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O gib vom seidnen Pfühle...

Bei der Regierung zu H. wurde ein Assessor von Werther beschäftigt, ein sehr tüchtiger und begabter Mann, von dem jeder annahm, daß er eine große Laufbahn vor sich habe, wenn es ihm wenigstens glücken sollte, eine wohlhabende Frau zu gewinnen, denn er war vermögenslos. Aber man durfte wohl annehmen, daß das ihm glücken würde, denn er sah stattlich aus, war gesund, hatte ein liebenswürdiges Wesen, und es hätte nicht der geringste Grund vorgelegen, weshalb ein Mädchen, das er begehrte, ihn nicht lieben sollte.

Der Präsident der Regierung hatte mehrere Söhne und eine einzige Tochter namens Anna, welche nun eben im Heiratsalter war.

Anna galt in ihrer Gesellschaft als ein ausnehmend schönes und begabtes Mädchen. Die jungen Herren von der Regierung pflegen ja einen durchaus auf das Wirkliche gerichteten Sinn zu haben, aber beim Gericht findet sich immer der eine oder andere schwärmerische Referendar, der ja dann meistens Rechtsanwalt wird; aus diesem Kreise, welcher sich sehr schnell ändert, empfing Anna besonders viele Huldigungen; freilich waren die Huldigenden eben immer junge Männer ohne Gewicht. Bei den ernsthaften Bewerbern stand im Wege, daß die Vermögensverhältnisse der Eltern als nicht günstig galten, denn durch die Erziehung und Ausstattung der drei Brüder war das kleine Vermögen aufgebraucht, welches Annas Mutter von ihren Eltern ererbt hatte.

Herr von Werther saß bei einer Gesellschaft neben Anna. Herren im Frack mit Orden, in weißer Hemdbrust, mit funkelnden Brillen, bunte Uniformen, Damen in ausgeschnittenen Kleidern, mit blitzenden Edelsteinen, Geräusch und Gesurr der Stimmen über den Tisch, Klappen von Fächern, nickende Blumen in Gefäßen, Körbchen mit Obst und Süßigkeiten, Weingläser verschiedener Art neben den Tellern, das Kommen und Bedienen der Leute, das in ganz anderem Schrittmaß geschah – das seltsam aufregende Ganze des Festmahles wirkte auch auf die beiden, daß plötzlich eine Gemeinschaft zwischen ihnen war, eine Vertrautheit und Heimlichkeit, ein Gefühl des Zusammengehörens in einer fremden Menge, wo denn Türen der Seele sich öffnen und Worte gesagt werden, die den Menschen sonst nie über die Lippen kommen würden aus Scheu und Befangenheit.

Was war es denn, das sie sich sagten? Als sie am andern Morgen sich jedes die Worte bedachten, die sie ja genau auswendig gemerkt hatten, da war ihnen, als seien das ganz gleichgültige Gesellschaftsgespräche gewesen, die sie geführt. Es mußten in jenen Augenblicken doch diese nun gleichgültigen Gespräche einen geheimen Sinn gehabt haben, der unmittelbar das Gefühl anregte, die Gespräche mußten nicht das Wichtige gewesen sein. Sie hatten aber vom Theater geredet, von einer Sängerin, welche Lieder gesungen, von einem Buch, welches gerade von allen Leuten gelesen wurde; es war dasselbe gewesen, das sie in früheren Gesellschaften schon gesagt und in späteren noch sagen würden, und das alle Damen und Herren ihres Alters in ihrem Kreise auch sagten, wenn sie sich in einer Gesellschaft trafen.

Die Präsidentin sprach mit ihrem Mann über Anna. Sie bat ihn, Herrn von Werther etwas an sich heranzuziehen. Der Präsident sah sie mit einem müden Gesichtsausdruck an und nickte mechanisch mit dem Kopf. Die Frau erschrak, umarmte ihn, und fragte besorgt: »Ist dir etwas, Lieber?« Er schüttelte den Kopf, küßte sie auf die Stirn und ging.

Herr von Werther wurde von der Präsidentin auffallend bevorzugt. Er war eine Waise, seine Eltern waren früh gestorben, er war in bedrängten Verhältnissen aufgewachsen; es fehlte ihm an der Leichtigkeit, welche notwendig ist, und er hatte außer den gesellschaftlichen Beziehungen, welche sich aus seiner Stellung ergaben, keinerlei Verkehr in Familien. So war ihm die Freundlichkeit der Präsidentin sehr nützlich. Er wußte ja wohl, daß der Präsident und seine Gattin seine Neigung zu Anna gemerkt hatten, er bekam auch Anspielungen von Amtsgenossen zu hören, daß er seine Laufbahn sehr geschickt einleite; zuweilen dachte er auch an ein späteres Leben mit dem lieblichen und klugen Mädchen, und eine tiefe Sehnsucht nach Glück überkam ihn. Es geschah ihm sonst nie, daß er Dichtung las; nun nahm er sich Goethes Gedichte aus dem Schrank, blätterte und las und dachte an Anna.

Anna hatte eine Freundschaft, wie so Mädchenfreundschaften sind, mit der einzigen Tochter eines sehr reichen Fabrikanten, welche den Namen Marie führte. Marie war vielleicht nicht häßlich, aber unschön; sie war klein gewachsen, hatte ein gewöhnliches Gesicht, ausdruckslose graue Augen, und vielleicht verlieh nur ein Schein einer großen und harmlosen Güte, der über ihr ganzes Wesen strahlte, ihr eine gewisse Anziehung. Marie mit ihren Eltern war durch ihre Freundin in die Gesellschaft der Beamten und Offiziere gekommen, wo sie denn als der Goldfisch galt. Anna hatte auf Bällen gewiß nie Mangel an Tänzern, vielleicht mußte Marie eher einmal einen Tanz aussetzen, aber die beiden Mädchen fühlten doch genau, daß Marie umschwärmt wurde und Anna fast einsam blieb. Sie sprachen einmal darüber, und Marie meinte, daß Anna für die jungen Herren zu klug und gebildet sei; sie dachte an Herrn von Werther, zu dem sie eine stille, ja uneingestandene Liebe fühlte, und sie war stolz darauf, daß der stattliche Mann die Freundin auszeichnete, der als der begabteste in dem ganzen Kreis anerkannt war; sie konnte es nicht sagen, aber sie fühlte, daß Herr von Werther ihrer Freundin alle anderen Verehrer ersetzen konnte, die möglich gewesen wären.

Herr von Werther war auch mit Mariens Eltern bekannt geworden, er hatte Besuch gemacht und war eingeladen. Marie freute sich, daß er Gast im Hause ihrer Eltern wurde und machte sich nicht klar, ob er besondere Gründe haben mochte, sie fühlte eine leichte Verstimmung ihrer Freundin, aber kaum hatte sie die gefühlt, als Anna auch durch vermehrte Herzlichkeit den Eindruck verwischte, den sie wohl bemerkt hatte. Wie oft wissen wir nicht, welche Gründe uns bewegen, was wir eigentlich erstreben, die beiden jungen Mädchen spürten wohl, daß zwischen ihnen eine Entfremdung kam, aber sie machten sich deren Gründe nicht klar, mochten sie sich vielleicht nicht klarmachen, und so blieb denn ihr Verhältnis das alte, mit Küssen, Tändeln, Schwatzen und Kichern und allen jenen oft scheinbar kindlichen Äußerungen der weiblichen Jugend, die doch immer einen tief verborgenen Sinn haben.

An einem Abend ging Marie allein nach Hause, nachdem sie sich von der Freundin verabschiedet hatte. Es lag Schnee auf den Straßen, die Tritte der Menschen knirschten, und sie fühlte einen unerklärlichen Jubel im Herzen. Ihr Elternhaus war durch ein Vorgärtchen von der Straße geschieden. Sie sah das Zimmer des Vaters erleuchtet, das Zimmer der Mutter, das Wohnzimmer, und plötzlich wußte sie: »Er ist da.« Sie erglühte vor Beschämung und zögerte, den Drücker der Tür in die Hand zu nehmen, aber dann schüttelte sie den Kopf, griff fest zu, öffnete, die Glocke schellte, das Mädchen kam, nahm ihr die Sachen ab, am Kleiderhaken hing sein Hut und Mantel, das Mädchen erzählte: »Der Herr Assessor ist da«, sie sprach: »So? Ich gehe auf mein Zimmer.«

Sie saß auf ihrem Zimmer im Dunkeln auf einem Stuhl vor ihrem Schreibtisch, ihr Herz pochte. Die Mutter trat ein. Mit freundlicher Stimme fragte sie, weshalb sie im Dunkeln sitze, sie antwortete nicht. Die Mutter trat zu ihr, Marie barg ihren Kopf an der Brust der Mutter und weinte, die Mutter streichelte ihr das Haar und sagte: »Wir wollen dir ja nichts in den Weg legen. Er soll uns recht sein als Sohn, er ist ein tüchtiger Mann und er wird dich lieb haben.« Tränen tropften auf den Kopf Mariens.

Marie dachte an die Freundin. Hätte sie das fassen können, was sie fühlte, dann hätte sie sich gesagt, daß sie schuldig sei gegenüber Anna. Aber dergleichen blieb tief im Untergrund ihrer Seele, und durch eine eigentümliche Verknüpfung der Gedanken war das erste, das sie ihrer Mutter sagte: »Wird er sich mit mir auch so gut unterhalten können wie mit Anna?« Die Mutter lächelte, sie wußte ja nichts von der Gedankenverknüpfung, und hielt den Ausspruch für eine Äußerung von Mariens Kindlichkeit. Sie sagte: »Nun mußt du mit in die Wohnstube kommen.«

Marie sah nichts, als sie in die Wohnstube trat; sie fühlte nur, wie ihre Hand hochgehoben, zart gedrückt wurde; der kurze Schnurrbart stachelte den Handrücken. Dann lag sie in den Armen des Vaters und an seiner nassen Backe. Sie dachte sich: »Weshalb weine ich denn nicht? Die Eltern weinen. Aber vielleicht ist es gut, wenn ich nicht weine, ich sehe dann häßlich aus.«

Marie schlief spät ein und wachte am andern Morgen früh auf. Sie dachte, daß sie ihre Freundin besuchen mußte, um ihr die Verlobung mitzuteilen; aber da fühlte sie einen so heftigen Kopfschmerz, daß sie bat, ob sie im Bett liegen bleiben dürfe. Die Mutter sorgte zärtlich für sie, sie streichelte der Mutter die Hand, und indem sie sich von der Freundin abgewendet fühlte, spürte sie eine besondere und neue Liebe zu der Mutter. Sie schrieb einige Zeilen auf einen Briefbogen, erzählte Verlobung und Krankheit und sandte der Freundin Grüße.

Als Anna den Brief gelesen hatte, preßte sie ihre Lippen zusammen und reichte ihn schweigend ihrer Mutter. Deren Hand zitterte, als sie las; sie sagte: »Das ist ja eine erfreuliche Verlobung. Ich habe zu Herrn von Werther immer eine besondere Zuneigung gehabt, und die gute Marie wird einen trefflichen Gatten bekommen.«

Anna sagte mit Anstrengung: »Die Gute hat heftige Kopfschmerzen; man kann sich wohl denken, die Aufregung war gewiß groß. Es wäre wohl richtig, wenn ich sie besuchte. Vielleicht kann ich ihr irgendwie nützlich sein.«

Die Hochzeit wurde bald gefeiert. »Ich werde an der Hochzeit teilnehmen müssen, es wird schon ohnehin genug gesprochen werden,« sagte Anna zu ihrer Mutter. Die Mutter ergriff ihre Hand, die Tränen standen ihr in den Augen und sie wollte der Tochter ein tröstendes Wort sagen. Aber Anna wendete sich ab und sagte: »Es ist nicht so, wie du wohl denkst. Ich dachte ja wohl, was ich fühlte, das wäre – nun, das wäre etwas anderes. Du mußt nicht lachen; ich habe Romeo und Julia noch einmal gelesen. Ich bin keine Julia. Ein Mädchen aus guter Familie ist wohl nie eine Julia. – Du mußt nicht denken, daß ich das bitter sage. Ich bin nur verwundert.«

Die Mutter machte eine Bemerkung über Herrn von Werther. »Ach,« erwiderte Anna, »gute Mutter, auch er ist ja ganz anderes, wie du denkst. Er ist ein braver Mensch, er ist vielleicht nicht sehr entschlossen, denn sonst hätte er nicht so viel bei uns verkehrt; daß er mich nicht heiraten konnte, das wußte er ja, wie ich es wußte; aber es war ja bei ihm wohl noch so etwas da, was man gewöhnlich Liebe nennt.« Sie dachte – sie dachte das nicht wörtlich so, aber sie dachte es fühlend: »Wenn er ein Romeo gewesen wäre, vielleicht wäre ich dann eine Julia.«

Herr von Werther ging unruhig in seinem Zimmer auf und ab. Gedankenlos griff er zu dem Band Goethescher Gedichte und schlug ihn auf. Da fiel sein Auge auf die wunderschönen Verse:

»O gib vom seidnen Pfühle
Träumend ein halb Gehör.«

Sein Auge füllte sich mit Tränen, und eine Träne tropfte auf das Buch.


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