Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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VI. Kapitel.

Warum Asmus den Milchtopf zerschlug, warum er keine Aussicht auf den Himmel hatte und warum er ein dummes Gesicht machte.

Inzwischen rückte die Weihnacht näher und näher. Asmus hatte sich zwei Schillinge erspart, und für diese wollte er seiner Mutter einen Milchtopf schenken. Mit dem Milchtopf in der Hand stand er harrend vor der Tür, die nach Weihnachten führt. Sein Herz klopfte; denn seltsame, ungreifbare Gerüchte, geflüsterte Warnungen und geraunte Andeutungen hatten seit Tagen die Luft durchschwirrt. Man hatte ihn oft von der Seite angesehen und dabei gelacht. Als nun langsam und leise knarrend die Tür aufging und ein Schimmer sichtbar wurde, setzte er sich in Sturmlauf.

»Da, Mutter, hast 'n – – Griff«, sagte er, denn mit dem Milchtopf war er gegen den Türpfosten gerannt, und nur noch den Griff hielt er in der Hand. Und was für ein wundersamer Tag dies war, das konnte man daran sehen, daß die Mutter, als er ihr ängstlich ins Gesicht sah, nicht zürnte und schalt, sondern laut lachte; alle lachten sie laut, alle. Da stürmte er fröhlich weiter und fand nun auf dem Weihnachtstische – ein Puppentheater.

Er stand davor und wagte nicht zu fragen, wem es gehöre. Anzunehmen, daß es ihm gehöre, schien ihm eine ungeheure Unbescheidenheit, und die Antwort, daß es nicht für ihn dahingestellt sei, mochte er nicht herausfordern. Ueberhaupt begriff er nicht, wie diese Herrlichkeit in sein armes Elternhaus käme. Endlich faßte er sich einen Mut und fragte:

»Von wem habt ihr das geliehen?«

Da lachten wieder alle und riefen durcheinander, das habe sein Bruder Johannes für ihn gemacht und es gehöre ihm.

Nun konnte Asmus nur immer ganz kurz hervorstoßen: »O – o – o –«; plötzlich suchte er seinen Bruder Johannes, stürzte auf ihn zu und drückte den Kopf ganz fest gegen dessen Leib, und dann kehrte er zum Theater zurück.

Eine Dekoration mit Bäumen war aufgestellt; der Erbförster Kuno, Caspar, Max, der Bauer Kilian und mancherlei Volks standen auf der Bühne. Die ganze Bühne bestand aus einem einzigen Brett, das die Welt bedeutete. In diese Welt hatte man Löcher gebohrt, und in die Löcher wurden mittels Zapfen das Proszenium, die Kulissen und der Hintergrund gesteckt. Das war die ganze Maschinerie, und doch hat sie größere, seligere Wunder bewegt als der raffinierteste Apparat vom Meister Lautenschläger! Die Figuren waren in einer einzigen und meistens noch schnell vorübergehenden Situation festgehalten; der Bauer Kilian schabte Max, dem Jägerburschen, Rübchen, solange er auf der Bühne stand; die junge Gräfin vom Strahl hielt bei ihrer Vermählung krampfhaft das Bündel fest, das sie als Kätchen aus dem Elternhause mitgenommen, und die Vertreter der drei Waldstätte schwuren mit einer beispiellosen Ausdauer. Sie alle hatten Klötze an den Füßen und Drähte am Kopf; aber für Asmus gingen und saßen, tanzten und schwebten sie wie lebendige Menschen und Götter. Nur selten hatte der gute Johannes Zeit, eine Aufführung zu veranstalten; wenn er es aber tat, so tat er's mit Feuer und großem Pathos. Ein schönes Stück waren die »Hugenotten«; denn darin wurde geschossen; noch schöner war »Kätchen von Heilbronn«; denn darin brannte ein Schloß mit bengalischen Flammen nieder; die Krone aller Stücke aber war der »Freischütz«; denn darin gab es zwei Schüsse, einen Teufel und in der Wolfsschlucht ein Feuerrad. Welch' ein leichtsinniges Gesindel die ganze Semperei war, das konnte man daran sehen, daß sie bei jeder »Freischütz«Vorstellung für zwei Schillinge, also nach heutigem Gelde für fünfzehn Pfennige Feuerwerk verpufften. Ja, die meisten von diesen Sempers wären imstande gewesen, aus einem guten Stück ihres Lebens eine Rakete zu machen und es in die Luft zu brennen, wenn es nur einen schönen, farbigen Funkenregen gab. Asmus berauschte sich an den hoch- und wohltönenden Reden, die sein Bruder aus einem Buche las; er starrte mit stiller Wonne in die Wälder und Kerker und Rittersäle der Bühne; aber das Höchste in der Kunst war doch das Feuerrad in der Wolfsschlucht.

Ja, einmal in einer Galavorstellung unter Anwesenheit hoher Herrschaften wurde der »Freischütz« sogar mit zwei feurigen Rädern gegeben. Aus dem Hause, in dem Asmussens Schwester Marianne diente, waren die Kinder zum Besuch gekommen. Der Ruf der Festspiele im »Düstern langen Balken« war bis in die große Stadt Hamburg gedrungen. Als die feingekleideten, schönen Mädchen im Semperschen Hause erschienen, war es Asmus, als ob ein süßer, feierlicher Klang durch seinen Körper rinne. Die Aeltere hatte ein gar feines Gesicht und trug eine große Haarlast von einem wahrhaft heiligen Hellblond; die Jüngere hatte ein rundes Gesicht voll lieblicher Sanftmut. Sie sprachen unendlich vornehm und sagten, wie man in Hamburg zu sagen pflegt, »fuichtbar« statt »furchtbar« und »Rchräder« statt »Räder«. Und sie trugen Handschuhe. Asmus konnte sie nur immerfort anschauen, und sein Anschauen war wie ein Gebet. Und wenn sie gar freundlich zu ihm sprachen und ihm zulächelten, dann schien es ihm, als wären Engel herabgestiegen, um mit ihm zu spielen. Nachdem sie gegangen waren, verzehrte er sich wochenlang vor Sehnsucht nach ihrer Nähe. Er hatte einmal gehört, daß einige Menschen in den Himmel kämen, andere in die Hölle. Jetzt begriff er das. Solche Mädchen kommen in den Himmel, dachte er. Und er sah an sich herunter und dachte: Mit solchen Hosen und solchen Stiefeln kommst du nie hinein.

Zwischen den Festspielen pflegte er täglich seine Theaterpuppen und Requisiten hervorzunehmen und mit stiller Freude zu betrachten. Jeder Pappfigur sah er minutenlang fest ins Gesicht, um zu sehen, was sie wohl in diesem Augenblicke denke. Er stellte sie vor sich auf und betrachtete ihre Gewänder, Hüte und Waffen. Das Schönste war und blieb doch der Graf Wetter vom Strahl in seinem ganz und gar goldnen Harnisch, seinem goldenen Helm und bunten Federbusch; den liebte er wie einen leiblichen Menschen. Dann nahm er die Dekorationen her und wandelte mit seinen Gedanken tief, tief hinein in die dunkelschattigen Wälder und in die sonnigen Gärten; er ging staunend immer weiter und weiter durch die prangende Säulenhalle der Ritter und schlich schaudernd entlang an den Wänden des Kerkers mit seinem angefesselten Gerippe. Er saß am Grunde der Wolfsschlucht und starrte dort hinauf, wo »Milch des Mondes« über gespenstische Trümmer rieselte, und seine Gefühle überschlugen sich vor unausdenkbarem Grauen, daß er die Augen schließen mußte. Und langsam, aber stark und immer stärker erwuchs in ihm das Verlangen: Lesen können! Ach ja, lesen können – dann konnte er selbst all die schönen Stücke spielen! und er bestürmte seinen Vater:

»Vater, lehr' mich lesen, man zu, Vater, lehr' mich lesen!«

»Ja, ja, du sollst lesen lernen«, sagte der Vater.

»Woll'n wir jetzt anfangen?« rief Asmus erregt.

»Nein, heute noch nicht. Bald! Nächstens!« Und er meinte das »Bald« sehr ehrlich, der gute Ludwig Semper; er wollte seinen Liebling gern das Lesen lehren; aber aus »Bald« und »Bald« wurden Wochen und Monate und er kam nicht dazu. Da klammerte Asmus sich an seinen Bruder Alfred, und Alfred nannte ihm alle 25 Buchstaben des Alphabets auf einmal; denn Alfred war kein Pestalozzi. Er mußte die 25 noch einmal nennen, aber dann konnte sie Asmus. Nun kann ich lesen, jubelte er bei sich. Aber das dicke Ende kam nach. »a–u–eff«, las er.

»Nein, das heißt »auf«,« rief Alfred.

»Was? Da steht aber »a–u–eff«!«

»Ja, aber wenn man liest, heißt es »auf«.«

Das war ja seltsam. Erst lernt man die Buchstaben, und wenn man liest, heißen sie nicht so? Aber er ließ nicht nach.

»Ha–a–es–e«, las er.

»Gott, wie bist du dumm!« rief Alfred. »Hase heißt das!«

Aaaaah – jetzt dämmerte es Asmussen! Wenn man liest, heißt es nicht »Ha«, sondern »H'«, nicht »es«, sondern »'s«. Und er nahm einen neuen Anlauf und las:

»Heezke«.

Alfred wollte sich totlachen. »Heezke, Heezke!« rief er und sprang im Zimmer herum. »Hecke!! Hecke heißt es – Junge, bist du dumm!«

Jetzt wurde aber Asmus kratzbürstig.

»Hier steht »Heezke«,« rief er, »du kannst ja selbst nicht lesen!«

»Soo?« Das ging aber Alfreden über die Hutschnur. »Du Döskopp, du weißt noch nicht mal, daß das kurze »e« – »ě« heißt!«

»»e« heißt »ě«?« fragte Asmus und starrte seinen Bruder wegen dieser neuen Inkonsequenz mit offenem Munde an.

»Jaa! Wenn »e« kurz ist, heißt es »ě«, und wenn »u« kurz ist, heißt es »ǔ«, und wenn »a« kurz ist, heißt es »ǎ«, und »i« heißt »ǐ« und »o« heißt »ǒ«!«

Asmussens Augen wurden bei diesem Hexeneinmaleins immer größer; es sah aus, als wolle er seinem Bruder die Worte von den Lippen saugen.

»Mensch, mach' doch nicht so'n dummes Gesicht!« rief Alfred.

Wenn alle, alle Gedanken des Menschen hinausgetreten sind in die Welt, steht der Körper verlassen da, und die Augen sehen aus wie leere Fenster. Die Menschen nennen das ein dummes Gesicht.

»Aber hier steht doch ein »ce« und das heißt doch wohl »z'«!«

»Nein, »ck« heißt »k«, rief Alfred. »Na!«

Er lief davon; er gab die Sache auf; er hatte keine Lust mehr. Aber Asmus gab die Sache nicht auf. Er saß stundenlang über dem Lesebuch seines Bruders und bohrte seine aufgestützten Ellbogen fast in den Tisch hinein und suchte sich die Wörter heraus, die er lesen konnte. Und am zweiten oder dritten Tage entzifferte er langsam: »Hans und Liese«.

O Gott, das war ja die köstliche Geschichte mit der Bratwurst unter der Nase, über die er so laut gelacht hatte! Und jetzt bohrte er die Ellbogen noch tiefer in den Tisch; seine Wangen glühten, seine Augen wurden immer größer, und er las – und las – und konnte lesen! O Gott, er konnte lesen! Wenn doch ein Wort kam, das ihm zu schwer war, dann riet er nach dem Zusammenhang, wie es wohl heißen möge, und oft fand er's; wenn's aber gar zu schwer war, fragte er seinen Vater, wie es heiße, und wenn er's gehört hatte, sagte er genau wie sein Vater »Hm« und las weiter. Ein altes Lesebuch ohne Einband, woran die letzten Blätter fehlten, ließ er nun nicht mehr von sich. Er hielt es beim Essen unter dem Arm; es mußte des Nachts neben ihm schlafen; wenn er hinunterging, um mit Wiebke Wiese zu spielen, nahm er es mit und las ihr daraus vor, bis sie davonlief. Mit dem Buche unterm Arm sah er seinen Bruder Alfred an wie den entbehrlichsten Menschen von der Welt; nach vierzehn Tagen las er genau so gut wie sein erhaben-ungeduldiger Lehrer.


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