Max Eyth
Im Strom unsrer Zeit. Zweiter Teil. Wanderjahre
Max Eyth

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122.

Paris, den 9. November 1878.

Das Ende ist in Sicht. Niemand scheint darüber vergnügter zu sein als diejenigen, die den Nutzen der Weltausstellung gehabt haben sollten, die Aussteller und die Pariser. Für beide hatte die große Komödie zwei Seiten, und beide sind nur allzu geneigt, gegen den Schluß hin die Kehrseite zu betrachten. Besonders glücklich hat eine Ausstellung niemand gemacht, den ich kenne, besonders unglücklich schon viele. Interessant und schwierig ist es deshalb, zu ergründen, worin der Reiz liegt, welcher Land und Leute immer wieder verführt, das große Experiment in stets größerem Maßstab zu wiederholen.

Die Aussteller selbst sind nicht schuld daran. Wenn man je Hunde zum Jagen getragen hat, so ist es bei ihnen der Fall. Selbst in England, wo man Ausstellungen versteht und zu handhaben weiß, erwecken sie Stöhnen und Fluchen gerade in solchen Kreisen, für deren Vorteil sie angeblich gehalten werden. Wie kann es anders sein? Den Bedarf des Weltmarktes können sie nicht wesentlich vermehren. Sie bieten dagegen ein glänzendes Feld zur Entfaltung des Wettbewerbs. Die Kleinen können sich hier durch bunte Farben und viel Geschrei mehr hervortun als irgendwo; dafür leiden sie unter den Kosten der künstlichen Prunkentwicklung um so mehr. Die Großen können kaum gewinnen. Kein Wunder, daß aus dem Festland die Regierungen alle Hebel ansetzen müssen, um die zögernden Truppen in Bewegung zu bringen. In England tut dies die eiserne Notwendigkeit der kaufmännischen Verhältnisse. Man gewinnt wenig durchs Kommen, aber man kann viel verlieren durchs Wegbleiben. Und so stürzen sie denn alle wieder herbei, so oft es klingelt, putzen ihre Maschinen heraus und ihre Glaswaren oder Goldsachen, werfen ihr Geld zu Tausenden hinaus, um sich gegenseitig zu überbieten, und hoffen – umsonst! –, daß es diesmal endlich das letztemal sein werde.

Diese Stimmung hinter den Kulissen hindert jedoch nicht, daß die Ausstellung einen glänzenden Eindruck machte. Millionen standen dem Unternehmen zu Gebot. Noch nie wurden großartigere Gebäude errichtet, um der Welt den Reichtum der Welt zu zeigen; noch nie barockere, unter uns gesagt. Die Kaiserpaläste des alten Roms bedeckten weniger Morgen Landes, und die Prachtbauten der Renaissance kann man bequem in unsern Galerien aufstellen. All das, Hallen, Galerien, Pavillons, Springbrunnen und Gärten, wurde in zwei bis drei Jahren auf einen Riesenexerzierplatz hingezaubert, dient sechs Monate lang, von denen gewöhnlich zwei dem Anstreicher geopfert werden müssen, und wird dann vom ersten Novemberwind wieder weggeblasen! Ist's nicht, als ob man ein Märchen erzählte? Dazu in unsrer praktischen Zeit! Darin liegt vielleicht das Verführerische dieser modernsten Rieseneintagsfliegen. Niemand wünscht sie herbei; die meisten fürchten sie wie Moskitos; aber sie glänzen in der Sonne eines Sommers falschen Diamanten zum Trotz. Man kann nicht anders, die ganze Welt jubelt einen Augenblick. Und das scheint zu genügen, um das eigenartige Fieber chronisch zu machen. Heute schon fragt man da und dort, wo und wann es das nächstemal ausbrechen werde. Es ist fast wie in der Zeit der Kreuzzüge. Nur sind unsre Heiligen gar wunderliche Patrone.

Oder sind es, wenn es die Aussteller nicht sind, vielleicht die Besucher, denen die Weltausstellungen zugut kommen? Wenn ich eine Umschau halte unter meinen Bekannten aus nah und fern, so finde ich, wie der Herr bei Sodom und Gomorrha, nicht fünf darunter, welchen die Ausstellung gerecht geworden wäre. Die erste Klage ist, daß nichts Neues zu finden, die zweite, daß es »zu viel« sei.

Beides ist wahr. Dem Kundigen kann die Ausstellung kaum etwas Neues bringen. Mit unsern gesteigerten Verbindungsmitteln, mit Telegraphen, Eisenbahnen und der Presse sind wir uns alle so nahe gerückt, daß nichts von Bedeutung auf dem ganzen Erdkreis auch nur wochenlang für den verborgen bleibt, der sich ernstlich dafür interessiert. Nehmet ein Beispiel. Der Phonograph ist nahezu während der Ausstellung erfunden worden und wurde natürlich auch hier sobald als möglich ausgestellt. Aber es ist trotzdem höchst unnötig, nach Paris zu kommen, um unsre Wißbegier zu befriedigen. San Franzisko, Philadelphia, London, und ohne Zweifel auch Berlin, St. Petersburg, ja weit kleinere Städte bieten dem neugierigen Publikum bereits alles, was das Marsfeld von Edisons Erfindung zu zeigen vermag. Für jeden, der im Oktober nach Paris kam, war sie schon keine Neuigkeit mehr. Wir haben uns in dieser Beziehung während der letzten fünfundzwanzig Jahre gewaltig geändert, und der mächtige Eindruck, den die Weltausstellung von 1851 zurückgelassen hat, ist heute nicht mehr zu erzielen.

Noch schlimmer in ihrer Wirkung ist die zweite Klage. »Zuviel!« Wer will es alles fassen und begreifen? Für wen kann die Unmasse des Gebotenen von irgendwelchem Wert sein? Ich lernte Ausstellungsbesucher kennen, die am dritten Tage hilflos zusammenbrachen, und wieder andre, die einen Monat brauchten, um sich fürs Irrenhaus reif zu studieren. Goethe hat recht: »In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister.« Wer bliebe Meister, einer solchen Riesenaufgabe gegenüber? Und was kann der Zweck sein, sie bemeistern zu wollen? So bleibt uns zuletzt doch nichts als ein allgemeiner Gesamteindruck der großen, bunten, für den beschränkten Geist des einzelnen unfaßbar mannigfaltigen Tätigkeit der ganzen Welt. Es ist das zu Form und Farbe gewordene Pathos. Es ist eine schillernde Seifenblase, in der sich die fünf Weltteile bespiegeln, ehe sie morgen abend um sechs Uhr zerplatzt.

Das ist die Kehrseite einer Denkmünze, welche allerdings diesmal glänzender erscheint als je. Denn der äußere Erfolg übertrifft jede Erwartung. Zwölf bis dreizehn Millionen Menschen haben ihren Frank an den Toren der Ausstellung bezahlt. Freilich hat sie auch den Staat und die Stadt etliche vierzig bis fünfzig Millionen gekostet und die Aussteller ungezählte Summen. Aber Paris war doch sechs Monate lang zum Ersticken voll, und die Millionen, die hierdurch in sein Weichbild geschleppt wurden aus aller Herren Länder, sollten wenigstens die Pariser mit Dankbarkeit und Zufriedenheit erfüllen. Sie tun es nicht. »C'est assez enfin!« ist ein Stoßseufzer, den man auf allen Straßen hört, und jeder Pariser dankt heute seinem Gott – denn auch die Pariser haben ihre Götter –, daß es vorüber ist. Den Chor der Aussteller, ein Tedeum in hundert Sprachen, wage ich nicht wiederzugeben.


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