Ludwig Ganghofer
Der laufende Berg
Ludwig Ganghofer

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1

Silberne Fäden, schimmernd in der Morgensonne, gaukelten durch die stille Luft; langsamen Fluges kamen sie aus dem Tal heraufgezogen, in dessen sonniger Tiefe das Dorf mit seiner Kirche und den hundert Häusern gleich einem weitschichtig ausgekramten Spielzeug zwischen den herbstlich gefärbten Berghängen lag. Der vergoldete Knauf des Kirchturmes strahlte in hellem Feuer, die alten Schindeldächer schillerten wie silbergrauer Samt, und auf den neuen Häusern leuchteten die frischen Ziegel wie Metall in der Rotglut. Die welkenden Obstbäume waren anzusehen, als trügen sie keine Blätter mehr, nur eine Menge kleiner, rotwangiger Früchte. Und Buche und Ahorn spielten zwischen brennendem Gelb und tiefem Purpur.

Das gegen Süden blickende Berggehänge war von der Morgensonne übergossen, das jenseitige noch von blauem Frühschatten umwoben, und über den Felswänden hoben sich die vom ersten Schnee überhauchten Zinnen mit feinen Silberlinien in das wolkenlose Blau des Himmels.

Wie im Märchen die Gestalt der guten Fee von einem Zauberschleier umflossen ist, so war dieses farbenschöne Bild der Landschaft übersponnen von Flimmern und Geglitzer; das ging von den fliegenden Fäden aus, die zu Tausenden die Luft durchgaukelten; bald waren es nur winzige Dinger, die einem schwebenden Funken glichen, bald wieder lange Fadenschlangen, welche stiegen und sanken, sich spielend rollten, Schlingen bildeten und sich langsam wieder streckten. Alle Hecken und Gesträuche waren überzogen von dem blitzenden Gespinst; auf den welken Wiesen lag es umher und schimmerte; an kahlen Bodenstellen, von denen der Rasen niedergebrochen war, glitzerten die weißen Fäden, als träte pures Silber in feinen Adern aus der verwundeten Erde hervor; und an ein Fichtengehölz, das einen seltsam müden Anblick gewährte, fast den Anblick eines in Dürre sterbenden Waldes, war das leuchtende Gespinst in solcher Menge angeflogen, daß die schräg durcheinanderstehenden Fichten einer Schar geplünderter Weihnachtsbäume glichen.

Auf den offenen Halden lag, obwohl der Oktober schon begonnen hatte, die Morgensonne mit linder Wärme. Doch im Schatten des Waldes hauchte eine empfindliche Kühle, und an dem welken Kraut des Bodens hing noch der graue Reif der vergangenen Nacht. Der Wald schien öde zu sein, und dennoch herrschte in ihm eine merkwürdige Unruhe. Erregte Stimmen klangen von den bewohnten Gehängen herüber. Dumpf widerhallten zwischen den Bäumen die schweren Schläge, mit denen irgendwo auf den Halden Pfähle in den Boden getrieben wurden, und überall im Walde ließ sich ein Rauschen und Gurgeln vernehmen, wie von reichlich strömendem Wasser.

Es hatte in der vergangenen Woche stark geregnet, und hoch droben in den Felswänden schmolz die Sonne den früh gefallenen Schnee; aber nirgends im Walde rann ein Tropfen, alle Wasserrinnen der Gießbäche lagen trocken. Und dennoch dieses rastlose Gurgeln und Geriesel! Es klang wie versunken, tief aus der Erde herauf.

Steine rollten, und zu dem lauten Hall, mit dem sie gegen die Stämme schlugen, gesellte sich das Klirren eines eisenbeschlagenen Bergstockes.

Über den Waldhang kam auf steilem Pfad ein Jäger herabgestiegen – kein Berufsjäger, sondern einer, der die Jagd zu seinem Vergnügen trieb; nur der verwitterte Rucksack, der grüne Filzhut mit der Spielhahnfeder und die schweren Nagelschuhe erinnerten an die landesübliche Jägertracht; statt der Joppe trug er einen Flaus aus braunem Velvet, dazu eine grüne Weste mit silbergefaßten Hirschgranen und eine graue Tuchhose, die unter den Knien mit Ledergamaschen umschlossen war; eine neue Expreßbüchse, die den Erlös eines Ochsen gekostet hatte, vollendete die Ausrüstung dieses Bauern, der sich als Gutsbesitzer fühlte. Er mochte einige Jahre über dreißig zählen, und man sah es ihm an, daß er ein hübscher Bursch gewesen war; noch heute stand ihm der schwarze Schnurrbart gut zu Gesicht, und ein Zug behaglichen Wohlwollens spielte um den vollen Mund; die derben Wangen zeigten jene rötlichen Äderchen, die an fleißig vertilgten Rotwein denken ließen, und die unruhig schwimmenden Augen verrieten, daß Toni Purtscheller auch den Jähzorn zu seinen Untugenden zählte.

Er hatte ein mühsames Niedersteigen; immer wieder fand er den Pfad von klaffenden Spalten unterbrochen; wohin er den Fuß setzte, lag der Boden locker und rutschte unter seinem Tritt; und rings um ihn her war aller Grund in einer steten, leisen Bewegung; mit dem sachten Knirschen, das aus der Erde quoll, mischte sich manchmal ein dumpfer Knall – dann war unter dem Boden eine starke Baumwurzel entzweigerissen.

Eine breite, frisch geöffnete Kluft versperrte den Pfad, und Purtscheller mußte einen Umweg machen. Als er den Steig wieder erreichte, blieb er stehen, legte das Kinn auf den vorgestemmten Bergstock und betrachtete den Wald. Einzelne Bäume waren schon gefallen, viele standen schief und hingen mit den Wipfeln über Kreuz, und an mancher noch aufrecht stehenden Fichte verriet ein rötlicher Behauch der Nadeln, daß ihre Wurzeln seit geraumer Zeit schon außer Nahrung waren.

»Da kann's noch a schöns Unglück absetzen! Der ganze Berg is im Laufen!«

Mit sorgenvollem Unmut folgte sein Blick den gähnenden Bodenspalten und glitt über die gestürzten und krankenden Bäume. Es war sein eigener Wald, den er sinken und sterben sah. »Da verlier ich wieder an ordentlichen Brocken Geld!« Eine Furche grub sich zwischen seine Brauen, er schob verächtlich die Lippen vor und richtete sich auf. »Ah was! Der Purtscheller halt's aus!« Nun lächelte er wieder, folgte dem Pfad und hörte zwei lustige Stimmchen. Verwundert gewahrte er zwischen den schiefen Bäumen ein kleines Bürschl und ein noch kleineres Mädel, die wie die Kinder armer Stadtleute gekleidet waren und unter Lachen ein seltsames Spiel betrieben; sie suchten locker hängende Kanten des Moosgrundes auf, kletterten auf die unterhöhlte Stelle, trampelten mit den Füßen und schaukelten so lange, bis der Klumpen Erde mit ihnen niederbrach. »Hopsala hüo!« schrien sie dann fidel, überkugelten sich, von Sand umwirbelt, und sprangen lachend auf, um das Spiel von neuem zu beginnen.

»Kinderln! Kinderln!« rief ihnen Purtscheller gutmütig zu. »Gebts obacht! Der ganze Boden is lebendig. Da kann a Malör passieren, eh man sich umschaut. Gscheit sein, Kinderln! Gscheit sein!«

Die beiden Knirpse standen verlegen, faßten sich bei den Händen und machten scheue Augen. Kaum aber hatte Purtscheller den Rücken gewandt und etwa hundert Schritt sich entfernt, da hörte er hinter sich schon wieder den jauchzenden Kinderschrei: »Hopsala hüo!« Er schüttelte den Kopf und lächelte. »Merkwürdig! Kein Unglück so groß, a Kind kann noch Freud dran finden!« philosophierte er vor sich hin. »Kunnt's nur einer 's ganze Leben lang so halten, wie's die Kinder machen! Lachen zu allem, was kommt! In jedem Schatten noch a Lichtl finden!« Er drehte den Schnurrbart, als hätte er seine Freude dran, daß ihm ein guter Gedanke gekommen war.

Noch deutlicher als im Walde zeigte sich auf dem offenen Berghang das Bild einer rastlos fortschreitenden Zerstörung: alle Wiesen verwüstet und überschüttet von kiesigem Erdreich, das aus höheren Lagen niedergeglitten war; Hunderte von Rissen und Klüften zogen sich nach allen Seiten; weite Strecken des ebenen Wiesengrundes waren senkrecht zu tiefen Gruben eingesunken, und in diesen Löchern standen schlammige Pfützen, aus denen quirlende Luftblasen aufstiegen.

Wirre Stimmen klangen. Über einen steilen, von Furchen durchrissenen Wiesenhang sah Purtscheller ein Dutzend Leute emporsteigen, darunter einige, welche schwarze Röcke trugen. »Natürlich! Die studierten Herren müssen ihre Nasen einistecken! Bin neugierig, was die auskochen.« Aus dem Ton dieses Selbstgespräches klang ein zweifelhafter Respekt vor den Männern der Wissenschaft. Aber in Purtscheller war die Neugier wach geworden. Vielleicht gesellte sich dazu auch die Meinung: ›Wo um das Wohl und Wehe des Dorfes geredet wird, muß ich dabei sein! Ich bin der Purtscheller!‹ Er suchte die Leute einzuholen.

Es waren fünf Herren aus der Stadt, mit Brille oder goldenem Kneifer, bejahrte Männer mit ernsten Gesichtern; sie hatten Pläne bei sich, in die sie mit Farbstiften die Bewegungslinien des ins Laufen geratenen Berghanges einzeichneten; drei Geometergehilfen waren mit Theodolit, Meßlatte und Erdbohrer bei der Arbeit. Der Pfarrer des Dorfes, der Bürgermeister und zwei Gemeinderäte begleiteten die Kommission, um die knapp gestellten Fragen mit redseligem Eifer zu beantworten. Hinter ihnen, als dreizehnter, folgte in bescheidener Entfernung ein alter Bauer, um den sich niemand kümmerte. Er war nicht wie die anderen aus dem Dorfe heraufgekommen; drüben auf einem nahen Wiesenhang stand sein kleines Heimwesen, das der unheimliche Bergrutsch zu verschlingen drohte. Als er die Herren gesehen hatte, war er von der Rettungsarbeit weggelaufen, um ein Wort des Trostes zu hören, einen Schimmer von Hoffnung für sein versinkendes Haus zu empfangen. Seine Kleidung bestand aus einem mürben Rupfenhemd und einer blauen, verwaschenen Leinwandhose, welche Häubchen an den Knien hatte und am Bund von den Hosenträgern zu Zacken ausgezogen war. Arbeit und Jahre hatten den müden Körper gebeugt. Die weißen Haare waren glatt in die Stirn gestrichen – ein von zahllosen Fältchen durchschnittenes Sorgengesicht mit rotgeränderten, kummervollen Augen. Er hatte die dürren, schwieligen Hände auf dem Rücken liegen, und seine Finger zitterten.

Da klang hinter ihm die Stimme Purtschellers: »Grüß Gott, Simmerauer! Was is denn da?«

Der Alte blickte auf. »Die gealogisch Kammissoni is da!« sagte er leis, als könnte jedes laute Wort den wichtigen Vorgang stören.

»So, so?« Im Vollgefühl seiner Persönlichkeit ging Purtscheller auf die Herren zu und lüftete den Hut. »Grüß Gott, ihr Herrn mitanander! Fleißig bei der Arbeit, ja?«

Der Pfarrer dankte für den Gruß, der Bürgermeister und die beiden Gemeinderäte zogen den Hut; von den fremden Herren schien es keiner zu beachten, daß sich die Gesellschaft um eine so bedeutungsvolle Persönlichkeit vermehrt hatte; sie waren mit einer Erdprobe beschäftigt, die der Bohrer aus dem Grunde gehoben hatte.

Purtschellers Gesicht färbte sich dunkelrot; diese Mißachtung seiner Person hatte ihn beleidigt. Einer der Gemeinderäte merkte das und wollte dem Purtscheller-Toni zu der ihm gebührenden Anerkennung verhelfen. Aber die gelehrten Herren waren über den breinassen Lehm, den der Bohrer gefördert hatte, in eine so lebhafte Debatte geraten, daß sie für nichts anderes Ohr und Augen hatten.

Eine Weile kaute Purtscheller am Schnurrbart; dann wandte er der Gesellschaft den Rücken; lachend, doch mit Ärger in der Stimme, rief er über die Schulter zurück: »Gelt, Bürgermeister? Wann's ans Zahlen geht, kannst mich auch auf der Seit stehn lassen! Mich geht ja die ganze Gschicht nix an. Mein Haus und Hof is net in Gfahr.«

Der Bürgermeister machte große Augen. »Aber geh, Toni, was hast denn?«

»Ja, ja! Is schon gut!« Purtscheller winkte dem alten Simmerauer. »Komm, Michel, uns zwei kann man da net brauchen!«

Man sah es dem Alten an, daß er gern geblieben wäre; aber zu der ehrenvollen Erlaubnis, den Herrn Purtscheller ein Stück Weges begleiten zu dürfen, konnte er den Kopf nicht schütteln. So hielt er sich an der Seite des mißmutigen Jägers, blickte aber immer wieder über die Schulter zurück und lauschte, ob er von den verhallenden Stimmen nicht ein tröstendes Wort erhaschen könnte.

Leuchtende Fäden flogen den beiden entgegen und legten sich über ihre Gesichter. Besonders auf den alten Simmerauer hatten sie es abgesehen. Immer wieder mußte er solch ein schimmerndes Ding von seinen Augen lösen. Diese Mühe machte ihn nicht unwillig. »So hat der Altweibersommer noch nie net gsponnen, seit ich leb! Sechzg Jahr lang! So was hab ich noch nie net gsehen!«

»Wann die Spinnfäden so fliegen, sagt man, dös bedeutet an harten Winter!«

Der Alte seufzte. »So a Glück! Ja! So a Glück wann käm!«

»Freilich! Wann's an richtigen Frost machen tät, da möcht der Berg 's Laufen bald aufhören.«

»Was sagen S', Herr Purtscheller, was er auf amal für Gschichten macht! So a narrischer Berg! Viel tausend Jahr hat er an Fried geben! Und über Nacht fangt er söllene Sachen an! Wie an alter Mensch, der allweil nüchtern war, und jetzt hat er den ersten Rausch!« Michel wandte das Gesicht zu den grauen Felswänden hinauf! »Alterl! Alterl! Dös hat dir auch net der liebe Herrgott eingeben! Da hast auf'n Teufel ghört!« Seine kummervollen Augen irrten über das verwüstete Gehänge. »Die besten Wiesen frißt er, den schönsten Wald streicht er wie Butter aufs Brot, und ein Häusl um's ander schluckt er. Vor acht Tag is dem Pichler 's seinige gfallen, gestern is 's Häusl vom Mitterhuber eingsunken bis ans Dach, daß die armen Leut durch'n Rauchfang haben aussischliefen müssen! Und 's meinige –« Die Stimme brach ihm. Er faßte Purtschellers Arm und deutete ins Tal hinunter. »Sehen S' den Kirchturmknopf? Wie er glänzt in der Sonn?«

»Ja, Michel! Warum?«

Der Alte stieß mühsam Wort um Wort vor sich hin: »Den Kirchturmknopf hab ich gestern am Abend von meiner Haustür aus noch glänzen sehen. Heut in der Fruh is er verschwunden gwesen!«

»Michel!«

»Der Wald da drunt is doch net gwachsen über Nacht? Und die Kirch hat sich auch net vom Fleck grührt? Also?«

»Jesus Maria! Michel! Um so viel is dein Häusl gsunken in der Nacht?«

»'s Häusl net. Aber der Boden, wo 's draufsteht, mit'm Garten, mit die Äpfelbäum, mit allem.«

Purtscheller betrachtete den Alten in ehrlicher Sorge. »Michel! Wann's krumm geht, so schenier dich net und komm zu mir! Für an braven Menschen wie du hab ich all weil offene Händ!«

Michel schüttelte den weißen Kopf. »Vergelts Gott! Betteln tu ich net. Ich glaub net dran, daß mein Häusl abi muß. Ich hilf mir schon noch. Und einer, dös weiß ich, einer hilft mit!« Sein Blick suchte den blauen Himmel. Sie mußten eine breite Erdspalte überklettern, die den Wiesenhang quer durchrissen hatte. Als der Blick ins Tal wieder offen lag, sagte Michel: »Wie die weißen Mauern vom Purtschellerhof schön auffileuchten! Sie haben's halt gut! Der Purtschellerhof braucht sich vor keiner Nacht net fürchten.«

»Ja! Mein Haus steht fest. Da wackelt nix. Dös hat gsunden Felsboden und dicke Mauern. Da kann der Berg laufen, wie er mag.« Purtscheller blickte mit stolzem Behagen auf seinen stattlichen Hof hinunter. Aus diesem zufriedenen Gefühl heraus erwachte in ihm der Gedanke, daß es grausam wäre, sich seines reichen, ungefährdeten Besitzes zu freuen, während dem Michel der Jammer aus den Augen redete. Da wäre ein tröstender Zuspruch eher am Platz. »Schau, mußt mich net beneiden um mein Glück! Weißt, jeder Mensch hat Sorgen, der Reiche grad so wie der Ärmste. Ich bin der Purtscheller. Aber mir steigen vor Sorgen oft d' Haar am Kopf auf wie Besenstiel. Was mir an einzigs Jahr Verdruß bringt, soviel is dir dein Leben lang net übern Hals kommen. So a weitschichtigs Anwesen tragt, aber es frißt auch. Manches Jahr heißt's draufzahlen, daß man schwarz werden kunnt. Unsereiner hat Verpflichtungen auf alle Seiten. Da heißt's allweil zahlen, zahlen und zahlen. D' Jagd is frei. Wer muß s' denn pachten? Der Herr Purtscheller! Schreiben s' in der Stadt a Trabrennen aus. Wer muß laufen lassen? Der Herr Purtscheller! Halten s' a Scheibenschießen ab. Wer muß den Ehrenpreis stiften? Der Herr Purtscheller! Ich sag dir's, Michel, ich brauch meine gschlagenen zwölf bis fufzehn tausend Markln im Jahr. Soviel hat kein Minister in der Stadt. Dös is a Brocken Geld. Der muß hergschafft werden. Geh's, wie's will!«

»Mar' und Josef!« Im Schreck über die Sorgen, die der arme Purtscheller zu tragen hatte, vergaß der Simmerauer für einige Sekunden seinen eigenen Jammer.

»Und söllene Sachen packen ein' und lassen ein' nimmer aus! Schau, so notwendig hätt ich heut in der Fruh auf die Felder nachschauen sollen. Aber na! Da kommt der Jagdghilf und meldt: Der starke Hirsch wechselt über die Grenz aus, wann er net gschossen wird. Was will ich machen? Muß ich halt auffi!«

»So? So? Auf den starken Hirschen haben S' gjagt? Ja, der hat arg gschrien in die letzten Nächt!«

»Hast ihn ghört?«

»Freilich! Ich hab seit Wochen kein' Schlaf nimmer. Jede Nacht fahr ich zwanzgmal auf und greif an d' Wand hin, ob s' noch da is. Haben S' ihn kriegt, den Hirschen?«

»Na! Rein umsonst bin ich droben gwesen! Aber was ich sagen will: Im Hölzl hab ich deine Enkerln troffen. Solltest die Kinder in so einer Zeit net umanandlaufen lassen. Wie leicht kann ihnen was passieren!«

Michel schüttelte den Kopf. »Kinder haben an guten Schutzengel. Wir daheim müssen am Haus arbeiten den ganzen Tag, und ich hab's net gern, wann die armen Hascherln allweil unsern Jammer mit anschaun müssen. So was macht ihnen 's Gmüt krank. Kinder sollen lustig sein, die harte Zeit kommt eh noch früh gnug. Da laß ich s' lieber umanandlaufen. Und 's Hölzl drüben is noch am sichersten, da halten die Wurzeln fest. Mei' gute Alte in ihrer Sorg, freilich, die sagt allweil –« Er verstummte, blieb stehen und blickte zu einem nahen Bauernhaus hinüber, dessen verschobenes Dach auf schiefen und halb geborstenen Mauern saß. Undeutlich hörte man die erregten Stimmen der Leute, von denen die einen das Türgebälk und die Fensterstöcke aus der Mauer brachen, während andere das armselige Hausgerät auf einen Leiterwagen luden, vor dem ein klapperdürres Rößl mit einer schwerfälligen weißen Kuh zusammengekoppelt war. »Der erbarmt mich! Der arme Gaßner!« nickte Michel vor sich hin. »Jetzt muß er Auszug halten. Traut sich nimmer schlafen unterm Dach.«

»Der is gscheit, Michel! Der bringt beizeiten in Sicherheit, was zum Forttragen is, und baut sich drunten im Ort a neus Häusl auf festen Boden. Es wär am besten, du tätst es ihm nachmachen! Sag ja, Michel, und ich hilf dir dazu.«

Wortlos schüttelte der Alte den Kopf.

»Schau, Michel, nimm Vernunft an!« Purtscheller legte dem Simmerauer den Arm um die Schulter. »So a Berg, wann er amal 's Laufen anfangt, gibt kein' Fried nimmer, eh net alles drunten is. Sei gscheit, Michel, fang 's Ausräumen an, und drunten baust dir wieder. Von mir kriegst den Baugrund. Für a Vergeltsgott und an Schoppen Tiroler. Dem Purtscheller kommt's auf a lumpigs Tagwerk net an. Zum Bau geb ich dir tausend Mark auf ewige Hypothek. Geh her, Alter, schlag ein!«

»Dank schön, Herr Purtscheller! Sö meinen's gut. Aber der Michel muß bleiben. Der kann net furt.«

»Was der Gaßner fertigbringt, wird auch bei dir noch möglich sein.«

Der Simmerauer fuhr sich mit langsamer Hand über das weiße Haar. »Der Gaßner! Der kann leicht ausräumen. Der kann sich leicht an anders Heimatl suchen. Aus der Fremd ist er herzogen und hat sein Häusl kauft vor vierzehn Jahr. Der hat sich noch gar net einglebt drein! Aber ich? Ich bin angwachsen. Mein Vater, mein Ahnl und Urahnl is schon gsessen an dem Tisch, wo ich heut noch sitz. Da bin ich Kind gwesen, da hab ich mein Katherl heimgführt, da hab ich Glück und Sorgen übertaucht, bis aus'm lustigen Micherl langsam der alte Michel worden is mit weiße Haar. Und ich soll furtkönnen? Na, lieber Herr! Jeder Stein am Häusl is a Stückl von mir, jeder Span an der Tür, an Tisch und Bank is lebendigs Holz und hat Wurzeln in meiner Seel. Mein Häusl bin ich! Und mein Häusl is alles, was ich hab. Sonst hab ich nix. Und wann sich der Mensch auf'n Schragen legt und macht d' Augen zu? A bißl was muß er überlassen für seine Kinder. Sonst is sein Leben für gar nix gwesen. Na, Herr Purtscheller! Ich kann net furt. Und wann's schon so sein müßt, daß der Berg mein Häusl schluckt? In Gotts Namen! Muß ich halt mit abi. Mein Häusl und ich, wir zwei halten zamm.«

Ein Knirschen quoll aus der Erde. Neben den beiden öffnete sich eine braune Spalte, während der Rasen unter ihren Füßen sich senkte und in langsames Gleiten geriet.

»Da! Er lauft schon wieder!« sagte der Simmerauer ruhig, ohne sich von der Stelle zu rühren.

Purtscheller war bleich geworden und hatte im ersten Schreck einen Sprung gemacht wie eine Katze, der man kaltes Wasser über den Pelz gegossen; während er nach einem sicheren Fleck suchte, kam die laufende Erde schon wieder in Stillstand. »Ich dank schön«, stammelte er, »da is an unguts Bleiben!«

»Sind S' erschrocken, gelt? Im Anfang is mir's auch so gangen. Jetzt bin ich gwöhnt dran.« Michel lauschte. Von einem nahen Gehäng, das hinter verwüsteten Haselnußstauden verborgen lag, klang der Hall schwerer Schläge. »Hören S' ihn, wie er drauflos schafft? Dös is mein Bub!«

»Is denn der Mathes daheim?«

»Ja! Den hat mir der liebe Herrgott gschickt. Gestern haben s' ihn auslassen von die Manöver, am Abend is er dagwesen. Sein blaues Röckl hat er abi bracht, ja, aber d' Uniformhosen nimmer. Gleich hat er's Arbeiten angfangt. Die ganze Nacht hat er gschafft. Und 's Madl hat ihm gholfen.« Ein Schimmer müder Freude huschte über das verhärmte Gesicht des Alten. »Mein Vronerl! An der is a richtigs Mannsbild verlorengangen. Die ander, freilich, die ander – Gott gib ihr die ewige Ruh, die hat mir viel Sorgen gmacht.« Er wischte mit dem Arm über die Stirn wie einer, der sich den Schweiß abtrocknet.

Drüben über dem Tal hatte die steigende Sonne den Weg in die schattigen Felswände gefunden, und einzelne Schroffen tauchten gleich funkelnden Erzgebilden aus dem bläulichen Dunkel hervor. Immer lustiger flogen die silbernen Fäden, frischer zog der Wind aus der Tiefe herauf über die zerrissenen Wiesengehänge, man hörte das dumpfe Rauschen des Wassers, das in der Talsohle mit wildem Ungestüm aus dem Innern des unterhöhlten Berges hervorströmte; und immer lauter klang vom Haus des Simmerauer das Dröhnen der schweren Schläge, untermischt mit dem verworrenen Klang erregter Stimmen.

Da fuhr der Alte aus seinen Gedanken auf. »Na! Bin ich aber einer! Da steh ich und plausch. Und meine Leut daheim müssen schaffen, daß ihnen der Schwitz über d' Nasen kugelt.« Mit flinken Schritten ging er davon.

Purtscheller, der seit der kleinen Schlittenfahrt, die er mit dem gleitenden Rasen gemacht hatte, merkwürdig still geworden, folgte, als trieben ihn Mitleid und Neugier hinter dem Alten her. Aber Michel kam immer weiter voraus. Und als Purtscheller die Haselnußstauden erreicht und eine Lücke des Buschwerkes durchschritten hatte, blieb er betroffen stehen. Sonst hatte man das Haus des Simmerauer von dieser Stelle aus immer gesehen, schmuck und freundlich, mit dem hübschen Gärtl und dem sauber gehaltenen Schuppen. Jetzt war alles verschwunden. Nur ein niederes Gewirr von Apfelbaumzweigen mit welken Blättern ragte über eine scharf gezogene Bodenkante empor, und zwischen dem grauen Astwerk schimmerte das Gesims eines weiß getünchten Kamins.

»O du lieber Herrgott«, stotterte Purtscheller, »dös Häusl muß ja schon um fünf, sechs Meter gsunken sein!« Er eilte vorwärts. Nun hielt er vor einem fast senkrecht abfallenden Erdrutsch, und ihm zu Füßen lag das kleine Heimwesen des Michel, das noch vor einem Monat mit der Wiese, auf welcher Purtscheller stand, in gleicher Höhe gelegen hatte.

 


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