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»Excelsior«

Die Stimmung begann hitzig zu werden. Billington arbeitete sich in Wut, weil der Chauffeur ihn zum Lügner stempeln wollte. Er stand mitten im Zimmer, die Hände in den Hosentaschen, den Hut im Nacken und sah Jonassen unverwandt und drohend an. Die Situation war wirklich ganz theatralisch. Am Tisch stand Reismann, die raschelnden Papiere in der ausgestreckten Hand, und Krag folgte von seinem Platz aus aufmerksam dem Streit. Nur von Brakel war uninteressiert wie gewöhnlich und schien das Ganze langweilig zu finden.

»Wie hieß die Dame, der Sie soeben telefonierten?« fragte er Billington. »Fräulein Erko? Eine Finnin, nicht wahr? Ich kenne sie vom Ansehen, ein sehr hübsches Mädchen.«

Reismann drohte ihm ärgerlich.

»Sei still, Karl-Erich!« rief er. »Du irritierst mich mit deinem ewigen Phlegma.«

Karl-Erich blickte wehmütig auf seine Lackschuhe herab.

»Gott,« seufzte er. »Dies ist noch langweiliger als eine Komiteesitzung. Schickt diesen Jonassen doch hinaus, er hat ein zu dummes Gesicht.«

Auch Billington fiel über Jonassen her.

»Glauben Sie wirklich, daß ich Leute von einer zur anderen Stunde nicht wiedererkennen kann? Wollen Sie wirklich leugnen, daß Sie heute nachmittag um drei Uhr mit Ihrem Auto auf dem Eichenmarkt hielten?«

»Ja, das leugne ich. Und ich habe Zeugen, daß ich die ganze Zeit hier war.«

Jetzt fing auch Jonassen an, gereizt zu werden, auf die treuherzige Art, die einfachen Menschen eigen ist und die Zutrauen erweckt. Er wollte sich zurückziehen und ging auf die Tür zu, Reismann aber hielt ihn zurück.

»Hier muß irgendein Mißverständnis vorliegen,« sagte er. »Ich stehe für Jonassen ein. Er ist seit Jahren bei mir gewesen und ich habe noch nie Grund gehabt, seine Wahrhaftigkeit zu bezweifeln. Betrachten Sie ihn genau, lieber Billington, glauben Sie wirklich, daß er imstande wäre, eine solche Komödie zu spielen?«

Billington musterte ihn.

»Es ist doch fast unmöglich, daß zwei Menschen sich in dem Maße ähneln,« sagte er, »auf alle Fälle aber weiß ich mit Bestimmtheit, daß Jos ihn mit Jonassen anredete.«

»Soll ich heute abend noch fahren?« fragte Jonassen beleidigt – er würdigte Billington keiner Antwort mehr.

»In einer halben Stunde wollen wir zur Stadt,« antwortete Reismann, »das Fest hier draußen ist nun vorbei. Und ich muß vor ein Uhr im Freisinnigen Klub sein.«

»Dann mach' ich alles zur Abfahrt bereit,« sagte Jonassen. »Es wird 'ne tolle Fahrt durch den Schnee werden, aber ich werd's schon schaffen.«

Damit ging er hinaus.

Karl-Erich begann seine Malereien sorgfältig zusammenzupacken. Er wollte keinen Augenblick länger als notwendig hier draußen bleiben. Reismann erinnerte ihn daran, daß er ihm versprochen hatte, sich nicht im Hotel zu zeigen. Sonst konnte die Sensation darunter leiden. Bevor die Zeitungen morgen erschienen, mußte die große Allgemeinheit in völliger Ungewißheit über die Entwicklung der Dinge gelassen werden. Darauf antwortete von Brakel nichts. Er wechselte nur einen vielsagenden Blick mit Oedegaard.

»Meine Herren, wenn Sie Lust zu einem Glas Champagner heute nacht um vier Uhr haben, dann sind Sie freundlichst zu einer Soirée intime mit Tanz im Atelier eingeladen,« sagte Oedegaard.

Reismann steckte die Papiere in seine schwarze Aktentasche.

»Hiermit erkläre ich die Sitzung für aufgehoben und wünsche der Aktiengesellschaft ein gutes Resultat,« sagte er, indem er sich ein Glas Champagner eingoß. »Auf das Wohlergehen unserer Aktionäre! Ein ungewöhnlicher Wunsch für die Direktion einer Aktiengesellschaft heutzutage, aber es ist ja auch eine ungewöhnliche Aktiengesellschaft. Und was Jos, den verschwundenen Jos, betrifft, so habe ich eine glänzende Idee.«

»Glauben Sie, daß diese Idee ihn wieder herbeischaffen kann?« fragte Billington.

»Davon bin ich fest überzeugt,« antwortete Reismann. »Liebe Freunde, wir alle kennen Jos und wissen, wie impulsiv er ist. Prost, liebe Freunde, ein letztes Glas, bevor wir scheiden! Was sagte man mir nach, als ich vor einer Woche allem Anschein nach so unmotiviert den Pokertisch im Freisinnigen Klub verließ? Was sagte man? Nicht viel. Man flüsterte nur: Frauenzimmergeschichten! Dasselbe flüstere ich jetzt fast lautlos, wenn ich an Jos denke: Frauenzimmergeschichten, meine Herren! Kommt Zeit, kommt Rat.«

»War das die glänzende Idee?« fragte Billington ärgerlich. »Sehr originell ist sie nicht. Ich ...«

»Nein, meine große Idee kommt jetzt erst,« unterbrach Reismann ihn. »Jos ist einer der leidenschaftlichsten Kartenspieler der Welt, und er weiß, daß ich mich auf Grund der strengen Spielregeln des Klubs heute nacht vor ein Uhr im Freisinnigen Klub einfinden muß, um meine große Partie zu Ende zu spielen. Ich wette, daß er sich ebenfalls einfindet.«

Reismann leerte sein Glas selbstzufrieden. Er füllte es von neuem und brachte ein weiteres Wohl aus. Mit Wehmut verlasse er diesen Raum, erklärte er, der Zeuge von der Organisation und Vollendung eines der schönsten philanthropischen Unternehmen der Gegenwart geworden sei.

Billington wurde immer ungeduldiger, und wenn Jonassen nicht in diesem Augenblick heraufgerufen hätte, daß das Auto zur Abfahrt bereit sei, wäre Reismanns Redseligkeit wahrscheinlich ziemlich schroff unterbrochen worden.

Reismann stieg voran die Treppe herab, langsam und feierlich, mir seiner schwarzen Aktenmappe unterm Arm. Nach ihm kam Karl-Erich von Brakel, mit seinen Kunstwerken aufgerollt unterm Arm. Das große Reklameplakat war so groß, daß es auf der Treppe nachschleifte. Dann folgte Oedegaard. Aus seinen Rocktaschen ragten mehrere Flaschenhälse, er dachte offenbar an das Atelierfest. Zuletzt kamen Krag und Billington. Der große Raum blieb in voller Beleuchtung liegen. Selten oder nie hat wohl der Schauplatz einer Direktionssitzung so ausgesehen. Die Sitzung hatte allerdings auch mehrere Tage gedauert. Der Raum glich einer Junggesellenbude, wo jede Spur einer ordnenden, weiblichen Hand fehlte. Der Spieltisch war jetzt leer, aber der Fußboden mit seinem grünen Teppich glich fürwahr einem Spieltisch nach längerem Gebrauch, mit den umgeworfenen Aschenbechern, Zigarren- und Zigarettenstummeln, Gläsern, Flaschen, leeren Zigarrenkisten, Karten und verstreuten Spielmarken.

Bevor die Herren ins Auto stiegen, zog Reismann Krag beiseite und sagte zu ihm:

»Sie sind ja Mitglied des Freisinnigen Klubs. Kommen Sie mit?«

»Ich komme nach. Billington will erst ins Bureau, und ich werde ihm Gesellschaft leisten.«

»Gut. Wenn Sie aber vor Beendigung des Spiels kommen, dann erinnern Sie sich wohl, was ich Ihnen von meinen Karten sagte?«

»Sie haben vier Asse in einem versiegelten Kuvert. Das ist das höchste Gebot. Sie können nicht verlieren. Ich erinnere mich wohl.«

»Sie müssen es aber vergessen. Ganz und gar, verstehen Sie?«

Krag lachte.

»Ich bin kein Neuling im Hasardspielen und mische mich nie in anderer Leute Angelegenheiten.«

Es hatte aufgehört zu schneien. Der Sturm hatte nachgelassen und das Auto glitt leichter durch den Schnee. Auf dem Eichenmarkt, vor Jos' Kontor, stiegen Billington und Krag aus. Die beiden Künstler sollten beim Atelier abgesetzt werden, und Reismann wollte allein weiterfahren.

Billington, der begriffen hatte, daß Krag sich mit Absicht von den anderen trennte, lud ihn ein, mit ins Kontor hinaufzukommen. Krag aber zog es vor, unten zu warten. Er sah, daß in zwei Fenstern des vierten Stockwerkes Licht war. Billington erklärte ihm, daß Fräulein Erko oben auf ihn warte. Billington ging nach oben, um sich zu erkundigen, ob eine Nachricht von dem verschwundenen Jos eingetroffen sei. Krag schlenderte auf dem Fußsteig auf und ab. Hier im Zentrum der Stadt waren noch viele Leute unterwegs, die Cafés hatten noch nicht geschlossen. Die Passanten hatten den Schnee auf den Fußsteigen bereits festgetreten, auf den Fahrwegen aber glitten die Wagen wie auf Daunenbetten lautlos vorbei. In der Nähe war ein Autohalteplatz, und die Chauffeure standen in Gruppen und scherzten laut miteinander.

Plötzlich glitt ein Mann aus dem Hause, wo Jos sein Kontor hatte. Es war ein Herr im Pelz, der den Kragen bis über die Ohren geschlagen und die Pelzmütze tief in die Stirn gedrückt hatte, obgleich es nach dem Schneefall ganz milde geworden war.

Krag ging dicht an diesem Mann vorbei, es fiel ihm auf, daß er seine behandschuhten Hände gegen die Backen hielt, als ob ihn fröre. Er trat auf den Fahrweg und pfiff nach einem Auto. Krag dachte bei sich: »Er will mir sein Gesicht nicht zeigen.«

Aber Krag hatte dennoch einen Schimmer von diesem Gesicht gesehen.

Ein Auto löste sich aus der Reihe und näherte sich dem Wartenden, der dem Wagen auf halbem Wege entgegenkam und rasch einstieg. Der Mann gab dem Chauffeur keinen Bescheid, er stieg nur ein und schlug die Tür hinter sich zu, worauf das Auto schnell davonfuhr.

Krag blieb stehen und sah ihm nach – und plötzlich kam ihm der Gedanke: »Das war ja ein Privatauto!«

Warum aber wartete dieses Auto zwischen den anderen Mietsautos? Krag kannte die Marke. Es war ein »Excelsior« gewesen. Ein »Excelsior«!

Jetzt trat Billington aus dem Hause.

»Noch immer kein Lebenszeichen von Jos,« sagte er.

»Sind Sie besorgt?« fragte Krag.

»Ja, es beunruhigt mich,« antwortete Billington. »Jos pflegt in geschäftlichen Dingen nicht unzuverlässig oder zu Scherz aufgelegt zu sein. Und diesmal handelt es sich um sehr große Geschäfte. Noch aber ist nichts versäumt.«

»War Fräulein Erko allein?« fragte der Detektiv.

»Ja.«

»Ist Ihnen jemand auf der Treppe begegnet?«

»Nein.«

Billington schien erstaunt über diese Fragen.

»Verstehen Sie sich auf Autos?« fragte Krag weiter. »Ich meine, können Sie die verschiedenen Automarken voneinander unterscheiden?«

»Mit Sicherheit. Ich habe selbst früher mit Autos gehandelt.«

»Und Sie wissen bestimmt, daß es eine Excelsior-Maschine war, die heute nachmittag um drei Uhr mit Jos davonfuhr?«

»Ganz bestimmt.«

»Es ist Ihnen wohl bekannt, daß diese Marke hier in Christiania wenig vertreten ist?«

»Ich weiß. Es gibt höchstens zwei oder drei von der Sorte.«

»Schön. Begeben wir uns jetzt in den Klub.«

Sie riefen ein Auto herbei.


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