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27. Kapitel

Parkbesichtigung und Sommerpläne – Unbefugte dringen ins Warmhaus – Karla ganz groß zerschmettert Rittergutsbesitzer – Meine Haare als Blitzableiter

 

So gründlich, wie Karla und ich an diesem ersten Weihnachtsfeiertag unseren Park durchstöbert haben, zwei, drei Stunden lang, in allen Ecken, Nebenwegen, Grotten, Hügeln, Lauben, Tempeln, Rosen- und Taxusgängen, in Labyrinthen, Alleen, Obstgärten und Spreewaldimitationen, haben wir ihn in unserer ganzen Besitzerzeit nicht wieder angesehen. Ungeheuer groß, ganz unerschöpflich kam uns dieser Park vor, und später haben wir erfahren, daß er wirklich ziemlich groß war; über sechzig Morgen, das sind hundertfünfzigtausend Quadratmeter. Da kann man schon zwei oder drei Stunden herumlaufen, besonders wenn er so verwirrend angelegt ist wie der Gaugartener, zu dem viele Besitzer ihren Anteil nach Geschmack und Vermögen geliefert haben.

Es gab da natürlich einen englischen Park, aber es gab auch etwas Chinesisches mit klingelnden Pagodenglöckchen und hochgeschwungenen Borkenbrückchen. Es gab eine richtige Ruine mit einer eisenbeschlagenen Holztür und der Aufschrift ›Verlies‹ unter einem Totenkopf, und es muß auch einen sehr unanständigen Vorbesitzer gegeben haben, denn nachdem wir an einem Schild vorübergegangen waren, auf dem stand ›Bitte nicht stören!‹ entdeckten wir hinter einem Taxusbusch eine gipserne Dame, die mit gerafften Röcken dort in einer nicht mißzuverstehenden Haltung hockte.

Manches fanden wir herrlich, manches scheußlich, manches ein wenig beängstigend, weil wir nicht genau wußten, ob es herrlich oder scheußlich war. Vieles aber schien uns einfach schön, und Karla entdeckte mindestens zehn Plätze, wo sie im Sommer regelmäßig mit der Mücke sitzen würde.

Bei all unseren Wegen tauchte bald näher, bald ferner das Schloß vor uns auf, wahrhaftig ein wirkliches Schloß, ein großer Bau mit zwei Stockwerken, einem flach gedeckten Turm an der Seite, mit einer breiten Auffahrt und so vielen, vielen Fenstern, viel mehr, als zu vierzig Zimmern gehören konnten! Herr Kleibacke hätte uns gar nicht vor jeder Annäherung an diesen finster drohenden Palast warnen müssen; wenn etwas unsere Freude an dem herrlichen, vielgestaltigen Park trübte, so war es der Gedanke, in diesem Palast als Besitzer und Herrscher wohnen und gebieten zu müssen.

Übrigens war der Park bei weitem nicht so verlassen, wie wir es nach Herrn Kleibackes Worten erwarten durften. Nicht selten trafen wir andere Spazierwandler. Aber die einen sahen uns ebenso scheu an wie wir sie, und das waren wohl wie wir ›Anverwandte des Obergärtners Pipping‹, denen ein silberner Schlüssel den Park geöffnet hatte. Und die anderen sahen uns mit einer so wohlwollenden Gelassenheit an, daß wir unschwer errieten, es waren die Honoratioren von Gaugarten: der Herr Pastor, der Kantor und der Ortsschulze – alle mit Weib, der Kantor auch mit Kindern.

Es war doch ein herrliches, ein seltsames Gefühl, ihrem gönnerhaften Blick zu begegnen und heimlich, heimlich zu wissen, daß man sie mit all ihrem Gönnertum als unbefugte Eindringlinge vor die Türe setzen konnte.

Karla freilich empfand auch hier ein bißchen anders und meinte, es würde nett sein, den Park zu bestimmten Stunden für alle zu öffnen und zwar ohne Eintrittsgeld an Kleibacke! Ich war nicht für überstürzte Neuerungen und verwies auf den Schaden, den unbeaufsichtigte Kinder an Obstbäumen und Blumenrabatten anrichten würden.

Die sich sehr hitzig darüber entspinnende Debatte führte uns unversehens zu den Gewächshäusern, vor denen wir anhielten, unschlüssig, ob wir es wagen durften, unseren Gastgeber Pipping zu besuchen. Dieser Zweifel wurde noch verstärkt durch einen Reitknecht, der aber ganz wie ein Herr ausgesehen hätte ohne seine blauweiße Stalljacke. Er führte, mit seinem Backenbart sehr vornehm aussehend, zwei Pferde vor der Tür des Gewächshauses auf und ab, einen Fuchs mit Herren- und einen Schimmel mit Damensattel.

Ich würde doch reingehen, Maxe, sagte Karla sanft, schließlich kann uns nicht mehr passieren, als daß wir wieder hinausgeschickt werden. Und ich hätte deine Gewächshäuser gerne gesehen. Ich habe gehört, manchmal züchtet man sogar Ananas darin.

Der Reitknecht hatte sein nachdenkliches Auge auf uns ruhen lassen, nun räusperte er sich und sagte ungnädig: Unbefugten ist der Zutritt verboten.

Er sagte es so erhaben (trotzdem doch Karla ihre schöne Pelzjacke anhatte und den wertvollen Topasring trug), als seien wir nicht wert, den schneeigen Kies vor diesem Gewächshaus gleichzeitig mit seinen Gäulen zu betreten.

Woher wissen Sie denn, daß wir unbefugt sind?! fragte Karla, sofort zornig.

Aber auch ich war aufgebracht. Haben Sie hier was zu kommandieren, heh, Sie? fragte ich zornig.

Der Reitknecht war leicht erstaunt. Regen Sie sich nur nicht auf! sagte er gönnerhaft. Ich sage bloß wie's ist. Wenn Sie den Herrn Kalübbe treffen, der ist nicht so höflich!

Das wollen wir doch mal sehen! antwortete ich bar aller Logik und riß die Tür zum Gewächshaus auf. Es wird die höchste Zeit, Karla, daß wir endlich hierher ziehen. Die sind hier ja alle verlottert!

Aber Karla war nicht gesonnen, jetzt auf dieses Thema einzugehen. Das hohe Glashaus mit seiner feuchtwarmen, atemraubenden Luft überwältigte sie.

Sieh doch, Maxe, echte Palmen! Und wie hoch! Und diese Linden, die blühen ja richtig! Ich habe noch nie Zimmerlinden so blühen gesehen. Mutters Zimmerlinde –

Leise doch, Karla! Hier sind sicher noch mehr drin.

Ich spähte durch das dichte Grün, aber es war niemand zu sehen oder zu hören, nur der Dampf zischte in den Heizungsrohren, und ein Wasserhahn tropfte auf die geriffelten weißen Fliesen.

Ich finde es auch fabelhaft. Zu denken, daß dieser Riesenkasten unser Gewächshaus ist, und vor einem Vierteljahr haben wir noch in der engen Mansarde gewohnt! Vielleicht ist Reichsein doch besser, als wir gedacht haben!

Karla sah mich nachdenklich an, sagte aber nichts.

Wir wollen versuchen, daß wir hier alles zu sehen bekommen, ohne daß uns einer sieht, fuhr ich fort. Das geht ganz leicht, wenn wir leise sind. Sobald wir etwas hören, können wir hinter das Grüne kriechen. Los Karla!

Und wir begannen unsere Besichtigung; gründlich wie im Park nahmen wir auch im Warmhaus jede Ecke mit. Wir bewunderten Dutzende von Pflanzen, von deren Namen und Art wir keine Ahnung hatten. Manche waren struppig, stachlig, eigentlich rechte Scheusäler, aber daß diese Fremdlinge bei uns in unserem Gaugartener Treibhaus gediehen, machte sie in unseren Augen schön.

Wir wechselten aus dem großen Glashaus durch einen engen Gang in ein kleineres. Hier schienen nur Topfpflanzen gezogen zu werden, zu Hunderten standen auf Regalen Alpenveilchen, auch Primeln fingen schon an zu blühen. In weiten Tonschalen blühten Krokus und Tulpen, regimenterweise wuchsen Hyazinthen in hohen Gläsern und dufteten betäubend. Als wir Töpfe mit blühenden Maiglöckchen entdeckten, wurde ich ganz kühn. Ich brach drei, vier Blütenrispen ab und steckte sie Karla an. Sie gab mir zum Dank einen Kuß auf den Mund.

Aus dem zweiten Warmhaus ging es nun in ein drittes, wieder ganz vollgestellt mit allem möglichen fleischigen Blattgewächs: Clivia und Kalla, Amaryllis und Aloe. Wir waren jetzt überzeugt davon, das Reich für uns allein zu haben, wir gingen ohne Scheu von einer Gruppe zur anderen. Aber plötzlich legte mir Karla eine Hand mahnend auf die Schulter, und wir standen stockstill ...

Hinter einer Gruppe dichtesten Grüns erklang eine knarrende Stimme: Nu haben Se sich bloß nich so, Pipping. Se wollen mich doch im Ernste nich mit so 'nem Sträußchen heimschicken! Immer ran mit der Blumenschere, alter Junge! Ich habe Ihnen einen guten, ehrlichen deutschen Taler in Ihre gierige Flosse gedrückt, und ich verlange dafür einen guten, ehrlichen Strauß, nich gerade wie 'n Wagenrad, aber doch mindestens wie 'ne bessere Torte! Wat, Lorchen?

Es dämmerte in mir. Diese knarrende Stimme kam mir bekannt vor. Ich sah Karla an, sie nickte mir zu, schüttelte aber abwehrend mit dem Kopf, als ich etwas sagen wollte.

Dafür erklang eine andere Stimme, eine kläglich jammernde, hinter dem fleischigen Blattgewächs: Aber ich darf doch wirklich nicht! Herr Kalübbe ist heute noch nicht hier gewesen, und er sieht bestimmt, daß ich was abgeschnitten habe! Es ist wirklich genug! Der Stiel Chrysanthemum kostet jetzt fünfzig Pfennige, und das sind schon zweiunddreißig Blüten ...

Der Kalübbe? Der Kalübbe kann mir im Mondschein begegnen! Schneide ab, Pipping, oder ich reiß mir selber ab, was ich will. Los da, die große Cremefarbene ...

Nicht die Cremefarbene, bitte nicht! Herrn Kalübbe ist sie erst gestern aufgefallen, und er hat gesagt, sie paßt gerade so gut zu der jungen Frau ... Sie soll ja so 'ne Gelbe sein ...

Is sie! Hat er recht, Pipping! Aber bis die jungen Leute kommen, sind all deine Chrysanthemen hier längst vermodert ...

Ich zitterte vor Wut. Hätte Karla mich nicht hinten am Mantelriegel gehalten, ich wäre vorgestürzt, Inkognito hin und Inkognito her!

Aber sie kommen jetzt bestimmt, Herr! Herr Kalübbe hat gesagt, sie kommen noch dieser Tage. Im Schloß ist schon das ganze Silber geputzt und die Wäsche ausgelegt worden ...

Rede doch keinen Stuß, Pipping! Der alte Fuchs, der Steppe, hat die fette Martinsgans viel zu fest in seinen Stall gesperrt! Der kommt im nächsten Vierteljahr noch nicht, der kleine Schafskopf ...

Hier litt es mich nicht länger. Ich durchbrach jählings Inkognito und Blattgewächs, fuhr mit dem Kopf zwischen die Streitenden und schrie: Er ist schon da, Ihr kleiner Schafskopf, Herr von Kanten! Sie sind mir ja eine wunderbare Nummer von gutem Nachbarn –!

Ich konnte nicht weiter schimpfen. Blaurot, mit hervorquellenden Augen, deren Weiß sich immer mehr rötete, starrte mich Herr Rittergutsbesitzer Dietmar von Kanten-Escheshof an. Keines Wortes war er fähig. Neben dem Fassungslosen stand der lange, schlotterige Obergärtner Pipping mit einem ganz kleinen, gallig-gelblichen Kopf (er hatte es gerade nötig, von gelber Gesichtsfarbe zu reden!). Noch begriff er nicht, was eigentlich los war – und sah doch schon jetzt so jammervoll aus!

Ganz am Rande meines Gesichtsfeldes sah ich eine sehr junge Dame in schwarzem Reitkleid, unter der Schirmkappe sah eine Locke blonden Haars hervor – aber ich hatte jetzt kein Auge für junge Damen!

Ich schluckte, ich setzte an, ich wollte wieder losdonnern – und merkte mit Schrecken, daß ich mich schon völlig verdonnert hatte. Zu sehr glichen die beiden ertappten, geständigen, schamerfüllten Sündern.

Ich – sagte ich.

Sie – fuhr ich fort.

Nein – fing ich wieder an ...

Als Karla die Situation rettete. Sie ging um das Blattgewächs herum. Sie, Pipping, sagte sie (es war das erstemal, daß ich sie einen Menschen ohne den Zusatz ›Herr‹ anreden hörte, aber sie konnte es, wahrhaftig, sie konnte auch das!) – Sie, Pipping, geben Sie mir den Strauß! –

Das Gallenköpfchen sah sie an, wie aus einer schweren Kolik heraus. Dann hielt er ihr den Strauß wortlos mit beiden Händen hin.

So! sagte Karla und nahm ihn. Und schneiden Sie mir die cremefarbene Blüte ab, die so gut zu meiner gelben Haut paßt.

Unter tiefem, atemlosem Schweigen geschah auch das.

Danke! sagte Karla. Und jetzt geben Sie dem Herrn seinen Taler wieder. – Bei uns, Herr von Kanten, werden von nun an die Leute so bezahlt, daß sie sich nicht mehr bestechen lassen müssen. Guten Tag! Komm, Maxe ...

Ich unterlag ihr wie die anderen auch, ich schlich fast hinter ihr her.

Gnädige Frau! gurgelte Herr von Kanten, als sie an ihm vorbeirauschte, Sie ... ich ...

Aber es wurde immer mehr Gurgeln, nichts Verständliches kam mehr heraus.

Außerdem war Karla schon längst im nächsten Warmhaus, ich machte, daß ich ihr nachkam. Von der Seite sah ich sie an. Sie hatte ihre fest geschlossenen, fast weißen Lippen, die senkrechte Falte zwischen den Brauen – Zeichen ihres äußersten Zorns. Es war besser, sie jetzt nicht anzusprechen ...

Leider wußte Fräulein von Kanten das nicht, die uns nachgeeilt kam.

Gnädige Frau! rief sie lachend und sah dabei wunderhübsch aus. Ich mache ihnen mein Kompliment! Das haben Sie großartig gemacht! Wenn mein alter Erzeuger erst seinen Schreck überwunden hat, wird er Ihr glühendster Verehrer werden!

Karla blieb so jäh stehen, daß ich auf sie aufrannte.

Nimm dich doch in acht, Max, rief sie ärgerlich. Ich brauche Ihr Kompliment nicht! sagte sie böse zu Fräulein von Kanten. Aber Ihr Vater scheint Ihre Erziehung zu brauchen! Guten Tag!

Sie ging weiter, und ich fand es recht töricht, daß das Fräulein zu seiner neuen Niederlage nur lachte!

Ich übergehe jetzt eilig die erst erstaunten, dann protestierenden Augen des Reitknechtes, der Karla mit einem Riesenstrauß schönster Chrysanthemen ›ganz unbefugt‹ aus dem Warmhaus kommen sah. Wir hatten jetzt keine Zeit für solche Kleinigkeiten. Karla suchte schweigend, aber schnell ihren Weg. Sie ging direkt am verbotenen Schloß vorbei, über die Auffahrt, die Lindenallee hinunter zum Torhäuschen hin, das wir vor ein paar Stunden noch so glücklich bewundert hatten.

Jetzt war Karla nicht glücklich, sondern bloß zornig. Herr Kleibacke machte einen Versuch, uns aufzuhalten. Nanu! rief er schon von weitem. Der Pipping ist wohl verrückt geworden! Kann er Ihnen die Blumen nicht wenigstens einwickeln, damit sie nicht jeder sieht?! Halt mal, junge Frau ...

Aber Karla ging direkt auf ihn zu, vor so viel Entschlossenheit mußte er zur Seite treten.

Junge Frau, rief er noch einmal ganz verwirrt. Wenn Sie der Kalübbe so sieht! Das ist ja Diebstahl, junge Frau –!

Aber Karla war schon auf der Straße.

Mein Name ist Schreyvogel, konnte ich mich nicht enthalten, ihm im Vorübergehen zuzurufen, und ich sah, wie sein schwammiges Gesicht wirklich völlig grau wie Kleierde wurde.

Nach der anderen Seite, Karla! rief ich und lief ihr nach. Nach der anderen Seite doch! Dort liegt das Dorf!

Ich will nicht durchs Dorf! rief Karla leidenschaftlich und setzte sich auf einen Prellstein an der Mauer unseres Parkes. Ich will durch kein Dorf! Ich will keinen Menschen sehen! Führ mich einen Weg, Maxe, wo ich keinen Menschen sehe! Ich kann keinen Menschen mehr sehen –!

Und sie brach in ein fassungsloses Weinen aus.

Aber, Karla, rief ich verblüfft, warum weinst du denn?! Du hast es doch großartig gemacht! Du hast sie alle zerschmettert!

Ich will sie aber nicht zerschmettern! rief sie heulend. Ich will sie gern haben! Ich will kein Drache werden! Oh, Max, Max, ich habe eine solche Wut auf mich! Ich schäme mich so! Einen alten Herrn mit einer erwachsenen Tochter so zu behandeln! Ich habe solche Wut auf mich! Zertrampeln möchte ich die Blumen. Aber die armen schönen Blumen können auch nichts dafür! Bitte, Maxe, erlaube mir, daß ich dich ein bißchen am Haar reiße! An irgend etwas muß ich meine Wut auslassen, und ich will es auch bestimmt nicht schlimm machen ...

Ich erlaubte es ihr – und es wurde wirklich nicht schlimm. Nicht darum, weil ihre Wut nur noch klein war, denn das war sie nicht. Sondern weil Hufgetrappel uns aufscheuchte. Wir mußten uns eilig vor den heimreitenden Herrschaften Kanten hinter einem Gebüsch verstecken; wir ersparten beiden Besiegten gerne den Anblick ihrer Sieger! –

*

 


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