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Organisation

(1920)

Wenn man die geistigen Bewegungen der Menschen betrachtet, so wird man immer unterscheiden müssen zwischen den allgemeinen Bewegungen der großen Menge und den geistigen Leistungen der bedeutenden

Menschen. Man kann den Schnitt nicht scharf ziehen, denn auch der bedeutendste Mensch kann sich nicht ganz frei machen von dem Druck, welchen die große Menge auf seinen Geist ausübt; es ist hier eines jener Verhältnisse, welche begrifflich nie ganz klar dargestellt werden können. Jedenfalls wird jeder zugeben, daß man in der Wirklichkeit möglichst dafür zu sorgen hat, daß die Wirkung der bedeutenden Menschen auf die sogenannte Entwicklung des geistigen Lebens nicht allzusehr behindert wird.

Wir wollen ein Beispiel wählen.

Etwa um 1830 brach der deutsche und mit ihm der europäische Idealismus zusammen. Es folgte eine Zeit des Materialismus, vertreten durch keinen einzigen bedeutenden Manschen. Die Gegenwirkungen gegen den Materialismus beginnen in den sechziger Jahren, sie gehen auch nicht von irgendwie bedeutenden Menschen aus: ihr erstes Zeichen ist wohl der Spiritismus und die Vorläufer des heutigen Gesundbetens in Amerika. Diese Gegenwirkungen fanden ihren stärksten Widerstand in Deutschland; nicht weil Deutschland besonders materialistisch gewesen wäre; sondern weil in Deutschland die Wissenschaft am besten organisiert war, und die Wissenschaft steht natürlich immer auf dem Boden der jeweils herrschenden Weltanschauung. Die deutschen Professoren legten gegen das, was sie als amerikanischen Schwindel bezeichnen mußten, sofort die kräftigste Verwahrung ein, und da sie vernünftige, ehrenhafte und gebildete Männer waren, so glaubten die Deutschen natürlich ihnen und nicht den sehr verdächtigen amerikanischen Versuchspersonen. Es gab auch unter den deutschen Gelehrten damals selbständig denkende Männer, welche es für richtig hielten, die merkwürdigen Erscheinungen zu untersuchen, und welche Philosophen genug waren, um den herrschenden Materialismus kindlich zu finden. Zöllner machte in Gemeinschaft mit Weber und Fechner Versuche mit einem amerikanischen Medium; er hatte den Mut, seine wissenschaftlichen Ansichten öffentlich zu vertreten; das Ergebnis war, daß ihn die andern Gelehrten für mindestens nicht mehr wissenschaftlich ganz zurechnungsfähig hielten. Es kamen unter den Aufregungen der Zeit eigentümliche Erscheinungen bei begeisterten Katholiken. Eine gewisse Luise Lateau zeigte an ihrem Körper die Wundmale Jesu und fand großen Zulauf gläubiger Personen. Virchow, der damals einen großen Ruf hatte, schrieb eine Schrift und fand, daß die Lateau eine Schwindlerin sei; heute ist wohl allgemein wissenschaftlich die Möglichkeit solcher Erscheinungen angenommen, und wenn Virchows Nachfolger eine heutige Lateau untersuchen würde, so würde er die Ehrlichkeit der Erscheinungen wohl nicht mehr bezweifeln. In der Schrift, welche Virchow damals schrieb – sie hatte als Titel »Über Wunder« – sagte er ganz offen: »Man freut sich nicht, neue Erscheinungen zu sehen; im Gegenteil, sie sind oft peinlich.« Er hat damit ein sehr wahres Wort ausgesprochen. In der Tat, »man« findet alles Neue peinlich, und wenn »man« die Macht hat, so unterdrückt »man« es. »Man« ist dabei durchaus kein bösartiger oder dummer Mensch; »man« ist eben nur einfach ein Mensch, wie die Menschen sind.

Es ist ja sehr gut, daß den Menschen alles Neue peinlich ist und daß sie sich nicht freuen, neue Erscheinungen zu sehen. Die Welt ist schon so, wie sie ist, unruhig und aufgeregt genug. Wenn die Menschheit jeder neuen Anregung Folge geben würde, so würde sie bald geistig erkranken; vielleicht kann man die Übel unserer heutigen Zeit zum großen Teil aus einer geistigen Erkrankung herleiten, welche durch zu schnelles Aufnehmen neuer Erscheinungen gekommen ist.

Aber bei allen gemeinsamen Betätigungen der Menschheit geschieht es, daß nicht die wirklichen Gründe für sie vorgebracht werden, sondern irgend welche vorgeschobenen allgemeinen Erwägungen, welche man ja denn wohl, wenn man bitter ist, als Lügen bezeichnen kann. Als Virchow den Fall Lateau untersuchte, da sagte er nicht, daß man nun einen ordentlichen und vernünftigen Wissenschaftsbetrieb habe, wo man mit dem Vergrößerungsglas arbeite und mit dem Proberöhrchen, wo man eine Menge wertvoller Ergebnisse gewonnen habe und sich nicht stören lassen wolle durch irgendwelche Kräfte, welche weder mit dem Vergrößerungsglas, noch mit dem Proberöhrchen untersucht werden können; sondern er sprach von der Würde der Wissenschaft, für die es keine Wunder gebe. Damals hallte noch ein wissenschaftlicher Streit nach, in welchem ein Mann ganz vernünftig erklärt hatte, Wissenschaft sei Wissenschaft, aber es gebe auch noch Dinge außer der Wissenschaft, in denen ein Köhler unter Umständen besser Bescheid wisse, wie ein Professor. Der »Köhlerglaube« wurde als eine ganz verächtliche Erscheinung hingestellt, der Bezirk und die Form der gerade herrschenden Wissenschaft als »die Wissenschaft« bezeichnet, diese »Wissenschaft« nun noch außerdem mit einem Heiligenschein versehen, der ihr gar nicht zukam, auch wenn sie umfassender gewesen wäre; und so wurde gegen die unglücklichen Vertreter des Neuen mit Mitteln gekämpft, welche nur nach dem Grad, nicht nach der Art verschieden waren vom Scheiterhaufen, mit welchem die mittelalterliche Kirche die Vertreter des Neuen bekämpfte.

Noch einmal: der Haß gegen das Neue ist nötig. Es ist auch nötig, daß ein gewisser Kampf gegen das Neue stattfindet. Wahrscheinlich erfordert dieser Kampf die Selbstlüge bei den Vertretern des Alten, daß sie – je nachdem – die Vernunft, die Sitte, die Religion, kurz irgendwelche heiligsten Güter der Menschheit zu schützen haben; aber man muß wenigstens genau wissen, was dieser ganze Vorgang bedeutet, denn sonst kann es geschehen, daß die beharrenden Mächte zu stark werden und das ihnen unbehagliche Neue überhaupt völlig unterdrücken.

Es klingt vielleicht auffällig, wenn ich behaupte, daß diese letztere Gefahr heute vorliegt.

Jede Zeit hält sich für die tugendhafteste, klügste, fortgeschrittenste und fortschreitendste, die es je gegeben hat. Sie betont deshalb ihre Eigentümlichkeiten, die sie vor andern Zeiten auszeichnen, immer als besondere Errungenschaften und Fortschritte; diese Eigentümlichkeiten sind aber natürlich nichts weiter, als die Ergebnisse ihrer besondern Lebensbedingungen und haben an sich gar keine Beziehung zu Fortschritt oder Rückschritt der Menschheit und gar keinen unbedingten Wert oder Unwert.

Wir erleben jetzt den Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaftsordnung und die Entstehung einer neuen Gesellschaftsordnung. Die Einen glauben, daß diese Ordnung sozialistisch ist; vielleicht kann man mit mehr Recht annehmen, daß der nationale Kapitalismus sich in einen Weltkapitalismus verwandelt – welcher denn freilich etwas wesentlich Verschiedenes vom nationalen Kapitalismus ist, wie etwa die Villa zur Karolingerzeit etwas wesentlich Verschiedenes von der Villa zur Zeit Trajans war – innerhalb dessen sich eine sozialistisch geordnete Gesellschaft bildet, die als Ganzes Ausbeutungsgegenstand des Weltkapitalismus ist, wie etwa der sozialistische Jesuitenstaat in Paraguay Ausbeutungsgegenstand des Jesuitenordens war. Vielleicht ist auch das nicht richtig, kommt auf die Dauer eine Rückkehr zur einfachen Naturalwirtschaft und Vernichtung der Zivilisation heraus. Nun, sei das wie es wolle: jedenfalls beginnt eine Zeit, wo auf alle Fälle zunächst noch vielmehr organisiert wird, wie bisher.

Noch vielmehr, denn im Vergleich zu früheren, freien Zeiten der Menschheit hat man schon bis 1914 organisiert genug, wie man schon am Beispiel der deutschen Wissenschaft sah, welche den Okkultismus ablehnte, weil sie zu gut organisiert war.

Organisation bedeutet die Unterdrückung des einzelnen zugunsten einer Gesamtheit. Da alles Neue, alles Bedeutende vom Einzelnen ausgeht, so bedeutet sie die Unterdrückung des neuen Lebens zugunsten des alten und des Bedeutenden zugunsten des Mittelmäßigen. Das muß man sich klar machen.

Natürlich ist die Sache nicht so, daß man sich sagen kann: »Organisation hat unzweifelhaft viele Vorzüge; sie hat ja freilich, wie eben behauptet wird, auch ihre Nachteile; wir wollen prüfen, ob die Vorteile die Nachteile überwiegen und uns dann entscheiden.« Sondern wir werden überhaupt nicht gefragt, das Weitergehen der Organisation ist eine Notwendigkeit, gegen die sich niemand sträuben kann. Nur die allgemeine Regel ist, daß jede Organisation den Geist hemmt durch Unterdrückung der selbständigen Menschen und durch Begünstigung der Mittelmäßigkeit. Man mache sich das klar: und man suche wenigstens, ähnlich wie man Naturschutzparks erhält, künstlich irgendwelche Winkel zu schützen, in welchen die alte Unordnung bestehen kann. Man glaube: das höhere Leben ist nicht möglich ohne solche Winkel der Unordnung, und irgendeine Lebensmöglichkeit sollte man doch in unsrer sozial denkenden Zeit auch den wertvolleren Menschen zugestehen.


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