Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel

Kinloch war auf die Frage beinahe gefaßt gewesen, sobald er die Erregung der Alten gemerkt hatte, doch seine Gefährtin war wohl dermaßen überrumpelt, daß sie die Sprache verloren zu haben schien. Ein paar Sekunden vergingen, ehe er sie eine Antwort stammeln hörte:

»Ein – ein Mann im Haus?«

»Ja, ein Mann, den Sie versteckt halten?«

»Sind Sie verrückt, Frau Spedding? Die Frage ist eine Beleidigung! Was veranlaßt Sie zu diesem lächerlichen Verdacht?«

»Verschiedenes, Mylady. Vielleicht bin ich verrückt«, sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Es ist eine verrückte Frage, wenn man sich's recht überlegt.« Sie stockte und schien selbst unsicher geworden.

»Dann zerbrechen Sie sich nicht mehr den Kopf darüber, Betsy. Das Wetter scheint sich Ihnen auf die Nerven geschlagen zu haben.«

»Das kann schon stimmen. Bei dem furchtbaren Wind – wenn man den den ganzen Tag über pfeifen hört und das Heulen in der Nacht, man könnt' wirklich denken, man hört dauernd Stimmen um sich her. Vergangene Nacht, wie ich im Bett lag und nicht einschlafen konnte, hätt' ich einen Eid drauf leisten können, ich höre Joe Spedding im Garten rufen, und dabei liegt er jetzt bald dreißig Jahre auf dem Kirchhof.«

Die Alte schien tatsächlich unsicher geworden. Kinloch konnte das leise Gemurmel vernehmen, mit dem seine Gefährtin Frau Spedding tröstete, während sie sie aus dem Hause begleitete.

Später besprachen sie beide den Zwischenfall. Kinloch war der Ansicht, man hätte ausfindig machen müssen, was der alten Frau Anlaß zum Verdacht gegeben hatte, aber wie sich herausstellte, hatte seine Gefährtin nicht den Mut gehabt, danach zu fragen und es vorgezogen, nicht daran zu rühren. Frau Spedding war beruhigt fortgegangen, und es war anzunehmen, daß sie am andern Morgen, wenn sie wieder erschien, sich selbst ihres Betragens schämte. Trotzdem fiel es Kinloch auf, daß Miss Stella die Absicht aufgegeben hatte, gleich nach Frau Speddings Weggang eine Zeitung zu holen. Er erriet, daß sie jetzt von einem unbestimmten Gefühl der Unsicherheit beherrscht wurde, und teilte dieses Gefühl. Weder ihm noch ihr war es je eingefallen, daß sie von Frau Spedding überrumpelt werden könnten. Und doch mußte irgendein Anlaß vorhanden sein, der den Verdacht dieser so wenig zum Argwohn neigenden Person geweckt hatte. Was war dieser Anlaß? Weder er noch sie vermochten es zu erraten. Aber sie mußten es herausbringen, um der Gefahr in Zukunft aus dem Wege zu gehen. Denn jetzt, nachdem bei der alten Frau der Zweifel einmal geweckt worden war, genügte eine Kleinigkeit, um ihn zum zweitenmal wach werden zu lassen. Beim zweitenmal aber würde er sich voraussichtlich nicht wieder so leicht zerstreuen lassen.

Kinloch grübelte lange noch über die Lage nach, als nach dem Hereinbrechen der Dunkelheit seine Gefährtin ihn allein im Haus gelassen hatte. Seine Gedanken galten nicht seiner eigenen Person. Früher einmal hätte er sich nicht allzuviel daraus gemacht, wenn Frau Spedding ihn gesehen hätte – wäre sie doch dadurch instand gesetzt worden, ihn späterhin zu identifizieren und seine Aussage insoweit zu bekräftigen. Aber nun trug er alles, was notwendig war, unter dem Kragen eingenäht, und deshalb war eine Identifizierung durch Frau Spedding, wenn es zu einer Verhaftung kommen sollte, unnötig geworden. Er konnte hundert Einzelheiten über das Leben im Haus beibringen, um zu beweisen, daß er dort gelebt hatte, und konnte erreichen, daß Frau Spedding durch ihre Aussagen die seinen bestätigte. Aber wie er feststellen mußte, widerstrebte es ihm auf einmal, die Frau, die jetzt mit ihm in diesem Hause lebte, irgendwie in die Patsche zu bringen. Sie schleppte irgendein dunkles Geheimnis mit sich herum und kämpfte tapfer. Er machte einen Versuch, seine Gefühle ihr gegenüber zu analysieren. Wenn nun der Mann, für den sie kämpfte, ein Verbrecher war? Aber mancher wackere Soldat hat für eine schlechte Sache kämpfen müssen. Wie er selbst, war sie vielleicht das Opfer dieses Mannes. Und – jetzt sah er klar – weil er sie nicht in den Händen dieses Menschen lassen wollte, deshalb hatte er sich damit abgefunden, bei ihr hier im Haus zu bleiben.

Andere Gedanken knüpften sich daran, in die er tiefer und tiefer versank. Aber mit einemmal fuhr er auf und setzte sich aufrecht, plötzlich war er hellwach und beunruhigt. Alle seine Sinne waren gespannt. Irgend etwas war geschehen, was ihn gestört hatte. Soviel begriff er. Aber was konnte es sein? Ein Geräusch im Haus? Er horchte gespannt. Aber er hörte nichts als den Wind, der um den Giebel pfiff. Jetzt klappte eine Tür. Der Wind, sagte er sich. Aber er glaubte es selbst nur halb. Gut, der Wind. Die Tür war durch den Luftzug zugeworfen worden. Aber dann mußte doch eine andere Tür oder ein Fenster geöffnet worden sein? – Er wartete, ohne sich vom Fleck zu rühren. Jetzt quietschte eine Diele. Er kannte die Stelle, wo eines der Fußbodenbretter sich gelockert hatte – an der Schwelle des Wohnzimmers. Das konnte nun gewiß nicht der Wind gewesen sein. Sein Mund war mit einemmal wie ausgedörrt. Er saß wie versteinert. Während es im Hause totenstill blieb, stöhnte der Wind draußen um so lauter. Dann hörte er noch einmal, wie irgendwo im Haus eine Tür zuschlug.

Lange Zeit verging. Endlich hörte er auf, hinauszuhorchen, und versuchte sich einzureden, daß gar nichts geschehen sei – nein – es hatte ihn auch niemand von der offenen Tür her angestarrt. Türen haben manchmal die Eigenheit, in mysteriöser Weise zu klappen, und oft genügt eine Maus, um ein Bodenbrett zum Quietschen zu bringen. Nein, nichts war passiert. Er begann mindestens so nervös zu werden wie Frau Spedding – und seine Phantasie war weitaus reger. Es war kein Anlaß zur Furcht. Es war unmöglich, daß die Polizei die Spur bis zu diesem einsamen Haus verfolgt hatte. Wenn sie irgendeinen Anhaltspunkt gehabt hätte, dann hätte sie gewiß schon längst davon Gebrauch gemacht. Sie hatte nicht davon Gebrauch gemacht, also hatte sie keinen. Deshalb hätte er mit jedem Tag, der verging, weniger und weniger schreckhaft und unruhig werden müssen. Aber im Gegenteil, er wurde es mehr und mehr.

Und bei alledem schien ihm ein sechster Sinn, während er saß und grübelte, zuzuflüstern, daß die Gefahr näher und näher heranrückte. Die Gewalt des Sturmes schien sich allmählich erschöpft zu haben. Vor einer halben Stunde war der Wind plötzlich eingeschlafen. Auf den Lärm, der seit Tagen geherrscht hatte, folgte unvermittelt die tiefste Stille. Nichts rührte sich. Kinloch bedauerte es beinahe, daß der Sturm sich beruhigt hatte. Der war wie eine schützende Mauer gewesen, die zwischen ihm und der Außenwelt errichtet war. Die Stille, die ihn jetzt umgab, dies atemlose Schweigen aber brachte keinen Frieden, sondern ein Gefühl der Spannung. Die Welt schien den Atem anzuhalten und auf etwas Fürchterliches zu harren, das im nächsten Augenblick eintreten sollte.

Eine gute Stunde hatte er noch zu warten, bis er das Geräusch hörte, das er herbeigesehnt hatte – das Klirren eines Schlüssels im Schloß der vorderen Tür. Miss Stella kam zurück. Er stand auf, um ihr entgegen zu eilen. Die Hast ihres Schrittes war ihm aufgefallen.

»Sie bringen Neuigkeiten?« sagte er.

»Sie wissen es?«

»Ich habe es in allen Knochen gespürt. Was bringen Sie?«

Sie gab keine Antwort. Er hörte ein leises Klirren. Sie hielt den Lampenschirm in der Hand, um Licht zu machen. Ihre Hände zitterten, ihre Nachrichten mußten schlecht sein. Er hörte die Zeitung rascheln, die sie auf den Tisch breitete.

 

»Die mysteriöse Bluttat in Ealing.
Verhaftung bevorstehend.

In der Angelegenheit der mysteriösen Bluttat in Ealing beginnen die Ereignisse sich rasch zu entwickeln. Das breitere Publikum wird mit Erleichterung hören, daß dieses Verbrechen wenigstens nicht auf die lange Liste ungelöster Rätsel kommen wird, die der Findigkeit unserer Polizei getrotzt haben. Unsere Leser werden sich noch an die Kritik erinnern, die unsere Zeitung an den veralteten Methoden unserer Polizei geübt hat. Da unsere Ausführungen an gewissen zuständigen Stellen ungewöhnlich starkes Mißfallen erregt haben, sehen wir uns jetzt veranlaßt, mitzuteilen, daß wir uns, um unsere Behauptungen zu erhärten, entschlossen haben, einen mit besonderer Sorgfalt ausgewählten Kriminalisten mit der Untersuchung des Falles zu beauftragen. Die besonderen Fähigkeiten, deren sich unser Vertrauensmann rühmen darf, haben bereits die erfreulichsten Resultate gezeitigt. Er, der nach ganz anderen Grundsätzen arbeitet, wie die zahlreichen mit dieser Angelegenheit befaßten amtlichen Stellen, ist nunmehr seinem Wild so dicht auf der Spur, daß man für die nächsten vierundzwanzig Stunden eine Verhaftung erwarten darf.

Im Interesse der Justiz müssen wir uns zur Zeit natürlich noch immer die größte Zurückhaltung auferlegen. Aber in Ergänzung dessen, was wir in früheren Nummern dieses Blattes bereits angedeutet haben, können wir unseren Lesern versichern, daß das Interesse der Öffentlichkeit mit der Verhaftung des Mannes und der Frau, die in diese sensationelle Affäre verwickelt sind, nicht erschöpft sein wird.«

 

Kinloch hörte, wie sie die Zeitung sinken ließ. Sie schwieg. Er ebenso. Nicht die Zuversicht, die der Artikel zur Schau trug, hatte ihn erschüttert, sondern der Umstand, daß ein Mann und eine Frau erwähnt wurden, die in die Affäre verwickelt seien. Und da diese Behauptung zutraf, zweifelte er nicht, daß dem Verfasser dieses Blattes noch sehr viel mehr bekannt war, als er einstweilen sagen wollte.

Er hörte, wie seine Gefährtin aufsprang und im Zimmer auf und ab ging. Ob mit dem Mann, nach dem man suchte, er oder ein anderer gemeint war, darüber war auch jetzt noch ein Zweifel zulässig. Aber daß dies die Frau war, die man suchte, darüber gab es keinen Zweifel mehr. Und jetzt entdeckte Kinloch, daß er den Wunsch hatte, die Frau zu retten. Ja, das war seine neue große Entdeckung: er wünschte, sie zu retten. Männer, so überlegte er, sind das, was sie selbst aus sich machen. Frauen sind das, was die Männer aus ihnen machen. Seine Fäuste ballten sich – wie er den Mann haßte, der hinter allen diesen Dingen steckte! Sie fragte flüsternd:

»Wie lange werden wir noch Zeit haben?«

»Ist das die Zeitung von heute?«

»Ja. Oh, ich hätte mich vom Wetter nicht zurückhalten lassen sollen. Vom Wetter! Und dabei haben sicher in der Zeitung an den vorhergehenden Tagen Dinge gestanden, aus denen ich früher hätte erkennen müssen, was bevorstand. Fünf Tage lang habe ich keine Zeitung gesehen – des schlechten Wetters wegen. Ach, und ich habe mich so sicher gefühlt – hier mit Ihnen –, so sicher!«

Er hörte ihr nicht zu. Wenn das die Zeitung von heute war, so konnten sie jetzt jeden Augenblick erwarten, das gefürchtete, gebieterische Klopfen an der Tür zu hören. Die Spannung hypnotisierte ihn. Er hob den Kopf. Horchte. Und so still war es nach dem Sturm, daß er die Schritte seiner Gefährtin hören konnte, ja jeden Atemzug, wie sie ruhelos auf und ab ging, auf und ab.

»Ob es noch der Mühe wert ist, wenn wir versuchen, zu entwischen – werden wir noch Zeit haben?« fragte sie, vor ihm haltmachend.

Er wiegte zweifelnd den Kopf. »Ich weiß es nicht.«

Er hatte noch nicht ausgesprochen, als sein gespanntes Ohr ein Geräusch im Hause wahrnahm. Der Argwohn, den er schon einmal niedergekämpft hatte, kehrte zurück. Es mußte jemand im Hause sein! Jetzt wußte er es bestimmt. Natürlich hatte er es sich nicht eingebildet. Man hatte lediglich gewartet, bis seine Gefährtin zurückkam, um sie miteinander festzunehmen. Er hob die Hand.

»Horchen Sie!« flüsterte er. »Horchen Sie! – Da haben Sie die Antwort auf Ihre Frage.«

Ihr kurzes, stoßweises Atmen verriet ihm, daß sie das Geräusch ebenfalls gehört hatte. Im nächsten Augenblick riß sie ihn vom Stuhl hoch und drängte ihn Hals über Kopf in die nächste Fensternische. Kinloch ließ alles mit sich geschehen, obwohl er sich bewußt war, daß jeder Versuch, ihn noch zu verstecken, nutzlos sein mußte. Das Haus war sicher umstellt. Man hatte ihnen gewiß nicht die Möglichkeit gelassen, durch ein Fenster zu entfliehen. Aber sie öffnete das Fenster gar nicht. Sie versteckte ihn hinter den Vorhängen und eilte ins Zimmer zurück. Obwohl er das für ebenso hoffnungslos hielt, preßte er sich doch nicht gegen die Scheiben, damit seine Umrisse sich nicht in den Falten des Vorhangs abzeichneten. Ein Augenblick der Spannung verging. Dann hörte er seine Gefährtin verblüfft aufschreien. Kinloch entnahm daraus, daß derjenige, der sich ins Haus eingeschlichen hatte, nicht die Person war, die sie zu sehen erwartet hatte.

»Aha«, sprach eine Stimme, »ist er wieder unsichtbar geworden, Ihr Teufel im Kasten?«

»Frau Spedding, was in aller Welt –«

Aber Miss Stellas energische Zurechtweisung wurde kurzerhand unterbrochen.

»Oh, ich hab' ihn wohl gesehen, vor 'ner knappen halben Stunde und noch nicht zum erstenmal. Sehen ist glauben, so sagt man doch, was? Eingeschlossen haben Sie ihn, solang Sie weg waren. Jawoll, aber ich habe heute morgen das Küchenfenster aufgeriegelt gelassen. So könnt' ich hereinkriechen und hab' ihn mir mal genau angesehen, wie er da vor dem Feuer saß. So viel wenigstens hab' ich gesehen – wo doch das Bild in der Zeitung gewesen ist –, daß das nicht der Mann ist, mit dem Sie vor den Altar getreten sind.«

Ihre Stimme war schrill vor Zorn und Entrüstung.

»Und wie ich mich hab' anführen lassen! Sogar mit den zwei Tassen am ersten Morgen, das hab' ich Ihnen noch geglaubt. Aber ich hab' ja auch nicht gewußt, daß ich jeden geschlagenen Morgen nur die Hälfte vom Geschirr spül'. Auch daß hier soviel Lebensmittel verbraucht werden, is mir nicht aufgefallen. Noch nicht mal, daß es so nach Tabak roch. Nichts ist mir aufgefallen, bis ich 'rausbekam, daß Sie von anderswo noch extra Lebensmittel herbeischaffen. Nämlich, manchmal haben Sie vergessen, die Tüten zu verbrennen, wo die Firma draufgedruckt stand, nicht wahr? Hier stimmt was nicht, dacht' ich mir da.«

»Und darauf sind Sie hierhergekommen, um im Haus herumzuspionieren?

»Na, schön! Spioniert hab' ich?« kreischte die Alte herausfordernd. »Aber ich hab' mir nichts Schlechtes dabei gedacht. Sie wollten immer nicht, daß ich hier im Haus schlafen soll, wie ich's vorgeschlagen hatte – und nachts, wenn ich dran dachte, daß Sie hier ganz allein im Haus sind, wollt's mich nicht ruhen lassen. Da hab' ich angefangen und bin im Dunkeln noch mal heraufgekommen, um zu sehen, wie's mit Ihnen steht. Jawoll! Aber ich hatt' bald heraus, daß Sie hier nicht so einsam waren, wie ich mir's eingebildet hatte.«

»Aber er ist doch bloß ein Freund, Sie närrisches Ding.«

Dies schien Frau Spedding, statt sie zu besänftigen, erst recht in Harnisch zu bringen.

»So? Bloß 'n Freund? Bloß 'n Freund ist er? Hab' ich Sie nicht vergangene Nacht bei ihm sitzen sehn? Hab' ich nicht alles ganz genau gesehn, sooft die Zugluft die Vorhänge auseinander trieb? Hab' ich nicht gesehen, wie Sie Ihr Haar gebürstet haben – schamlos mit nackigen Schultern und Armen, vor seinen Augen! ›Wenn's hier mit rechten Dingen zugeht‹, sagt' ich zu mir, ›dann kann das bloß ihr Mann sein. Aber wenn's ihr Mann ist, was versteckt sie ihn dann?‹ Da dacht' ich mir, ich will mir den Menschen mal aus der Nähe betrachten. Verstanden?«

»Aber da ist gar nichts Unrechtes dabei.«

»Nichts Unrechtes dabei? Warum läßt er sich dann nicht sehen? Wozu spielt er dann Versteckens mit der alten Spedding? Das sind so Städtermanieren! Wir auf dem Land haben dafür nichts übrig. 's ist keine Art nicht, daß er hier bei Ihnen lebt, nee, Sie und er allein miteinander.« Ihre Stimme begann zu zittern und zu stocken. »Wir – wir hier auf dem Land, wir wissen auch, daß man's bei den feinen Leuten nicht so hält wie bei uns hier draußen, aber –« Frau Spedding war am Ende ihrer Kraft.

Der Mann hinter dem Vorhang erstickte den Fluch, der ihm auf der Zunge lag. Er horchte. Er wollte hören, wie die Angegriffene sich verteidigte. Aber es kam kein Laut. Es war so still im Zimmer, daß er das mühsame, erregte Schnaufen der Alten hörte.

»Sie – Sie haben eine Liebesgeschichte mit ihm, so steht's.«

»J–ja. Natürlich, ich – ich liebe ihn. Wie kam' er sonst hierher?«

Die Worte kamen überstürzt und hastig.

Das also war die Ausflucht, zu der sie greifen wollte! Gut, wenigstens wurde seine Gegenwart damit erklärt.

»Oh, aber das ist nicht recht – es ist nun mal nicht recht.«

»Wer ist Herr über seine Gefühle? Ehe man's weiß, haben sie die Oberhand gewonnen.«

»Oh, aber man ist Herr über das, was man tut. Und, Miss Stella – und wenn Sie's schon nicht fertigbringen, warum sind Sie nicht woanders hingefahren? Warum sind Sie mit ihm nicht wohin gefahren, wo keiner Sie kennt, damit wir hier wenigstens ein gutes Andenken an Sie behalten?«

Frau Spedding schien näher zu kommen. Ihre Stimme hob sich zu einer eindringlichen, leidenschaftlichen Mahnung.

»Geben Sie ihn auf!« rief sie. »Es kann nichts Gutes dabei herauskommen – bloß Skandal. Und obendrein ist der Skandal vielleicht näher, als Sie denken.« Sie begann zu flüstern, aber jedes Wort war deutlich vernehmbar. »Hör'n Sie, Mylady, eben wie ich über den Anger gegangen bin, bin ich mit 'nem Fremden zusammengestoßen, mit 'nem Mann!«

»Einem Fremden?«

»Jawohl. Ein Mann, den ich nicht kenne. Er wußte auch auf dem Anger nicht Bescheid. Das sah man gleich an der Art, wie er zwischen den Ginsterbüschen herumstolperte. Er hat mich nicht gehört, weil ich über das Gras gegangen bin. Er schien sich umzusehen und was zu suchen. Da ist mir eingefallen: ›Wenn das nun Ihr Gatte ist?‹ sagt' ich mir.«

»Wie sah der Mann aus?«

»Es war zu dunkel. Ich konnt' nichts unterscheiden. Und er ist mir aus dem Weg gegangen, als er mich zu Gesicht kriegte, 'n großer, stattlicher Mann war's, und hierherum ist er nicht zu Hause. Ich will ja gar nicht sagen, daß es Ihr Mann war – aber hätt' er's nicht sein können? Es ist eine Warnung. Geben Sie ihn auf, Mylady. Geben Sie den andern da auf.«

Zunächst erfolgte keine Antwort. Dann drängten und überstürzten sich die Worte.

»Ja, ich schaff' ihn heute nacht noch weg, heute nacht noch! Sie werden niemals wieder von ihm sehen noch hören. Aber Sie werden niemandem davon erzählen, nicht wahr? Wenn – wenn irgend jemand kommen und Fragen über ihn stellen sollte, Sie werden nichts erzählen, Betsy?«

»Erzählen? So etwas erzählen? Nicht zehn Pferde kriegten mich dazu, den Mund zu öffnen.«

Eine halbe Stunde später lag Kinloch an der windabgewandten Seite einer Heumiete draußen im Feld versteckt. Er war in aller Eile durch die Hintertür aus dem Hause geschafft worden. Sie hatten über einen Zaun klettern und sich durch verschiedene dichte Hecken zwängen müssen, um sein jetziges Versteck zu erreichen. Und ohne Atem zu schöpfen, war sie wieder davongeeilt, um das Auto so unauffällig als möglich in seine Nähe zu bringen und ihn abzuholen.

Kinloch schob sich etwas Heu zu einem Sitz zusammen, lehnte den Rücken gegen den Heuhaufen und machte sich daran, die Ereignisse zu überdenken. Sie hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, daß es unter Umständen lange dauern konnte, ehe sie zurückkam. Wer war der Kerl, der auf dem Anger herumgeschnüffelt hatte? Frau Spedding hatte angedeutet, daß es vielleicht der Gatte seiner Gefährtin war. Vielleicht nur, um sie zu erschrecken. Aber es war sehr gut möglich. Im großen und ganzen war es allerdings wahrscheinlicher, daß der Fremde ein Kriminalbeamter war. Jedenfalls konnte der Fall sehr leicht eintreten, daß seine Gefährtin, ehe sie zu ihm zurückkam, mit dem Fremden zusammentraf, ja ihn irgendwie überlisten mußte, ehe sie sich unbehelligt mit dem Auto vom Hause entfernen konnte.

Kinloch hatte einen neuen Einfall, den er reiflich erwog. Warum sollte er sich nicht allein aus dem Staube machen? Von der Szene verschwinden und allen Gefahren den Rücken kehren? Seine Gegenwart im Haus hatte Miss Stella Frau Spedding gegenüber in eine furchtbare Lage gebracht, hatte sie gezwungen, mit eiserner Stirn zu lügen, hatte sie sogar gezwungen, zu behaupten, daß sie mit ihm ein Liebesverhältnis habe. Mit ihm! Widerwillig genug hatte sie es herausgebracht – er erinnerte sich gut an ihre stockende, leise Stimme –, und erst als die Lage gar keinen anderen Ausweg mehr zuließ. Dann konnte sie ganz einfach nicht mehr anders. Denn das, und das allein, war der einzige überzeugende Grund, mit dem sie, wenn sie nicht die Wahrheit eingestehen wollte, die Anwesenheit eines Mannes im Haus rechtfertigen konnte.

Das Seltsame daran war, daß er seit dem Augenblick, wo er Zeuge ihres stammelnden Geständnisses gewesen war – mochte er auch genau wissen, daß es sich um eine Notlüge handelte –, den Wunsch hatte, ihr zu helfen. Bis dahin hatte er im stillen gegen sie gekämpft, hatte versucht, alles ausfindig zu machen, was er konnte. Aber angesichts der neuen Gefahr, stand er plötzlich innerlich ganz auf ihrer Seite. Nun entstand für ihn die Frage, ob es nicht das beste war, was er tun konnte, um ihr zu helfen, wenn er einfach verschwand, wegging, ehe sie zu ihm zurückkehrte. War es nicht, so fragte er sich, die einzige zulässige und anständigste Handlungsweise? Aber kaum war er soweit gekommen, als ihm auch schon wieder Zweifel aufstiegen. War es wirklich anständig, spurlos zu verschwinden und sie im ungewissen darüber zu lassen, warum er gegangen war und was er weiter vorhatte. Er versuchte, sich vorzustellen, was sie empfinden würde, wenn sie zurückkehrte und ihn nicht mehr vorfand. Furcht oder Erleichterung? Er konnte es nicht entscheiden. Dazu wußte er nicht genug. Wenn er der Polizei in die Hände fiel, war es denkbar, daß man aus seinen Aussagen, mochten sie lauten wie sie wollten, mehr herauszulesen verstand, als er preiszugeben willens war? Vielleicht verriet er aus purem Ungeschick irgendeine schwerwiegende Tatsache, die ihm selbst ganz harmlos vorkam. Er wußte ja nicht, worauf es ankam. Es hing ja alles davon ab, wieviel die Polizei bereits herausgebracht hatte.

Das Inserat, in dem man sich nach dem gegenwärtigen Aufenthaltsort Alexander David Kinlochs erkundigte, schien doch anzudeuten, daß man etwas von ihm wußte. Mindestens schien man zu wissen, daß er selbst nicht fähig war, ein solches Inserat zu lesen. Wenn man aber wußte, daß er blind war, dann hätten sie sicher jeden ortsfremden Blinden rasch genug beim Kragen, wenn er sich in einer Gegend herumdrückte, in der die Polizei anscheinend schon auf der Jagd war. Nein, es war entschieden. Er mußte warten, bis seine Gefährtin zurückkam. Und als er sich zu diesem Entschluß durchgefunden hatte, stellte er mit innerem Erstaunen fest, daß er darüber im Innersten eigentlich froh war. Jetzt, wo die Gefahr greifbar und lebendig wurde, kehrten Kinlochs Gedanken noch einmal wieder zum Beginn seines Unglücks, zu der tragischen Nacht zurück, in der er in das Verbrechen hineingezogen worden war. Der ermordete Mann hatte durchaus nicht den Wunsch gehabt, erkannt zu werden. Dessen erinnerte er sich. Ja, er war entzückt, unverhohlen entzückt gewesen, als er erfuhr, daß er auf einen Blinden gestoßen war, der nicht wußte, mit wem er es zu tun hatte. Kinloch lächelte bitter vor sich hin. Der Mann war ein gut Teil zu schlau gewesen: er hatte die Falle geschickt gestellt, er hatte alles säuberlich vorbereitet, um seinem Besucher Angst einzujagen, und all das hatte nur dazu gedient, um dem Mörder die Aufgabe zu erleichtern. Wahrscheinlich war die Tat erst viele Stunden später entdeckt worden, denn das Opfer, das ebenso wie der Mörder sorgfältig sich seinen Plan zurechtgelegt hatte, hatte sicher dafür Vorsorge getroffen, jede Möglichkeit aus dem Weg zu räumen, daß er während der Unterredung durch ein Mitglied seines eigenen Haushalts gestört werde.

Früher oder später allerdings mußte jemand kommen, der die Tür zum Mordzimmer öffnete. Merkwürdigerweise fesselte es Kinloch, darüber nachzudenken, wer die furchtbare Entdeckung zuerst gemacht hatte. Er entschied sich für das Stubenmädchen, ein verschlafenes Stubenmädchen, das morgens ins Zimmer kam. Er malte sich aus, wie sie die Tür öffnete, gähnend die Jalousien hoch zog und dann, den Besen in der Hand, sich umdrehte, um mit dem Reinemachen zu beginnen. Greifbar deutlich sah er sie vor sich: – ihre in wildem Schrecken weit aufgerissenen Augen, ihr törichtes versteinertes Starren, bis sie endlich begriffen hatte, was da vor ihr auf dem Boden lag, und sie laut zu kreischen anfing.


 << zurück weiter >>