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VIII. Signe und der Fremde

Der nächste Morgen war ein Sonntag. Auch in solch einem kleinen Ort kann man dies an so manchem merken. Ein Mädchen geht in frisch geplättetem Kleid vorbei, ein Fischer sitzt in blendend weißen Hemdärmeln am Gartenstaket und streicht die Stäbe grün an, aus den Häuschen dringen Menschenstimmen, die Leute sind daheim, der Schornsteinrauch ist blau und fein von gutem Kaffee. Auch das Wetter ist sonntäglich geputzt, ein ungewöhnlich früher Frühlingstag, ein durchsichtiges Licht, das die fernen Höhen näher bringt – weit draußen kann man die äußersten schaumbefransten Schären so deutlich wie durch einen Feldstecher sehen.

Der Gang zum Bethaus beginnt früh. Es ist erstaunlich, wie viele abstechende Menschentypen in solchen kleinen Orten zum Vorschein kommen, wenn die Leute sich außerhalb ihrer Behausungen zeigen, wie viele Bresthafte und Verkrüppelte und vor allem wie viele Alte. Es sah aus, als hätte die Zeit sich in diesen Menschen festgesetzt, die in der salzigen Luft des Meeres nur langsam verwittern. Auch war es seltsam, wie rasch die Prozession zum Bethaus sich bildete, als nur erst der Anfang gemacht war: Da kam eine alte Frau aus ihrer Tür, schwarz gekleidet, das Psalmbuch in den Fäustlingen. – Das war das Signal, die Leute hatten hinter ihren Gardinen gestanden und gewartet, nun mit einem Male humpelten Gestalten aus allen Türen, und ganz von selbst bildete sich der Zug. Zwei oder drei gingen zusammen – und nicht nur die Alten, auch die Jüngeren hatten sich diesen gebrechlichen Gang angewöhnt, diesen ganz besonderen, geduckten Kirchengang, der für einfache, zurückgezogene Menschen charakteristisch ist, wenn sie sich dem Gotteshaus nähern. Zumeist waren es Frauen, alle in Schwarz sorgsam herausgeputzt – Hüte, Mäntel, Kapuzen, Galoschen, Samtbänder, Seidenbinden, alles in Schwarz. Ein Hauch von auf dunklen Dachböden aufbewahrten Truhenkleidern. Diese Prozession, die an sich so düster war, warf gleichsam einen Schatten mitten in den Sonnenschein. Und von ihr verbreitete sich ein Gemurmel von Seufzern und Traurigkeit, eigentlich war es nur das Wort ja, aber in verschiedenen Modulationen, ja, ja, ja und mit dem Zusatz »ach«: jajaja, ach ja. Als der Zug am Fährhaus vorbeikam, wurden alle verdächtig still.

Im Fährgasthaus hatten die Frauen schon das Haus für den Tag instand gesetzt. Während die Kirchenbesucher vorbeipassierten, stand Kaisa an einer der kleinen Fensterluken und guckte hinaus, hinter der blauen Gardine verborgen. Das Licht traf ihr Gesicht und zeichnete ihr Profil gegen die braunen Balken. Ein scharfgeschnittenes, vogelähnliches Profil. Es war etwas nachdenklich Spähendes in ihren Augen, nicht unähnlich den Raubvogelaugen, die hoch oben vom Horst zu den Tiefen der Menschen hinunterspähen. Während die Leute vorbeigingen, nannte sie ihre Namen, flüsternd, für sich selbst, einen nach dem andern, sie zählte ihre Feinde.

Überall im Fährhaus war es düster und halbdunkel. Auch wenn der Tag draußen im Sonnenlicht funkelte. Das ursprüngliche alte Gebäude hatte wenige und ganz kleine Fensterchen, die obendrein noch tief drinnen im Gebälk saßen, wie Luken in Schloßmauern. Überdies waren die Zubauten im Laufe der Jahrhunderte nur ganz zufällig an das alte Haus angeklebt, oft die wenigen Zugänge von Licht und Luft, die noch vorhanden waren, verrammelnd. In der Wirtsstube standen Truhen und Tische aus dunklem, verräuchertem Holz, der einzige Schmuck der Wände war eine Reihe von Zinntellern.

Kaisa trat vom Fenster weg.

»Jetzt gehen sie ins Bethaus, um uns Wirtsleute zu verfluchen«, sagte sie.

Ein grauer Schatten löste sich aus einem der tiefsten Winkel der Stube. Das war Johannes, der dort drinnen ein wenig geschlummert hatte.

Kaisa fuhr fort:

»Ich habe es ihnen angesehen, was sie im Schilde führen. Sie waren alle ganz mäuschenstill, als sie hier vorbeigingen. Manchmal hört man aber mehr aus einer Stille als aus einem Lärm. Die Blicke, die sie herwarfen, waren deutlich genug, Bosheit und Schadenfreude. Jetzt fangen sie drüben im Bethaus an, auf uns loszuziehen. Weißt du, was das bedeutet, Johannes? Das ist der Bettelstab, der uns gereicht werden soll.«

Johannes versuchte seine Pfeife anzuzünden, aber seine Hände zitterten, die Hölzchen verloschen eins nach dem andern.

»Wir haben doch Geld genug,« sagte er endlich sehr leise, »in der Truhe oben.«

»Geld, wir?« fiel sie scharf ein, es klang wie ein Schrei. »Nennst du das unser Geld! Das ist Geld, das einmal seine große Bestimmung erfüllen wird. Warum siehst du mich so an?« fragte sie plötzlich. »Hast du ein schlechtes Gewissen? Dein Blick weicht in letzter Zeit immer aus.«

Wieder stand sie da, die Hände vorgestreckt wie Krallen.

»Ich?« sagte der Mann zögernd. Er wandte sich ihr zu und hielt ihrem Blick stand, aber nur für eine Sekunde.

»Ich fange an, mich vor dir zu fürchten«, flüsterte er und wandte sich von ihr ab. Er schob den Riegel von der großen Tür zurück, um zu öffnen.

»Auch bei Tag?« fragte sie und lachte spöttisch. »Kannst du mit deiner Furcht nicht bis zur Nacht warten? In der Dunkelheit werden die bösen Taten vollbracht.«

Johannes schob die großen Türhälften zurück. Dort unter der Brücke lagen die Boote des Fährhauses dicht nebeneinander. Der Fluß strömte langsam und mächtig vorbei.

Im Gehen rief er zurück:

»Ich muß nach den Booten sehen.«

Kaisa trat in die Türöffnung und betrachtete den Mann, der sich unten an den Booten zu schaffen machte. Von Zeit zu Zeit hielt Johannes in seiner Arbeit inne und blieb nachdenklich mit hängendem Kopf auf der Ruderbank sitzen. Wieder lachte Kaisa.

Johannes hörte das höhnische Gelächter, aber blickte nicht auf. Vielmehr wandte er sein Gesicht dem Fluß zu. Die Schneeschmelze oben auf den Höhen hatte begonnen, der Fluß war in den letzten paar Tagen breiter geworden und hatte eine stärkere Strömung, es war ein hartes Stück Arbeit, ihn mit einem Ruderboot zu passieren. Auf dem anderen Ufer des Flusses erstreckte sich das Flachland weit hinein bis zu einem blauen Bergfirst, quer durch das Land dehnte sich der Fahrweg zwischen einer Lindenallee, deren Zweige unmerklich schwankten, wie von dem Lichtstrom bewegt, der sich funkelnd die ganze Allee hindurch abzeichnete. Am jenseitigen Ufer zog sich ein Schilfgürtel hin, und tief im Schilf war die Bootbrücke mit der Pferdefähre vertaut. So war die Landschaft hier unten rings um das Fährhaus.

Der junge Sigvard kam in das Schankzimmer und fragte nach Ann-Mari.

»Sie ist heute bei ihrer Arbeit,« sagte Kaisa unwirsch, »sie kann nicht Tag und Nacht herumstrolchen.«

»Du sollst nicht böse gegen Ann-Mari sein, Kaisa«, sagte Sigvard mit dem Ernst eines Erwachsenen, der wunderlich von seiner Jugend abstach. »Es gibt hier kein Mädel, das flinker bei ihrer Arbeit ist.«

»Sieh mal einer an, wie das Fröschlein quaken kann!« lachte Kaisa einschmeichelnd, und Sigvard fuhr wie von einem Frostschauer geschüttelt zusammen.

»Ich komme aus dem Bethaus«, sagte er nach einer kleinen Pause.

»Na, was heulen denn die dort?

»Der neue Pfarrer spricht von euch, Kaisa, und vom Wirtshaus. Er sagt, der Teufel hat seine Wohnstatt in diesem alten Hause aufgeschlagen. Und der Geist des Teufels hat auch von den Menschen Besitz ergriffen. Dieses Wirtshaus ist die Kirche des Teufels, sagt der Pfarrer. Von hier wirft der Satan sein Netz aus. Dieses Netz ist die falsche Lebensfreude. Es funkelt in den Maschen von dem blutigen Schweiß der Unglücklichen und den Tränen der Witwen. Es war schön.«

»Schön?« fragte Kaisa, indem sie mit ihren krummen Fingern auf die Treppe und den Fluß wies. »Aber du suchst ja auch dein Tagewerk hier im Netz des Teufels, obwohl du der Sohn eines Großbauern bist und es nicht nötig hättest.«

»Jaja«, sagte Sigvard sanftmütig. »Das weiß ich schon, aber ich finde doch, es war so schön gesagt. Es war, als könnte ich die Worte in meinem Herzen hören.«

Kaisa stand eine Weile still, und ihre Augen waren voll Gram.

»Vielleicht hat er trotz alledem recht, der neue Pfarrer,« sagte sie leise, »da wo der Allmächtige zurückweicht, macht er dem Teufel Platz. Menschen, die von Gott verlassen sind, werden leicht die Beute des Bösen. Aber der Böse ist auch ein mächtiger Herr. Wir werden sehen.«

Im selben Augenblick öffnete sich die Straßentür, und der fremde Gast trat ein. Er rief einen guten Morgen in die Stube und versuchte fröhlich zu lächeln, aber es wurde nur ein ängstliches, verlegenes Lächeln. Er hustete und zog seinen grauen Mantel über der Brust zusammen. Seine Wangen waren blaß, Haar und Bart ungepflegt, als hätte er sich am Morgen nicht gewaschen.

»Friert Ihr?« fragte Kaisa. »Dann kann Sigvard einheizen.«

Der Fremde warf einen scheuen Blick auf die Feuerstelle, in der nur ein paar halbverbrannte Klötze vom vorigen Abend lagen.

»Ja, danke«, erwiderte er. »Ich friere wirklich. Seltsam. Ich bin die ganze Zeit in der Sonne gegangen, aber der Sonnenschein erwärmt mich nicht. Es ist, als bliese er nur kühl durch mich durch, ohne zu wärmen.«

Er setzte sich an den großen Tisch und rieb sich die langen frostigen Handflächen.

Kaisa verschwand in die Küche, wo sie ärgerlich und ungeduldig nach Ann-Mari rief. Der Fremde fragte:

»Kommt der Lotsenälteste auch heute abend her?«

»Wahrscheinlich«, antwortete Sigvard vom Kamin her. »Er heißt übrigens Andersen.«

»Andersen, soso.«

»Wissen Sie das nicht? Und er kommt jeden Sonnabend und Sonntag her.«

»Dann treffe ich ihn wohl.«

Sigvard warf zaghaft hin:

»Sie sind wohl so lange in den heißen Ländern gewesen, daß Sie hier oben beständig frieren müssen.«

»Im Süden sind die Häuser aus Stein gebaut,« antwortete der Fremde, »und es gibt dort unten manche, die eine stete, unausrottbare Kälte in ihren Mauern haben, wie Grabkammern. Grabkammern werden immer kälter. Vielleicht mit jedem Jahrzehnt nur ein wenig, ganz unmerklich wenig kälter, aber doch kälter, in alle Ewigkeit immer kälter und kälter.«

Ann-Maris Stimme rief aus der Küche nach Sigvard, und er ging sogleich zu ihr hinaus. Bald kamen die beiden wieder herein. Ann-Mari deckte den obersten Teil des Tisches, an dem der Fremde saß, Sigvard blieb daneben stehen und wartete, ein Kaffeeservice behutsam in den Armen haltend. Sowie das Tuch mit großer Sorgfalt ausgebreitet war, machte Sigvard Miene, die Kaffeekanne niederzustellen, aber Ann-Mari hielt ihn mit einem vorwurfsvollen Blick zurück, eine ärgerliche Röte stieg ihr in die Wangen – wie konnte er sich erlauben! Ein Stück nach dem andern nahm sie ihm aus den Armen, Tassen, Teller, Butter und die Kanne, es war, als nehme sie alles von einem stummen Diener, hier waren die Arbeitsgebiete schon streng abgegrenzt. Sie deckte den Tisch zierlich mit weiblicher Anmut, und als Sigvard linkisch mit dem leeren Brett stehenblieb, drehte sie ihn um und schob ihn sanft beiseite, beunruhigt von dem Gedanken, daß seine Täppischkeit ihr Schande machen könnte. Er trabte mit dem Brett in die Küche hinaus, in seinen Bewegungen einem großen jungen Hund nicht unähnlich.

Der Fremde aß nicht viel. Er saß die ganze Zeit da und beschattete die Augen mit der einen Hand. Das blendende Frühlingslicht erfüllte das Viereck der Tür mit einer phantastischen Stickerei aus Luft und weißen Wolken. Ann-Mari merkte es und lehnte die Tür an, so daß es in dem großen Räume wieder dunkel wurde. Dann räumte sie den Tisch ab.

Der fremde Gast war nun allein im Zimmer. Durch die offene Tür hörte er Ann-Maris und Sigvards gedämpfte Stimmen. Es war ein vertrauliches Geplauder, aber ein aufmerksamer Zuhörer hätte vielleicht gemerkt, daß Ann-Maris Stimme belehrend und die Sigvards fragend und einräumend war.

Da kam Signe in das Zimmer, die Mutter, die Hellsichtige.

Sie kam vom Fluß herauf und trug einige Fischgeräte, die sie in eine Ecke legte. Der Fremde erhob sich sofort und stellte sich mit dem Rücken gegen den glühenden Kamin. Sein Kopf leuchtete weiß in dem halbdunklen Raum.

Signe ging im Zimmer hin und her, sie hatte allerlei zu ordnen.

Der Gast beobachtete sie die ganze Zeit unverwandt. Aber sonderbarerweise hatte es den Anschein, als ob Signe seine Gegenwart gar nicht bemerkte. Sie hatte nicht genickt, als sie hereinkam, und sie ging mehrere Male an ihm vorbei, ohne ihn zu sehen, obwohl sie ihn ansah.

Plötzlich rief er sie an, sagte ihren Namen leise, beinahe flüsternd: »Signe.«

Sie hielt einen Augenblick in ihrer Tätigkeit inne und stand lauschend da, aber arbeitete dann nur um so emsiger weiter. Da rief er sie wiederum, diesmal lauter:

»Signe,« sagte er, »ich bin es.«

Sie wandte sich dem Kamin zu und legte die Hände, diese mageren, arbeitsamen Hände, angstvoll an ihre Brust. Sie starrte ihn an, aber sie sah ihn nicht. Ihre Augen, die einen weißschimmernden, fischartigen Glanz hatten, sahen durch ihn hindurch, als ob er nichts Lebendes wäre, sondern nur ein tieferer Teil der Dunkelheit, die die Flammen des Kamins durchglühten. Dann beendete sie ihre Arbeit und verließ still das Zimmer.


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