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Buchschmuck

Drittes Kapitel.
Die Rückkehr.

Eine halbe Stunde später kamen die Damen zum Vorschein, für die man schon einen bequemen Sitz in der Nähe des Herdes zurecht gemacht hatte. Fräulein Elise wünschte ihrem Bräutigam unter zärtlichster Umarmung einen guten Morgen und reichte dann Franz Marssen und dem Gemsjäger mit fröhlichem Gesicht die Hand. Miß Edda sah ernst und fast bedrückt aus, als sie hereintrat, wenigstens lag eine sichtliche Spannung um ihre Lippen, als sie mit ihren großen Augen den engen räucherigen Raum durchflog und sich von der Anwesenheit aller überzeugen zu wollen schien. Dann lächelte sie freundlich gegen die Männer hin und sprach ihnen ihren Morgengruß aus, näherte sich aber keinem so sehr, daß irgend jemand ihr die Hand hätte bieten können.

Michel hielt schon das heiße Frühstück bereit und fragte jedermann, ob er Grog, Schokolade oder Tee haben wolle. Da aber nur zwei kleine Töpfe und zwei silberne Becher zum Trinken vorhanden waren, mußte man sich behelfen und geduldig warten, bis die Reihe den Durstigen traf. Dies ging nicht ohne Scherz und Heiterkeit ab und namentlich war es die junge Holländerin, die alle durch ihre natürliche Munterkeit belustigte, so daß selbst der immer so ernste Baron Tekeli bisweilen zu einem hellen Gelächter genötigt wurde. Miß Edda dagegen blieb still und ernst, sie sah sich nur wiederholt in dem engen Küchenraum um, als wolle sie seinen Inhalt ihrem Gedächtnis einprägen, und wenn von irgend einem der Anwesenden eine Frage an sie gerichtet wurde, sprach sie nur wenige Worte, die aber stets bei aller Kürze eine herzliche Teilnahme an dem Vorgehenden und eine vollkommene Zufriedenheit mit ihrer jetzigen Lage verrieten.

Während die Reisegesellschaft nun in aller Gemächlichkeit frühstückte und sich dabei unterhielt, wurde Michel von seinen Gefährten hinausgerufen und man hielt im Freien eine längere Beratung über die Zeit des bevorstehenden Aufbruchs ab. Als die Männer endlich wieder hereinkamen und einige von ihnen die Leiter und das Brett bargen, welche ihnen am Tage vorher so große Dienste geleistet hatten, teilte der Gemsjäger den Reisenden mit, daß das Wetter leidlich sei, nur lägen die Nebel noch sehr dicht über der Erde und die Wasser wären noch lange nicht genügend abgelaufen.

»Nasse Füße gibt es unter allen Umständen,« sagte er zu den beiden Damen, »darauf machen Sie sich gefaßt, und die Augen müssen Sie auch scharf auftun, denn der weiße Dampf liegt in dichten Massen über dem Boden und scheint vor der Hand noch nicht weichen zu wollen. Indessen wird es in zwei Stunden möglich sein, an den Aufbruch zu denken, und dann sind wir immer noch lange vor Mittag in Grindelwald.«

»Wie,« rief Herr van der Hooft erstaunt aus, »noch zwei Stunden müssen wir untätig hier liegen bleiben?«

Der Gemsjäger warf einen lächelnden Blick auf die junge Braut und sagte scherzend zu ihr: »Bedanken Sie sich bei dem Herrn, mein Fräulein, daß er sich in Untätigkeit befindet, wenn er in Ihrer Nähe weilt und zwei Stunden in Ihrer Gesellschaft für eine außerordentlich lange Zeit hält. Als ich Bräutigam war, mein Herr Holländer, hatte ich den ganzen Tag unbeweglich bei meiner Resi sitzen können, wenn ich auch nur eine ihrer Hände halten und in ihr Auge sehen durfte. Doch, bei so vornehmen Leuten mag das freilich anders sein und die werden selbst bei ihren Bräuten von der Langeweile geplagt.«

Alle lachten laut und selbst Miß Edda stimmte diesmal mit ein.

»Das war einmal ein vernünftiges Wort zur rechten Zeit, Herr Michel,« sagte Fräulein Elise scherzend, »und nun bedanke du dich für die gute Lehre, mein lieber Jan, die du für ewige Zeiten in dieser Hütte empfangen hast.«

In diesem Augenblick ließ sich vor der Hütte ein laut und immer lauter erschallendes Jauchzen vernehmen, das allmählich näher kam und zuletzt in ein melodisches Jodeln überging, welches auf die Reisenden eine außerordentlich ermunternde Wirkung übte, da es sie erinnerte, daß sie in den Bergen der Schweiz wären und daß es noch draußen in der Welt fröhliche Menschen gäbe.

»Das ist Jürgen!« rief Franz Marssen und sprang auf, um nach der Tür zu eilen; diese aber wurde schon eben geöffnet und, von Schweiß triefend, bis hoch an den Leib mit Kot und Wasser bespritzt, auf dem Rücken am breiten Schulterriemen einen fest zugebundenen Korb tragend, trat der krausköpfige Jürgen herein, mit einem unbeschreiblich glücklichen Gesicht die Gesellschaft überfliegend, die er nun doch noch in der Hütte Stiereck gefunden hatte, wie es sein sehnlichster Wunsch gewesen war.

Franz Marssen trat ihm voll Freude entgegen und legte selbst Hand mit an, ihm den anscheinend schweren Korb vom Rücken zu nehmen. »Jürgen,« rief er, »du bist da, o was bist du für ein guter Junge! – Aber von den Pferden sprich kein Wort!« flüsterte er ihm rasch und unbemerkt zu.

Jürgen verstand ihn und nickte. »Ja, guten Morgen, mein lieber Herr und meine verehrten Herrschaften,« sagte der brave Diener, »ich bin da und bringe viele Tausend Grüße von Grindelwald mit herauf.«

»Von meinem Vater? Von meiner Mutter?« rief jauchzend die junge Holländerin.

»Ja, mein Fräulein, von allen beiden und sie sind ganz gesund, obgleich sie sich gestern, als das Gewitter ausbrach, halb tot geängstigt haben. Als aber die Not am größten war, da kam der Träger Murten herunter und brachte Grüße mit der guten Nachricht, daß Sie in Stiereck geborgen wären, und darauf bestellte er mir Ihren Wunsch, Herr, Sie heute morgen abzuholen. Und so habe ich mich, gleich nachdem der Wind und der Regen nachgelassen, beizeiten aufgemacht und da bin ich und freue mich, nicht zu spät gekommen zu sein.«

»Das ist brav von dir, mein Junge,« rief Franz Marssen, »aber was trägst du denn da in dem Korbe?«

Jürgen wollte antworten, doch er kam noch nicht dazu. »Setz dich!« rief der eine. – »Ruhen Sie sich erst!« rief Fräulein Elise. – »Geben sie ihm etwas Warmes zu trinken!« fügte Miß Edda hinzu, und viele Hände bemühten sich, Jürgen dienstbar zu sein, der denn auch bald am Feuer saß und einen Topf voll Schokolade und einen voll Grog in den Händen hielt, aus denen er abwechselnd trank und es sich dabei ganz wohl sein ließ.

Unterdes aber blinzelte er nach seinem Herrn hinüber und sagte, als er eine Pause zum Sprechen fand: »Was ich da im Korbe habe, Herr? Nun, zuerst den Wein, den ich Ihnen mitbringen sollte, wie Murten mir bestellt; und als nun die fremden Herrschaften gestern abend von mir hörten, daß ich in der Nacht mit einem Korbe und Wein nach Stiereck wollte, baten sie mich, noch etwas anderes mitzunehmen, da es Ihnen und besonders den Damen denn doch wohl an so manchem fehlen könnte.«

Fräulein Elise, als sie dies hörte, konnte ihre Neugierde nicht länger bezähmen, und sie begann sogleich mit Hilfe ihres Bräutigams den Korb auszupacken. Aber da sollten doch einige von ihnen eine Freude haben. Außer vier Flaschen vom besten feurigen Burgunder fanden sich noch viel frisches Weißbrot und Butter darin, sodann einige Handtücher, ein Stück wohlriechender Seife und eine Flasche Kölnisches Wasser, welches alles die gute Frau van der Swinden Jürgen für die Damen aufgebürdet hatte.

Ein herzlicherer Gruß, als er mit diesen Liebesgaben gesendet wurde, konnte aus der Außenwelt nicht in diese einsam gelegene Hütte auf der Höhe dringen, und das empfanden alle, auch wenn sie es nicht laut aussprachen. Den Wein wollte man sich bis zu einer späteren Zeit für den Weg nach dem Tale aufsparen, das Weißbrot aber ward unter alle gleichmäßig verteilt und von Fräulein Elise eigenhändig mit Butter bestrichen, so weit dieselbe reichte. Die Seife, die Handtücher und das Kölnische Wasser aber benutzten die Damen auf der Stelle, indem sie sich noch einmal in die Heukammer begaben und ihre Toilette wiederholten, was ihnen schnell auch die jungen Männer nachtaten, da sie sich mit ihrer Waschung vorher höchst dürftig hatten behelfen müssen.

Während dies vorging und Jürgen sich am Feuer ruhte und immer noch aß und trank, fragte ihn Franz leise nach den Pferden und ob es möglich gewesen sei, sie bergauf zu bringen.

»Warum denn nicht, Herr,« erwiderte Jürgen lachend, »sie sind beide ganz gut heraufgekommen, wie ich, und sie stehen unten trocken in einer Felsennische, ganz und gar in Decken gehüllt und lassen sich das mitgebrachte Heu trefflich schmecken.«

»Hast du denn niemanden zur Begleitung mitgebracht?«

»Gewiß, Herr, ein ausgewachsener Geisbube ist bei ihnen, der mit mir lief, da es ihm Freude machte, im dichten weißen Nebel den Berg hinauf zu steigen.«

»Und wie hast du den Weg bis hierher gefunden?« fragte Michel, der sich den Redenden genähert hatte.

Jürgen zog ein krauses Gesicht. »Nun, nicht gerade wunderschön, Herr Michel. Unten in Grindelwald hat es freilich nicht geschneit, wie hier oben, und auch bei weitem nicht so stark geregnet, aber den Berg hinunter läuft das Wasser wie toll und brodelt und schäumt dabei, als ob es gekocht wäre. Das heißt, vor zwei Stunden, als ich an der Kapelle der heiligen Petronella vorüberkam. Schlüpfrig ist es natürlich überall, aber daß man durchkommen kann, seht Ihr an mir.« Und dabei hob er seinen rechten Fuß in die Höhe und zeigte ihn lachend, da er über und über mit dickem Morast bedeckt war.

»Was meinst du,« fragte ihn sein Herr wieder, »werden wir die Damen hinabbringen können?«

Jürgen nickte ohne Besinnen. »Warum nicht?« sagte er. »Sie haben ja nur eine gute Stunde bergab zu klettern – der oberste Weg ist freilich der schlimmste – aber bald finden sie ja die Pferde, und wo das Wasser am tiefsten rinnt, da sitzen sie ja dann im Trocknen.«

»Dann bin ich zufrieden. Doch still, da sind sie wieder, und nun kommt die Reihe an uns, Michel, uns endlich mit Seife zu waschen.«

Die Damen erschienen, mit erfrischten Gesichtern und dufteten lieblich von dem Kölnischen Wasser, das sie nicht gespart hatten. Fräulein Elise hielt die Flasche noch in der Hand und bot auch den Herren davon an. Aber nur ihr Bräutigam ließ sich einige Tropfen auf ein Tuch gießen, die übrigen begaben sich in die Heukammer, wo noch immer das Licht brannte und frisches Gletscherwasser in Fülle vorhanden war.

So verging den jungen Leuten die Zeit rasch genug, und um acht Uhr endlich, nachdem Michel mit den Führern noch einmal vor der Tür Umschau gehalten hatte, erklärte er, daß man sich zur Reise rüsten könne und daß er denke, man marschiere in derselben Ordnung hinunter, wie man heraufgekommen sei.

Da entwickelte sich denn eine allgemeine Rührigkeit. Die Männer hatten bald ihre Tücher um die Brust fest geknüpft, Franz warf seinen leichten Regenmantel über die Schultern, und die Damen, nachdem Fräulein Elisens Kleid wieder hochaufgeschürzt, hüllten sich nun ebenfalls in ihre Plaids, »bis sie vom Gehen warm würden«, sagte Michel, denn dann müßten sie abgenommen werden, da die Damen sich nicht erhitzen dürften.

Endlich waren alle fertig und auch der Träger und Jürgen hatten ihre Last aufgeschnallt. Man nahm jetzt Abschied von der einsamen Hütte, die sich ihnen allen so wohltätig erwiesen, und wie es schien, geschah dies von einigen unter ihnen mit schwererem Herzen, als man eigentlich denken sollte. Als Michel mit Miß Edda zuerst ins Freie getreten war und die anderen erwartete, ging letztere langsam um die stille Hütte herum und sah sie sich genau von allen Seiten an, so weit sie sie nur umkreisen konnte.

»Aha,« sagte Michel, indem er ihr nachging, »Sie wollen sich das kleine Ding wohl genau einprägen, um es nicht zu vergessen, wie, meine schöne Dame? Nun ja, es war eine bitterböse Nacht, die sie darin verbracht, aber es war ja nicht meine Schuld, daß das Gewitter ausbrach, als wir noch auf dem Gletscher waren.«

»Beruhigen Sie sich, mein lieber Michel, erwiderte Miß Edda mit freundlicher und fast herzlicher Miene, »die Nacht war gar so schlimm noch nicht und ist rasch genug vorübergegangen; und wenn ich in meinem Leben keine bitterere und bösere zu ertragen habe, so will ich von ganzem Herzen zufrieden sein.«

Michel nickte und lächelte dabei. Dann aber, sobald sich der Zug in der alten Weise geordnet hatte, rief er sein: »Vorwärts, mit Gott!« und alle setzten sich in Bewegung, indem Michel und Christen ihre Damen wieder bei der Hand nahmen und die anderen Führer die Herren ersuchten, fest und sicher mit dem ganzen Fuß auf die Steine zu treten und sich nicht zu übereilen, da man Zeit genug zum Herabsteigen habe und das Wetter jeden Augenblick besser werde.

Als die Damen aus der zuletzt sehr warm gewordenen Hütte ins Freie traten, waren sie erstaunt, die Temperatur der Luft ungewöhnlich kalt zu finden, und sie priesen im stillen Michels Fürsorge, der sie schon im Hause zu den Tüchern hatte greifen lassen. Dabei lag ein dichter, mit den Augen undurchdringlicher Nebel rings ausgebreitet, der sich infolge der wässrigen Dunste, die aus den Felsspalten hervorstiegen, jeden Augenblick noch mehr zu verdichten schien. Auch rieselten von allen Höhen kleine Wasserbäche herab und suchten sich unter dem Steingerölle freie Bahn zu brechen, über die man unverzagt fortschreiten mußte, was den Weg und das Gehen nicht sonderlich angenehm machte. Auch der See, an dem man zuerst vorüberkam, war so außerordentlich angeschwollen, daß er an vielen Stellen seine gewöhnlichen Ufer weit überschritt und unaufhörlich mit lautem Getöse in die Tiefe rauschte. Dabei sah seine Oberfläche wie geschmolzenes Blei aus und war noch immer mit ungelöstem Schnee bedeckt, und seine kalten Fluten befanden sich in ewig gurgelnder Bewegung, als ob er wie das große Meer von Ebbe und Flut heimgesucht wäre. Schaurig öde sah ringsum die ganze Fels- und Wasserwüste aus, und da die Ferne dicht verschleiert lag und nirgends eine trostreichere Aussicht bot, so fühlte man sich noch öder und verlassener in dieser Einsamkeit, die wohl nur selten an solchen unheimlichen Tagen von Menschen betreten werden mag.

Fröstelnd, die Tücher immer fester um sich ziehend und die frühere Heiterkeit ganz vergessend, traten die Reisenden ihren Weg in dieser Wüstenei an, die nicht die geringste Ähnlichkeit mit der köstlichen Gegend bot, die man am vorigen Tage an derselben Stelle bewundert hatte, und wenige Worte nur wurden im Anfang gesprochen, wozu allerdings der Umstand beitrug, daß jeder auf seine Schritte achten und genau den Vorschriften folgen mußte, die ihnen die Führer von Zeit zu Zeit laut wiederholten.

»Ist denn das derselbe Weg, den wir gestern gegangen sind?« fragte Miß Edda nach einer Weile ihren Führer. »Ich wenigstens würde ihn nicht wiedererkennen.«

»Ja, Fräulein, es ist ganz derselbe, und es gibt nur diesen einen nach Stiereck hinauf. Aber da sehen Sie, welche Verwüstung eine kurze Gewitternacht zustande zu bringen vermag, denn fast kein Stein liegt heute an der Stelle, wo er gestern lag, und selbst ich muß bei dem verteufelten Nebel überaus aufmerksam sein, daß ich die besten Stellen zum Herabsteigen finde. Aber haben Sie keine Sorge, es gibt für mich hier der Kennzeichen mehr, als die Steine sie bieten; die kleinen Tannen, die Sie an unserer Seite bemerken, sind alle von uns an einzelnen Zweigen verkürzt, damit wir bei solchen Vorkommnissen einen sichtbaren Anhalt haben. Doch wie ist es mit den Füßen? Sind sie schon naß geworden?«

»O nein, und das werden sie auch wohl nicht, denn meine Stiefel sind von gutem russischen Leder; doch kalt werden sie mir gewiß, oder sie sind es vielmehr schon.«

»Aha, das dachte ich mir wohl, aber das läßt sich nun einmal nicht vermeiden, wenn ich sie nicht auf den Arm nehmen und durch das Wasser tragen soll.«

»Das würden Sie nicht können,« sagte Edda lächelnd. »Ich bin schwerer, als Sie denken.«

Der Gemsjäger blinzelte sie mit heiterem Lächeln von der Seite an und entgegnete: »O ja, schwer genug mögen Sie sein für einen schwachen und hinfälligen Mann, wenn er Sie tragen sollte, und schwerer gewiß als die kleine behende Dame, die hinter uns kommt, aber für mich und für keinen von uns anwesenden Schweizern sind Sie zu schwer, und das werden Sie bald mit eigenen Augen wahrnehmen können.«

»Wie meinen Sie das? Sie werden doch wohl nicht wirklich in die Notwendigkeit versetzt werden, uns tragen zu müssen?«

Michel schmunzelte. »Das kann man doch nicht wissen,« sagte er. »Nach dem Wasser zu urteilen, welches hier oben läuft, muß es eine Strecke tiefer noch größer sein, und da Sie nicht durch einen Bach waten können, müssen Sie sich schon hinüber tragen lassen.«

»Aber dann werden Sie selbst und alle Fußgänger naß?«

»Gewiß, und das ist kein seltenes Ereignis bei uns. Doch jetzt geben Sie Acht – hier gibt es etwas zu klettern. Aufgepaßt, Leute!« rief er nach hinten. »Sehen Sie nicht in die Schlucht linker Hand hinab, Fräulein, es ist Eis- und Schneewasser, was so brüllt und tost, ja, ja, aber ich halte Sie sicher, und Sie können meinem Arm vertrauen.«

Miß Edda vertraute ihm auch, wie Elise und die beiden nächstfolgenden Männer ihren Führern, und dieses Vertrauen war nötig, denn man kletterte eben dicht an einer tiefen, mit kaltem, schäumenden Wasser gefüllten Schlucht hinab, über vor kurzem herabgestürztes Steingeröll, während man nach der anderen Seite keinen Fuß breit ausweichen konnte, da hier eine glatte Felswand steil emporstieg, von der ebenfalls kleine Gießbäche in perlenden Kaskaden niederrieselten.

Langsam, Schritt vor Schritt, kein Wort sprechend und kaum atmend, kletterten die Menschen an der gefährlichen Stelle hinab, die sich noch zweimal in ähnlicher Weise wiederholte; die Führer zogen, schoben und stützten die ihnen Anvertrauten, und nur Franz Marssen schritt ruhig und sicher seinem Führer voran, immer in die Fußtapfen tretend, die ihm seine Vorgänger als sicher hinterlassen hatten.

So rückte man nur äußerst langsam vor, obgleich es stark bergab ging, und bald waren die des Kletterns ungewohnten Reisenden außer Atem und mußten um eine kleine Rast bitten, um sich zu erholen.

Miß Edda, die schon lange ihr Plaid gelüftet hatte, blieb, an eine Felswand gelehnt, hochatmend stehen und blickte sich nach den hinter ihr Kommenden um. Sie waren bald alle zusammen, und sowohl der Ungar wie Herr van der Hooft fingen schon wieder an erschöpft zu werden, was ihre Gesichter genügend ausdrückten, denn sie waren gedunsen und mit Schweiß bedeckt, und ihre Augen sprachen eine Ängstlichkeit aus, die weder die Braut noch deren Freundin empfand.

»Geht es noch mit Ihren Kräften?« rief Franz Marssen über die Köpfe der vor und unter ihm Stehenden herüber.

Miß Edda nickte ihm bejahend zu, denn der Atem war ihr kurz geworden, und das Sprechen wurde ihr schwer.

Franz sah nach der Uhr und lächelte freudig. »Haben Sie nur noch eine kurze halbe Stunde Geduld,« sagte er, »die Zeit vergeht rasch, wenn man mit Augen, Händen und Füßen arbeitet, und bald wird der Weg besser, und Sie werden bequemer voran kommen.«

»Gott sei Dank!« seufzte Herr van der Hooft, zu Baron Tekeli gewandt, die beide nicht ahnten, daß für sie der Weg noch lange nicht trockener und bequemer würde.

Nach fünf Minuten Aufenthalt schickte sich Michel zum Weitergehen an. Miß Edda streckte unaufgefordert ihre Hand nach ihm aus und, sich fest auf die seine stützend, folgte sie ihm, da es abermals steil bergab ging und Schlund auf Schlund sich zur Linken öffnete, die alle mit Wasser gefüllt waren, welches vom Gletscher unaufhörlich niederrann. Als aber auch dieser Abhang überwunden, kam man an eine ebenere Stelle, die allerdings morastig war und von vielen kleinen laut rieselnden Bächen durchschnitten wurde.

»Es ist kaum denkbar,« begann Miß Edda wieder, »daß dies derselbe Weg ist, den wir gestern hinaufgestiegen sind.«

»Es ist genau derselbe, mein Fräulein, verlassen Sie sich darauf. Denken Sie nur daran, wie eines Menschen Gesicht sich verändert, wenn er aus dem Lachen ins Weinen übergeht, nachdem er erst Freude gehabt und dann Schmerz hat, und oft bringt schon ein einziges Wort eine so auffallende Wirkung hervor, nicht wahr? Nun ja, diesen Weg haben Sie gestern, mit der Hoffnung im Herzen, den Gletscher zu bestechen, bei lachendem Sonnenschein gesehen, und heute, mit der Sehnsucht im Herzen, im trockenen Zimmer zu sitzen, steigen Sie hinab und finden ihn weinend, nachdem das Gewitter jenes böse Wort zu ihm gesprochen hat. Ist es nicht so, wenn ich dummer Gemsjäger mich vielleicht auch nicht ganz verständlich auszudrücken verstehe?«

»Nein, nein, Sie haben recht, und ich verstehe Sie recht gut,« rief Miß Edda mit tiefer Empfindung – »doch was machen Sie da?«

Michel war stehen geblieben und warf einem seiner Nachfolger seinen Hut zu. Dann breitete er seine beiden starken Arme aus und sagte: »Jetzt ist der Moment gekommen, mein Fräulein, wo Sie prüfen können, ob ich Sie zu tragen vermag. So, schlingen Sie nur dreist ihre schönen Arme um meinen Hals, ich bin ein alter Kerl, und mir dürfen Sie das schon tun. Und dabei sehen Sie rückwärts, wenn ich bitten darf, dann kommen Sie schneller hinüber, wenigstens däucht es Ihnen so.«

Edda besann sich keinen Augenblick, ebensowenig Elise. Und da Michel und Christen sich zugleich niederbückten, umschlangen sie beide den Hals der braven Führer, und diese hoben sie mit athletischer Kraft wie kleine Kinder in die Höhe und trugen sie so sicher durch das schäumende Wasser und den tiefen Morast, als ob sie auf ebenster, trockenster Straße gegangen wären.

Als Herr van der Hooft und der Ungar das vor ihren Augen sich entwickelnde Schauspiel sahen, blieben sie zögernd stehen; ehe sie es aber vermuteten, hatten ihre Führer auch sie ergriffen und trugen sie über die böseste Strecke, nur Franz Marssen kämpfte sich mit seinem Führer, dem Träger und Jürgen wacker durch, was eben kein ermutigender Anblick für die Zurückblickenden war.

Glücklicherweise dauerte es nicht lange, bis diese Stelle überwunden war, und jenseits des Morastes setzten die Führer ihre Lasten sanft nieder, und man konnte nun auf etwas geebneterem Wege über Blöcke und Gerölls steigen, zwischen denen allerdings noch immer das Wasser brodelte.

»Ach,« sagte Miß Edda wieder zu ihrem Führer, »ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Mühe, Herr Michel, und weiß kaum, wie ich das wieder gut machen soll.«

»Sehen Sie mich einmal freundlich an,« erwiderte der Gemsjäger lächelnd, »Sie glauben nicht, wie wohl das einem braven Manne tut, der nichts als seine Pflicht erfüllt.«

Miß Edda lächelte ihm freundlich und dankbar zu und drückte ihm dabei herzlich die Hand. »Sie sollen noch viele freundliche Blicke von mir haben, wenn Sie damit zufrieden zu stellen sind,« sagte sie, »sie werden mir Ihnen gegenüber leicht und kosten mir keine Mühe.«

»Ach ja,« seufzte Michel, »und doch verstehen so wenige Frauen, einen freundlichen Blick zur rechten Zeit zu schenken und geben sich oft das Ansehen, als ob es ihnen eine entsetzliche Arbeit wäre.«

Miß Edda nickte ihm noch einmal zu und sagte: »Ich gehöre nicht zu diesen Frauen, lieber Michel, aber ich danke dennoch für die Belehrung und will sie mir für mein künftiges Leben bewahren. Aber in der Tat, dieser Weg ist sehr schlecht, und so ungern ich bergab reite, so würde ich mich heute doch freuen, wenn ich ein gutes Pferd hätte; meine Kniee fangen mir an zu zittern, und ich glaube fast, sie versagen mir bald den Dienst.«

Michel lachte still vor sich hin, »Ich glaube es wohl,« sagte er, »Herrn Marssens Fuchs oder sein schöner Schimmel wäre Ihnen wohl ganz angenehm?«

»Gewiß, und beide Tiere haben mir schon früher große Dienste geleistet, wie Herr Marssen selber.«

»Das sieht ihm ähnlich. Wissen Sie, daß dieser Franz Marssen und sein Vater die bravsten Kerle sind, die ich von außerhalb hier je kennen gelernt habe? Ja, das sind sie, und der Vater wenigstens hat bei uns schon vielen Menschen große Dienste geleistet.«

»Er ist ein geschickter Arzt, nicht wahr?«

»Sehr geschickt, und gut und menschenfreundlich dabei, der nicht um das liebe Geld seinem Nächsten beispringt! Doch so ist der Sohn auch. – Aber halt, ich glaube wirklich, daß Gott Sie ein wenig mehr lieb hat, als andere Menschen, denn wenn ich mich nicht irre, habe ich eben ein Pferd wiehern hören, und das kann Ihnen doch nur der liebe Gott geschickt haben.«

Miß Edda horchte hoch auf und sah den verschmitzt lächelnden Gemsjäger forschend von der Seite an, über dessen braune Wange der klare Schweiß in dicken Tropfen perlte. »Wie sagen Sie? Ein Pferd? Wo denn?«

»Ein Pferd oder gar zwei – warten Sie nur einen Augenblick – da, hinter jener Felswand werden Sie gleich das natürliche Wunder sehen.«

Sie hatten nur noch ein paar Schritte nach der bezeichneten Wand zurückzulegen. Ehe sie sie aber noch erreichten, hörte auch Miß Edda das laute Wiehern eines mutigen Pferdes, und als sie mit ihrem Führer um die Ecke der Felswand bog, sah sie den Fuchs und den Schimmel, deren Zügel ein zottiger Geisbube hielt, in einer Vertiefung der Steinmauer vor sich stehen.

Miß Edda starrte wie vor einer unbegreiflichen Erscheinung zurück. »Michel!« rief sie, »wer hat uns das getan?«

»Kommen Sie nur weiter, mein Fräulein, und erschrecken Sie nicht. Wenn es nicht der liebe Gott selber war, so war es doch gewiß der Herr, dem diese Pferde gehören, der sie Ihnen hierher bestellt hat.«

Beide junge Damen stießen einen einstimmigen lauten Ruf des Frohlockens aus, und Miß Edda sprang sogleich an die beiden Pferde heran und streichelte ihnen liebkosend den stolzen Hals, den diese, in lebhaftes Schnauben ausbrechend, den herankommenden Menschen neugierig entgegenstreckten, als wollten sie damit ihre Freude zu erkennen geben, bekannte Personen wiederzusehen, die sie schon so oft auf beschwerlichen Wegen getragen hatten.

Kaum aber hatte Miß Edda ihrem ersten Freudenausbruch Genüge getan, so wandte sie sich von den Pferden ab und dem Besitzer derselben zu. »Herr Marssen,« sagte sie, als Franz herangekommen war und seinerseits auch die Freude empfand, die seine Überraschung den Damen bereitet hatte, »das haben Sie getan? O, das ist freundlich von Ihnen, und das vergesse ich Ihnen nicht. Hier haben Sie noch einmal meine Hand und das Bekenntnis, daß ich das Gute, was Sie mir heute von neuem erwiesen, nicht nur zu schätzen weiß, sondern daß ich es auch empfinde.«

Franz Marssen ergriff rasch die von dem Handschuh entblößte schöne Hand, aber zu sprechen vermochte er nicht, denn der Blick, der ihn aus dem leuchtenden dunklen Auge soeben getroffen, hatte ihn stumm gemacht und sein Herz zu so lautem Schlagen gebracht, daß er es selber zu hören glaubte. –

»So,« rief Michel nun, »hier wollen wir zehn Minuten rasten und ein Glas Burgunder trinken, den wir ebenfalls Herrn Marssen verdanken, und das wird uns allen wohltun. Jürgen, mein Junge, gib deinen Korb her und laß einen Pfropfen springen. Ha, da ist die Flasche schon und nun heraus mit den Bechern, meine Herren, wer hat sie?«

Die von Schweiß triefenden Herren van der Hooft und von Tekeli griffen rasch nach ihren Taschen und in zwei Minuten perlte der blutrote Wein in den Bechern; Michel reichte den einen Miß Edda und den andern Fräulein Elise hin, die sie ohne Verzug ergriffen und ihren feurigen Labetrunk auf das Wohl des freundlichen Gebers leerten.

Aus den zehn Minuten jedoch, die Michel nur zu ruhen bestimmt hatte, wurde eine halbe Stunde, denn als die beiden müden Herren erst auf einem Stein saßen, konnten sie sich sobald nicht entschließen, den Ruheort zu verlassen, obgleich er eben kein allzu bequemer war. Allein Herr van der Hoft und Baron Tekeli waren schon jetzt und noch vom vorigen Tage her so angegriffen, daß sie behaupteten, sie könnten kaum noch die Kniee bewegen, und Michel kannte diesen Zustand aus Erfahrung zu genau, um ihren Angaben nicht unbedingt Glauben zu schenken. So brachte man die Zeit mit Plaudern und mit Essen und Trinken hin, und da alle Führer gleichmäßig von dem vorhandenen Wein ihren Teil erhielten, so waren die vier Flaschen bald leer und Jürgen trug den Vorteil davon, mit bedeutend erleichtertem Korbe den Berg hinabzusteigen.

Endlich aber hatte die Ruhe lange genug gedauert, und Michel gab das Zeichen zum Aufbruch. Als er sich aber nun zu seiner Dame wandte, um ihr beim Aufsteigen behilflich zu sein, fand er Franz Marssen schon an der Seite des Schimmels stehen, und zum ersten Mal sollte Miß Edda Gelegenheit haben, zu bemerken, daß auch der Maler einen kräftigen Arm habe, denn er hob sie mit einer Leichtigkeit in den Sattel, wie sie es kaum von ihm vermutet. Als sie erst saß und in ihr Tuch gehüllt war, lächelte sie ihm freundlich zu und sprach ihren Dank mehr mit dem Auge als mit Worten aus, und wir wagen kaum zu entscheiden, ob dieses Auge nicht eine beredtere Sprache für ihn führte, als es unter den obwaltenden Umständen die einfachen Worte: »Ich danke Ihnen!« vermocht hätten.

Der Weg bot von nun an keine großen Schwierigkeiten mehr dar, obwohl er noch naß, holprig, steil und abschüssig genug war. Aber Michel und Christen selbst hielten die Zügel der sicheren Pferde, und wenn man auch langsam vorschritt, so kam man doch allmählich dem Ziele näher, nach dem jetzt alle, wie es schien, mit gleicher Hast verlangten. Gegen Ende der Reise jedoch schien sich das Wetter aufheitern und also die Fahrt nach dem Gletscher noch mit einem Schatten von Glanz verherrlichen zu wollen, denn die Nebel zerteilten sich sichtbar, die Luft wurde bedeutend wärmer, und als man in der Ferne den ersten Baum mit grünem Laube vor sich sah, zitterte sogar ein schwacher Sonnenstrahl durch die Luft, der jedoch bald wieder verschwand, nachdem man ihn zu früh gelobt und zu laut begrüßt hatte.

Endlich – o wie lang war dem guten Bräutigam, der alle Zärtlichkeit für seine Braut, und dem stillen Ungar, der schon lange alle Aufmerksamkeit für Miß Edda vergessen hatte, der Weg bis dahin geworden! – endlich erreichte man den Fuß des Mettenbergs und sah den letzten Vorposten des Grindelwaldgletschers, in welchem die schöne blaue Grotte lag, zur Seite liegen. Rascher nun schritten die Pferde in die alte Moräne hinein, aber es kostete Mühe, sich durch das Steinlabyrinth derselben zu winden, denn auch hier hatten die Wasser arg gewütet, und die alten ausgetretenen Wege waren entweder verschlammt oder die Lütschine, die heute in zwanzig Kanälen ihren Lauf begann, hatte sie überschwemmt, so daß man, schon in der Nähe des Dorfes, noch einmal umkehren und auf einem langen Umwege einen gangbaren Pfad suchen mußte, auf dem man endlich das Dorf erreichte und zwar gerade zu der Zeit, als die letzten Reste des Nebels sich in den Lüften verflüchtigten und dadurch den schönen blauen Himmel verdüsterten, der an diesem und vielen folgenden Tagen keinem der Reisenden mehr lächeln sollte.

Es war halb zwölf Uhr morgens, als die Gesellschaft vor dem Gasthof hielt, von welchem sie vor dreißig Stunden so lebenslustig und mutvoll ausgezogen war; aber still, übermüdet und halb verstimmt, wenigstens was den jungen Holländer und Baron Tekeli betrifft, kam man zurück, denn diese beiden Herren waren so steif an allen Gelenken, daß sie sich kaum die kleine Treppe hinaufschleppen konnten, die nach der Vorhalle des Hauses führte.

Um so lauter, freudiger und herzlicher wurden sie alle von seiten des zurückgebliebenen holländischen Ehepaares empfangen. Frau van der Swinden trug vor überströmendem Glück, ihre Tochter beinahe auf dem Arme in das Haus, und der alte Herr war die Zärtlichkeit selbst für die Freundin seiner Tochter, die er mit endlosem Händeschütteln und tausend verworrenen Fragen begrüßte. Als man sich aber mit den Damen lange genug beschäftigt, kamen auch die Herren an die Reihe, und nachdem man sich über den lahmen Zustand der beiden jungen Männer beruhigt, die still in ihre Zimmer schlichen, wandten sich die wackeren Leute Franz Marssen zu und sagten ihm ihren herzlichsten Dank für seine Güte »gegen die Kinder«, die er noch zuguterletzt so glänzend an den Tag gelegt hatte. Als sich aber alle Reisenden in ihre Zimmer zurückgezogen hatten, trat Herr van der Swinden in die Vorhalle hinaus und rief den außerhalb stehenden Michel und seine Gefährten herein, worauf er sich auch bei diesen bedankte und jedem von ihnen einen fast dreifach höheren Lohn gab, als sie zu fordern hatten. So schieden denn auch sie in heiterster Stimmung von der Gesellschaft, Michel aber fragte nach der Stunde der Abfahrt der Herrschaften, da er es sich nicht versagen könne, wie er hinzufügte, sie von Grindelwald abreisen zu sehen. Nachdem Herr van der Swinden ihm die vierte Nachmittagsstunde bezeichnet, ging er nach Hause, um unter seinem stillen Dache ein paar Stunden zu ruhen und seiner Frau von dem freigebigen Holländer, den schönen Damen und den verweichlichten jungen Herren zu erzählen, die er nach dem Zäsenberg zu führen und mit denen er in Stiereck eine Nacht zuzubringen so glücklich gewesen war.

Das gemeinschaftliche Mittagsessen hatte der General-Konsul um zwei Uhr festgesetzt, und um diese Zeit fanden sich alle jungen Leute wieder in der Vorhalle ein, woselbst die Tafel bereitet war. Alle ohne Ausnahme hatten zwei Stunden geschlafen und fühlten sich dadurch so sehr erquickt, daß auch die frohe Laune sich wieder geltend machte, obgleich man die Folgen des Bergsteigens nun erst recht in allen Gliedern fühlte.

Endlich um vier Uhr fuhr der Wagen vor das Haus, den Herr van der Swinden durch einen Boten aus Interlaken hatte holen lassen, da in Grindelwald selbst kein passender zur Zeit vorhanden gewesen war. Auch ein Knecht führte den Schimmel aus dem Stall, der sich von seiner Bergtour wieder erholt hatte, und ging mit ihm geduldig auf und ab, da die Herrschaften etwas lange auf sich warten ließen. Jürgen war mit dem Fuchs schon vor zwei Stunden nach Hause zurückgekehrt, da Franz ihn seinem Dienste nicht länger entziehen wollte, als durchaus nötig war.

Franz Marssen war endlich der erste, der aus dem Hause trat oder glaubte es wenigstens zu sein, da er anfangs niemand vor der Tür bemerkte. Plötzlich aber sah er Miß Edda, schon zur Fahrt gerüstet, langsam auf der Straße hin- und hergehen, und als er die Stufen hinabstieg, gab sie ihm einen Wink mit der Hand, dem er sogleich Folge leistete, um bald an ihrer Seite auf und nieder zu wandeln.

»Herr Marssen,« begann sie das Gespräch mit merklich bewegter Stimme, »es ist mir lieb, daß ich Sie noch einige Augenblicke allein sprechen kann, wozu ich bis Interlaken sonst keine Gelegenheit mehr finden würde. Wir haben also jetzt unsere Reise in die Berge zurückgelegt, und ich muß gestehen, daß ich köstliche, genußreiche und unvergeßliche Stunden verlebt habe. Allein manches, was auf dieser Reise vorgefallen und was sich nicht umgehen ließ – Sie verstehen mich wohl – muß vergessen sein – oder, wenn nicht vergessen, so darf sich doch wenigstens keine Schilderung davon unter die Menschen verlieren, die uns von heute abend an wieder umgeben werden. Wir treten jetzt in eine Welt zurück, die nichts von dem weiß, was in jener vorgeht, die wir eben verlassen haben, und sie braucht auch nichts davon zu wissen. Ich liebe sie nicht so sehr, wie es bisweilen scheinen mag, aber ich kenne sie genügend, um nicht zu wünschen, daß sie mich mit ihren Ränken verschonen möge. Soviel hiervon, und Sie werden mir diese Worte gewiß verzeihen. Übrigens glaube ich, daß wir beide von dieser Reise als bessere Freunde zurückkehren, als wir früher waren, und zum Beweise davon gebe ich Ihnen hier noch einmal meine Hand, zum letzten Mal, und ich sage Ihnen, wenn Ihnen daran gelegen ist, den aufrichtigsten Dank für alle Gefälligkeiten und Aufmerksamkeiten, die Sie mir bisher erwiesen haben. Im ganzen aber hatten sie recht, als Sie sagten: Gletscherwanderungen seien gefährlich, und sie sind es in der Tat, viel gefährlicher sogar, als man denken mag. Fürs erste besteige ich daher keinen Gletscher wieder, und am wenigsten mit Ihnen.«

Franz Marssen trat verwundert einen Schritt zurück, obgleich sie lächelte, als sie die letzten Worte sprach. »Warum mit mir am wenigsten?« fragte er.

»Weil – weil –« sie konnte nicht weitersprechen, obgleich sie es vielleicht gern getan und Franz Marssen die nun folgen sollenden Worte für sein Leben gern gehört hätte, denn soeben kamen die Holländer die Treppe herunter, und Fräulein Elise rief laut ihre Freundin herbei. Franz Marssen ließ die Hand, die er bisher unbewußt in der seinen gehalten, los, und Miß Edda trat mit raschen Schritten dem Wagen zu, wobei sie wahrscheinlich nicht wußte, daß sie jetzt ebensowenig die Augen gegen jemanden zu erheben imstande sei, wie sie sie gegen den jungen Maler erhoben hatte, der vergeblich dann trachtete, noch einen Blick zu erhaschen und ihn sich auf seine Weise zu deuten.

Als aber eben die junge Dame eingestiegen war und nun auch die steifen Herren mit Mühe in den Wagen kletterten, kam Michel aus dem Dorfe herbeigelaufen und nahm noch einmal Abschied von den Personen, denen er so viel Gutes erwiesen hatte. Sie drückten ihm alle herzlich die Hand, und er war der erste, den Miß Edda wieder ruhig und freundlich ansehen und so lange mit den Augen festhalten konnte, als der rasch fortrollende Wagen es ihr erlaubte. –

Der Wagen war fortgefahren, und die schönen Augen waren verschwunden, die noch soeben über des Gemsjägers braunes Gesicht geleuchtet hatten. Er blickte dem enteilenden Gefährt mit wehmütigem Lächeln nach und wandte sich dann, als er es nicht mehr sehen konnte, dem Maler zu, der noch neben ihm stand, dem Knecht aber sein Pferd schon abgenommen hatte und es eben besteigen wollte.

»So ist es mir schon oft ergangen,« sagte der stattliche Mann mit ernster Würde und fast traurigem Tone, »wie mir es heute und jetzt eben ergeht. Es kommen viele zu mir, die mir wohlgefallen, aber wenn sie ein paar Tage mit mir durch die Berge gewandert sind, verlassen sie mich wieder, und ich sehe sie mit diesen Augen wohl niemals mehr. Das ist ein bitteres Gefühl, Herr Marssen, das können Sie mir glauben. So wie diese eine Dame aber hat mir sobald keine andere behagt, und Sie sind in Wahrheit glücklich zu preisen, daß Sie – daß Sie ihre Zuneigung gewonnen haben.«

»Michel!« rief Franz Marssen, auf das höchste betroffen, und sein in der Regel bleiches Gesicht färbte sich dunkelrot. »Was sagt Ihr da? Was hätte ich gewonnen – von dieser Dame?«

Der Gemsjäger sah den Maler groß und überaus verwundert an. »Na, das muß ich sagen,« brachte er endlich hervor, »verstellen Sie sich oder sind Sie blind und taub gewesen? Denn daß diese schöne junge Dame mit dem glühendenden Feuerauge in Sie vernarrt ist, hab' ich auf den ersten Blick weggehabt, und wenn ich es nicht gesehen, so hätten mir es ihre Fragen verraten, die sie unterwegs an mich richtete, als wir im Schneegestöber über das Eismeer gingen. Bei Gott, Herr, sie hat ja nur Augen für Sie und nur Sorge um Sie gehabt, und ich will des Teufels sein, wenn es nicht wahr ist.«

Franz Marssen erschütterten die einfachen Worte eines so einfachen Mannes mehr, als dieser es für möglich gehalten hatte. Seine Pulse hämmerten, wie vom rasenden Fieber bewegt, und sein Auge füllte sich mit einer Glut, daß er nichts sah, was um ihn her ausgebreitet lag. Endlich kam ihm die Sprache wieder, und er sagte rasch mit fast bebenden Lippen: »Michel, Ihr irrt Euch – was Ihr da sprecht, ist von größerer Bedeutung für mich, als Ihr vielleicht glaubt.«

Der ehrliche Gemsjäger sah ihn immer erstaunter an und rief: »Nun, dann begreife ich die Menschen nicht mehr! Aber ich sollte meinen, es müßte für einen Mann von Ihrem Schlage ein Genuß sein, zu hören, daß ein solches Weib in ihn vernarrt ist, und Sie sehen ja aus, als ob Sie darüber erschrocken wären!«

Franz Marssen, über den es wie eine kalte, ihn in den Grund drückende Meereswelle lief, wandte das Gesicht ab und reichte dem biederen Gemsjäger die Hand zum Abschiede. Er mochte, er konnte nicht mehr hören, denn er hatte nur einen Wunsch: den, allein zu sein und über das schrecklich süße Wort nachzudenken, welches der arglose Naturmensch, der noch neben ihm stand, wie einen Feuerbrand in seine Seele geworfen, in seine Seele, die schon lange übervoll von Zündstoff und jetzt nahe daran war, in Flammen aufzulodern, die kein Wasser, auch nicht das des kalten, wasserreichen Gletschers, den er da vor sich liegen sah, sollte löschen können.

»Lebt wohl, Michel!« sagte er mit kaum vernehmbarer Stimme und wandte sich von dem ihm verwunderungsvoll nachschauenden Manne ab. Und rasch! aber mit Bewegungen, denen man ansah, daß sie nicht mehr von seinem Willen beherrscht wurden, stieg er schulgerecht in den Sattel, und ohne daß er es wußte oder wollte, setzte sich der Schimmel in scharfen Trab, um dem vorausgefahrenen Wagen nachzueilen, als leite ihn mehr der Instinkt, daß er zu ihm gehöre, als der Zügel seines Reiters, der fast kopflos auf seinem Rücken saß und sich nur immer die wenigen Worte wiederholte, die Michel, der Gemsjäger, gleich einem feinen, aber stark und schnell wirkenden Gifte in seine Ohren geträufelt hatte.


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