund? Dieser verwünschte Kutscher sah Sie recht wohl, und ich wollte meine beste Einnahme wetten, daß er aus irgendeinem Grunde, oder weil es ihm befohlen worden, sein Gespann absichtlich auf Sie lenkte, und Sie zu überfahren suchte. Haben Sie nicht bemerkt, ob ein Wappen auf dem Schlage gemalt stand? In Ihrer Eigenschaft als Edelmann verstehen Sie sich jedenfalls auf die edle Wissenschaft der Heraldik, und kennen die Wappenzeichen der vornehmsten Familien.«

»Ich kann es nicht sagen«, antwortete Sigognac. »Selbst ein Wappenherold hätte in einem solchen Falle nicht Zeit gehabt, ein Wappen ins Auge zu fassen. Ich hatte vollauf zu tun, um der rollenden Maschine auszuweichen.«

»Das ist schade«, entgegnete Herodes. »Es hätte uns vielleicht auf eine Spur bringen und den Faden der schwarzen Intrige finden lassen, denn es ist augenscheinlich, daß man sich quibuscumque viis, wie der Pedant Blasius in seinem Latein sagen würde, Ihrer zu entledigen sucht. Obschon der Beweis fehlt, würde ich mich doch nicht wundern, wenn diese Karosse dem Herzog von Vallombreuse gehörte, der sich das Vergnügen machen wollte, seinen Wagen über die Leiche seines Feindes hinwegrollen zu lassen.«

»Was glauben Sie!« rief Sigognac. »Dies wäre ja eine schändliche und eines Edelmannes aus einem hohen Hause, wie es dieser Vallombreuse schließlich ist, völlig unwürdige Tat. Haben wir ihn übrigens nicht noch krank an seiner Wunde in seinem Hause zu Poitiers zurückgelassen? Wie könnte er schon jetzt in Paris sein, wo wir selbst erst gestern angelangt sind?«

»Haben wir uns vielleicht in Orleans und Toulouse, wo wir Vorstellungen gegeben, nicht lange genug aufgehalten, um uns mit den Equipagen, die ihm zu Gebote stehen, überholen zu lassen? Was seine Wunde betrifft, so ist diese unter der Behandlung ausgezeichneter Ärzte jedenfalls sehr bald zugeheilt und vernarbt. Sie müssen daher wohl auf Ihrer Hut sein, mein lieber Kapitän, denn man sucht Ihnen einen schlimmen Streich zu spielen. Ihr Tod würde Isabella sofort wehrlos dem Herzog in die Hände liefern. Was vermöchten wir armen Komödianten gegen einen so vornehmen, mächtigen Herrn auszurichten?«

Die Gründe, die Herodes anführte, waren zu einleuchtend, um bestritten zu werden. Der Baron beantwortete sie daher auch nur durch eine Gebärde der Zustimmung und legte die Hand an den Griff seines Degens, den er in der Scheide lockerte, um ihn, wenn es sein müßte, rasch ziehen zu können.

Während Sigognac und Herodes so miteinander sprachen, waren sie an dem sogenannten Konferenztor angelangt, als sie plötzlich eine große Staubwolke vor sich sahen, durch die Waffen und Kürasse hindurchblitzten. Sie stellten sich in die Reihe, um die Reiter vorbeizulassen. Sie ritten dem Wagen des Königs voran, der von Saint-Germain in den Louvre zurückkehrte. In dem Wagen selbst, dessen Fenster herabgelassen und dessen Vorhänge auf die Seite gezogen waren – ohne Zweifel, damit das Volk den Monarchen, der seine Geschicke lenkt, ordentlich betrachten konnte – sahen sie ein bleiches, schwarzgekleidetes Gespenst mit einem blauen Ordensband auf der Brust und so unbeweglich wie eine Wachsfigur. Langes braunes Haar umrahmte dieses Totengesicht, welches das Gepräge einer unheilbaren Langweile trug. Die Augen schienen das Bild der Gegenstände nicht widerzuspiegeln; kein Wunsch, kein Gedanke, kein Wollen ließ seine Flamme daraus leuchten. Ein tiefer Lebensüberdruß sprach aus der Unterlippe, die wie mürrisch oder schmollend schlaff herabhing. Dennoch lag noch eine königliche Majestät in dieser traurigen Gestalt, die Frankreich repräsentierte und in welcher das edle Blut Heinrichs IV. allmählich zu Eis erstarrte.

Der Wagen rollte blitzschnell vorüber, und ein abermaliger Reitertrupp schloß die Eskorte. In Sigognac wurden durch diese Erscheinung die seltsamsten Gedanken geweckt. In seiner naiven Phantasie hatte er sich den König gleichsam als ein übernatürliches Wesen gedacht, das in seiner Macht mitten in einer Sonne von Gold und Edelsteinen strahlte, stolz, triumphierend, glänzend, schöner, größer und stärker als alle andern, und nun hatte er weiter nichts gesehen als ein trauriges, armseliges, gelangweiltes, leidendes Antlitz von beinahe mitleiderregendem Anblick, in einem Kostüm, so schwarz wie Trauer, und das von der äußeren Welt, in finsteres Nachsinnen versunken, nichts wahrzunehmen schien.

»Wie!« sagte Sigognac bei sich selbst, »das ist der König, der Mann, in dem sich so viele Millionen Menschen zusammenfassen, zu dem sich so viele bittende Hände emporstrecken, der die Kanonen donnern oder schweigen heißt, der erhebt oder stürzt, der belohnt oder straft, wenn er will, ›Gnade‹ sagt, während die Gerechtigkeit ›Tod‹ sagt, und das Schicksal eines Lebens durch ein einziges Wort ändern kann? Wenn sein Blick auf mich fiele, so würde ich, der ich jetzt arm und schwach bin, auf einmal reich und mächtig, ein bis jetzt unbekannter Mensch würde plötzlich mit Ehrenbezeigungen und Schmeicheleien überhäuft. Die verfallenen Türme des Schlosses Sigognac würden sich stolz wieder emporrichten, die immer kleiner gewordenen Fluren meines väterlichen Erbteils würden wieder den früheren Umfang gewinnen. Wie kann ich aber glauben, daß er mich jemals in diesem menschlichen Ameisenhaufen entdecke, der zu seinen Füßen wimmelt und den er keines Blickes würdigt? Und selbst wenn er mich gesehen hätte, welche Zuneigung könnte wohl zwischen uns entstehen?« Diese Betrachtungen beschäftigten Sigognac, der schweigend neben seinem Begleiter einherschritt. Herodes respektierte dieses Schweigen. Endlich machte er dem Baron bemerklich, daß es bald Mittag und folglich Zeit sei, die Nadel des Kompasses nach dem Pol der Suppe zu drehen, denn nichts, sagte er, schmecke schlechter als eine kalte Mahlzeit, ausgenommen eine aufgewärmte. Sigognac gab dieser sehr vernünftigen Vorstellung Gehör, und beide lenkten nun ihre Schritte zurück nach ihrem Gasthaus.

Es hatte sich in dieser zweistündigen Abwesenheit nichts Besonderes zugetragen. Isabella, die schon ruhig am Tische vor einer Suppe saß, die mehr Augen hatte als Argus, empfing ihren Freund mit ihrem gewohnten sanften Lächeln und indem sie ihm ihre weiße Hand reichte. Die übrigen Schauspieler richteten scherzhafte oder neugierige Fragen wegen seines Ausflugs in die Stadt an ihn und wollten wissen, ob er seinen Mantel, sein Taschentuch und seine Börse wieder mitgebracht habe. Sigognac beantwortete heiter diese Fragen mit ja. Diese liebenswürdige Plauderei machte ihn seine düstern Gedanken bald vergessen, und er fragte sich zuletzt selbst, ob er nicht der Spielball einer hypochondrischen Einbildungskraft sei, die überall List und Verrat lauern sah.

Dennoch hatte er recht. Seine Feinde entsagten, trotz der bis jetzt fehlgeschlagenen Versuche, ihren schwarzen Anschlägen keineswegs. Merindol, dem der Herzog gedroht hatte, ihn wieder auf die Galeeren, denen er ihn entzogen hatte, zurückzuschicken, wenn er nicht Sigognac aus dem Wege räumte, beschloß die Hilfe eines Freundes in Anspruch zu nehmen, der vor keinem Unternehmen, wie gefährlich es auch sein mochte, zurückbebte, wenn es nur gut bezahlt ward. Merindol selbst fühlte sich nicht stark genug, um mit dem Baron fertig zu werden, der ihn überdies nun kannte, was jede Annäherung sehr schwierig machte. Merindol ging daher, um den Banditen aufzusuchen, der auf dem Platze des Marché Neuf in der Nähe des Petit Pont wohnte, an einem Ort, der hauptsächlich Raufbolden, Beutelschneidern, Dieben und anderem verdächtigen Gesindel zum Aufenthalte diente. Unter den hohen schwarzen Häusern, die wie betrunken und aus Furcht zu fallen, eines immer schwärzer, verfallener und armseliger als das andere, aneinander lehnten und deren Fenster, aus welchen unsaubere Lumpen heraushingen, aufgeschlitzten Bäuchen glichen, denen die Eingeweide entquollen, betrat er die dunkle Hausflur, die den Eingang dieser Höhle bildete, und trat ohne weitere Umstände in das einzige Zimmer, das die Wohnung des Raufbolds Jacquemin Lampourde ausmachte.

Merindol traf den würdigen Jacquemin Lampourde, der schnarchte wie das Pedal einer Orgel, obschon auf sämtlichen Turmuhren der Nachbarschaft die vierte Nachmittagsstunde geschlagen hatte. Eine ungeheure Wildbretpastete stand aufgeschnitten und mehr als zur Hälfte verzehrt auf dem Tische in Gesellschaft einer fabelhaften Anzahl von Flaschen, die weiter nichts mehr waren als Phantome von Flaschen, und nur tauglich, um in Scherben geschlagen zu werden. Ein Zechkamerad, den Merindol anfangs nicht gesehen, schlief mit ausgestreckten Fäusten unter dem Tisch.

»Heda, Lampourde!« rief Vallombreuses Trabant, »erhebe dich vom Schlaf, und sieh mich nicht mit so scheuen Augen an. Ich bin kein Kommissär und kein Sergeant, der dich abholen und ins Châtelet führen will. Es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit. Bemühe dich, deinen im Weine ersoffenen Verstand wieder herauszufischen, und höre mich an.«

Der also Angeredete richtete sich mit schläfriger Langsamkeit empor, stützte sich auf, streckte seine langen Arme aus, öffnete einen ungeheuren, mit spitzen Zähnen versehenen Mund und gähnte gleich einem gelangweilten Löwen, der das Schlucken hat.

Jacquemin Lampourde war kein Adonis, obschon er behauptete, von den Frauen, und zwar von den vornehmsten und reichsten, begünstigt zu werden wie nur irgendeiner. Seine lange Gestalt, auf die er so stolz war, seine mageren Storchbeine, sein langer Rücken, seine knochige Brust, die man in diesem Augenblicke durch sein offen stehendes Hemd hindurch sah, seine Orangutang-Arme, die so lang waren, daß er sich die Strumpfbänder binden konnte, ohne sich zu bücken, bildeten zusammengenommen keine sonderlich angenehme Erscheinung. In seinem Gesichte nahm eine ungeheure Nase, die an die Cyranos von Bergerac, den Anlaß zu so vielen Duellen, erinnerte, darin den wichtigsten Platz ein. Lampourde tröstete sich aber mit dem volkstümlichen Ausspruch: »Nie hat eine große Nase ein Gesicht verdorben.« Die Augen ließen, obschon noch von Trunkenheit und Schlaf umflort, kalte Blitze zucken, die Mut und Entschlossenheit verrieten. Schwarzes wirres Haar hing um dieses Gesicht herab, über das dennoch niemand sich so leicht lustig gemacht haben würde, so unheimlich, boshaft und grimmig war dessen Ausdruck.

Zeichnung Karl M. Schultheiss

»Der Teufel hole den Narren, der mich so in meinen angenehmen Träumen stört! Ich war selig. Die schönste Prinzessin der Erde bewies mir ihre Gunst. Ihr habt meinen Traum zerstört.«

»Ach, schweig mit diesen Albernheiten!« rief Merindol ungeduldig. »Leihe mir zwei Minuten lang dein Ohr und deine Aufmerksamkeit.«

»Ich schenke niemandem Gehör, wenn ich betrunken bin«, antwortete Jacquemin Lampourde majestätisch, sich auf den Ellbogen stützend. »Übrigens habe ich Geld, viel Geld. Wir haben vorige Nacht einen englischen Lord ausgeplündert, der ganz mit Pistolen ausgenäht war. Ich bin jetzt im Begriff, meinen Anteil zu verschmausen und zu vertrinken. In ein paar Partien Landsknecht wird aber so ziemlich alles zerronnen sein. Auf heute abend also die ernsthaften Geschäfte. Findet Euch um Mitternacht auf dem Platze des Pont Neuf am Fuße des ehernen Pferdes ein. Ich werde dann dort sein, frisch, munter, klar, im Besitz aller meiner Fähigkeiten. Dann wollen wir unsere Flöten stimmen und uns über die Summen einigen, die bedeutend sein müssen, denn ich will hoffen, daß man einen Mann wie mich nicht wegen kleinlicher Geschäfte, elender Mausereien und dergleichen in Anspruch nimmt. Das Stehlen ist überhaupt langweilig. Ich morde jetzt bloß, das ist viel nobler. Wenn es sich daher um einen Mord handelt, so bin ich Euer Mann, aber bloß unter der Voraussetzung, daß der Angegriffene sich verteidigt. Die Schlachtopfer sind zuweilen so feig, daß es in mir förmlich Ekel erregt. Ein wenig Widerstand bringt Leben und Bewegung ins Geschäft.«

»O, in dieser Beziehung sei unbesorgt«, antwortete Merindol mit heimtückischem Lächeln. »Du wirst deinen Mann finden!«

»Um so besser«, sagte Jacquemin Lampourde. »Es ist lange her, daß ich mich mit jemand geschlagen, der mir gewachsen gewesen wäre. Doch jetzt genug. Guten Abend und laßt mich schlafen.«

Als Merindol fort war, versuchte Jacquemin Lampourde wieder einzuschlafen, aber vergebens. Der einmal unterbrochene Schlaf kam nicht wieder. Der Bandit erhob sich, schüttelte den Kameraden, der unter dem Tische schnarchte, wach, und beide begaben sich in eine Kneipe, wo man Landsknecht und Bassette spielte.

Nachdem Lampourde bald gewonnen, bald verloren, bildete sich in seinen Taschen der luftleere Raum, den die Natur und ganz besonders der Mensch verabscheut. Er wollte auf Ehrenwort spielen, aber diese Münze hatte keinen Kurs an einem Orte, wo die Spieler, wenn sie ihren Gewinn einstrichen, die Münzen erst zwischen die Zähne nahmen, um zu sehen, ob die Louisdor nicht von vergoldetem Blei gefertigt seien.

Er mußte abziehen, nackt und bloß, wie ein kleiner heiliger Johannes, nachdem er als großer Herr und in Pistolen wühlend eingetreten war.

»Uff«, sagte er, als die frische Luft der Straße sein Gesicht traf und ihm seine Kaltblütigkeit zurückgab. »Nun ist mir endlich wohl. Es ist merkwürdig, wie das Geld mich berauscht und abstumpft. Jetzt wundere ich mich nicht mehr, daß die Reichen so dumm sind. In diesem Augenblick, da ich keinen Heller mehr in der Tasche habe, fühle ich mich ungeheuer witzig, und die Gedanken summen mir um das Gehirn wie Bienen um einen Stock. Doch da schlägt es ja zwölf Uhr auf der Samaritaine; Merindol erwartet mich vor dem metallenen König.«

Er lenkte seine Schritte nach dem Pont Neuf. Merindol war in der Tat schon auf seinem Posten und beschäftigt, seinen Schatten im Mondschein zu betrachten.

Die beiden Banditen sahen sich sorgfältig um, ob jemand sie hörte, und sprachen dann leise und ziemlich lange miteinander.

*


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